Zum Inhalt springen

Wilhelm Löhes Leben (Band 3)/Drittes Kapitel

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
« Zweites Kapitel Johannes Deinzer
Wilhelm Löhes Leben (Band 3)
Viertes Kapitel »
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).
|
Drittes Kapitel.
Neue Kolonisationsunternehmungen.


 Bei der Gründung von Frankenmut hatte man lediglich die Anlegung einer Missionskolonie im Sinne. Es lag aber nahe, mit der Kolonisation auch andere Zwecke zu verbinden. Und so sehen wir in der That in Löhes Kolonisationsunternehmungen den kirchlichen, den deutsch-nationalen und den socialen Gesichtspunkt nacheinander in den Vordergrund treten.

 Im Jahre 1847 schrieb Löhe: „Ohne Ende steigt dem Betrachter des jenseitigen Elends der Gedanke auf, daß sich diese Massen deutscher Lutheraner von vornherein gemeindeweise, ja gemeindenweise möchten zusammengesiedelt haben. Immer erneut sich der Seufzer: Ach, daß man sie so heraus suchen muß aus allen möglichen Stämmen! Daß es so schwer ist, die Geister zuhauf zu bringen, nachdem die Leiber so sündlich zerstreut und vereinzelt sind. – Und da man hier nun einmal nicht mehr helfen kann, da in tausend und aber tausend Fällen das unglückliche Versehen gar nicht mehr gut zu machen ist: was liegt zunächst, wenn nicht der Wunsch, daß doch in Zukunft der Zerstreuung und Vereinzelung gewehrt, die Einwanderer zu gemeinsamer Ansiedlung vermocht und ganze Gegenden in aller Stille nur mit deutschen Glaubensgenossen besetzt werden möchten! Kein Mensch nimmt sich der Kolonisten an. Ist’s denn nicht Lieb und Tugend, wenn die Diener der Kirche es thun und möglichst sorgen, daß die Kolonisation vom Geiste der Kirche durchdrungen werde?“

|  Mit diesem kirchlichen Gesichtspunkte für das Kolonisationswerk berührte sich eng der nationale. Löhe hatte es von Anfang an klar erkannt, wie notwendig es sei – namentlich solange es keine lutherische Kirche englischer Zunge in Nordamerika gäbe – zur Erhaltung der Auswanderer bei ihrem väterlichen Glauben auch das deutsch-nationale Element zu pflegen. „Mit der Kirche verlieren die Auswanderer den Sinn für Heimat, Sprache und Sitte der Väter; mit der Sprache das wichtigste Erkenntnismittel der Kirche, welche in gewisser Beziehung vorzugsweise die deutsche genannt werden könnte.“ So hatte er schon im Jahre 1843 geschrieben. In demselben Sinne verfaßte er im Jahre 1845 einen Zuruf aus der Heimat an die deutsch-lutherische Kirche Nordamerikas, der mit Hunderten von Unterschriften, darunter eine Reihe von berühmten Namen aus allen Gauen Deutschlands bedeckt, in der That als die Stimme des Vaterlandes an seine ausgewanderten Söhne gelten und von dem Löhe mit Recht sagen konnte: „Der Zuruf ist vielstimmig geworden und doch einstimmig im schönsten Sinne des Worts; er beurkundet eine Einmütigkeit des Geistes im alten Heimatlande auf eine Weise, welche gewiß auch unsre überseeischen Brüder zu gleicher Einmütigkeit einlädt.“ Wohl nie ist ein wärmerer Appell an die ausgewanderten „Brüder nach dem Fleisch und nach dem Geist“ gerichtet worden, um sie zu treuer Bewahrung und Pflege der ererbten geistigen und geistlichen Güter des Vaterhauses zu ermahnen. Wir müssen es uns versagen, den reichen Inhalt dieses feurigen Zurufs auch nur zu skizzieren, aber das Schlußwort „an alle deutschen Glaubensgenossen in Nordamerika“ sei hier mitgeteilt. Nachdem der Zuruf die vereinzelten Ansiedler zur Treue in der Pflege des Hausgottesdienstes und im Unterricht ihrer Kinder; die Gemeinden zum Gehorsam gegen das heilige Amt und zu einem heiligen Gemeinschaftsleben in ungefärbter Bruderliebe; die Hirten zu aufopfernder Hingebung an ihren Beruf, zum| Feststehen auf dem Fels des Bekenntnisses und zum Festhalten an den guten und erprobten Ordnungen der lutherischen Kirche ermahnt hat, wendet er sich zum Schluß an alle deutschen Glaubensgenossen in Nordamerika mit folgenden Worten:
.
