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Wilhelm Löhes Leben (Band 3)/Fünftes Kapitel

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Wilhelm Löhes Leben (Band 3)
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Fünftes Kapitel.


 Die Fürsorge für die ausgewanderten Volks- und Glaubensgenossen hatte Löhe mit seinen Gedanken und Bestrebungen in weite Ferne geführt. Diejenige Thätigkeit, welche ihn in dem letzten Abschnitt seines Lebens vorzugsweise in Anspruch nahm, und um welcher willen er Anerkennung und Dank auch von früheren Gegnern erntete: seine Thätigkeit auf dem Gebiet der weiblichen Diakonie, kam der Heimat zu gut. Die Schilderung derselben bildet den Schluß dieser Biographie.

 Was Löhe, als er den Werken der Diakonie sich zuwandte, wollte und erstrebte, geht am besten aus dem gegen Ende des Jahres 1853 von ihm veröffentlichten „Bedenken über weibliche Diakonie innerhalb der protestantischen Kirche Bayerns, insonderheit über zu errichtende Diakonissenanstalten“ hervor, welches deshalb, wenigstens seinem Hauptinhalt nach, hier mitgeteilt werden muß.

 1. „Wenn wir Seelsorger – beginnt dasselbe – auf unsre Dörfer hinauskommen, die Kranken zu besuchen, so finden wir allenthalben solche weibliche Personen, (naturwüchsige Diakonissen nannte sie Löhe), welche sich der Kranken und Elenden mehr als andere annehmen, weil sie durch eine in ihnen liegende Gabe dazu angereizt werden. Sie folgen dem natürlichen Drang. Was ihnen fehlt, ist die Ausbildung der Gabe. Viele von diesen Frauenspersonen würden biblische Diakonissen sein, wenn man sich ihrer| annehmen und ihnen die Ausbildung geben möchte. – Ausbildung der zum Dienst der leidenden Menschheit begabten Frauen ist ein pium desiderium und je länger je mehr eine Forderung an die Kirche.

 2. Auf dem Lande giebt es viele Familien, die nicht Landleute, und ebenso wenig Leute von städtischer Bildung genannt werden können... Da sich nun in diesem „Mittelstande“ der Bevölkerung des platten Landes viele leiblich und geistig begabte Frauenspersonen finden, so werden sie aus Mangel an Bildung häufig misgebildet an Geist und Gemüt, und benützen ihre Gaben oftmals auf eine üble Weise zum Verderben des eigentlichen Landvolks. Würde man sich ihrer hingegen annehmen, so würden sie gerade sehr begabte und einflußreiche Trägerinen und Vertreterinen göttlicher Gedanken werden. Besser könnte man sich ihrer aber nicht annehmen, als wenn man ihnen Gelegenheit eröffnete, ihre Gaben für den Dienst der leidenden Menschheit auszubilden. Sie würden dadurch... eine heilige und segensreiche Stellung in der Kirche finden, und die bequemsten Organe der Kirche für christliche Bildung des Landvolks sein. An ihrem Dienste an den Kranken- und Sterbebetten etc. würden viele lernen – und zwar nicht blos Krankenpflege. Also, sie würden Segen haben und Segen bringen – und zwar den Kranken unmittelbar, mittelbar aber der ganzen, namentlich der weiblichen Bevölkerung. – Christliche Bildung des weiblichen Mittelstandes auf dem platten Lande ist also auch ein pium desiderium.

 3. Gäbe es Bildungsanstalten für die in Nr. 1 und 2 genannten Klassen der weiblichen Bevölkerung, so würden diese auch von Töchtern aus andern christlichen Familien besucht werden, in denen man nicht eben den Zweck hätte, die Töchter zu Diakonissen bilden zu lassen... Es wären solche Anstalten nicht, was die Institute für die Töchter der höheren Stände[.]..; diese Anstalten| bildeten nichts als die vorhandene Fähigkeit zu weiblich christlichem Liebesdienst. Gerade damit aber gäben sie der mittleren Bevölkerung viel, zumal es in der menschlichen Natur liegt, daß man überhaupt und im Allgemeinen gebildet wird, wenn man für eine Seite des christlichen Lebens recht gebildet wird. Es kann aber nichts geben, was sich für Frauenspersonen mehr zum Bildungsmittel eignete, als die Befähigung zum Dienst der leidenden Menschheit.

 4. Diakonissenanstalten, in welchen man die Zwecke von Nr. 1–3 vor allem im Auge behielte, würden Segen für das ganze Land verbreiten... Hier würden Diakonissen gebildet werden, welche ihre Befähigung zum Dienste der Elenden anwenden könnten, sie blieben nun im ledigen Stande oder heirateten. Namentlich die Nr. 1 und 3 genannten Klassen von Zöglingen würden auf alle Fälle und in allen Lebenslagen sein, was sie geworden: hilfreiche Ratgeberinen ihrer Umgebungen, Beispiele und Quellen echt weiblicher Bildung.

 5. Diakonissenanstalten dieser Art würden aber zugleich Seminarien für eigentliche Krankenpflegerinen in Spitälern und Irrenhäusern, für Kleinkinderlehrerinen, Bonnen etc., für Missionarinen (!) etc. sein...

 6. Der Mittelpunkt für die Anstalten, von denen wir reden, müßten Spitäler sein. Ohne Spitäler findet die Lehre keine Praxis, und ohne Praxis ist eine Belehrung über den Liebesdienst der Frauen an der leidenden Menschheit kalt und unverständlich.“

 Die folgenden Punkte haben keine prinzipielle Bedeutung. Sie erörtern die Frage, ob man zum Beginn der Wirksamkeit sich zum Krankendienst in den großen Spitälern der vornehmsten Städte, oder in den kleinen Spitälern der Landstädte erbieten solle, und verneinen sie nach beiden Seiten hin. Dort würde man, von anderem abgesehen, in ein Gewebe von Rücksichten eintreten, welches die noch jugendlichen Bemühungen einschnüren, und ein eigentümliches| und naturgemäßes Wachstum der Sache nicht leicht zulassen würde; hier in engen und kleinlichen Verhältnissen verkümmern; man müsse daher an die Errichtung eines oder einiger neuer Spitäler denken.

 Weiterhin wirft dann das Bedenken die Frage auf, ob solche Spitäler in größeren Städten oder auf dem Lande zu errichten seien, um dann nach sorgfältiger Abwägung der Vorteile und Nachteile der Stadt und des Landes zu dem Schluß zu kommen:

 12. „Man wähle nun aber Stadt oder Land, so wird es vor allen Dingen darauf ankommen, einen Ort zu treffen, an welchem die rechten Leute zur Sache sich vereinigen können. So sehr liegt alles an Personen und nicht an den Gebäuden, daß man von allem Anfang an jede andere Rücksicht dem Zusammenfinden der Personen unterordnen muß. Von diesem Gesichtspunkt aus sind große Fonds großen Gebäuden vorzuziehen. Die Gebäude der älteren Waisenanstalten werden leicht große Denkmale ihrer Stifter, in denen kein Leben mehr haust.“

 Das also waren die Grundsätze, von welchen Löhe und eine Anzahl mit ihm verbundener Pfarrer und christlicher Frauen ausgingen, als sie sich zu gemeinsamer Liebesthätigkeit zusammenschlossen. Ihre nächste Absicht war „einen Frauenverein für weibliche Diakonie zu gründen, dessen Anfangspunkt die Gründung eines lutherischen Spitals, und einer damit verbundenen Diakonissenanstalt, dessen Fortgangspunkt vielleicht die Übernahme der Bedienung der kleineren und größeren Spitäler (des Landes) etc., dessen liebstes Ziel Bildung der weiblichen Jugend des Landes zum Dienste Jesu in der leidenden Menschheit wäre.“ (Bedenken Nr. 14.)

