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Wilhelm Löhes Leben (Band 2)/Erstes Kapitel

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Wilhelm Löhes Leben (Band 2)
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|  Mit dem Eintritt Löhe’s in den ehelichen Stand und in das Pfarramt hat der erste Band dieser Biographie geschlossen. So reihen sich an den Schluß des ersten passend die beiden Anfangskapitel dieses Bandes an, deren erstes das häusliche, das zweite das pfarramtliche Leben Löhe’s schildern soll.




Erstes Kapitel.
Häusliches Leben.

 Unter dieser Rubrik pflegt man in Biographieen in der Regel etwas Zusammenfassendes am Ende zu geben. Wenn wir abweichend von diesem Gebrauch hier bereits ein Kapitel dieses Inhalts einfügen, so rechtfertigt sich das wohl durch den Umstand, daß Löhe’s eheliches Leben nur eine kurze Episode seines Lebenslaufes bildete. Versuchen wir es denn, von dieser Blüthezeit irdischen Glücks in Löhe’s Leben ein kurzes Bild zu entwerfen.

 Löhe selbst war sparsam in Mittheilungen aus der Zeit seines ehelichen Lebens. Nur in Stunden, wo seine Seele weicher gestimmt war, stahl sich ein Wort der Erinnerung an jene schönen Tage über seine Lippen. Wenn er dann in bewegterem Tone als gewöhnlich anfieng: „Auch ich war einmal verheiratet“, so klang dies manchem, der ihn nur aus der Zeit seines einsamen| Wittwerlebens kannte, wie eine Sage aus fernvergangenen Zeiten. Die Rührung aber, die in solchen Momenten ihn ergriff, verrieth wohl, wie unverlöschlich in seiner Seele die Erinnerung an jene Tage einzigartigen Glückes lebte, das ihm in den sechs Jahren seiner Ehe beschieden war. Das Denkmal, welches er der Erinnerung an dieses kurze Erdenglück widmete, ist unsern Lesern in dem „Lebenslauf einer heiligen Magd Gottes aus dem Pfarrstande“ längst bekannt. Sie werden es uns trotzdem nicht verargen, wenn wir – der Vollständigkeit halber – jene Erinnerungsblätter hie und da als Quelle für unsre Darstellung benützen. Für diejenigen, die wohl das eben erwähnte Schriftchen kennen, die edle Frau aber, deren Lebensbild es in kurzen Zügen entwirft, nicht persönlich gekannt haben, mag die Versicherung am Orte sein, daß hier die Liebe des Gatten von der Gattin nicht ein idealisiertes, sondern ein wahrhaftiges und getreues Bild entworfen hat. Man weiß ja, wie der Tod die Macht hat, um das Bild, das wir von unsern Geliebten in der Erinnerung festhalten, einen Schein der Verklärung zu weben, und unwillkürlich glaubt man sich berechtigt, bei Lebensbildern, bei welchen Pietät und Liebe gegen die Heimgegangenen die Hand des Darstellers geführt haben, ein größeres oder geringeres Maß von Lobeserhebung und Verherrlichung in Abzug bringen zu dürfen.
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 Aus diesem Grunde war es dem Schreiber dieses von Werth, aus dem Mund eines mit Löhe und seiner Gattin nah befreundeten Mannes, dessen unbestochenes und maßvolles Urtheil überall in gebührendem Ansehen steht[1], an Löhe’s Grabe die Versicherung vernehmen zu dürfen, daß das von Löhe entworfene Bild seiner seligen Gattin frei von aller verschönernden Zuthat| und eine vollkommen wahrheitsgetreue Darstellung von Helenens Wesen sei.

 Trotzdem versäumte es der Schreiber dieses nicht, auch aus dem Munde einiger anderer Personen, die der Lebensgefährtin Löhe’s in der Zeit ihrer Ehe nahe standen, sich eine Bestätigung dieser Versicherung zu holen. Was dieselben aus ihrer, uns und unsern Lesern zu Liebe aufgefrischten Erinnerung uns freundlich mitgetheilt haben, ist in den folgenden Blättern gleichfalls benützt. Selbstverständlich geben auch die Tagebücher Löhe’s, besonders dasjenige vom Jahre 1844 (dem Jahr nach Helenens Tode), sowie seine Briefe an die ihm nächststehenden Freunde mitunter reiche Ausbeute.

 Das schönste Denkmal des häuslichen und ehelichen Lebens Löhe’s sind jedoch die Briefe, welche er während der sechs Jahre seines Ehestandes an seine Schwiegermutter, Frau Elisabeth Andreae-Hebenstreit in Frankfurt a/M., gerichtet hat. Das ganze tägliche Leben der beiden Ehegatten und der bald um sie her erblühenden Familie mit all seinen großen und kleinen, freudigen und traurigen Vorkommnissen spiegelt sich in denselben in ungemein anziehender Weise wieder. Um die oft von Melancholie heimgesuchte Frau zu erheitern, läßt Löhe in diesen Briefen dem fröhlichen Humor, der durch den gewaltigen Ernst seiner späteren Lebensführung freilich sehr zurückgedrängt wurde, manchmal in heiterster Laune die Zügel schießen, wenn gleich selbstverständlich der Scherz (um mit seinen eignen Worten zu reden) immer nur „die Verbrämung des Ernstes“ war. Leider eignen sich diese Briefe eben um ihres familienhaften Inhalts willen nur in sehr beschränkter Auswahl zur Mittheilung und bleiben mit Recht ein Familienbesitz für Löhe’s Kinder. Aber es entfaltet sich da vor dem Auge des Lesers ein so sonnenhelles Bild häuslichen Glücks, daß die Lectüre dieser Briefe| wohl zu dem Genußreichsten gehört, was der schriftliche Nachlaß Löhe’s enthält.

 Dies ist das Material, welches uns für dieses Kapitel zu Gebote stand.




 An eine Darstellung von Löhe’s ehelichem Leben wird selbstverständlich der Anspruch gemacht, daß sie auch das Bild derjenigen, welcher er nächst Gott sein irdisch Glück verdankte, zu zeichnen versucht. Es existiert von Helenens äußerer Erscheinung kein Bild, das man nur halbwegs gelungen nennen dürfte. So sind wir auf Schilderungen ihr einst nahestehender Personen angewiesen. Eine bereits betagte Frau, welche Helene Löhe kannte und mit ihr befreundet war, schildert ihr Aeußeres folgendermaßen: „Eine liebliche Erscheinung, ziemlich groß und schlank, fein und elastisch in ihren Bewegungen; ovales Gesicht, schöngewölbte Stirn, von herrlichem schwarzen, lockigem Haar umrankt, das aber immer schlicht zurückgekämmt und in dichten Flechten um den Hinterkopf gelegt war. Die Farbe des Gesichts war frisch und blühend, die Züge edel. Aus den innigen großen braunen Augen sprach Sanftmut und Seelengüte. Ihre Stimme war klangvoll und besonders beim Gesang entzückend schön. Ihr Anzug war immer höchst pünctlich, aber einfach. Die ganze Erscheinung hatte bei aller kindlichen Bescheidenheit und Demut doch auch etwas sehr Bestimmtes – ein Bild edelster weiblicher Anmuth voll Herzensgüte und Freundlichkeit.“