 „Ihr seid Deutsche. Eine schöne Sprache habt Ihr über den Ocean gerettet. Im Gewirr der Sprachen, die man jenseits spricht, ist keine schöner. Behaltet, was Ihr habt. Ihr habt durch Gottes Gnade das gute Teil. Vertauschet Eure Sprache nicht mit der des Engländers; Ihr machet nur schlechten Tausch. Wer wird Reichtum für Armut, Wohllaut für Übellaut, Gestalt für Schatten eintauschen? Alle Einwanderer achten etwa ihre Sprache höher als Ihr, da doch niemand mehr Ursache hätte, die seinige hochzuachten, als gerade Ihr. Ihr schämt Euch Eurer Sprache? Welch eine verkehrte Scham hat Euch befallen! Schämt sich auch ein Weib darum, daß sie schöner ist als andere? Und ob sie sich schämte, wird sie nach dem Häßlichen greifen, die Schönheit zu bedecken? Oder achtet Ihr die Völker, zu denen Ihr gekommen seid, für höher als die, von denen Ihr ausgegangen seid? Habt Ihr größere Eile, Euch ihnen hinzugeben, als sie Lust haben, sich Euch hinzugeben? Eilt auch ein jenseitiger Stamm so, wie Ihr, das Vaterland zu vergessen und ihm fremd zu werden? Ihr wisset nicht, was ihr thut, sonst würdet Ihr treuer über Euerm Kleinod wachen. Eure Sprache ist neben Eurer Kirche Euer größtes Kleinod, das Ihr in die Wüstenei Eurer Wälder mit hinübergenommen habt. Überleget wohl, was Ihr verlieret, wenn Ihr diese edle Gabe Eures Gottes undankbar dahin werfet! Wir wollen es Euch mit großen Buchstaben vor Augen malen. Mit Eurer Sprache verlieret Ihr Eure Geschichte, damit das leichteste Verständnis der Reformation, damit das leichteste Verständnis der wahren Kirche Gottes; ferner Eure wunderschöne deutsche Bibel, Eure Lieder, die bis in den Himmel widerklingen, Eure Katechismen, die ihresgleichen nicht haben, Eure| Postillen, die so herzlich sind, Eure Erbauungsbücher, die so kindlich beten, Eure ganze heimatliche Literatur, die geistliche und jede andere, endlich Eurer Väter Sinn und Art, ja auch die Achtung diesseits und jenseits bei den Zeitgenossen; denn der ist wahrlich keiner Achtung wert, der seine Erstgeburt für ein Linsengericht dahingiebt. – – Darum behaltet, was Ihr habet! Behaltet es für Euch und Eure Kinder! Ergebet weder Euch, noch Eure Kinder den fremden Nationen. In Euern Häusern, in Euern Dörfern, in Euern Städten, in Euern Schulen, in Euern Kirchen, in Euern Synoden lebe und herrsche die deutsche Sprache Eurer deutschen Kirche, das beste Wort des besten Sinns, der schönste Laut zum edelsten Gedanken. Ferne aber bleibe von Euch die Strafe, die sich an Verachtung Eurer Muttersprache knüpft. Denn wahrlich, ein Deutscher, der nicht deutsch ist, ist ein gestrafter Mann auf Erden, weil ihm alle Privilegien, die ihm Gott vor den Nationen aus Gnaden gab, entwendet und – mit nichts erstattet werden!