 Also nicht die Gründung eines Diakonissenhauses und die Heranbildung einer kleinen Schar von Frauen zum berufsmäßigen Dienst der Barmherzigkeit war es, was man zunächst beabsichtigte. Vielmehr wollte man in möglichst weiten Kreisen Sinn und Teilnahme für die Werke der Barmherzigkeit erwecken, möglichst viele| zu persönlicher Liebesarbeit heranziehen. In dieser Absicht gründete man einen Verein für weibliche Diakonie.
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 Dieser Verein nannte sich aber mit Absicht und Bewußtsein „lutherischer Verein für weibliche Diakonie.“ Denen, welche in der christlichen Charitas und ihren Werken einen neutralen Boden sehen, auf welchem die getrennten Konfessionen in und zu gemeinsamer Arbeit sich friedlich begegnen und verbünden sollten, mag diese Betonung des konfessionellen Charakters bei dem von Löhe gegründeten Verein Unbehagen erwecken. Es darf indessen nicht vergessen werden, daß Löhe, als er den Werken der Diakonie sich zuwandte, bereits eine Geschichte als Lutheraner hinter sich hatte. Er war, wie wir wissen, ein Eiferer um das Bekenntnis, um das reine Wort und Sakrament der lutherischen Kirche gewesen, und diese Vergangenheit konnte und wollte er nicht verleugnen. Darum misbilligte er die sogenannte Konföderation der Konfessionen zu gemeinsamen Liebeswerken, als welche nur zu leicht konfessioneller Gleichgiltigkeit und damit der Union Vorschub leiste. Daher durfte auch dem von ihm gestifteten Verein für weibliche Diakonie der unterscheidende konfessionelle Beiname nicht fehlen, wenn auch im übrigen Löhe es nicht verkannte, daß auf dem Gebiet der christlichen Liebesthätigkeit der konfessionelle Gegensatz seine Schärfe verliert und sich mehr als ein heiliger Wettstreit der getrennten Konfessionen in der Erfüllung einer ihnen allen vom HErrn der Kirche aufgetragenen Aufgabe darstellt. Aber eben unter diesem Gesichtspunkt kann man es doch nur mit Freude begrüßen, wenn auch die lutherische Kirche, der ihre Gegner so gerne einseitiges Interesse an der Lehre oder gar an Lehrstreitigkeiten nachsagen, sich auch auf ihren göttlichen Beruf, mit Oel und Wein des barmherzigen Samariters der leidenden Menschheit zu dienen, besann; und eben deshalb muß man es Löhe Dank wissen, daß er sich durch Fliedners Vorgang zum Eifern reizen ließ, auch der lutherischen Kirche seines| Heimatlandes den Segen des neubelebten altkirchlichen Diakonissentums und Anteil an jener gesammten Liebesarbeit zuzuwenden, welche die Herrlichkeit dieses Jahrhunderts ist. Von solchen Anschauungen aus kam Löhe zur Gründung eines lutherischen Vereins für weibliche Diakonie. „Wenn wir nicht von den römischen barmherzigen Schwestern überflügelt werden wollen und wenn wir mit dem auf diesem Felde reichbegabten und reich gesegneten Fliedner doch nicht gehen können, weil seine Thätigkeit uniert ist, so bleibt uns nichts übrig als uns zum Eifern reizen zu lassen und Anstalten zu gründen, in denen wir für die unabweisbaren Bedürfnisse unserer bisher so vielen Mietlingen preisgegebenen Spitäler, Irrenhäuser, Kleinkinderschulen und Missionen in kirchlicher Weise sorgen,“ so lesen wir schon in dem oben erwähnten Bedenken. Und ähnlich hat sich Löhe noch in seinen letzten Jahren über seine Stellung zu Wicherns und Fliedners Unternehmungen ausgesprochen. „Ich gestehe es gerade heraus – sagt er (im Korrespondenzblatt der Diakonissen 1868, Nr. 12) – daß ich bei der Gründung der Gesellschaft für innere Mission und später des Diakonissenhauses zunächst keine andere Absicht hatte als die, mich für meine heimatlichen Gegenden in Sachen der inneren Mission und des Diakonissentums der unierten Strömung in den Weg zu legen. Ich verehre die Männer (Wichern und Fliedner) aufrichtigst und bewundere sie, und ihr großes, mächtiges Gelingen wird von mir weder beneidet, noch gewünscht und gesucht. Gott schenke es ihnen tausendfältig! Was ich aber wollte und noch will ist weiter nichts als den Beweis liefern, daß der HErr auch meine der Augsburgischen Konfession so zu sagen angestammte Heimat und uns arme Lutheraner deshalb, daß wir das Fähnlein der ungemischten Abendmahlsgemeinschaft emporhielten, weder von der inneren Mission noch von der heiligen Diakonie des 19. Jahrhunderts ausschließe.“
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|  Allerdings also eine itio in partes auch auf diesem Gebiet, aber eine friedliche war es, was Löhe mit der Bezeichnung seines Vereins als eines lutherischen forderte. Daß diese Bezeichnung nicht den Sinn hatte, als sollte die Barmherzigkeitserweisung in die Grenzen der eigenen Konfession eingeengt werden, sondern nur den Grundsatz in sich schloß, daß diejenigen, die zu Liebeswerken sich vereinen, Eines Geistes und einträchtig im Glauben sein sollten,[1] braucht wol nicht erst bemerkt zu werden.
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|  Nachdem die der Kgl. Regierung vorgelegten Satzungen des Vereins genehmigt worden waren, traten am 13. März 1854 sechs Frauen und acht Geistliche, sämmtlich der Diözese Windsbach angehörig, in Neuendettelsau zusammen und konstituierten sich als Muttergesellschaft. Diese Muttergesellschaft, der die Ausführung der Vereinszwecke und Leitung der Vereinsangelegenheiten oblag, bestand aus einem Kollegium von männlichen Helfern und einem Frauenvorstand, der sich seinerseits wieder aus den leitenden Schwestern oder Vorsteherinen, den Helferinen und den Vorsteherinen der Hilfsvereine zusammensetzte.

 Am 14. März berief Löhe Jungfrau Karoline Rheineck, eine ehemalige Kaiserswerther Diakonissin, Jungfrau Amalie Rehm und Fräulein Helene von Meyer, drei begabte und bewährte und für den Gedanken des Diakonissentums begeisterte Jungfrauen, als Vorsteherinen an die Spitze der Muttergesellschaft.