 Der äußere Mensch ist aber nur die Hülle, wenn auch – wo es recht steht – die durchscheinende Hülle des inneren. Die Schönheit des letzteren ist, wie der Apostel sagt, köstlich vor Gott. Helene Löhe besaß nach dem Urtheil aller, die sie kannten, diese Anziehungskraft des innern Menschen in hohem Maße. „Ihr Wesen hatte etwas Gewinnendes, – sagt einer,| der viel um sie war – und bei aller Hingebung an ihren Mann hatte sie doch auch noch Liebe für ihre Umgebung. Man schloß sich leicht an sie an.“ Für Löhe war es nach dem Heimgang des Weibes seiner Jugend eine wehmüthig-süße Beschäftigung, sich in das Studium ihres Charakters und ihrer geistigen Eigentümlichkeit zu vertiefen. Nach und nach erst, meint er, sei ihm das klare Verständnis dafür aufgegangen. Im Jahre 1848 schreibt er am Todestag Helenens in sein Tagebuch: „Der Charakter der seligen Helene ist mir in diesem Jahre klarer geworden. Unmittelbarkeit, Ursprünglichkeit, Lauterkeit des Benehmens, das ists – und ich wüßte nicht, wer ihr darin gliche.“ Aehnlich schreibt er in dem im Jahre 1867 in zweiter, vermehrter Auflage erschienenen Lebenslauf einer heiligen Magd Gottes etc. S. 26: „Einfalt, die von innen nach außen mühelos lebt, in heiliger Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit sich in jeder Lage frei und kindlich bewegt, für jede Lage das freie, aufrichtige, innere Verhalten findet – das war Helenens Theil und schönste Gabe. Sie konnte drum ihre Unwissenheit zeigen, ungeschickte Fragen bringen, die geringste Schülerin sein, ohne daß sie einmal linkisch sich benahm. Wie wenn sie voll Weisheit und Erkenntnis redete, nahm man ihr Fragen und kindlich Forschen auf. Oft aber fand sie kraft der Einfalt das schönste Wort zum schönsten Sinn und redete, ohne daß sie es merkte, holdselige Worte der Wahrheit, welche ihr die Herzen gewannen.“ Mit dieser Einfalt und Lauterkeit ihres Charakters verband Helene Löhe eine außerordentliche Heiterkeit des Temperaments. Sie konnte heiter sein oft bis zum Mutwillen. Ihr Frohsinn stimmte auch Löhe’s zu schwerem Ernste neigendes Wesen zu einer Heiterkeit, die ihn oft selbst in Verwunderung setzte. Sie konnte lachen, daß es schallte, aber niemand durfte dieses Lachen als unanständig tadeln, denn es war der Ton eines reinen,| die echte Weiblichkeit nie verleugnenden Herzens. Ihre tiefe Religiosität, ihre zarte Gewissenhaftigkeit, ihr ernstes Streben nach Heiligung hielt der natürlichen Heiterkeit ihres Temperaments das Gleichgewicht und verlieh ihrem Wesen Ernst und Tiefe.
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 Die Art und Weise der Begegnung der beiden Eheleute war zart und liebevoll. „Jahrelang – sagt einer, der damals viel in Löhe’s Hause verkehrte – konnte man um sie sein, ohne einen ordinären Zug in ihrem ehelichen Leben zu entdecken. Bei aller Liebe der züchtigste Umgang, bei aller Ehrerbietung die innigste Gemeinschaft. Das Familienleben war ein wahrhaft schönes, ein Familienleben im höhern Chor. Man sah in demselben ein Ideal verwirklicht.“ Löhe war stolz darauf, ein solches Weib zu haben. Sie hinwiederum lehnte sich mit vollstem Vertrauen und innigster Hingebung an ihn an. Selbst beim Gebet legte sie gern ihren Arm in den seinigen. Sie hielt hoch von ihrem Manne und duldete in ihrer Umgebung nicht die leiseste Andeutung von Tadel über ihn. Sie konnte erregt werden, wenn z. B. ein Schüler zu sagen wagte: „Da hat mir aber der Herr Pfarrer ein Unrecht gethan.“ „Der Herr Pfarrer thut einem Buben wie Du bist kein Unrecht“, rief sie, dann mit flammendem Auge dem kühnen Sprecher entgegen, „das sagst Du mir nicht mehr.“ So empfindlich war sie gegen jeden, auch harmlosen Tadel ihres Eheherrn. Ein Augenzeuge erzählte uns folgende Scene: „Der Löhe sehr befreundete Pfarrer Dr. Layriz war eben, wie häufig, zu Besuch im Dettelsauer Pfarrhause anwesend, als die Kunde vom Tode des ehrwürdigen Bürgermeisters Merkel von Nürnberg eintraf. Layriz trat an das Instrument, griff in die Saiten und stimmte mit der Pfarrfrau den Choral an: „O, wie selig seid ihr doch, ihr Frommen“ etc. Löhe (dem bekanntlich die Gabe des Gesangs versagt war) stand am Fenster und hörte anbetend zu bis zu| dem Verse: „Christus wischet ab euch alle Thränen“. Da fiel auch er mit seiner kräftigen Stimme ein und betonte, wie er so oft that, singend, was er besonders hervorgehoben wollte: „Habt das schon wornach wir uns erst sehnen“. Layriz, dessen feingebildetes Ohr für jeden musikalischen Miston empfindlich war, konnte sich hiebei eines Lächelns nicht erwehren. Löhe bemerkte es und sagte: „Layriz muß eben lachen, wenn ich singe“. „Und du singst doch schön, Wilhelm!“ rief die Pfarrfrau, indem sie ihres Mannes Hand küßte, worauf Löhe lächelnd erwiderte: „Layriz hört mich am liebsten, wenn ich nicht singe, aber warte nur, Layriz, im Himmel treffe ich die Töne schon.“

 Daß jedoch die Verehrung, mit welcher Löhe’s Weib zu ihrem Manne empor blickte, nicht in eine Menschenvergötterung ausartete, wird nicht erst gesagt werden müssen. Wäre es nöthig, sie gegen diesen Verdacht in Schutz zu nehmen, so dürfte wohl die Mittheilung folgender Stellen aus ihrem bräutlichen Briefwechsel mit ihrem Verlobten genügen.

 „O mein Wilhelm“ – schreibt sie da einmal – „ich habe mir noch nie gedacht, daß Du ein Heiliger seist, ich denke dies von keinem Menschen; ich weiß, daß Du ein begnadigter Sünder, und Du weißt, daß ich eine begnadigte Sünderin bin etc.