 „Gott sei mit Euch, deutsche Brüder! Gott erhalte Euch uns und Seiner Kirche! Durch Euch, bei Euch jenseits, durch uns, bei uns diesseits blühe und gedeihe Gottes Kirche! Es müsse wohlgehen Jerusalem in allen Landen, und die Braut des HErrn freue sich überall auf dem Erdboden! Amen.“

 Ein kirchliches Interesse und mit ihm eng verbunden und ihm dienend ein deutsch-nationales Interesse war es also, welches bei der Gründung der folgenden Kolonien regierte. Der Trieb zur Auswanderung war einmal vorhanden, er brauchte nicht geweckt oder auch nur genährt zu werden – davor hütete man sich grundsätzlich –, aber der Strom der Auswanderung sollte vor Zersplitterung bewahrt und in die Kanäle lutherisch-kirchlichen Gemeindelebens geleitet werden. Als ermutigt durch die hoffnungsvoll klingenden Briefe der ersten Kolonisten eine nicht geringe Anzahl ihrer Freunde und Verwandten in der Heimat den Entschluß faßte, ihnen| nachzuziehen, fand auch Löhe in diesen Umständen eine Ermunterung an die Anlegung weiterer Kolonien in jenen Gegenden Michigans zu denken, die als Sammelpunkte für die lutherischen Auswanderer dienen könnten. Es war die Anlage einer ganzen Reihe von Kolonien geplant: neben Frankenmut sollte – so hoffte man – ein Frankentrost, Frankenlust, Frankentrutz, Schwabenruh etc. entstehen. Dabei fand man gerade die etwas abgesonderte Lage des „meerumschlungenen“ Michigan für die Aufrichtung und Erhaltung einer deutsch-lutherischen Kirche besonders günstig, da die Heerstraße des Weltverkehrs, der natürlich auch das Gros der Einwanderung folgt, an der südlichen Grenze Michigans über Chicago nach dem Westen läuft, von dem Nachbarstaat Michigans aber im Norden, der englischen Kolonie Canada, für die Erhaltung des deutschen Elements mit Recht weniger Gefahr, als von der Nähe eines amerikanischen Freistaats befürchtet wurde.

 So folgte denn schon im Jahre 1847 der Gründung von Frankenmut die der Kolonie Frankentrost, deren Anlage, da man die Erfahrungen mit Frankenmut hinter sich hatte, nun schon zweckmäßiger geriet. Die Frankenmuter Ansiedler wollten wie die alten Deutschen ein jeder auf seinem eignen Lande sitzen; infolgedessen wurde die Anlage ihres Settlements allzu weitläufig. Bei Frankentrost dagegen wurde gleich von Anfang an auf näheres Zusammenwohnen der Ansiedler Bedacht genommen und eine zusammenhängende Häuserreihe angelegt, so daß die Ansiedlung fast den Eindruck eines deutschen Dorfes machte. Auch diese Kolonie gedieh, wenn auch langsamer, da sie großenteils aus armen Einwanderern bestand und weniger Zuzug erhielt.

 Nachdem die ersten Kolonisationsversuche im wesentlichen gelungen waren, erweiterten sich Löhes Kolonisationsgedanken. Er dachte an die Stiftung eines wandernden, im Dienste der Kolonisation stehenden Kapitals. Mit demselben sollte immer ein zusammenhängender| Landkomplex in der Nähe der beiden schon bestehenden Kolonien angekauft und an eine Gesellschaft lutherischer Auswanderer wieder verkauft werden. Das Kapital sollte von Ort zu Ort wandern, den Ansiedlern eine Stätte bereiten und in dem Maß, als es durch den Verkauf des dafür erworbenen Landes wieder flüssig würde, zum Ankauf weiteren Landes für neue Niederlassungen dienen. Beim Verkauf des Landes an Ansiedler wollte man auf jeden Acre einen kleinen Aufschlag legen, um dadurch die Kapitalzinsen und eine kleine Abzahlungsrate zu gewinnen. Bei der Hoffnung, je länger, je mehr kirchlich entschiedenere Auswanderer sich nach Saginaw-County wenden zu sehen, schien das Gelingen des Plans nichts Unmögliches oder Unwahrscheinliches zu sein. Es wurde auch ein für den Zweck allerdings nur kleines Kapital aufgebracht[1] und der Platz zu einer neuen Niederlassung – Frankenlust – angekauft.

 Der rechte Mann, um die Gründung dieser Kolonie zu leiten, war auch bereits gefunden. Der Cand. theol. Sievers, damals Hilfsprediger in Husum in Hannover, hatte sich im Jahr 1847 entschlossen, sein Vaterland zu verlassen und sich der innern Mission unter den ausgewanderten Deutschen in Nordamerika zu widmen. Er erbot sich, die Gründung der Kolonie Frankenlust zu übernehmen. Im Frühjahr 1848 zog ihm eine Anzahl fränkischer Landleute zu und am 4. Juli 1848, am Festtag der amerikanischen Unabhängigkeit, machten sie sich, 17 an der Zahl, auf, um auf einem für sie angekauften Areal von 600–700 Acres, nicht sehr weit von dem Städtchen Lower Saginaw, in der Nähe der Mündung des Squaquaning in den Saginawfluß, sich niederzulassen.