 Der neugegründete Verein hatte nach § 1 seiner Statuten als allgemeinen Vereinszweck: „Erweckung und Bildung des Sinns für den Dienst der leidenden Menschheit in der luth. Bevölkerung Bayerns,| namentlich in dem weiblichen Teile derselben,“ als Mittel zum Zweck aber: „Gründung lutherischer mit Diakonissenanstalten derselben Konfession verbundener Hospitäler, Ausbildung von Diakonissen“ etc. bezeichnet. Ein Netz von Vereinen nach dem Muster der Muttergesellschaft organisiert und mit ihr gliedlich verbunden, in denen Leben und Puls der Muttergesellschaft schlüge, sollte sich über das ganze protestantische Bayern ausbreiten und (mit Löhes Worten zu reden) ein Feuer der Liebe und Barmherzigkeit durch das ganze Land hin entzündet werden. Kranken- und Diakonissenhäuser sollten nicht fehlen, aber keineswegs so an die Spitze treten, daß in ihnen das ganze Leben des Vereins sich ergösse.
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 Allein die Ausführung blieb hinter dem Gedanken zurück. Zwar entstanden ziemlich rasch mehrere Zweigvereine, so in Nürnberg, Hersbruck, Memmingen, Altdorf, Nördlingen, später in Neuendettelsau selbst, in Fürth, Heidenheim und Wendelstein. Indes wenn auch diese Zweigvereine fast alle eine gesegnete, zum Teil auch nicht unbedeutende lokale Thätigkeit entfalteten, so liegt doch zu Tage, daß die Bildung von neun (später nur sieben) Zweigvereinen im ganzen protestantischen Bayern eine mehr als kümmerliche Erfüllung, ja eine Enttäuschung der Wünsche und Hoffnungen Löhes genannt werden muß. Der Verein für weibliche Diakonie blieb immer „eine schwache kränkelnde Pflanze,“ die nie zu kräftigem Emporgehen kam. Desto gedeihlicher war die Entwicklung der Diakonissenanstalt. Es ist so des HErrn Art: Er korrigiert nicht selten auch die wolgemeinten und woldurchdachten Pläne seiner Knechte und formt sie ihnen wie Thon in der Hand des Töpfers mitten in der Ausführung um, so daß etwas anderes daraus wird als sie wollten. Nicht in dem Verein, mit dem, wie Löhe selbst später gestand, man sich zu Großes vorgenommen hatte, sondern in der Diakonissenanstalt lag von ihrer Entstehung an der Schwerpunkt der Löheschen Bestrebungen auf dem Gebiet der weiblichen Diakonie.| Die Diakonissenanstalt erwuchs so rasch zu selbständiger Bedeutung und überflügelte den Verein für weibliche Diakonie in solchem Maße, daß wir für den weiteren Verlauf unserer Erzählung von letzterem vollständig absehen dürfen, da die Entwicklung des Diakonissenhauses ausschließlich Aufmerksamkeit und Interesse des Betrachters fesselt.
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 Die Gründung eines Diakonissenhauses (oder eigentlich mehrerer kleinerer Diakonissenhäuser) war ja, als Mittel zum Zweck, von Anfang an ins Auge gefaßt worden. Aber auch hier erfuhr die ursprüngliche Idee durch die thatsächliche Entwicklung eine wesentliche Umbildung. Nicht ein Mutterhaus, nicht eine Diakonissengenossenschaft, nicht eine evangelische Nachbildung des römischen Ordens der barmherzigen Schwestern war es, was Löhe eigentlich wollte, sondern (wie er selbst sagt) „etwas weit Einfacheres und Volksmäßigeres,“ etwas, das sich näher mit dem altkirchlichen Gemeindediakonissentum berührte. „Uns lag (sagt er) wie bei dem Vereine für weibliche Diakonie, so auch bei den (beabsichtigten) Diakonissenanstalten die weibliche Jugend des platten Landes und deren Ausbildung für die Werke der Barmherzigkeit im Sinn. Unsere Leute, für unsere eigenen nächsten Bedürfnisse, wollten wir heranbilden. Nicht für immer, sondern nur einstweilen wollten wir uns in Neuendettelsau selbst festsetzen und mit einer kleinen Anstalt für weibliche Angefochtene und einer anderen für schwachsinnige Kinder den Anfang zu einer Thätigkeit suchen, die auf kurzem Weg unserem eigenen Volke zu Nutz und Dienst kommen sollte.“ Also eine Bildungsanstalt, in welcher die Töchter vom Land, sonderlich diejenigen aus dem weiblichen Mittelstande, einen theoretischen und praktischen Instruktionskursus in Krankenpflege und sonstiger Diakonissenarbeit durchmachen und aus welcher sie neben dem Gewinn einer gewissen allgemeinen Bildung auch Sinn und geschulte Tüchtigkeit für die Werke der Barmherzigkeit in ihre| heimischen Kreise hinaustragen und das Gelernte im Dienst der Leidenden ihrer nächsten Umgebung verwerten sollten: das etwa war die Idee, die Löhe bei der Gründung des Vereins für weibliche Diakonie vorschwebte. Noch in seiner letzten Lebenszeit erschien ihm dieser ursprüngliche Gedanke weit größer und bedeutender als was in geschichtlicher Verwirklichung hernach an dessen Stelle trat. Indes erkannte er in der von dem eigenen Plan abweichenden Entwicklung der Dinge gleichwohl Gottes Fügung.

 Doch auch bei der ursprünglichen Fassung des Plans wäre eine Diakonissenanstalt nicht zu entbehren gewesen.

 Aber es fragte sich nun, wo das erste Diakonissenhaus entstehen sollte. Man hätte denken können, daß diese Frage keiner Ueberlegung bedurfte, da alle Umstände auf Dettelsau hinwiesen, wo allein die Bedingungen des Gedeihens des Unternehmens gegeben waren. Mit vollem Recht hatte Löhe in dem oben angeführten Bedenken gesagt: „Es wird vor allen Dingen darauf ankommen, einen Ort zu treffen, an welchem die rechten Leute zur Sache sich vereinigen können. So sehr liegt alles an den Personen, daß man von allem Anfang an jede andere Rücksicht dem Zusammenfinden der Personen unterordnen muß.“ Allein wenn auch gar kein Zweifel darüber walten konnte, daß das geplante Diakonissenhaus entweder in Neuendettelsau oder überhaupt nicht entstehen würde, so verursachte doch die ländliche Abgeschiedenheit des Dorfes das Bedenken, ob es zweckmäßig sei, an einem solchen Ort einen immerhin kostspieligen Neubau aufzuführen, der, wenn er seinem Zweck einmal nicht mehr dienen könnte, nicht viel mehr als ein wertloser Steinhaufen sein würde. Heute, wo wir auf 38 Jahre wunderbar gesegneten Wachstums der hiesigen Diakonissenanstalt zurückblicken, kommt uns diese Besorgnis verwunderlich vor; damals aber gehörte Mut dazu, dieses Bedenken, das einzige, welches der Wahl Neuendettelsaus im Wege stand, zu überwinden.| Schließlich tröstete sich Löhe mit dem Gedanken, daß „wenn das Diakonissenhaus auch nur ein Jahrzehnt unter Gottes Segen seinem Zweck gedient hätte und dann zur Ruine würde, der Geldverlust gar nicht in Anschlag zu bringen wäre gegen den Strom der Güte und Barmherzigkeit des HErrn, der sich in dieser Zeit von ihm ergossen haben würde.“ Und so blieb es bei der Wahl Neuendettelsaus.

 Nachdem die Ortsfrage entschieden war, gieng man unverweilt an die Ausführung des Plans. Die drei Vorsteherinen waren bereits an Ort und Stelle, auch eine genügende Anzahl von Schülerinen, sechs Diakonissenschülerinen und zwei Hospitantinen, war angemeldet und so wurde am 9. Mai 1854, dem Tage Hiobs, die Neuendettelsauer Diakonissenanstalt eröffnet. Die Anstalt war damals und während des ganzen Sommers hindurch zur Miete in den oberen Räumen des Gasthauses zur Sonne, wo früherhin auch die Missionsanstalt Herberge gefunden hatte, so daß jenes allerdings sehr ländliche Gasthaus die Wiege der beiden in Neuendettelsau jetzt noch neben einander bestehenden Anstalten geworden ist. Die Eröffnung gieng in feierlicher Weise vor sich. Man begab sich in festlichem Zug in die von einem zahlreichen Publikum der Umgegend dicht besetzte Kirche. Nach Gesang und Schriftverlesung (Matth. 25, 31–46 und Röm. 16, 1–16, zwei Lektionen, die seitdem bei allen Einsegnungsfeiern des Diakonissenhauses immer wieder erklingen) übergab der Vorstand des Vereins Dekan Bachmann die (freilich erst werden sollende) Diakonissenanstalt dem leitenden Kollegium, in dessen Namen Löhe die geschehene Uebergabe acceptierte und eine Ansprache an die um den Altar her versammelten Vorsteherinen und Schülerinen der Anstalt hielt.

