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Woher – wohin?

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Autor: Paul Bekker
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Titel: Woher – wohin?
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aus: Pariser Tageblatt, Jg. 2. 1934, Nr. 1 (01.01.1934), S. 4
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Erscheinungsdatum: 1934
Verlag: Pariser Tageblatt
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Erscheinungsort: Paris
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Woher – Wohin?


Was begibt sich mit der Musik?

Scheinbar nichts. Der Betrieb läuft weiter, Opern und Konzerte finden statt wie vordem, Virtuosen – Sänger und Instrumentalisten – kommen und gehen. Es wird kritisch ermittelt, ob sie gut oder minder gut disponiert waren, und womit sie den stärksten Erfolg hatten. Ueber neue Werke ist wenig zu berichten, weil wenige vorhanden sind. Man behilft sich mit den alten und entgeht auf die Art dem Zwang zur Stellungnahme. Die Situationen in den einzelnen grossen Musikländern sind nicht sehr verschieden. In Deutschland wird gegenwärtig eine bestimmte Gattung experimenteller Musik boykottiert und dafür der Historizismus noch bewusster betont als vordem. Aber auch ausserhalb Deutschlands ist es nicht viel anders. Der Wille zur Problemstellung fehlt überall, ebenso der frische Antrieb. Der Apparat läuft weiter aus sich selbst heraus, gemäss dem Beharrungsgesetz des Mechanismus. Funktioniert er irgendwo nicht mehr wunschgemäss, so klagt man über die wirtschaftliche Krise.

Die geistige Krise scheint bisher in der Musik wenig spürbar zu sein.

Zwar gibt es Leute, die eine gewisse Art neuer Musik nicht mögen, weil sie ihnen unbequem klingt. Der Streit hierüber hat indessen seit einiger Zeit seine Aktualität verloren, denn von dieser neuen Musik hört man immer weniger. Von ihren führenden Vertretern ist Busoni seit zehn Jahren tot. Schönberg schweigt, Stravinski hat die historisierende Maske vorgebunden. Die ihnen folgende Generation ist heute nicht mehr ganz jung und hat sich zur Meisterlichkeit abgeklärt, ein eigentlich jugendlicher Nachwuchs ist nicht vorhanden. So sind jene vor zehn Jahren beunruhigenden Neuerungsbestrebungen allmählich verschwunden, und der Betrieb braust oder plätschert weiter wie ehedem.

Aber die Unzufriedenheit ist gross.

Es gibt viele Leute, die keine Oper mehr besuchen – nicht nur, weil sie kein Geld dafür haben. Sie behaupten, was dort geschieht, sage ihnen nichts. Es gibt viele, andere, die keinen Wert mehr legen auf Konzerte. Sie meinen, diese Konzerte seien nur noch historische Repetitionskurse, geistige Aktivierung sei hier nicht mehr zu finden. Es gibt viele, sehr viele, die überhaupt den Glauben verloren haben an die Musik. Sie sagen, die Musik habe ihre soziologische Funktion im heutigen Leben eingebüsst. Sie sei entweder Museumsobjekt, oder artistisches Spiel, oder Zeitvertreib. In jedem Falle fehle ihr der Zwang zur Auseinandersetzung gegenüber dem Menschen der Gegenwart. Ein solcher Zwang war Beethoven, war Wagner – wo ist er heut?

Es fehlt der ganzen Welt die Musik, die diese ganze Welt angeht.

Aber ist und bleibt Debussys „Pelleas und Melisande“ nicht ein hohes und herrliches Kunstwerk zu allen Zeiten, unter allen Bedingungen? Welche Daseinsberechtigung haben Wünsche und Forderungen irgendeiner Wirklichkeit innerhalb der Sphäre einer solchen Schöpfung?

Hier steht die Selbstherrlichkeit und Selbstgenügsamkeit des absoluten Kunstwerkes – auf der anderen Seite der Wille auch der Musiker, wieder tief hinabzutauchen in die unterbewussten Regungen des Zeitlebens, aus ihm neue Auftriebe zu gewinnen. Wir haben gewiss wenige dieser Art – um so nachdrücklicher ist hier Weills „Bürgschaft“ zu erwähnen als Versuch, einen Mythos der Gegenwart in der Oper zu schaffen.