 Der Bericht von P. Sievers giebt einen Eindruck von den| Schwierigkeiten, mit welchen die Gründung dieser amerikanischen Kolonien verbunden war. Zwar schildert er nur die Anfänge von Frankenlust, aber die Frankenluster Erfahrungen wiederholten sich mutatis mutandis auch anderwärts, und so mag ein Bruchstück aus seinen Schilderungen unsern Lesern die Mühseligkeiten der Kolonisation zur Anschauung bringen. P. Sievers schreibt: „Am 3. Juli war A. von Detroit heimgekehrt, wo er für 350 Dollars Gerätschaften, Öfen, Fenster etc., alle Arten von Lebensmitteln eingekauft hatte, und so konnte für den folgenden Tag die Abfahrt festgesetzt werden... Wir teilten uns in zwei Abteilungen. Die eine hatte den Gütertransport zu besorgen; unter ihnen war ein englischer Mann Namens Butts, scherzweise the captain of the scow genannt, welcher die Lenkung der Fähre kommandierte. Die andre Abteilung mußte den Transport des Viehstandes besorgen, natürlich zu Lande. Unter ihnen war auch ich. Der Auszug aus Saginaw geschah am 4. Juli, einem für Amerikas politische Freiheit sehr bedeutungsvollen Tage. Den ganzen Tag hallten die Wälder wieder von dem Donner der Kanonen, die in Saginaw-City von dem jubelnden Bürgerhaufen gelöst wurden. Ein Dampfschiff war von Detroit angekommen, um die vergnügungslustigen Saginawer auf dem schönen Saginawflusse spazieren zu fahren, während unsere armselige Fähre (scow) mühsam hinunter gesteuert wurde. Wir Fußwanderer lagerten uns abends sehr ermüdet an der zweiten Brücke des Nordarms des Squaquaning. An Bequemlichkeiten war natürlich nicht zu denken, und unvorsichtigerweise hatte man darauf gerechnet, daß die Schiffenden schon abends wieder mit uns zusammentreffen würden, daher es uns gänzlich an Lebensmitteln fehlte. Während nun alle vergeblich nach Speise verlangten, sah man eine ergötzliche Scene. H. nämlich hatte sich eine der besten Kühe ersehen, und da nicht ein einziges Gefäß vorhanden war, wo hinein er hätte melken können, so legte er sich getrost| unter die Kuh und ließ die erquickenden Milchstrahlen mit großem Wohlgefallen in seinen Mund laufen zu großer Erheiterung der Zuschauenden. Alles, was noch vor völligem Einbruch der Nacht geschehen konnte, war der Bau einer Einzäunung von kleinen Baumstämmen und das Anschüren eines Feuers für die kalte Nacht. Für mich ward noch ein altes Brett aus der Brücke genommen, welches ich mit Frau H. teilte, indem ich auf dem oberen Teile und sie auf dem unteren schlief. Am andern Tage trafen wir die Gefährten auf der Insel des Stone. Wir dankten dem HErrn, daß Er uns wieder zusammengeführt, und erquickten uns mit Speise, da wir alle der Ohnmacht nahe waren. Nachmittags trafen wir endlich sämtlich in der neuen Heimat ein. Die Bretter, 8500 Fuß, welche als Floß hinten an unsrer Fähre angehängt waren, hatten wir freilich mitten im Fluß zurücklassen müssen, weil durch Gras und Schilf die Schiffahrt bedeutend gehemmt wurde. Wir waren aber recht froh, daß doch alle anderen Sachen ohne große Kosten bis zu unsrer Heimat geschafft waren. Folgenden Tages ging es ans Vermessen des Landes; aber schon gegen Abend trat ungewöhnlich widriges Regenwetter ein, so daß für den folgenden Tag darin nicht fortgefahren werden konnte. Sie können sich kaum denken, wie beschwerlich das Ausmessen neuer unangebauter Gegenden ist, und die Lage unseres Ortes mehrte die Schwierigkeit noch. Es war erforderlich, daß alle Messungen bis mitten in oder durch den Fluß geschahen. Drei bis viermal mußten wir durch den Fluß selbst waten und kamen natürlich bis an die Brust ins Wasser. Dazu floß in den ersten acht Tagen unaufhörlicher Regen bei Tag und Nacht auf unsre leicht und schnell, dazu auch eng gebaute gemeinschaftliche Hütte, so daß uns viele Sachen verdarben. Endlich ließ am Ausgang der zweiten Woche der Regen nach, der Feldmesser vermaß die durchs Los zugeteilten Stücke, und am Sonnabend wurde die gemeinschaftliche Hütte verlassen. Diese gemeinschaftliche| Hütte für die ganze Kolonie, 17 Personen, war so eingerichtet, daß eine der größten Kisten in der Mitte mein Lager ausmachte. Die beiden Englischen kampierten neben mir, während die andern rund um mich her im Kreise lagen. Trotz der unfreundlichen Witterung herrschte unter allen doch ein recht fröhliches Wesen; alle sahen ein, daß der HErr uns an einen lieblichen und fruchtbaren Ort geführt habe, wo es uns bei redlicher Arbeit unter dem Segen des HErrn nicht an dem täglichen Brote fehlen würde.“
.