 Die Diakonissenanstalt war hiermit eröffnet. Schon am nächsten Tag fieng Löhe seinen Unterricht an mit Repetition des Katechismus, und einige Tage darauf begann auch der ärztliche Unterricht,| den Dr. Schilffarth von Windsbach erteilte. Noch ein dritter Lehrer war an der jungen Anstalt thätig: der Schullehrer Güttler, ein Dettelsauer Kind, ein Schüler und Pflegling Löhes. Derselbe erteilte den Gesangunterricht und sollte außerdem sich der geistigen Pflege von Schwach- und Blödsinnigen widmen. Mit Eifer gieng man allerseits ans Werk: die Lehrer lehrten, die Vorsteherinen repetierten den gesammten Unterricht, und mit jenem Schwung der Seelen, den geistlich gehobene Anfangszeiten zu verleihen pflegen, setzte man sich über Unvollkommenheiten und Mängel des äußeren Lebens hinweg und fügte sich gern in die engen Verhältnisse des Gasthauses zur Sonne. Aber freilich mehr als eine interimistische Herberge konnte die Diakonissenanstalt dort weder suchen noch finden: man mußte sofort an die Aufführung eines Neubaues denken. Nahe genug am Dorf und doch in solcher Entfernung, daß die allmählich entstehende Diakonissenkolonie ein in sich geschlossenes Ganzes bilden konnte, auf dem höchsten Punkte der Umgegend, von wo aus man einen stillen, lieblichen Blick in die nahen fränkischen Berge genießt, wurde der Bauplatz gewählt und so rasch ans Werk gegangen, daß bereits am 23. Juni 1854 der Grundstein gelegt werden konnte. Man hielt es der Bedeutung der Sache für angemessen, diesen Akt feierlich zu begehen und über den bereits aus der Erde sich erhebenden Bau den Segen Gottes herabzuflehen. Es war die erste derartige Feier in Dettelsau, der später so viele ähnliche folgen sollten. Deshalb und weil bei der schönen liturgischen Ausgestaltung des Actes eine eingehendere Beschreibung von allgemeinerem Interesse sein dürfte, glauben wir über den Verlauf dieser Feier etwas mitteilsamer sein zu sollen.
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 Es war der Freitag nach Trinitatis. Eine ansehnliche Zahl von Teilnehmern aus der Nähe und Ferne hatte sich versammelt. Um vier Uhr nachmittags bewegte man sich in feierlichem Zuge dem Bauplatze zu. Als der Zug dem emporwachsenden Gebäude| sich auf etwa 100 Schritte genähert hatte, wurde, (wol auch in Rücksicht darauf, daß der nächste Tag der Geburtstag St. Johannis des Täufers war) das Lied: „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“ angestimmt. An der südöstlichen Ecke des Baues machte man Halt, und einer der teilnehmenden Geistlichen las nach dem Versikel: Unsre Hilfe stehet etc. die Lektion Matth. 20, 20–28, worauf Löhe folgende Kollekte betete:

 „HErr Jesu Christe, der Du nicht kommen bist, daß Du Dir dienen lassest, sondern daß Du dienest, und gebest Dein Leben zu einer Erlösung für viele, und bist ein Herzog worden aller derer, die da lieb haben, und ihr Leben für die Brüder lassen: verleihe uns, Deinen Knechten und Mägden, daß wir Dir zu Dienst, und denen, die nach Deinem Willen leiden, dies Haus bauen, und, wie wir es angefangen haben, es auch zu Ende bringen. Amen.“

 Darauf zog die Versammlung unter dem Gesang des 5. und 6. Verses des angefangenen Liedes an der Südseite des Baues weiter, bis zur Stelle des Haupteingangs. Hier wurde als zweite biblische Lektion gelesen Joh. 13, 4–17, woran sich folgende Kollekte anreihte:

 „O HErr, der Du, obwol ein HErr und Meister, Deinen Jüngern die Füße gewaschen, und Deiner Knechte Leib und Seele mit Deinem Blute gereinigt hast: gib allen denen, die in dies Haus eingehen wollen, um Dir in Deinen Leidenden dienen zu lernen oder zu dienen, daß sie gesinnet seien wie Du, und es für Gewinn achten, Deinen geringsten Brüdern die Füße zu waschen. Amen.“

 Darauf bewegte sich der Zug um die südwestliche Ecke des Baues bis zur Nordseite, wo das Lied: „Herzlich lieb hab ich Dich, o HErr“ gesungen, als dritte Lektion Matth. 25, 31–46 gelesen, und die Kollekte gesprochen wurde:

 „O HErr, der Du alle Dienste, die man den geringsten| Deiner Kinder thut, ansehen willst, als Dir gethan: verleihe allen Deinen Christen, daß sie Deines großen Tages gedenken, und von Herzensgrund voll himmlischer Begier nach Deinen süßen Worten eifrig dienen Deinen Armen. Amen.“

 Hierauf sang die Versammlung V. 1–3 des Liedes: „Fang dein Werk mit Jesu an“ und zog nach der nordöstlichen Ecke des Baues, wo der Schluß des Grundsteins zu geschehen hatte. Der Vorstand des Vereins, Dekan Bachmann, hielt hierauf an die Versammlung eine Ansprache, und verlas das von Löhe verfaßte Dokument, welches in den Eckstein eingelegt werden sollte. Der charakteristische Eingang und der schöne Schluß desselben verdient hier mitgeteilt zu werden.


Im Namen Jesu.

 Im Jahre des Heils 1854,
am 23. Junius an St. Johannis des Täufers Vorabend, an einem Freitag Nachmittags 5 Uhr,
ist der Grund und Sockel dieses Diakonissen- und Krankenhauses feierlich geschlossen, und durch Gebet und Gottes Wort geweiht worden.

 In demselben herrschte über diese fränkischen Gauen König Maximilian II., Herzog von Bayern etc. Derselbe war, obwol der römisch-katholischen Kirche zugethan, menschlichen Rechtes summus episcopus der lutherischen Kirche in seinem Königreich, regierte aber dieselbe Kirche durch ein Oberkonsistorium ihres eigenen Glaubens, an dessen Spitze er als Präsidenten gesetzt hatte den lutherischen Dr. theol. Adolf Harleß von Nürnberg. Dieser war der erste Oberkonsistorialpräsident geistlichen Standes, nachdem alle seine Vorgänger Juristen gewesen waren. Der HErr wolle das Wort der Wahrheit durch die Hand dieses Mannes fortgehen lassen und siegen in dieser armen bayerischen Landeskirche!


|  Hierauf beschreibt das Dokument die parochialen Verhältnisse von Neuendettelsau, gedenkt der im gleichen Jahre erfolgten Gründung der Missionsanstalt in Neuendettelsau und der Diakonissenanstalt, um dann fortzufahren:

 „Dieses Haus ist gebaut nicht aus dem Reichtum der Unternehmer, sondern aus Wagnis des göttlichen Wohlgefallens. Die Kosten des Baues wurden durch Geschenke, unverzinsliche und verzinsliche Darlehen aufgebracht. Durch nach und nach einkommende Geschenke sollen die Schulden bezahlt werden. Am Tage der heutigen Feier... war Hoffnung vorhanden, daß der HErr, der barmherzige Gott, alle Sorge auf sich nehmen, und unserem Vorhaben sein gnädiges Gedeihen schenken werde.“

 Der schöne Schluß lautete:

 „Dies Haus soll sein wie ein Altar des Zeugnisses auf dieser Höhe, dem HErrn, dem dreieinigen Gott, dem Vater, Sohne und Geiste, zum Ruhm und Preis und Dank für seine ewige Barmherzigkeit und Gnade gegen uns arme Menschen auferbaut. Der HErr lasse sich unsere arme Stiftung wohlgefallen, und lasse dies Haus Sein Haus sein, bis seine Zeit vorüber ist, und es wie alle irdischen Dinge dahinfallen wird. Es kann niemand einen andern Grund legen als den, welcher auch diesem Hause gelegt ist, unsern einigen hochgelobten HErrn und Heiland, Jesum von Nazareth, den Christus Gottes. Auf diesem Grunde soll bleiben dies Haus bis an sein Ende. Gesegnet seien, die in diesem Hause und über diesem Grunde wohnen, wandeln, dienen, leiten und lehren! Gesegnet seien die Lernenden, die Übenden, die Kranken, die Sterbenden auf diesem unsern einigen Grunde! Der Segen gehe aus von diesem Hause rings in das Land wie die Quelle Siloah, die still ist und klein, und dennoch reich und hochberühmt im Hause Gottes! Gottes Gruß und Segen gehe in barmherziger dienender Liebe| von diesem Hause aus in die vier Winde, auf die Berge und in die Thäler und in die Breiten unseres Heimatlandes! Es sei auch Friede mit diesem Hause, und mit denen, die darin wohnen, und das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, reinige uns von aller unserer Sünde! Amen.“

 Hierauf wurde nach abermaliger Ansprache die Kapsel mit dem Dokument in den Grundstein eingelegt, und derselbe im Namen des dreieinigen Gottes mit den üblichen drei Hammerschlägen geschlossen.