 „Ich werde Dir immer dankbar sein, lieber Wilhelm, wenn Dir an mir etwas nicht gefällt und Du mich bei mir selbst verklagst. Deiner Helene wird aber dies schwer werden, nämlich ein Gleiches gegen Dich zu thun; darum bete, lieber Wilhelm, daß, so es noth thun sollte, daß Dein schwaches Weib dann aufrichtig gegen Dich ist. Der HErr wird mir schon helfen!“

 In ihrem häuslichen Beruf bewies Helene Löhe große Tüchtigkeit. Es war für sie, die an städtisches Leben gewöhnte Tochter eines angesehenen Hauses, keine leichte Aufgabe sich in den Beruf einer Landpfarrerin zu schicken. Es galt sich in ganz| neue und, im Vergleich mit ihrer früheren Lage, geringere Verhältnisse einzuleben. Welch ein Abstand allein zwischen der vornehmen Wohnung in Frankfurt und der damals noch recht unansehnlichen „Pfarrhütte“.

 Das Pfarrhaus von Dettelsau, dessen Abbildung unsere Leser auf dem Titelbilde finden, hat erst nach und nach durch mannigfachen, von Löhe zum Theil selbst bestrittenen Aus- und Umbau das stattlichere Ansehen und die vortheilhaftere Einrichtung bekommen, die seine Räume Besuchern und Gästen späterhin so wohnlich erscheinen ließ. Damals muß es ein recht unscheinbares Aussehen gehabt haben. Löhe schreibt oft scherzend an Verwandte, deren Besuch man erwartete: er wette, sie würden unter den Bauernhäusern des Orts das Pfarrhaus nicht herausfinden, und erzählt, wie oft vornehme Fremde, die zu Besuch kamen, seine Räumlichkeiten mit mitleidvollem Grauen betrachteten. Freilich zog mit dem Löhe’schen Ehepaar auch Ordnung, Sauberkeit und Nettigkeit in die arme Hütte ein, und wer überdies das Glück und den Frieden des im Innern sich entfaltenden Familienlebens sah, nahm wohl den Eindruck mit sich, daß hier eine Stätte sei, wo sich’s gut wohnen lasse.

 Das also war der Bereich des hausfräulichen Waltens von Helene Löhe. Mit Lust und Eifer und mit Geschick nahm sie sich ihres Haushalts an. In der Küche, bei der Wäsche, in der Bügelstube, im Garten, überall legte sie fröhlich und unverdrossen Hand an. Wo die eigene Erfahrung nicht ausreichte, schämte sie sich nicht, von andern zu lernen. „Von einer alten Landfrau lernte sie am Rad spinnen, von einer Pfarrersfrau das Spinnen an der Spindel. Ein Bäcker lehrte sie Seifensieden. Von den Bauernfrauen lernte sie Brot backen. Von Jedem lernte sie was sie von ihm lernen konnte. Eine Schülerin aller, kam sie schnell empor. Still hin that sie ihre Arbeit – alles ordnete| sie – und man merkte nichts. Der Haushalt war keine lärmende Maschine, sondern einem Baume gleich, der wächst und grünt und blüht und Früchte bringt zu seiner Zeit, aber bei all der reichen Thätigkeit kein Geschrei und keinen Lärm macht.“

 Auch den ökonomischen Geschäften, die der Haushalt in einem ländlichen Pfarrhause besonders auf einem von aller Cultur städtischen Lebens so völlig unberührten Dorfe nothwendig machte, unterzog sich Helene Löhe mit unverdrossenem Eifer. Der Pfarrhof von Dettelsau hatte, namentlich so lange der Naturalzehnten noch nicht abgelöst war, zu Zeiten das Ansehen eines Bauernhofes, weshalb Löhe – nach Art der Dettelsauer Bauern – Helenen manchmal „seine Bäuerin“ nannte. Launig beschreibt er in einem Brief an seine Schwiegermutter ihr Walten auf „seinem Bauernhofe“.

 „Deine Tochter Helene sieht aus wie das Leben, wenn nämlich das Leben roth und gelb sieht (weiß ist ihre Haut ja nicht). Vorige Woche hat sie von der Amme das Flachshecheln gelernt, obwohl auch die Finger ein wenig mit gehechelt: es geht aber herrlich: ich habe mich gefreut zuzusehen, da ich am Dienstag nach meiner Schullehrerconferenz in den Garten gieng und sie im Staube sitzend fand. Von M. habe ich ihr 300 Krautsköpfe, schöne, große gekauft, und morgen kommt der J. A. zum Einschneiden. – Auf den Kellerhals in der Scheune hat man eine Fuhr Streu werfen lassen, damit es im Winter warm sei. In der Streu kann man sich etwa auch selbst wärmen – und was für ein Aufenthalt ist hier für die schmausbackige Henne und für die übrigen Kratzfüße der Hausfrau. – Die Gänse, welche Helene vergangene Woche allein gerupft hat, haben großen Ruhm; ich muß einmal ums andre Barchent kaufen, so viel Kissen und Federbetten gibts. Das ist eitel Liebe zu den Frankfurter Gästen, daß man so viele Gänse hält, und die| gackernden Lausekerle merken es ordentlich, daß ich kein eigentlicher Frankfurter bin, denn eine von ihnen hat heute vor acht Tagen, da ich aus der Abendkirche kam, trotz des Chorrocks mein Bein mit dem Schnabel gefunden. Es ist nur gut, daß es nicht Helene war, sonst würdest Du erschrecken. Nun aber überliefere ich mich der roßhaarenen und federnen Streu. Ich habe mich genug gepredigt, gesungen, gecopuliert, gelehrt und zuletzt mit gehörigem Ernst Deiner offenbarungshungrigen Helene Offenbarung 18–22 vorgelesen.

 „Grüße alle etc. von Deinem

Löhe.“ 


 Auch die Pflichten ihrer Stellung als Pfarrfrau begriff sie rasch und vollständig. Vor allem gieng sie der Gemeinde mit gutem Beispiel im Besuch des öffentlichen Gottesdienstes voran. Sie war eine eifrige Hörerin des göttlichen Wortes, die gerne wie Maria zu Jesu Füßen niedersaß. Selbst mehrmaliges Hören des Wortes Gottes in der Predigt an Einem Sonntag ermüdete sie nicht. „An Sonntagen“ – schreibt Löhe aus der ersten Zeit seines Ehestandes an seine Schwiegermutter – „ist Deine Helene meist recht vergnügt. Sie hört drei bis vier Mal predigen ohne Zeichen des Widerwillens und obendrein freiwillig. Der Helenen angewiesene Pfarrstuhl ist zwar groß, aber nicht schön gelegen, sie kann von ihm aus den Prediger nicht sehen. Dennoch hat sie ein Wohlgefallen an ihm, wie ihr denn leicht Alles gefällt, sogar am Ende der schlechteste Theil der Pfarrei, der Pfarrer.“ Besonders gern nahm sie an den alle 14 Tage stattfindenden Abendgottesdiensten in dem lieblich gelegenen Filialdörfchen Wernsbach theil. Wenn die beiden Gottesdienste in Dettelsau abgehalten waren, gieng es nach Wernsbach. Ganze Züge von Kirchgängern sah man in später Nachmittagsstunde dem auf sanfter Anhöhe gelegenen, das friedliche Thal zu seinen Füßen beherrschenden Kirchlein zuströmen. Der Rückweg wurde zur| Winterszeit bei Fackelschein angetreten. Helene Löhe fehlte nicht leicht bei solchen Gängen trotz des tiefen Schnees, der oft zur Winterszeit die Wege fast unpassierbar machte oder zur Zeit des eintretenden Thauwetters die niedriger gelegenen Partien des Thälchens förmlich unter Wasser setzte. Ihr fröhlicher Humor half ihr über solche Strapazen leicht hinweg.