 Wer jetzt die behäbige, stattliche Kolonie sieht, wie Schreiber dieses vor sechs Jahren, ahnt freilich nicht, welche Mühe es kostete, hier eine menschliche Existenz zu gründen. – Anfangs hatte die neue Kolonie, welche durch die Vorteile ihrer Lage ihre Schwesterkolonien rasch hätte überflügeln können, unter der Ungunst der politischen Verhältnisse Deutschlands im Jahre 1848 zu leiden. Die Unruhen dieses Jahres drückten in der alten Heimat den Güterwert herab; viele, die gern den drohenden Verhältnissen entronnen und über das Meer gezogen wären, konnten nicht verkaufen; auch schreckte die Furcht vor der Blockade der Elbe- und Wesermündungen durch die Dänen. Die Auswanderung kam ins Stocken, und Frankenlust erhielt infolgedessen anfangs wenig Zuzug. Löhe dachte unter diesen Umständen sogar an die Zurückziehung des Kolonisationskapitals und sah sich auch wirklich genötigt, es teilweise zu kündigen. Die Pastoren Sievers und Crämer waren indessen nicht geneigt, den Kolonisationsplan so leichthin fallen zu lassen. Sie baten, den Rest des Kapitals zu nochmaliger Umsetzung in ihren Händen zu lassen. Noch ehe Löhes Genehmigung eingetroffen war, waren sie mutig zu einem neuen Unternehmen geschritten, indem sie am Cheboygeningflusse 1592 Acres Land ankauften. Indem Löhe nachträglich diesen Ankauf billigte, hoffte er zugleich einen schon früher von ihm bewegten Gedanken verwirklichen zu können: die Gründung einer Kolonie für arme Brautleute, die keine Hoffnung| hatten, im alten Vaterland sich einen häuslichen Herd zu gründen. So trat nach dem kirchlichen und nationalen auch der sociale Gesichtspunkt in Löhes Kolonisationsbestrebungen hervor. Der Verarmung und den aus ihr erwachsenden sittlichen Gefahren durch zweckmäßige Leitung der Auswanderung und eine gewisse materielle Fürsorge für arme Auswanderer, vor allem aber durch deren Gewöhnung an die sittliche Zucht der Arbeit so viel als möglich zu steuern, erschien ihm als eine große Aufgabe der inneren Mission, wert, daß zu ihrer Lösung Staat und Kirche sich die Hände reichen. In einer 1849 erschienenen Broschüre über die fränkischen Niederlassungen in Saginaw County schreibt er: „Viele Tausende von armen Deutschen verfallen daheim dem Proletariat. Es ist für Vereine wie für Staaten unmöglich, die schrecklich anwachsende Verarmung zu dämpfen oder auch nur auszuhalten. Dagegen wäre es mit Aufwand von viel wenigeren Kräften, als man jetzt vergeblichen Erbarmens in ein bodenloses Faß ausschüttet, sehr leicht möglich, Tausenden von Armen in Nordamerika ein hinreichendes Auskommen zu verschaffen. Ja, wenn man nur ohne alle Aufopferung von Kräften vereinten Sinnes dahin arbeitete, daß die vielen Tausende, welche gegenwärtig im letzten Stadium der Verarmung sind und gerade noch so viel haben als nötig ist, um übers Meer zu fahren und sich ein kleines Erbe zu kaufen, an die rechten Orte gebracht und ihnen fürsorgend an die Hand gegangen würde: es würden damit viele Quellen der Verarmung zugestopft und könnte damit zum Heil des Vaterlandes sicherer und Größeres gewirkt werden, als wenn man die bereits Verarmten deportierte und versorgte.“
.