 Den Schluß der Feierlichkeit machten folgende Versikeln und Kollekten: Einen andern Grund kann niemand legen, denn der gelegt ist. Halleluja.

 Es ist in keinem andern das Heil. Halleluja!

 O HErr, allmächtiger Gott, verleihe, daß alle, die auf diesem Grunde bauen, und solchem Bau mit reinem Herzen dienen, am Leibe stark, und heil an ihren Seelen, ihrer Hände Arbeit im Segen thun und wohl vollbringen. Durch etc.

 Der HErr unser Gott sei uns freundlich, und fördere das Werk unserer Hände. Halleluja.

 Ja, das Werk unserer Hände wolle Er fördern. Halleluja.

 All unser Thun, o HErr, wollest Du mit Deinem Geiste beginnen, und durch deine Hilfe fördern, auf daß unser Thun und Vornehmen stets mit Dir beginne, und durch Dich zum guten End und Ziel gelange. Durch etc.

 Der Gesang der beiden letzten Verse des angefangenen Liedes: „Fang dein Werk mit Jesu an“ schloß den Akt.




 Und nun begann eine Zeit rüstigen Schaffens am Bau. Nie wieder – sagte Löhe – habe man bei späteren Bauten in| Dettelsau einen solchen Fleiß und Eifer der Bauleute zu sehen bekommen. Aufs willigste ließen sich die Maurer Arbeit bei Tag und Nacht zumuten. Die Landleute der Umgegend halfen und frohnten mit einer Willigkeit, wie wenn es in früheren Zeiten galt, zum Bau der eigenen Pfarrkirche Handreichung zu thun. Nur so wurde es möglich, den Bau trotz seines nicht unbeträchtlichen Umfangs – das zweistöckige Hauptgebäude war 100 Fuß, und der Seitenflügel 60 Fuß lang – schon bis zum 10. August (Laurentiustag) unter Dach, und bis zum 12. Oktober zu Ende zu bringen, und zwar so, daß er an diesem Tage bereits bezogen werden konnte. „Es schien, als hätte Gott der HErr selbst unmittelbar zum Werk geholfen“ sagt Löhe.
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 Aber mit der Bauarbeit begann auch eine Zeit der Sorge – oder sagen wir lieber – der Glaubensübung für den, auf dem ganz allein die Last und Verantwortung des ganzen Unternehmens ruhte. Gar manchen Seufzer hat Löhe damals seinem Tagebuch anvertraut. Schon die äußere Unruhe und Arbeit, welche der Bau ihm brachte, war groß, da er alle Pflichten des Bauherrn bis ins Kleinste hinein selbst wahrnehmen mußte. „Die Bausachen – lesen wir einmal in seinem Tagebuch nehmen mir erschrecklich viel Zeit. Ich kann wenig arbeiten, da ich den Unterricht des Arztes mit höre, täglich zwei Stunden für die Missionsschüler und meinen Schulunterricht gebe. Von 6 Uhr Morgens bis 9 oder 10 Uhr, dann Nachmittags von 3–5, 1/26 Uhr Unterricht. Dann diese Plage mit den Stein- und Fuhrakkorden! Du lieber Gott, was für eine Plage und Schinderei ist das!“ Der Samstag brachte Woche um Woche noch eine besondere „Tribulation“: das Auszahlen des Wochenlohns an die Arbeiter. Aber die Arbeitslast war doch nichts gegen die Sorgenlast, die sich Löhe auf das Herz legte, die er allein tragen, und deren „Berge er glaubend ins Meer beten mußte.“ Tausende sollte er zahlen, und wenig gieng| für den Bau ein. Die Summe der Geschenke betrug 1196 Fl. 35 Kr., das Übrige mußte durch Anlehen aufgebracht werden. Bei Beginn des Baues betrug die Summe der in Aussicht gestellten verzinslichen Darlehen 7000 Fl. Der Bau unter solchen Umständen war ein reines Wagnis im Glauben. Löhe hat in der Folgezeit noch mehr im Glauben gewagt, und ist nicht zu Schanden geworden, wenn gleich, wie er sagt, „mehr als einmal die Wasser der Sorge ihm bis an den Hals gingen.“ Er könne sich – sagt er ein andermal – nicht der Erfahrungen eines A. H. Francke rühmen, dem so oft das Geld, das er brauchte, unverhofft und wunderbar zu Händen kam. Auch habe er kein Talent gehabt zu betteln und Geschenke aufzubringen, und habe kaum jemand um Gaben angesprochen. Er habe je und je die Last der Sorgen schwer empfunden und getragen, und doch sei ihm immer geholfen worden, und er sei auch eines von den vielen Beispielen, an denen jenes Wort des Magnifikat sich bestätigt habe: „die Hungrigen füllet Er mit Gütern und lässet die Reichen leer.“ – In späteren Zeiten durfte ja das Diakonissenhaus und Löhes Nachfolger andere Erfahrungen machen. Auch bei großen und sehr bedeutende Mittel fordernden Unternehmungen wurden ihnen die Hände rasch gefüllt, von vermögenden Mitgliedern der Schwesternschaft selbst reiche Opfer gebracht, und so die Sorgenlast und der Glaubensweg ihnen verhältnismäßig leicht gemacht.
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 Der Anfang war unendlich viel schwerer. Als man bei Beginn des Baues auf dem Bauplatz den höchst nötigen Brunnen graben wollte, stieß man auf Felsgestein. Bis zu einer Tiefe von 50 Fuß mußte man den Brunnenschacht mehr aushauen als graben, ohne daß sich Wasser zeigte. Endlich, nachdem man bei der Höhe der Lage bereits ängstlich geworden war, kam es in einer Tiefe von 57 Fuß mit Macht. Ich möchte diese Brunnenarbeit mit der Glaubensarbeit, die der schwere Anfang des Diakonissenhauses| forderte, vergleichen. Wenn man später (um im Bilde zu bleiben) in einer an 2 Kön. 3 erinnernden Weise nur Furchen und Gräben zu ziehen hatte, um die Ströme göttlichen Segens rauschen zu hören und in die bereiteten Rinnsale sich ergießen zu sehen, so möge über der Freude an dem gesegneten Fortgang die Not des schweren Anfangs nicht vergessen werden.

 Er war schwer, dieser Anfang. Das Diakonissentum war in Bayern damals eine noch fast unbekannte Sache, die mit den lächerlichsten und gehässigsten Vorurteilen zu kämpfen hatte; Löhes Namen mit Mistrauen behaftet, der Kreis, auf dessen Teilnahme gerechnet werden konnte, ein kleiner. Da war es nicht zu verwundern, daß der Zufluß von Mitteln ein knapper war, und die Sorge um Herbeischaffung des Nötigen oft drückend wurde, zumal auch die eben damals mit schweren finanziellen Anfangsnöten ringende Iowasynode auch auf Löhes Hände sah und durch ihn die Beschaffung der nötigen Mittel zur Bezahlung ihrer Seminarschuld in Dubuque erwartete. Unter solchen Umständen wird man sich aber auch darüber nicht wundern, wenn über Löhe Augenblicke kleinmütiger Stimmung kamen, in denen ihn, wie er in seinem Tagebuch schreibt, der Gedanke plagte, es möchte Gott an dem Diakonissenbau kein Wohlgefallen haben. „Gott sei mir gnädig – fügt er an der erwähnten Stelle hinzu – und nehme mein armes Opfer an! Amen.“

 Doch das waren vorübergehende Stunden der Anfechtung des Kleinmuts. Der Fortgang des Unternehmens und der bald handgreiflich sich offenbarende Gottessegen war Unterpfand genug, daß auf dem Werk Gottes Wohlgefallen ruhe. Es lautet anders als jene zur Zeit der größten Baunot und Bausorge ihm entflohenen Stoßseufzer, wenn Löhe nicht ganz ein Jahr später schreiben konnte: „Unsere Anstalt zählt gegenwärtig 60 Schülerinen, und in Summa 110 Seelen. Der Segen des HErrn ist sichtlich mit uns, so daß| mir manchmal bange wird, ob nicht irgendwo der neidische Feind alles Guten laure.“

 Aber auch schon während des Baues erweckte der überraschend günstige Fortgang desselben frohe Hoffnung auf noch reicheren Gottessegen, und vollends, als der Tag der Einweihung des Hauses gekommen war, erfüllte ein hohes Gefühl der Freude über das gelungene Werk und zuversichtliches Vertrauen in die Zukunft desselben alle Gemüter.