 Am Tisch des HErrn war sie ein fleißiger Gast. Mit Ernst und Sammlung ihrer Seele bereitete sie sich auf jede Abendmahlsfeier vor. Leicht wurde ihr es, sich vor ihrem Manne in der Beichte zu offenbaren. Mühelos und ohne Heuchelei gelang es ihr, aus der Stellung der Ehefrau sich in die Lage eines Beichtkindes zu versetzen, Einfalt lehrte sie den ungezwungenen Uebergang von dem traulichen „Du“, der Anrede des täglichen Lebens, zu dem magdlichen „Herr Pfarrer“ und zu der ehrerbietigen Anrede: Würdiger, lieber Herr, Ihr wollet meine Beichte hören etc.

 In die Dinge, die vor das Forum ihres Mannes gehörten, begehrte sie sich nicht zu mengen, aber soweit es ihr geziemte, war sie eine fröhliche Gehilfin ihres Mannes auch in seinem Beruf. Gerne begleitete sie ihn an Krankenbetten, und während er mit dem Wort des Lebens die Seelen speiste, erquickte sie die Kranken mit leiblicher Wohlthat. Sie sammelte an verschiedenen Abenden der Woche, einmal die Knaben, das andre Mal die Mädchen zu einer Singschule um sich, in deren Leitung sie viel Talent und Geschick bewies. Einer ihrer damaligen Singschüler schreibt uns: „Wer die schöne Stimme dieser Vorsängerin einmal gehört hatte, dem blieb sie in der Erinnerung, und heute noch sind gesangliebende Menschen, die sie damals hörten, von dieser Stimme entzückt. Es waren nicht nur die schönen, uns zum Theil fremdartigen Melodien zusammt den herrlichen Liedertexten aus Raumers Gesangbuch; es war vor allem die brennende| Liebe der Sängerin zum HErrn, die diese Stimme so eindringlich machte.“

 Auch wenn es für irgend einen wohlthätigen Zweck etwas zu erarbeiten galt, war sie der einigende Mittelpunct des weiblichen Theils der Gemeinde. „Frau Helene“ – schreibt Löhe einmal bei einer solchen Gelegenheit an seine Schwiegermutter – „wird nun eine große Rockenstube anlegen. Die Weiber und Mädchen sollen schönes Garn zum Verkauf für die Stiftungscasse spinnen – das wird schnarren. Drüber hin wird meine Stimme allerlei Erzählungen zur Unterhaltung schnarren. Wir wollen nämlich die Orgel an die Wand rücken lassen, dann bekommt man Männerstühle, welche sehr fehlen, Platz für den Chor, und der Unfug hinter der Orgel hört auf. Die Orgel selbst muß auch repariert werden. Da muß man was erspinnen, damit der gute Zweck erreicht werde.“

 Wem wird man es noch zu versichern brauchen, daß Löhe an der Seite einer solchen Gattin fröhliche Tage verlebte? Sein Tagebuch aus dieser Zeit ist denn auch Beweis, wie sein Herz voll Dankes gegen Gott war, daß er ihm in seiner Ehe einen solchen Brunnen der Freuden im Jammerthale quellen ließ. Auch seine Briefe an seine Schwiegermutter geben reichlich Zeugnis von der Liebe der beiden Ehegatten zu einander und dem aus diesem Borne immer neu ihnen zufließenden Glück. „Deiner Helene“ – schreibt er einmal an die Mutter derselben – „scheinen die rosigen Tage der Jugend erst in der Ehe recht zu kommen; denn ihr glückliches, arg- und sorgloses Temperament überläßt sich oft einer Fröhlichkeit, welche zuweilen Mutwille wird. Sie würde unglücklich sein, wenn ich ihr weniger Liebe merken ließe, sie ist recht für die Ehe gemacht, denn sie kann nur mit dem Manne glücklich, nur mit ihm so traurig sein, daß sie von der Traurigkeit nicht erdrückt wird. Gott gebe ihr| deshalb ihres Mannes Leben und Liebe noch länger, damit sie an ihm, wie die Rebe an der Ulme, emporranke und für den ewigen Freund der Seele reife.“

 Ein andermal schreibt er an dieselbe: „Noch immer ist der Frühling bei uns blos im Hause. Draußen weht eine kalte Luft. Deine Tochter und ich haben uns nach einem Traum, der sie für ihre Sünde strafte, aufs neue und desto inniger verbunden, unsres Gottes ewiges Eigentum zu sein und zu bleiben. Wir lernen es alle Tage, daß das Leben in der Ehe schöner als der Brautstand sei, daß aber beide, Brautstand und Ehe, ein kleines Stänglein Gerstenzucker sind, das bald abgezullt ist, wenn nicht eine Liebe, die nicht von dieser Welt, die Ehe verklärt und zur heiligen Ehe macht.“

 Am Weihnachtsfest des Jahres 1838, dem zweiten Jahr ihrer Ehe, bescheerte Löhe seiner Helene zwei schöne Teller, auf welche er von einem Porzellanmaler ihrer beider Namen und zwei Sträuße Jelängerjelieber hatte malen lassen. Dies Jelängerjelieber – sagte er gern – sei sein Hauswappen, d. h. das Symbol seines ehelichen Glücks gewesen.