 Löhe selbst konnte natürlich bei der Geringfügigkeit der ihm zu Gebote stehenden Mittel nur im bescheidensten Maße die Erreichung dieses christlich humanitären Zweckes anstreben. Es ist bezeichnend für ihn, daß er auch hierin von dem ihm zunächst liegenden| Standpunkt – dem des Pfarrers und Seelsorgers einer Landgemeinde ausging. „In unsern Gemeinden“ – schreibt er in der oben erwähnten Broschüre – „haben wir allenthalben viele junge Männer und Mädchen, welche armutshalber keine Hoffnung haben, in ihrer Heimat unterzukommen. (Man erinnere sich, daß die damalige Gesetzgebung Unbemittelten die Eheschließung aufs äußerste erschwerte, ja geradezu unmöglich machte.) Sie vermögen es nicht, ehelos und keusch zu leben; so geraten sie in Sünden; ihre außerehelichen Kinder wachsen in Armut und zum Teil in Verachtung auf, während sie selbst, die Eltern, je länger, je mehr alle Scham ablegen und durch schamlose Armut zu Diebstahl und allerlei andern Sünden getrieben werden. Den Eltern folgen die Kinder nach – von einem Geschlecht aufs andere erbt Sünde und Fluch. Hätten die Armen rechtzeitig in die Ehe treten und sich und ihre Kinder redlich nähren können: so wäre all der unzählige Jammer, der in dem Worte „Proletariat“ liegt, nicht über sie gekommen. Also erbarme man sich! Man thue, wie es bei unsern Vorfahren herkömmlich war, man lasse einen Teil der jungen Mannschaft ziehen und sich neue Wohnsitze suchen. Kolonisation und Auswanderung sind so alt wie die Welt, und es ist beides, kurzsichtig und vergeblich, ihnen Ziel und Ende setzen zu wollen. Man füge sich in Gottes Fügung; aber man setze die Kinder des Landes nicht aus, man lasse sie unter Hirten und Seelsorgern in die neue Heimat ziehen, man unterstütze die Armen irgendwie – zur Überfahrt, durch Land, durch Arbeit etc. Man sammle für jede wandernde Schar, wo möglich, einen Kern völlig lediger, unbescholtener Jünglinge und Mädchen, man gebe ihnen, wo möglich, einige gereiftere Männer dazu, man weigere sich dann nicht, auch reumütigen Gefallenen die Wohlthat rettender Auswanderung zu teil werden zu lassen etc. Der Segen des Allmächtigen wird darauf ruhen. Dieselben Menschen, welche hierzulande ohne Zweifel verloren| gewesen sein würden für Zeit und Ewigkeit, werden, wenn es ihnen möglich gemacht ist, einen eigenen Herd zu bauen, ehrbare, rechtschaffene Bürger sein und ihr Geschlecht wird im Segen wachsen und zunehmen. – Haben wir doch Beispiele, daß das stille, arbeitsvolle Leben in unseren Kolonien, wo zugleich Gottes Wort die Fülle und seelsorgerische Liebe ist, auch auf Gemüter, welche im Vaterlande für alles Gute erstorben schienen, siegreicher gewirkt hat, als beide, das auburnsche und philadelphische System zu wirken pflegen.“
.