 Der 12. Oktober, der Namenstag des damals regierenden Königs Maximilians II., war zum Weihetag des Hauses bestimmt.

 Trotzdem daß, als der Festtag nahte, nach langer Trockenheit der Himmel seine Schleusen öffnete, und strömender Regen alle Wege aufweichte, sammelte sich doch von nah und fern, dem Ries, dem Altmühl- und Pegnitzthal, eine große Menge zur Feier, die sich die Feststimmung durch die Ungunst des Wetters nicht im mindesten stören ließ. Man nahm den strömenden Regen als Weissagung auf die Segensströme, die, als Erhörung so vieler Gebete, auf die junge Pflanzung sich ergießen würden, und sang fröhlichen Mutes:

Goldner Himmelsregen,
Schütte Deinen Segen
Auf das Kirchenfeld;
Lasse Ströme fließen,
Die das Land begießen,
Wo dein Wort hinfällt,
Und verleih,
Daß es gedeih;
Hundertfältig Frucht zu bringen,
Laß ihm stets gelingen.

 Der Morgen des Festtags vereinigte die Festgäste zum Gottesdienst in der Pfarrkirche. Löhe predigte über Ps. 73, 25. 26. Eine überraschende Textwahl, die aber jedenfalls zeigt, wie fern| Löhe an diesem Tag war, der menschlicherweise so natürlichen und doch im Grunde eigenliebigen Freude Raum zu geben, die sich am Genuß des vollbrachten Werkes weidet. Er führte vielmehr in jener Predigt aus, wie wenig der Mensch Ursache habe und wie wenig es Befriedigung gebe, mit Wohlgefallen in seinen Werken, statt allein in Gott zu ruhen; daß nur derjenige der Lehre von der Rechtfertigung mit ganzem Glauben zufalle, der in Abgeschiedenheit von allen Dingen, nach Himmel und Erde nichts fragend, sich allein an seinem Gott in Christo Jesu genügen lasse; daß nur bei völliger Genüge in Gott die rechte Wertschätzung aller Dinge möglich sei, da man jedes Ding an den Ort stelle, da es ewig bleiben kann; daß somit eben aus dieser Ruhe und Weltabgeschiedenheit des Glaubens die Thatkraft der rechten Liebe fließe, die nichts anderes suche als Jesu Ehre und der Brüder Heil etc.

 Mit jeder Stunde des Tags mehrte sich die Zahl der Festgäste trotz des vom frühen Morgen an in Strömen sich ergießenden Regens. Derselbe machte es unmöglich, die auf Nachmittags 2 Uhr festgesetzte Festfeier im Freien vor dem einzuweihenden Hause abzuhalten. Man versammelte sich daher zur festgesetzten Stunde wieder in der Ortskirche, die aber die Menge der Teilnehmenden nicht zu fassen vermochte. Die Feier wurde mit einer Ansprache des Vorstandes des Vereins, Dekans Bachmann, über Luc. 5, 17–26 eröffnet. Dann folgte eine Reihe von Lektionen, die teils der Schrift, teils den Schriften der Väter unsrer Kirche entnommen, teils von Löhe eigens für diesen Zweck verfaßt waren und von der andächtig lauschenden Versammlung „mit mächtigem Liederschall aus tiefster Seele“ erwiedert wurden.

 Die Reihenfolge der Lektionen und der ihr zu Grunde liegende Gedankengang war folgender:

1. Lektion Matth. 20, 20–28: Der Dienst des HErrn in der Erlösung der Welt.|
2. Lektion Joh. 13, 4–17: Der Dienst des HErrn im täglichen Fußwaschen.
3. Lektion Matth. 25, 31–46: Seine Forderung an die Kirche, Ihm im Dienste und in der Barmherzigkeit nachzufolgen.




4. Lektion. Aus Scrivers Seelenschatz.
 Die Lektion beginnt mit den Worten: „Die Erfahrung lehrt, wenn man zwei Lauten neben einander auf den Tisch legt und auf der einen eine Saite berührt, daß sie erschallet, daß auf der anderen die Saite, welche mit der berührten gleichstimmig ist, sich auch bewegt, als wenn sie auch berührt wäre.“
 Dies „Anschlagen verwandter Saiten“ sollte andeuten, daß die Not des Christen im Herzen des HErrn und der Brüder wiederklingt.
5. Lektion. Aus Scriver: Der Barmherzigkeit Art, Beschaffenheit und verschiedene Erweisung.
6. Lektion. Aus Heinrich Müller: Freiwilligkeit der Barmherzigkeit.




Die 7., 8. und 9. Lektion war von Löhe selbst verfaßt, und ich glaube, recht zu thun, sie hier in extenso mitzuteilen.
Die 7. Lektion stellt „das hohe Beispiel Jesu und seiner Apostel in der Barmherzigkeit vor Augen. Sie lautet:
 „Nachdem wir also Gottes Wort und die Ermahnung heiliger Lehrer von der Barmherzigkeit vernommen haben, so lasset uns aufschauen auf diejenigen, die uns zum Wort heiliges Beispiel gegeben haben. Vor allem laßt uns aufsehen auf den Herzog der Barmherzigkeit, unsern HErrn Jesus, der obwol arm, dennoch reich gewesen ist an Barmherzigkeit. Er hatte nicht, wo er sein Haupt hinlegen konnte, aber er hat uns ewige Wohnungen im Hause| seines Vaters bereitet. Er lebte von der Wohlthat der Frauen, die ihm folgten, er hungerte in der Wüste und dürstete am Kreuze, aber er speiste doch barmherzig 5000 Mann und 4000 mit der Speise der Notdurft und tränkte die Hochzeitleute von Kana mit Freudenwein. Er machte die Blinden sehend, die Tauben hörend, die Sprachlosen redend, den Lahmen gab er gesunde Glieder, die mit Krankheit und Seuchen behaftet waren, heilte er; die Toten weckte er auf; und unter allen seinen Wundern ist nur eines, das man versucht sein könnte, mehr ein Wunder der Gerechtigkeit als der Barmherzigkeit zu nennen. Er war ein Tröster der Witwen, der Witwe von Nain und der Witwe unter dem Kreuz, ein Tröster der Gefangenen, des gefangenen Täufers Johannes, ein Seelsorger der Sterbenden, sogar im eigenen Sterben, denn er führte den sterbenden Schächer zum Paradies. St. Petrus faßt seinen ganzen Lebenslauf zusammen in die Worte: „Er ist umhergegangen und hat wohlgethan,“ d. i. Barmherzigkeit erwiesen. Und ist sein Leben nichts anderes als eitel Barmherzigkeit, welch einen Ruhm und Preis der Barmherzigkeit soll man alsdann seinem Tode geben und seiner Auferstehung und seinem Leben in der Majestät, sintemal er sein Leben gegeben hat zu einer Erlösung für viele, um unsrer Gerechtigkeit willen auferstanden ist und im ewigen Heiligtum immerdar lebt und für uns bittet? Darum wir auch ohne Ende zu ihm rufen und schreien: Kyrie eleison.
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 Seinen heiligen Aposteln verhieß der Herr, daß sie dieselbigen Wunder der Barmherzigkeit auch thun sollten; ja er verhieß ihnen größere dazu. Darum gingen sie auch hinaus, zwar in Armut, wie er selber, aber auch in demselben Reichtum, wie ihr Herr. Allenthalben und unter allen Völkern, zu denen sie kamen, sahen die Blinden, hörten die Tauben, redeten die Stummen, sprangen die Lahmen, genasen die Kranken, standen die Toten auf, die Traurigen wurden getröstet, Barmherzigkeit speiste die Hungernden,| tränkte die Durstigen, besuchte die Gefangenen, tröstete die Sterbenden. Ihr ganzer Lebenslauf war lauter Barmherzigkeit und über ihren Gräbern erblühte die Kirche d. i. ein Paradies der Barmherzigkeit.