Auch die heutige Musik hat also ihre Zeitverbundenheit. Nur kennt man diese noch wenig, denn sie zeigt sich meist auf anderen Ebenen, als denen des üblichen öffentlichen Betriebes. Aber man soll nicht etwa meinen, dass man Musik vom Stoff allein her aktualisieren könne, das politisch soziale Textbuch also Legitimation sei für die Oper, die Art der volksmässigen Darbietung Bedingung für das Konzert. In Russland hat man das versucht. Der Erfolg hat bisher über die Konsumregelung hinaus keine künstlerischen Ergebnisse gezeitigt.

Fragen wir nach dem Woher – Wohin unserer Musik, so müssen wir bei ihr selbst bleiben, wie sie, unvermischt, ihrem eigenen Wesen nach ist.

Hier zeigen sich zwei grosse Bewegungen. Aus entgegengesetzten Richtungen kommend, doch vom gleichen Willen erfüllt, treiben sie aufeinander zu: eine von oben, eine von unten.

Die von oben kommt aus der Musikerschaft. Es ist eine Bewegung scheinbar artistischer Natur: Wille zur Vereinfachung der musikalischen Gestaltungselemente, zur Reinigung der Formen, zur Ueberprüfung aller strukturellen Mittel, die bestimmend sind für die Erscheinung des Werkes, sei es konzertmässiger, sei es theatralischer Art. Es ist eine Selbstläuterung, die der Musiker an der Musik vornimmt. Man soll nicht fragen, ob sich solche Musik tonal oder atonal, kollektivistisch oder individualistisch nennt, denn alles zielt nur auf neue Bereitstellung des artistischen Apparates.

Die andere Bewegung, die von unten kommende, erstrebt Erschliessung des neuen Stoffes, des neuen Quelles, der in jene Formen einströmen soll. Nennen wir diese Bewegung die folkloristische. Sie führt der kunsthaften Gestaltung die erneuten Kräfte des Volkstumes zu. Zwischen beiden steht die Bildungsmusik bisheriger Art. Sie ist um so lebensfremder geworden, je mehr sie die Fühlung mit den ursprünglichen Quellen des Volkshaften verloren hat. Versuchen wir von hier aus auch die nationalistischen Bewegungen in der Musik sämtlicher europäischen und aussereuropäischen Länder richtig zu sehen: hinter allen Torheiten und Uebertreibungen wirkt verborgen der instinktive Drang zur Auffrischung eintrocknender Kräfte aus dem vergessenen Schatz ursprünglicher Eigenheiten.

So wäre zu unterscheiden Musik als betriebsmässige Literatur, – und Musik als schöpferische Lebensangelegenheit. Jene versagt und stirbt ab. Aber sie ist nicht die Musik schlechthin, wie anmasslich sie sich auch gebärden mag. Sie ist nur eine Abart davon, und jene Unzufriedenheit, jener Unglaube mag ihr allein gelten. Die andere Musik aber, die des Lebens, erwacht und kommt. Sie klingt heute vielleicht erst zaghaft auf, wir hören sie auf der Strasse, oder in der Schule, oder im Kino, oder ausserhalb alles äusserlich gesellschaftlichen Lebens. Vielleicht tönt sie uns auch einmal unerwartet aus irgend einer konventionellen Verkleidung entgegen. Wo aber sie erscheinen mag, wird sie zu erkennen sein an der Wahrhaftigkeit, Echtheit, Lebensunmittelbarkeit ihres Klanges. Dieser Klang allein ist es, der uns Musik wichtig macht und aus dem das neue Kunstwerk wachsen kann, jenes Kunstwerk, das wieder alle angeht.

Versuchen wir, diesen Klang zu erlauschen, gleichviel, wo sich der Anlass bietet. Also gilt es nicht, Kritik zu üben, Rezensionen zu schreiben, Zensuren auszustellen. Das alles ist gleichgültig und unfruchtbar. Es geht nicht mehr um die Musik als Kunst im Sinne eines bildungshaften Fachbegriffes. Es geht um ihre Neuerkennung als aktiver Lebensmacht, um die Musik also, deren Woher im Menschen selbst beschlossen ist, deren Wohin zur Gemeinschaft aller Menschen strebt.