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William Shakspeare's sämmtliche Gedichte/Einleitung

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[V]


Einleitung.

Man hat es in neuerer Zeit der Mühe werth erachtet, die Papierschnitzel, die auf oder unter dem Schreibtische großer Dichter gefunden wurden, die hingeworfenen geistreichen Bemerkungen eines großen Genius zugleich mit den trivialsten Alltagsäußerungen zu sammeln und solche dem Publicum als ein selbstständiges Werk, das einem gefeierten, unsterblichen Namen auf dem Titel trägt, darzubieten. Für die dankbare Verehrung der Nachwelt sind auch die Splitter, welche unter dem Meißel eines großen Bildners gefallen sind, heilige Reliquien. Wer möchte daher nicht die köstlichen Reliquien von dem Dichter besitzen, der das Evangelium der Poesie für alle Ewigkeiten verkündet hat – von William Shakspeare, dessen Staub da ruht, wo einst seine Wiege gestanden, zu Stratford am Avon, dessen Verklärung uns [VI] aus dem bleichen Marmor in den Gewölben der Westminster-Abtey entgegenleuchtet, dessen warmes Herz aber noch immerfort schlägt in den unsterblichen Werken, die nicht England, sondern der ganzen weiten Erde angehören? –

Wenn wir die lyrischen und epischen Gedichte Shakspeare’s hier, nach dem gewöhnlichen, modernen Ausdrucke etwa wie „Shakspeare’s Nachlaß“ betrachten, so geschieht dies mehr mit Bezug auf die merkwürdige literar-historische Erscheinung, daß erst neuere Bemühungen diese Dichtungen dem deutschen Publicum zugänglich gemacht haben, so daß sie gewissermaßen als eine Art von Supplement zu Shakspeare’s Werken erscheinen. Noch sind diese Dichtungen nicht ganz adoptirt, vielleicht aus dem Grunde, weil Schlegel, der unübertreffliche Uebersetzer der Shakspear’schen Dramen, diese nicht zum Gegenstande seiner Uebertragung gemacht; vorzüglich aber wohl deshalb, weil die Kritik, selbst zur Zeit als der Shakspeare-Enthusiasmus in Deutschland in seinem Zenith stand, zu wenig Rücksicht auf diese Poesieen genommen hatte. Und doch sind gerade diese, vorzüglich aber die Sonette, ein nicht genug zu schätzender Beitrag zur Geschichte des inneren und zum Theil des äußeren Lebens unsres unsterblichen Dichters, ganz abgesehen von der hochpoetischen Gedankenfülle, welche durch die oft herbe, spitzfindige Wortverschlingung hindurchblitzt. – Regis hat in seinem Shakspeare-Almanach die Theilnahme des deutschen [Publicums,][1] besonders für die Sonette durch eine vollständige [VII] Uebersetzung derselben und einige sehr fleißig gearbeitete Untersuchungen über das, was die Engländer „Shakspeare’s Gedichte“ nennen, angeregt. Die früher erschienene Uebersetzung von Lachmann war, wegen ihrer unbeholfenen, schweren Ausdrucksweise, nicht im Stande, sich irgend eine Popularität zu gewinnen.

Indem wir es jetzt versucht haben, eine vollständige Uebersetzung sämmtlicher epischen und lyrischen Dichtungen William Shakspeare’s den Lesern zu übergeben, erlauben wir uns, dieselben noch mit einigen, dem Verständnisse vielleicht nicht ganz entbehrlichen Bemerkungen zu begleiten.