 Und ein Amt der Barmherzigkeit stifteten sie im Namen Jesu, unsers HErrn. Denn auch für Apostel war es zuviel, zugleich das Wort des Amts und der Barmherzigkeit zu führen.

 Schön ist sie und groß, reich und gesegnet, die Schaar der heiligen Diener Christi unter den Leidenden; gesegnet von den ersten Sieben zu Jerusalem an bis zu Laurentius, dem hellen Stern, und bis in die späteren Zeiten.“

 Die 8. Lektion führte das Beispiel jener Helden der Barmherzigkeit vor Augen, die sich des fränkischen Volkes angenommen und es zu Christo und einem besseren Leben geführt haben. Sie lautete: „Seht um euch, lieben Brüder und Schwestern, hinaus in die vier Enden des Landes, denkt an die Zeit, wo niemand von dieser Höhe in die Ferne sehen konnte, wo Urwald und Sumpf den Boden bedeckte, wo der Nordgau und dies Land zu Franken eine wilde traurige Wüste gewesen ist und die Seelen der Bewohner dieser Gegenden dem Lande glichen. Wer hat das Land gelichtet, den Boden bebaut, heimatlich und behaglich und zu einem Garten Gottes gemacht? Wer hat die Einwohner in ihrer Wildnis besucht und in ihre Herzen das Licht und den Trost des heiligen Geistes gebracht, aus Wilden nicht bloß Menschen, sondern Christen und Heilige Gottes gemacht? Es waren die Jünger des barmherzigen Jesus, getrieben vom Geiste Jesu, das ist vom Geist der Barmherzigkeit, die da kamen, nichts für sich begehrten, sondern arm und gering, krank, matt und schwach wurden und starben, nur daß wir sähen und hörten, sprächen und sängen und genäsen und lebten hie zeitlich und dort ewiglich. Es waren die Helden der| Barmherzigkeit, Kilian und Totnan, Winfried und Willibald und Wunnibald, Sola und Deokar, Gumbert und Sebald und wie sie alle heißen, deren Namen im Himmel angeschrieben sind, ein Verzeichnis der Barmherzigen, die unsern Vätern Segen brachten, deren wir dankbar gedenken und ihre Namen vererben sollen auf Kindskind, denn sie sind wert.“

 Die 9. Lection war dem Gedächtnis heiliger Frauen, insonderheit der Diakonissin von Franken, der h. Walburgis gewidmet.

 „Ja sollen wir denn nun der edlen Frauen vergessen, die den berühmten Helden in die Arbeit der Barmherzigkeit nachgingen und zum starken Wein der männlichen Barmherzigkeit das milde Öl der weiblichen Barmherzigkeit brachten? Stehen wir nicht also, daß wir von diesem Hause, das der Barmherzigkeit geweiht ist, hinüber schauen in die Gegend, wo neben den heiligen Brüdern Willibald und Wunnibald die hehre Dienerin Jesu Walburgis lebte und wirkte und starb, die da „fleißig war in der Arbeit ihrer Hände, fleißiger noch im Lesen und Betrachten der hl. Schrift, am allerfleißigsten im Gebete“, von deren Andenken unzertrennlich ist Öl und Wein des guten Samariters und die Lampe der wachsamen Jungfrauen, die wie eine Profetin nach dem Tod des Bruders auch unter den Männern waltete und heimgegangen ist unter Freuden der Engel und Klagen der Menschen am 25. Febr. 777?

 Es ist nicht mehr wie es ist gewesen in der Zeit der Helden und wie schwach und klein sind unsre Tage in den Werken der Barmherzigkeit, wenn man sie mit der Vorzeit vergleicht! Aber dennoch, ragen auch keine Bäume der Barmherzigkeit, so sproßt es doch allenthalben wieder von Gras und Kraut der Barmherzigkeit, der Herr läßt aus seinen Odem der Barmherzigkeit und verneuert die Gestalt der Erde. Gesegnet seien, die dem Triebe seines Odems und Geistes folgen, die ihre Kleider schürzen und ihre Hände richten zu Werken der Barmherzigkeit in unsern Tagen, auf daß| Christus an ihnen und sie an Christo und von Ihm gepriesen werden am großen Tage.

 Über eine Weile, so sind wir nicht mehr da, sondern schauen sein Angesicht in Gerechtigkeit und genießen seine Freuden in Ewigkeit. Aber so lang es währt auf dieser armen Erde, laßt uns dem barmherzigen Jesu in Barmherzigkeit dienen. Es ist uns hier ein Haus der Barmherzigkeit erbaut und eine Stätte der Andacht und Liebesarbeit: da laßt uns einziehen mit Freuden und die Barmherzigen sollen Besitz ergreifen mit Frohlocken. Der HErr aber zeige seinen Knechten seine Werke und seine Ehre ihren Kindern und der HErr unser Gott sei uns freundlich und fördere das Werk unsrer Hände bei uns, ja das Werk unsrer Hände wolle er fördern. Amen.“

 Nach Beendigung der Feier in der Kirche setzte sich, da inzwischen auch der Regen nachgelassen hatte, der Festzug nach dem Diakonissenhause zu in Bewegung. Der Anblick des festlich mit Blumen und Kränzen geschmückten Hauses, das in seiner „demütigen Großartigkeit“ (wie sich ein Festgast ausdrückte) den erhabenen Ernst seiner Bestimmung unverkennbar an der Stirne trug, bewegte alle Gemüter.

 Nach dem Gesang des Liedes: „Jesu geh voran“ öffnete der Vorstand des Vereins, Dekan Bachmann, im Namen des dreieinigen Gottes die Thüre und sprach in ergreifenden Worten den Segen über die Diakonissen und ihre Vorsteherinen, die darauf feierlich in das neue Haus einzogen, das nun auch den Gästen zur Besichtigung geöffnet wurde.

 Mit eintretender Dunkelheit begann der dritte Teil des Festes, der erste Hausgottesdienst im Betsaal der Anstalt. Nachdem Löhe in einem Vortrag über Zweck und Bestimmung der neugegründeten Anstalt sich verbreitet und namentlich hervorgehoben hatte, daß das Werk, dem das Haus dienen solle, keine Parteisache| sei, sondern ein Werk christlicher Barmherzigkeit, dazu der Glaube zwingt, und daß eben deshalb die Wirksamkeit dieses Hauses nicht von konfessionellen Schranken umhegt, sondern dasselbe zur Übung der Barmherzigkeit an allen und für alle bestimmt sei, wurde die Litanei mit eingeschalteten Bitten (die sich auf den Zweck und das Leben in der Anstalt bezogen) von der feiernden Menge gebetet mit einer Macht und einträchtigen Gewalt, daß „das Haus erbebte“ (wie es in der Schilderung eines Berichterstatters heißt).
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 Als der erste Abendgottesdienst vorüber war, verwandelte sich der Betsaal des neueingeweihten Hauses in einen Speisesaal, und die Festgäste hielten, die Armen der Gemeinde von Dettelsau in der Mitte, ein Liebesmahl, dessen Eindruck allen Teilnehmern unvergeßlich blieb. Angesichts des Altars mit den brennenden Kerzen, der die Gegenwart des HErrn versinnbildete, saßen in dem geräumigen Saal über hundert Tischgenossen beim einfachen, aber vom Geiste der Jesus- und Bruderliebe reichlich gewürzten Mahle. Mit lieblichen Gesprächen wechselten in kurzen Zwischenräumen Lob- und Danklieder. „Die Erinnerung an dieses Essen und Trinken vor Gottes Angesicht übertrifft alle Erinnerungen des schönen Tages“ sagte Löhe noch 16 Jahre später. Und in dem gleichzeitig erschienenen Bericht im Korrespondenzblatt der Ges. f. innere Mission heißt es: „Man konnte die Gemeinschaft der Heiligen spüren und genießen, man konnte ahnen, was es um die geistlichen Liebesmahle in der apostolischen Zeit Erhebendes und Liebliches gewesen sein mag,“ begeisterte Worte, die aber dem nicht übertrieben erscheinen werden, der wie der Schreiber dieses als junger Student selbst die Freude hatte, einige Male an solchen Liebesmahlen teilzunehmen, da das Diakonissenhaus am Gründonnerstag Abend seinen Schwestern und seinen näherstehenden Freunden und Freundinen das Osterlamm bereitete. Später gelang auch in Neuendettelsau selbst unter Löhe eine solche Feier nicht mehr; war doch auch die Herrlichkeit| der Agapen in der apostolischen und nachapostolischen Kirche eine kurzlebige.