 Im Schoße solchen Glücks fand Löhe immer neue Stärke und Freudigkeit für die Werke seines Amtes. Mit größerer Begeisterung hat er wohl nie seines Berufes gewartet, feurigere Opfer wohl nie seinem HErrn auf Kanzel und Altar dargebracht als in jenen Jahren, wo ihn Gott mit Freuden wie mit einem Strome tränkte. Ost brach der Dank seines Herzens für alle ihm erzeigten göttlichen Gnaden und Wohlthaten in hellem Jubel hervor. So schreibt er einmal an seine Schwester:

 „Ich wandle im Glauben, mein ewiger Wandel, mein Heimats- und Bürgerrecht wird sein, ist, ist in der Stadt des lebendigen Gottes, bei Meinem Volke! – Seliges Wallen! Tägliches Eilen zum Ziele! Stündliches, zitterndes Warten!| Unablässiges Hosianna! – Dank für das Wallen, Eilen, Zittern, Warten und Hosianna dem, der nach Seiner Gottheit, wie nach Seiner Menschheit bei uns ist, – nach Seiner Menschheit, wie nach Seiner Gottheit, seitdem Er, der Menschensohn, zu seiner Herrlichkeit heimgefahren ist. – Dank fürs Jammerthal, Dank für seine Brunnen, für seine Brunnen! Dank für meine Posaune, für meine Stimme, die in der Wüste mir und den Meinen ruft, – für mein Heroldsamt, für mein Evangelistenamt! Ich wäre vielleicht nicht so viel Christ, als es doch ist, wäre ich kein Evangelist. Mein Amt und meines Amtes Gabe haben auch mir das Lebensbrot verschafft! Dank Dem, der nicht allein in Christo war und die Welt mit Ihm selbst versöhnte, sondern der auch unter uns aufgerichtet hat das Wort von der Versöhnung, ohne welches uns Golgatha ein todter Felsen wäre, – der mich von meiner Mutter Leibe an ausgesondert hat zu seinem Rufer!“

 Es wird nach dem Gesagten kaum nöthig sein, auch aus Helenens Briefen ein Zeugnis für das Glück beider Ehegatten anzuführen. Doch mag hier im Auszug ein Brief Helenens an ihre Mutter vom 7. März 1840 mitgetheilt werden.

 „Meine liebe Mutter! Meine Liebe zu Dir wird täglich größer, aber ich bin sehr federfaul.... Wir sind alle sehr gesund und vergnügt. Dem Wilhelm sein Geburtstag wurde sehr feierlich begangen. Ich führte oder zog ihn vor dem Frühstück in die untere Stube, in welcher ein Schrank für seine Bücher stand, in demselben zwei prächtige Wecke, 12 Knackwürste, ein Hut und ein Wachsstock von mir und von Frau Zeilinger eine prächtige Kaffeetasse zum täglichen Gebrauch. –

 „Meine Kindlein habe ich sehr lieb und freue mich täglich über ihr Gedeihen an Leib und Seele.

 „Morgen wird bei uns der Bußtag sein; von morgen| fangen auch die Communionen wieder an und werden dauern bis zum Sonntag nach Ostern, an welchem die Kinder confirmiert werden. Montag in acht Tagen haben wir Schulvisitation, Wilhelm sagt nur Küchenvisitation.... Ich bin ohne mein Verdienst sehr glücklich; ich mag mein Leben ansehen von welcher Seite ich will; ich bin sehr glücklich und am morgenden Tage habe ich auch Buße zu thun wegen meines Undanks, weil ich Gott für seine Wohlthaten nicht danke und ihn lobe mit Worten und Werken. Der Herr schenke mir aus Gnaden Vergebung für alle meine Sünden und lasse mich seine Güte loben und rühmen.

 „Gott sei mit Euch und uns.

Deine Helene.“ 


 Während ihres Ehestands waren beide Gatten nur selten und nur auf kurze Zeit von einander entfernt. Nur eine vierzehntägige Reise Löhe’s in Missionsangelegenheiten nach Dresden und ein vierwöchentlicher Besuch Helenens bei ihren Eltern in Frankfurt im Jahr 1840 unterbrach das innige Zusammenleben beider Eheleute d. h. wenigstens die Nähe des sichtbaren Verkehrs; denn die geistige Verbindung sowie auch der briefliche Verkehr blieb ununterbrochen. Innerhalb der kurzen Zeit von nicht ganz drei Wochen schrieb Löhe nicht weniger als sieben Briefe an Helene. Es mögen hier einige Stellen aus diesen Briefen folgen.


Neuendettelsau, 6. Mai 1840. 

 „Liebe Helene!

 „Heute kommst Du nach Frankfurt. Gott segne Deinen Eingang und Ausgang. Er gebe Dir die armen Blüthen der Heimatsfreude dieser Erde und die reichen Blüthen der Heimatsfreude des Himmels. Sein Geist versichere Dich, daß Du Sein Kind und Erbe, eine Bürgerin und Hausgenossin in Gottes ewiger Wohnung bist! Amen. Amen.

|  „Am südlichen Fenster meines Stübleins kommen Wolken, die Erde zu tränken, wenn meine Liebsten und meine Kindlein im Trockenen sind. Der Regen komme zur schmachtenden Erde; Dich und Deine Kinder suche heim der Segen des Allmächtigen als ein milder Regen! Amen.

 „Alles geht gut. Mein Haus ist auch jetzt einträchtig. Wir trachten darnach, Dir bei Deinem Kommen Deine Wirthschaft in gutem Stand zu überliefern. Darum freue Dich nur mit den Deinen; ich sehe nicht scheel, wenn Dir’s in Frankfurt gefällt, ’s ist ja Deine Heimat! Gott behüte Dich aber vor dem, was in Deiner Heimat nicht zur Pilgerschaft nach der ewigen Heimat paßt. Gott stärke Dich, daß Du auch ohne Deinen Mann seiest Deines Mannes Weib, eines Predigers Weib, der sich auch nicht verleugnen darf in Weib und Kind. Lies in Frankfurt die zwei Briefe an Timotheus und den an Titus und bemerke Dir, was den Weibern der Kirchendiener gesagt ist.

 „Nun, mehr weiß ich für heute nicht, außer was Du so lang schon weißt, daß ich Dich lieb habe etc.“




Neuendettelsau, 8. Mai 1840. 

 „Nun hast Du die Deinigen bereits gesehen, die liebe Stadt umfängt Dich mütterlich, der Main grüßt Dich mit seinem trüben Blick, Du bist daheim. Ich freue mich alle Tage Deines Glücks und wünsche, daß Du den Kelch von Heimatsfreuden mögest reichlich trinken, doch nicht seine Hefe, denn Frankfurt hat Hefe, versteht sich, wie jeder Ort. Grüße die Deinigen alle von mir, wenn sichs gerade schickt und das Andenken an das Landconfect nicht Wolken und Runzeln auf den Stirnen sammelt.

 „Auch Neuendettelsau hat Frühling. So haben meine Bäume nie geblüht. Der Hintere Garten steht schön, es kommt| alles hervor. Der Wald, die grünen Felder blinken schön, wenn ich über die Mauer schaue. Die Strohbänke sind fertig. Im Hause geht alles seinen stillen Gang in guter Ordnung.... Gott segne Deinen und Deiner Kinder Aufenthalt....

 „Leben Sie wohl, Frau Landconfect, gedenken Sie fleißig Ihres Sie ewig, unaussprechlich, ,namenlos‘ liebenden

οὔτις 




Neuendettelsau, 20. Mai 1840. 