 Dies waren Löhes Gedanken bei der Gründung der vierten Kolonie, die um ihrer Bestimmung willen den Namen Frankenhilf tragen sollte. Der Ausführung des Planes stellten sich jedoch nicht zu besiegende Hindernisse entgegen. Zwar wurde im Jahre 1850 der Grund zu der Kolonie Frankenhilf gelegt. Einige Familien aus Franken und Schwaben und eine Anzahl lediger Personen hatten sich im Frühjahr 1850 dorthin auf den Weg gemacht und waren unter Anführung ihres Pastors (Kand. H. Kühn) glücklich bis Saginaw gelangt. Dort aber zog Frankenlust mit seiner schon entwickelteren Kultur und größeren Bequemlichkeit des Lebens mehrere Familien so an, daß sie ihrem ursprünglichen Vorsatz untreu wurden und sich in Frankenlust ansiedelten. Andere waren gezwungen, sich erst Verdienst zu suchen, um Reiseschulden abzutragen und sich etwas Vermögen zum Ankauf von Land zu erwerben. So kam es, daß von allen Auswanderern nur ein einziger Hausvater mit seiner Familie die Stätte der zukünftigen Ansiedlung erreichte, und dieser einzige war ein gebildeter Mann, der den Strapazen des amerikanischen Farmerlebens am wenigsten gewachsen zu sein schien, – übrigens kein Franke, sondern ein Schwabe, so daß Löhe scherzhaft die Gründung von Frankenhilf einen „Schwabenstreich“ nannte. Der treue Schwabe aber hielt mit der seinem Stamme eignen zähen Beharrlichkeit mutig aus und verlor das| Vertrauen auch dann nicht, als im Herbst des gleichen Jahres ein neuer Nachschub von schwäbischen Auswanderern, die ihm zu Hilfe ziehen sollten, den einsamen Landsmann gleichfalls im Stiche ließ und sich in Frankenmut ansiedelte. Ungefähr ein Jahr saß er mit seiner Familie allein im Busch, bis er im darauffolgenden Jahr Zuzug erhielt, wodurch die Zahl der Ansiedler sich auf fünf Familien mit achtzehn Seelen im ganzen hob. Die zu Tage liegenden Ursachen dieses Mißerfolgs – ein solcher war es im Grunde – führten dahin, den Gedanken an Armenkolonien aufzugeben. Dazu hätte es großartigerer Mittel bedurft. Frankenhilf war denn auch die letzte Löhesche Gründung dieser Art.
.
 Dagegen schritt Löhe jetzt zur Verwirklichung eines schon länger erwogenen Planes, nämlich der Errichtung eines Pilgerhauses. Es sollte an einem für Einwanderer zugänglichen Ort in Saginaw Co. angelegt, für letztere ein Stapelplatz werden, wo sie gratis oder gegen ein geringes Entgelt wohnen könnten, bis sie die Kolonien besehen, eine unter ihnen zur Ansiedlung gewählt und auf derselben einen Bergungsort gefunden hätten. Gleichzeitig wollte man auch eine Zufluchtsstätte für Kranke schaffen, wo namentlich die von den in Amerika häufigen klimatischen Fiebern Ergriffenen Ruhe, Pflege und Hilfe finden sollten. In Verbindung mit dem Pilgerhause war ein Seminar gedacht, dessen Rektor zugleich pastor loci sein und dessen Schüler ihre Zeit zwischen Studium, Gebet und Landarbeit teilen sollten. Das Vorbild des Pilgerhauses sollten die irisch-schottischen Missionsklöster in Deutschland sein, „aus welchen zu einer Zeit, wo auch unser Vaterland von Urwald und großenteils auch noch von der Finsternis des Heidentums bedeckt war, der Missionar in den Busch ging, das Heidentum zu bekämpfen und das sterbende Christentum zu erfrischen.“ Den Pastoren von Saginaw Co. gefiel der Plan, nur die Absicht, mit dem Pilgerhause eine Lehranstalt zu verbinden, fand nicht ihren Beifall, weil sie bei| der in der Amtslehre zwischen Löhe und der Missourisynode bereits hervorgetretenen Differenz eine Opposition gegen ihre (missourischen) Lehranschaunngen fürchteten. In der beabsichtigten Gestalt trat denn auch der Plan nicht ins Leben. Der ganze Gedanke kam überhaupt zu spät. In den ersten Jahren der Kolonisation hätte das Pilgerhaus großen Segen stiften können; inzwischen aber hatte sich in der Grafschaft Saginaw eine zahlreiche und sehr einheitliche, meist fränkische Bevölkerung angesiedelt, unter welcher der neue Ankömmling Landsleute, Bekannte und Verwandte genug und daher auch leicht Aufnahme und Herberge bis zur Gründung eines eigenen Heims finden konnte. So kam es, daß das Haus seinem nächsten Zweck nur in ganz unbedeutendem Maße dienen konnte. Zwar hatte es von Anfang an ein Schullehrerseminar in sich aufgenommen, mit welchem Löhe den von ihm gegründeten fränkischen Kolonien einen Mittelpunkt deutschen Lebens und einen Herd deutscher Bildung zu setzen, wohl auch das Band der Einigkeit zwischen sich und seinen geistlichen Kindern fester zu knüpfen wünschte. Das Schullehrerseminar war ein unleugbares Bedürfnis, aber für den beabsichtigten Zweck kam auch diese Stiftung Löhes zu spät. Man bemißtraute Löhe bereits wegen seiner in den „Neuen Aphorismen“ niedergelegten Anschauungen vom geistlichen Amt in seinem Verhältnis zur Gemeinde, man bemißtraute deshalb auch seine Wohlthat; man fürchtete in dem neuen Seminar einen Herd der Opposition ins eigne Lager und somit einen Pfahl ins Fleisch zu bekommen. Unter dem frostigen Hauch dieses Mißtrauens konnte die schwache Pflanze, die der sorgsamsten Pflege von seite der Synode und der Nachbargemeinden bedurft hätte, nicht gedeihen, mußte vielmehr, kaum eingewurzelt, wieder ausgehoben und an einen andern Ort versetzt werden, wo missourische Unduldsamkeit ihr nicht mehr Luft und Licht streitig machte.