Zu den epischen Gedichten müssen wir drei zählen: „Venus und Adonis,“ „Tarquin und Lucretia“ und „der Liebenden Klage,“ wenn auch eine strenge, schulgerechte Würdigung, besonders bei Zuzählung des letzteren Gedichtes zu den epischen, einiges kritisches Bedenken äußern sollte. – Die erste Dichtung „Venus und Adonis,“ aus der frühesten Jugendzeit Shakspeare’s', trägt das Gepräge einer derben, materiellen Sinnlichkeit. Es ist ein brav colorirter Niederländer, auf welchem wir die schaumentstiegene Göttin mit üppig blühendem Fleische und begehrenden, wollüstigen Formen begabt sehen. Es ist, wenn wir’s so nennen dürfen, ein liebenswürdiges Rococo, ein naiver Anachronismus, der uns fast an allen gleichzeitigen Kunstwerken sichtbar wird. Es geht auf dem Olymp zu wie in [VIII] dem „lustigen alten England“; die Götter sind galant wie ein Stutzer vom Hofe Elisabeth’s, der jungfräulichen Königin; die Göttinnen rauschen an uns vorüber in schwerer Seide und tragen ein hohes Toupée und Schnabelschuhe mit hohen rothen Absätzen. – Wir könnten dieses Gedicht als Folie dem hohen Genius William Shakspeare’s unterlegen. Man sollte große Dichter überhaupt nicht auf der Folie ihrer Zeitgenossen, sondern auf ihrer eignen würdigen. Derselbe Dichter, welcher den Kampf der glühenden, begehrlichen Göttin und des kalten, unerfahrenen Adonis mit so behaglich kecker Sinnlichkeit vorstellen konnte, derselbe ist es auch, welcher später seine Farben von dem zitternden Thau am Blüthenkelche, vom schwimmenden Mondesglanze und der heißen versengenden Tropensonne borgte, um die heiligsten Mysterien der Liebe in idealer Verklärung, und doch so menschlich der Welt zu offenbaren. William Shakspeare dichtete „Venus und Adonis“ und – „Romeo und Julie!“

In der Widmung an den Grafen von Southampton, welche unser Dichter seinem Epos: „Tarquin und Lucretia“ voranschickt, nennt er selbst diese Verse „schutzlose Zeilen“ (untutored lines). Der sinnige Leser wird jedoch in diesem Gedicht wie in „der Liebenden Klage,“ welches eigentlich nur ein Bruchstück aus einem größeren Epos ist, seinen Shakspeare, wenn auch nicht auf der Sonnenhöhe seines Genius, wieder erkennen.

[IX] Zu den lyrischen Gedichten gehören „der verliebte Pilger“ und die Sonette. Das erste, welches Nathan Drake als Vorläufer der Sonette ansehen will, faßt Vieles in sich, was schwerlich unserem Shakspeare zugeschrieben werden darf, ja es läßt sich überhaupt kaum ermitteln, wie viel darin aus seiner Feder geflossen ist.

Am meisten Beachtung verdienen die Sonette, welche der Dichter ganz aus sich heraus schrieb und die wichtige Capitel aus der Geschichte seines Herzens, wie seiner Conflicte mit der Außenwelt enthalten. Es läßt sich mit vieler Wahrscheinlichkeit, wenn auch nicht mit mathematischer Sicherheit annehmen, daß mit Ausnahme der leicht herauszufindenden Sonette, welche an die Geliebte gerichtet sind, der Dichter zum Gegenstande der übrigen seinen Freund, den Grafen von Southampton, gemacht hat. Die tändelnde, zärtliche Liebessprache darf uns nicht irren, da dieses ganz im Geschmacke der Zeit ist. Es war nichts Ungewöhnliches die Worte Love und Lover (Liebe, Liebhaber) auch von männlichen Freunden und Freundschaften zu gebrauchen, wie dies zum Theile aus Shakspeare selbst, theils aus anderen gleichzeitigen Dichtern und Schriftstellern hervorgeht. So sind die Sonette von 1 bis 126, wovon die ersten 17 besonders die Ehescheu seines jungen Freundes zum Gegenstande haben, an den genannten liebenswürdigen Mäcen des Dichters gerichtet; die übrigen sind augenscheinlich einer Geliebten gewidmet. – Shakspeare legt in den [X] Sonetten an Southampton Alles, was ihn bedrückt, dem Freunde an’s Herz. Die Klagen über den Abstand der Geburt zwischen ihm und dem Grafen, die Dichter-Eifersucht auf die poetischen Rivalen, der Mißmuth über seinen Schauspielerstand (Sonett 111, V. 3 u. 4) erscheinen uns als interessante Selbstbekenntnisse William Shakspeare’s. Will der Leser die Sonette richtig auffassen, so muß er sie nicht sprungweise, sondern vom Anfang bis zu Ende in ihrer Folge lesen. Schon eine erste solche Lesung zeigt, wie Regis richtig bemerkt, daß eine besonnene Redaction sich durch das ganze Buch hindurchzieht.