 ...„Es ist heute 14 Tage, seitdem Du in Frankfurt angekommen und hier mannichfach vermißt worden bist. Die Zeit geht vorüber, ich freue mich, Dich abzuholen, so zuwider mir das Reisen ist. Morgen über acht Tage ist Himmelfahrt, am Abend will ich von hier wegfahren. Laß mich hoffen, daß diese Reise uns nur noch inniger vereint hat für die Lebensreise, daß sie uns überzeugt hat, daß unsre Ehe von dem HErrn beschlossen war und ist, daß wir fröhlicher noch zusammen mein Haus wieder betreten als am 1. August 1837. Neuendettelsau selbst hat keine sonderliche Lieblichkeit für mich. Der HErr hat mich hieher berufen, das macht mir die Gemeinde lieblich. Riefe er mich an einen Ort, wo ich weniger Hindernisse hätte, vielleicht gienge ich gerne, aber mit Dir, und da wär’s mir dann doppelt leicht. Indes – bleiben wir im Frieden hier!

 „Da hast Du einen langen Brief, den letzten vor meiner Abreise. Briefe sind immer schöner als die Menschen, von welchen sie stammen. Hast Du den lebendigen Brief, der da kommen soll, lieber, oder einen geschriebenen? Willst Du lieber geschriebene, so gehst Du nach Dettelsau, ich bleib in Frankfurt, dann gehts noch eine Weile so fort... Gott segne Dich, meine wertheste Frau, und

Deinen Utis.“ 


|  Vielleicht ist es unsern Lesern lieb auf diese Briefe Löhe’s an Helene auch das Echo zu vernehmen, das von Frankfurt her antwortete.


Frankfurt, den 16. Mai 1840. 

 „Mein liebster Wilhelm!

 „Schönen Dank für Deinen lieben Brief, ich hätte ihn nur gern länger gehabt, er war so gar kurz, ich hätte gern mehr von meinem Neuendettelsau gelesen. Wir freuen uns miteinander nach unserm Neuendettelsau, auf unsre Ruhe, liebster Wilhelm. Wir wünschen sehr nach Himmelfahrt von hier weg zu gehen. Du bist also so gut, nicht wahr, mein Lieber, und holst uns ab nach Deinem Versprechen... Der HErr lasse Sein Wort in Deiner Gemeinde nicht umsonst gepredigt werden. O, wenn der Schullehrer Deine Stütze würde, mein Liebster, und ich auch, soviel an mir liegt! O, ich bin so träg, das ist mein Jammer! Betest Du doch für Deine Helene? Morgen ist Sonntag, ich werde H. Pfarrer Z. hören... O, wäre ich bei Dir und in Deiner Kirche. Gott sei mit Dir und segne Dich heut und allezeit.... Liebster Wilhelm, soeben komme ich von Tante N. zurück, und nachdem ich viel an Dich gedacht und von Dir mit Fr. Zeilinger geredet, kommt Dein lieber Brief. Heute in 14  Tagen bist Du wieder bei mir. Ich zähle Tag und Stunden mit mehr Sehnsucht, als eine Braut auf ihren Bräutigam wartet. Du hast in Deinem letzten Brief denselben Gedanken geschrieben, den ich schon oft gedacht habe. Ich freue mich auf jedes Brieflein von Dir, mehr, als ich mich sonsten gefreut habe – glaube ich. Ich möchte Dir gern viel erzählen, doch die Feder geht zu langsam.

 „Liebster Wilhelm, ich ehre Dich und liebe Dich, ich bin Dein glückliches Weib und freue mich auf meinen liebsten Mann.

Deine treue Helene.“ 


|  An dem Familienleben des Löhe’schen Hauses nahmen jezuweilen auch die Mütter der beiden Ehegatten Theil. Löhe’s Mutter brachte in der Regel einen Theil des Sommers bei ihrem Sohne zu. Dieser rechnete sich ihren Besuch stets zur Freude und zur Ehre. Helenens Verhältnis zu ihrer Schwiegermutter war ein Verhältnis ungeheuchelter Achtung und Liebe. Sie spricht von ihr nie anders als von der „Frau Mutter“. „Wie Naëmi und Ruth“ – sagt Löhe in dem Lebenslauf seiner Gattin – „haben sich diese zwei, Schwieger und Schnur, lieb gehabt bis ans Ende. Ich habe oftmals meine Hände segnend auf das Haupt meiner Liebsten gelegt, wenn ich sah und hörte, wie sie das Gebot, das Verheißung hat, an ihrer Schwieger ausübte.“

 Nicht so regelmäßig, dann aber immer auf längere Zeit, war Helenens Mutter ein Gast im Hause ihrer Kinder. Die Landluft war ihren leidenden Nerven sehr zuträglich, die Teilnahme an dem Glück ihrer Kinder heiterte ihr von Schwermut oft umdüstertes Gemüt wohlthätig auf, und vor allem fand sie, was sie am meisten suchte, im Umgang mit ihrem Schwiegersohn und in der Theilnahme an dem gottesdienstlichen Leben Dettelsau’s: Arzenei und Erquickung für ihre zu Zeiten schwer gedrückte Seele. Hier gieng sie auch im Jahre 1843 nach kurzem Krankenlager zu ihres Heilands Ruhe und Freude ein.

 In Folge ihres bei jedem Besuche länger andauernden Aufenthalts im Löhe’schen Hause fühlte sie sich mit demselben so innig verwachsen, daß es ihr Bedürfnis war, mit ihren Dettelsauer Kindern im lebendigsten geistigen Zusammenhang zu bleiben. So wurde denn ein reger brieflicher Verkehr gepflogen, durch welchen sie von allem, was in Dettelsau vorgieng, gleichsam auf dem Laufenden erhalten wurde. Scherzend legte Löhe einmal für sie eine Art von Tagebuch des Dettelsauer Pfarrhauses| an. Man muß die große Treue Löhe’s bewundern, die nicht ermüdete, die klagende, zagende Seele immer wieder mit Gottes Verheißungen zu trösten, und für sie immer einen ermunternden Zuruf aus dem Heiligtum und daneben auch ein aufheiternd Wort munteren Scherzes hatte, das den Trauergeist verscheuchen und ein Lächeln auf den Lippen wecken sollte. So wechselt denn in diesen Briefen tiefer seelsorgerlicher Ernst mit fröhlichem Humor. Diejenigen, welche die Morosität nicht für die Form halten, in welcher das Christentum allüberall erscheinen müsse, werden daher auch keinen Anstoß daran nehmen, wenn in Löhe’s Briefen an seine Schwiegermutter der heitere Ton des Scherzes den Grundton des Ernstes zuweilen übertönt, sondern es uns vielmehr Dank wissen, wenn wir hier einige Bruchstücke aus diesem Briefwechsel zur Mittheilung gelangen lassen.