.
 Die Wirksamkeit in Saginaw Co. war zu Ende. Erfolglos| war sie nicht gewesen. Der Gedanke, die fränkische Auswanderung nach Saginaw zu leiten, um dadurch zusammenhängende Niederlassungen deutscher Ansiedler und solche äußere Lebensbedingungen zu schaffen, vermöge welcher „deutsch-lutherisches Leben dortselbst bleibenden Aufenthalt finden könnte,“ war gewiß ein richtiger. Bis zu einem gewissen Grade wurde auch die Absicht erreicht. Infolge der dichteren Besiedlung der Grafschaft Saginaw mit deutschen Einwanderern hat sich dort bis auf den heutigen Tag deutsche Sprache, Sitte und Nationalität erhalten. Selbst die unverfälschte fränkische Mundart bekommt man in den Kolonien noch überall zu hören. In den Schulen, auch in den von der Regierung unterhaltenen public schools ist das Deutsche die Unterrichtssprache. In materieller Beziehung haben die Kolonien einen erfreulichen Aufschwung genommen, und ihre Einwohner sind zu einer Wohlhabenheit und Behaglichkeit der äußeren Existenz gelangt, für welche ihren in der alten Heimat zurückgebliebenen Landsleuten fast der Maßstab fehlt. Auch das kirchliche Gemeindeleben hat sich in jenen fränkischen Ansiedlungen auf einer achtungswerten Höhe behauptet, wenngleich der jüngere Nachwuchs in geistlicher Hinsicht der ersten Generation der Einwanderer nicht ebenbürtig ist. Kurz, man kann nicht leugnen, daß auf dem Löheschen Kolonisationsunternehmen ein göttlicher Segen lag, und daß das kleine Kolonisationskapital, welches nie höher als auf 3000 fl. rhein. sich belief, im Leiblichen wie im Geistlichen reichliche Zinsen getragen hat. Und wenn auch das oben erwähnte Pilgerhaus, für welches das Kolonisationskapital zum letzten Male flüssig gemacht worden war, seinem Zwecke nur kurz und wenig diente (es wurde später verkauft und war zur Zeit, da der Verfasser in Saginaw anwesend war, zu einer deutschen Bierhalle herabgesunken), so ist es doch der Ausgangspunkt eines in seiner Weise nicht minder gesegneten Unternehmens, nämlich die Geburtsstätte der Iowasynode geworden. „Nichts ist gegangen,| wie wir wollten“ – konnte Löhe von seiner amerikanischen Wirksamkeit bei dem 25jährigen Jubiläum derselben sagen – „aber alles ist dennoch so gegangen, daß Gelingen und Segen mit uns war.“

 Wir gehen nun über zu der Darstellung der Differenzen mit Missouri, welche den Abbruch der bisherigen Beziehungen zu dieser Synode und die Einstellung der kolonisatorischen Thätigkeit Löhes zur Folge hatte.





  1. Bald hernach sah Löhe, da etliche Gläubiger unerwartet ihre Darlehen zurückforderten, sich genötigt, aus eignen Mitteln einen großen Teil dieses Kapitals an die Darleiher zurück zu zahlen.


« Zweites Kapitel Johannes Deinzer
Wilhelm Löhes Leben (Band 3)
Viertes Kapitel »
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).