Die Sonettenform war schon vor Shakspeare in England bekannt. Schon Wyat hatte vor 1540 ziemlich regelmäßige Sonette nach italienischen Mustern producirt. Sidney’s Sonette (1591) nähern sich ziemlich der Petrarkischen Form. 1592 gab Daniel seine „Delia“ mit 57 Sonetten heraus. Spenser hat in seinen „Amoretti“ (etwa 1595) das Sonett ganz abweichend von dem italienischen gebaut. Unmittelbar vor Shakpeare erschienen vom Dichter Drayton (1605) 63 Sonette, unter dem Titel „Idea.“

Shakspeare scheint in den Sonetten den Dichter Daniel zum Prototyp genommen zu haben, da diese genau in demselben Versmaße geschrieben sind (126 u. 145 ausgenommen). Auch die Verschlingungen abstracter Gedanken und die Wiederholungen der Worte, wie sie bei [XI] Daniel vorkommen, finden wir ganz und gar in unseren Sonetten wieder. Die dreicouplettige Form scheint für die englische Sprache leichter und einfacher als der Sonettenbau des Petrarca zu sein.

Trotz aller künstlichen Gedankenverschlingungen, Wortspiele, concetti und dergl. mehr ganz im Geschmacke der Schnörkel liebenden Zeit Gehaltenen, sind die Sonette reich an tiefen Ideen und glänzenden Bildern, ganz des Dramatikers Shakspeare würdig. Der Leser muß sich nur nicht durch die hie und da in fast Hegel’scher Schulsprache vorkommenden, wunderbar lautenden und schwer zu entziffernden subtilen und metaphysischen Abstractionen irre machen lassen.

Die energische Kürze und Gedrängtheit der englischen Sprache, gegen die breiter gedehnte deutsche gehalten, bildet eine Hauptschwierigkeit für den hier auf eine streng zugemessene Form beschränkten Uebersetzer. Man könnte die englischen Worte als specifisch schwerer in’s Gewicht fallend betrachten, und doch soll der Uebersetzer, mit einer gleichen Anzahl von Worten oder Sylben die Bilanz zwischen Original und Uebertragung herstellen!

In wie fern uns diese, gewiß nicht ruhmlose Arbeit gelungen ist, überlassen wir dem Urtheile desjenigen Lesers, der auch des Englischen kundig ist, und der sich die Mühe nimmt, das Original mit der Uebersetzung zu vergleichen. Was hie und da auf den ersten Anblick dunkel [XII] erscheint, theilt dieses Schicksal mit dem Originale, das den englischen Commentatoren oft eben nicht leicht zu entziffern war. Der Uebersetzer konnte sich’s nicht erlauben, den Dichter, anstatt zu übertragen, zu emendiren und einen leicht verständlichen, mit stylistischer Glätte ausgedrückten Gedanken für die nicht selten subtil gekünstelte dunkele Schreibweise Shakspeare’s unterzuschieben.

Zum Schlusse müssen wir den Leser noch aufmerksam machen, daß die wunderlich sich ausnehmenden Sonette 135 und 136 eigentlich nur Wortspiele auf den Taufnamen des Dichters Will (abgekürzt von William) sind.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. ergänzt, fehlt im Scan