 Die Schwiegermutter Löhe’s schrieb einmal irgend etwas von désirs, die man auch in der Ewigkeit noch haben werde. Darauf antwortete Löhe: „Immer erwarteten wir einen Brief von Dir, denn der von F. aus an uns gelangte wollte uns nicht recht genügen, und wir sahen ihn nur für ein Briefsurrogat an, denn die Stunde melancholischer Anfechtung gebiert nur Surrogate. Endlich am vorigen Mittwoch erschien der Frühlingsbrief; Deine Buchstaben schienen mir auf dem grünen Papier lauter duftende Frühlingsblumen auf grüner Wiese. Der Freudengeist ist der rechte Geist der Ewigkeit, das weiß ich fürwahr. Ich weiß auch, daß unsre désirs in der Ewigkeit, wenn wir ja noch eine haben (was aber ein Pfarrer zu Neuendettelsau dahingestellt sein läßt als eine unbedeutende Sache), sehr fröhlicher Art sein müßten, wenn sie zur ewigen Seligkeit passen sollten. Sehnsüchtigkeiten, die meine Seligkeit nicht stören, mögen so mitgehen.


|  „Deinen Brief erhielt ich gerade nach meiner Rückkehr von Wernsbach, wohin ich mit Helene zu dem kranken G. gefahren war. Der G. denkt sicher an keine désirs rücksichtlich der Ewigkeit. Er weiß gewiß, daß er stirbt, denn seine Speiseröhre ist so enge, daß er nichts mehr genießen kann. Er redet mit vollkommener Ruhe von seinem Tode, wie er gewiß vom Tode seines Hundes nicht geredet haben würde; es ist ihm ein unbegreiflich geringes Ereignis, daß er sterben soll; er glaubt eine Ewigkeit, wo er’s besser haben werde als hier, und Ruhe im Tode gibt ihm hauptsächlich der Wahn, daß es nach seinem Tode der ganzen Umgegend nach ihm sehnsüchtig werden werde. Sein Gesicht ist ganz Maul, wie Dir nebiges Conterfei zeigen kann, denn er hat sein ganzes Leben von seinem Maule gezehrt und es deswegen groß gezogen – er war ein Händler und mußte die ganze Gegend beschwatzen. – Ach, liebe Mutter, wenn der nur in der ewigen Seligkeit wäre, wie gerne wollten wir ihm von désirs schweigen. Aber darum sorgt er nicht; er hat sein Sorgen nicht auf Gott, er hat es weggeworfen, falle es hin, wohin es sei. Bei solchen Kranken erfährt man recht die Schranken der Wirksamkeit! O, wie klein ist ein Seelsorger, wie gar nicht nach den Hoffnungen der Welt. Wie wenig kann er – und doch, wie köstlich ist sein Amt!

 „Du hast, geliebte Mutter, einen Sonntag in Frankfurt gehabt, und warum solltest Du nicht mehr haben können? Fändest Du auch die Form der Predigten nicht nach dem Geschmack und dem ungehobelten Wesen Deines Schwiegersohnes, was läge dran? O nimm und trink – trink aus dem Krystall und lasse Dich’s nicht verdrießen, daß er keine Neuendettelsauer Scherbe ist. Gott gebe Deiner Seele Weisheit, Speise aus den Gartenblumen zu holen, und wenn Du wieder aufs Land gehst, so gebe er Dir Weisheit, Speise von meinen Wiesenblumen zu holen!

|  „Du freust Dich auf den zweiten Besuch, wir freuen uns auch. Wir machen an die Thüre keine Striche, wir sehen aber mit Freuden in die Flucht der Zeit! Wie fröhlich sieht der Mensch Monden seines Lebens hingehen, an deren Ende er etwas Angenehmes findet. Ach, daß wir gerne das ganze Leben sähen fliehen, weil an dessen Ende der ewige Freund der Seele steht.“

 Ein andermal erzählt er ihr folgende Anekdote, die ihn weidlich belustigt habe. Ein etwas schwachsinniger Mann von Dettelsau kam eines Abends zu Löhe und bat sich ein Paar Hosen, sowie die Erlaubnis aus, sich manchmal an seinem Ofen wärmen zu dürfen. Bei dieser Gelegenheit erzählte er dem Pfarrer, wahrscheinlich um ihm zu beweisen, daß er sich auch schon Ansprüche auf seine Dankbarkeit erworben habe, folgende Geschichte, die Löhe in der Dettelsauer Mundart des Erzählers wiedergibt. „Er habe einmal Ochsen auf die Weide getrieben und sich beim Fortgehen von zu Hause als Proviant einen Weck in seine Mutzen (Kittel) gesteckt. Die ,Mutze‘ habe aber ein Loch gehabt, und als er auf der Weide angekommen den Weck aus der Tasche ziehen wollte, sei keiner mehr vorhanden gewesen. Vergebens habe er auf dem ganzen Heimweg nach dem verlornen Weck gesucht. Da sei ihm N. N. begegnet und habe ihm gesagt: eben sei der Pfarrer des Wegs gegangen, der habe den Weck gefunden und gegessen. Darauf habe er, der Erzähler, sich beruhigt und gesagt: ,Na, wenn’a der g’funna und gessen haut, dem hob ih’n vergunnt‘“. „Schau einmal“ – fährt Löhe fort – „ob Du die schöne Geschichte verstehst. So was freut mich.

 Noch Eins muß ich Dir erzählen. Ich habe Dir nicht geschrieben, daß Helene und ich, da wir in der Nacht des Buben wegen wach waren (vor etwa einem Vierteljahr), mit Entsetzen die sogenannte Klagemutter hörten. Sie wurde zugleich von den Bauern, die in der Nacht zum Dreschen auf| waren, gehört. Frau Z. und ich hörten dabei die Stubenthüren im Hause unten, die richtig verschlossen worden waren, schlagen, und mir war es, als wäre mein oberer und unterer Hausplatz und die Stiege erleuchtet. Seitdem ist im Hause Ruhe. Aber seitdem ist das Pfarrhaus und der Pfarrer von Neuendettelsau der Gegenstand der seltsamsten Gerüchte. Daß sich der Pfarrer mit dem Teufel balge, ist Allen ausgemacht. In der Gegend sagt man: der Teufel wolle den Pfarrer holen. Die katholischen Bauern von Veitsaurach können es namentlich nicht begreifen, warum der Teufel gerade den Pfarrer holen wolle. Beinahe kommt’s heraus, als hätte der Teufel an die Mystiker ein besonderes Recht. Ich werde von den Leuten mit Furcht und Scheu betrachtet. Es ist so weit, daß sogar die Gensdarmerie Notiz nahm. Der Brigadier besuchte mich und hätte gute Lust gehabt, den Teufel zu fangen. – Sieh da, was für ein Dettelsauer Leben! Wie lustig gehts da zwischenein her gerade in dem besessenen, nun aber gereinigten Pfarrhause[2]. Nun scheint der Teufel, wie er nicht mehr im Hause ist, in die Leute und ihre Zungen gefahren zu sein, wie dort in die Säue. –

 „Diesen Brief habe ich Dir zur Gratulation geschrieben, und Helene saß dabei oben auf dem Gefieder meiner fliegenden Feder und gab zu aller Gratulation den Nachdruck etc.