 Und nun begann im Diakonissenhause ein reges Schaffen und Leben. Die Heranbildung von Lehrerinen für Kleinkinderbewahranstalten, Schulen und Familien, sowie von Krankenpflegerinen hatte man sich als nächstes Ziel gesteckt. Schon die Zusammenfassung dieser beiden Zwecke verhütete es, daß der Unterricht zu einem einseitigen Fachunterricht ausartete, der nichts als eine Abrichtung für eine bestimmte Berufsthätigkeit hätte sein können. Löhe hatte es auf eine allseitigere weibliche Bildung der Dienerinen der Barmherzigkeit abgesehen, weshalb auch von Anfang an solche Schülerinen, welche nicht die Absicht hatten, dem Diakonissenberuf sich zu widmen, ohne Störung für sich und andere an dem im Hause erteilten Unterricht teilnehmen konnten. Dies war der Anfang der Schulen des Diakonissenhauses, die, da immer mehr Kinder demselben zur Unterweisung und Erziehung anvertraut wurden, jetzt eine Ausdehnung gewonnen haben, die man anfangs weder hoffte noch begehrte. Die Schulen des Diakonissenhauses sollten nur Mittel zum Zweck sein, d. h. denjenigen Diakonissen, welche zu Lehrschwestern ausersehen waren, die nötige Gelegenheit zur Ausbildung für ihren Beruf und zur Übung in demselben bieten.

 Aber nicht blos eine Erziehungs- und Bildungsanstalt für die weibliche Jugend, sondern auch eine Krankenanstalt war, seinem Zweck gemäß, das Diakonissenhaus von Anfang an, doch auch nur in dem durch diesen Zweck gebotenen Maß. Auch die im Diakonissenhaus geübte Krankenpflege sollte nur Mittel zum Zweck sein d. h. den Diakonissenschülerinen zum theoretischen Unterricht in der Krankenpflege die nötige Praxis zu verschaffen.

Noch eine dritte Diakonissenthätigkeit war von Anfang an im Diakonissenhause geübt, die ohne ursprünglich in sein Arbeitsprogramm| aufgenommen gewesen zu sein ihm zufiel: die Pflege von Schwachsinnigen und Blöden. Gott hatte es so gefügt, daß die Diakonissenanstalt gleich bei ihrem Entstehen etliche blödsinnige Kinder als beneficium inventarii mit übernehmen mußte. So kam es, daß „die Blödenpflege mit das erste Liebeswerk war, an dem die Diakonissen von Neuendettelsau sich mühten.“ Andere Aufgaben und Thätigkeiten schlossen sich dieser ursprünglichen an und die Arbeit des Diakonissenhauses mehrte sich zusehends; Jahr um Jahr trieb der jugendkräftige Stamm neue Sprossen, so daß allmählich eine ganze Reihe von Zweiganstalten um das Mutterhaus her erblühte. Es ist ein charakteristischer Ausdruck, wenn die Schrift das Frühjahr bezeichnet als „die Zeit, da die Könige auszuziehen pflegen“ als die Zeit, wo die kriegerischen Operationen, denen der Winter Stillstand geboten hatte, mit neuer Energie wieder aufgenommen werden. So war es in Dettelsau die Lichtmeßzeit, „die liebe, lichte Zeit, da der Winter sich zum Abschied neigt, um von dem jungen Frühling abgelöst zu werden.“ Da pflegte man sich mit einer gewissen Regelmäßigkeit im engeren Freundeskreise zu versammeln und den friedlichen Feldzugsplan für das im Anfang seines Laufes befindliche Jahr zu beraten, um dann mit neu erwachter Unternehmungslust und Schaffensfreudigkeit an die Ausführung der gefaßten Entschlüsse zu gehen. Die Schilderung dieses äußeren Wachstums des Diakonissenwerks bleibe späteren Kapiteln vorbehalten. Das nächste Kapitel mag ein Versuch sein, die innere Entwicklung der Diakonissenanstalt darzustellen.





  1. § 4, 1 der Vereinssatzungen lautete: Mitglieder des Vereins können sowol Männer als Frauen des lutherischen Bekenntnisses sein, wenn sie regen Anteil an den Vereinszwecken haben etc. Eine Erörterung veranlaßte späterhin die Frage, die bei einer Versammlung der Muttergesellschaft aufgeworfen wurde, ob ein Mitglied des Gustav-Adolph-Vereins zugleich Mitglied des Vereins für weibliche Diakonie sein könne. Die Frage wurde nach eingehender Besprechung einstimmig verneint, wiewol man wußte, daß die Erörterung der Frage schon einen „wunden Fleck“ berühren und vollends der verneinende Beschluß manchem bisherigen Freund in die Seele schneiden werde. Nur dazu verstand man sich, daß dem Beschluß keine rückwirkende Kraft beigelegt werden solle.
     Bezüglich der Schulen des Diakonissenhauses galt – um dies vorausgreifend gleich hier zu bemerken – die Praxis, daß auch Kinder unierter Familien in denselben Aufnahme fanden, wenn die Ältern es zufrieden waren, daß dieselben im Sinn der luth. Kirche unterrichtet wurden, ohne am Sakramentsgenuß Teil zu bekommen. Bei den Diakonissen jedoch fand es Löhe mit Recht für unnatürlich, wenn die Glieder einer und derselben Genossenschaft am „eigenen Altare aufeinander prallen und verschiedene Wege gehen müßten;“ innerhalb der Schwesternschaft könne es wol „Unklarheiten und Stufen der Überzeugung, aber keinen konfessionellen Gegensatz geben.“ Übrigens drohte doch die Möglichkeit eines solchen Auseinandergehens am Altare, so lange Löhe die strengere Praxis befolgte, solche, die an offenkundig gemischten Altären innerhalb der bayerischen Landeskirche communicierten, in Neuendettelsau zum Sacrament nicht zuzulassen. Es konnte da vorkommen und kam in vereinzelten Fällen vor, daß Diakonissen in Städten mit confessionell gemischter Bevölkerung und dem entsprechender Abendmahlspraxis am Altar ihrer Ortsgemeinde Teil nahmen, dafür aber freilich auf die sakramentliche Gemeinschaft mit ihrem eignen Mutterhause verzichten [152] mußten. Löhe ließ seinen Diakonissen in Bezug auf sakramentlichen Anschluß Freiheit der Wahl, freilich nicht ohne Misvergnügen darüber, wenn die Wahl gar zu leicht der bequemeren Praxis sich zuneigte. In einer Bußtagspredigt z. B. über das Thema: Welchen Anteil hat das Diakonissenhaus an dem Bußtag der bayerischen Landeskirche zu nehmen? tadelte er seine Schwestern, „daß sie nicht blos an den allgemein landeskirchlichen Sünden (Mischung der Guten und Bösen, die man erträgt ohne die Liebe der Zuchtübung), sondern auch an den speziellen Sünden der bayerischen Landeskirche (mit deren Entstehen und Bau die Mengung der Confessionen und die gemischte Abendmahlsgemeinschaft innig verbunden sei) sich beteiligten, wenn sie der Beruf in die verschiedenen Gegenden dieses wunderlich gemengten Königreichs führe.“ Dem in seinem „Gutachten in Sachen der Abendmahlsgemeinschaft 1863“ eingenommenen Standpunkt entsprechend mußte Löhe freilich auch seinen Diakonissen gegenüber in diesem Stück später eine mildere Praxis eintreten lassen.


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