Dein W. L.“ 


|  Auch einige Bruchstücke aus solchen Briefen an seine Schwiegermutter, in welchen der Ernst seelsorgerlicher Ermahnung vorherrscht, seien hier noch mitgetheilt.

 „Uebrigens“ – schreibt er einmal an seine Schwiegermutter – „kannst Du doch mit Händen greifen, daß der HErr mitten unter seinen Feinden siegt. ,So Du könntest glauben, so würdest Du die Herrlichkeit Gottes sehend wie oft habe ich Dir diesen Spruch aus der Geschichte der Auferweckung Lazari vor die Ohren gebracht. Es geht durch dunkle Thäler zu schönen lichten Höhen; ’s ist auch so finster nicht, wenn man zu seinen Füßen das Licht hat, von welchem man im 119. Psalm und im Liede: Durch Adams Fall etc. liest. Ja, wenn einem auch keine einzelnen Verheißungen und Sprüche einfallen, sollte man nicht so viel in Erinnerung haben, daß das Licht immer wieder aufgehen muß den Gerechten und Freude den frommen Herzen? Laß Dich nicht durch das Wort ,gerecht‘ und ,fromm‘ in Versuchung führen; gerecht und fromm ist wer glaubt. Glaube nur, so gehören alle Verheißungen Dir. Glauben heißt: Gott Recht lassen, auch wo man das Gegentheil fühlt.

„Sein Wort lass’ Dir gewisser sein,
Und ob Dein Herz spräch lauter Nein,
So lass’ Dir doch nicht grauen.“

 Ein andermal schreibt er derselben:

 „Ich wünsche Dir jenen Glauben, der hier auf Erden ohne Schauen besteht. Du nennst das Leben ohne Freude und stimmst hierin mit Allen überein, die eine etwas längere Zeit gelebt haben, als sie wahrscheinlich noch zu leben haben. Danke Gott, liebe Mutter! Solche Erfahrungen machen die im Tode erfolgende Trennung leicht. – Indessen, wenn man freilich weiter keine Erfahrungen machen könnte, so wäre das Leben ein pures Jammerthal. Aber Du bekennst doch, bei Gottes Wort sei noch| Freude. Du thust es zwar auf eine Weise und in einem solchen Zusammenhänge, daß es scheint, als bedauertest Du’s, daß nur bei Gottes Wort wahre Freude sei. Allein Du thust Unrecht. Denn für’s erste, wenn es nur noch einen Ort und Gegenstand gibt, bei welchem sich wahre Freude findet, so ist das Leben ebensowenig verwaist als die Erde verwaist ist, weil sie nur Eine Sonne hat. Die Sonne, welche siebenmal heller scheint als jede andre Sonne, ist genug für uns, und wir haben auch genug an ihr. Unter ihren Flügeln ist Heil, Maleachi 4. ,Laß Dir an meiner Gnade genügen‘, spricht mein Gott. Und dann – ehe die Sonne aufgeht, harrt man auf sie allein; ist sie aufgegangen, so erleuchtet sie die ganze Welt und gießt Heil und Freude auf jeden Grashalm. So macht Jesus Christus diese arme Welt auch schön – und es wird gepredigt von den (aus Glauben) Gerechten, daß sie es gut haben. Wir wissen nicht, wir vergessen so leicht, wie reich wir in Christo Jesu sind. So ist’s. Im Frühling freut man sich der grünen Farbe der Wiesen, im Sommer ist uns der Rosen Lieblichkeit und die geistreiche, glänzende Unschuld der Lilien eine gewohnte Sache.
,Vergib uns unsre Schuld!‘“
 Ein andermal schreibt er ihr: „Du wirst auch überwinden, denn Du wirst immermehr Deinen Beruf dem des Herrn Christus ähnlich finden, nämlich durch Unterliegen zu siegen und durch völlige Vernichtigung zum Frieden zu dringen. Wenn Du nicht so oft die Brille Deiner Nerven aufhättest, Du würdest vor Freude und Dank vergehen, daß er Dich so sehr liebt und darum schlägt. O Du Geschlagene, sei fröhlich und getrost und hoffe und glaube: Du wirst die Herrlichkeit Gottes sehen. Ueber ein Kleines, und wir werden – Amen, Amen! bei Gottes Thron stehen und uns schämen, daß wir uns so sehr gegrämt und uns das Herz abgefressen haben über Dinge, unter denen| allen Er seine verborgene liebevolle Hand hat. Ich empfehle Dir das Ende des 73. Psalms und den 1. Brief Petri und das Lied: Befiehl Du Deine Wege etc. – Morgen halte ich der verstorbenen L. die Leichenpredigt über: ,Denen die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen‘. Mein Thema ist: Die Vorsehung Gottes, ein Grund unseres Friedens. Ich würde Dir gerne auslegen, was ich im Text und Thema alles finde, denn es ist alles für Dich. Was brauchts aber Auslegens? Ich sage Dir ,alle Dinge‘, alle, alle müssen Dir zum Besten dienen. Ach, man soll nicht klagen über das Leiden des Lebens. Es ist Gott für alles zu loben. Bete mit mir: HErr Gott, Dich loben wir! HErr Gott, wir danken Dir!“




 Doch wir kehren nach diesen, den Zusammenhang hoffentlich nicht zu sehr unterbrechenden Mittheilungen wieder zurück zur Schilderung des häuslichen Lebens Löhe’s im engsten Kreise der Familie, um ihn, wie als Gatten, so auch als Vater kennen zu lernen.

 Aus seiner Ehe giengen vier Kinder hervor, von denen aber eines, ein Söhnlein, in zartem Alter starb. Es wird unsern Lesern erwünscht sein, das Bild von Löhe’s häuslichem Leben wenigstens durch Mittheilungen einiger seiner Grundsätze über Kindererziehung und einzelner Züge aus seinem Zusammenleben mit seinen Kindern ergänzt zu sehen.

 Löhe dachte, wie es einem christlichen Familienvater geziemt, hoch von der Würde der Aeltern, namentlich von der Würde der Vaterschaft. „Heute“ – schreibt er einmal an seine Schwiegermutter – „habe ich in der Predigt über Matth. 2, 19–23 im zweiten Theil über das Recht der Männer und ihre Pflicht, das Haus zu regieren, geredet. Ich| sagte: Maria ist doch im Reiche Gottes vornehmer als Joseph. Dennoch empfängt sie, seitdem sie Joseph zu sich genommen, keine Weisungen durch Engel oder Träume, sondern der arme Pflegevater Joseph. Maria und Jesus werden diesem anvertraut. Daraus erhellt, daß Vateramt bei Gott höher steht als alle Frauenwürde auch der gebenedeiten Mutter. Ein Mann, der nicht Herr im Hause ist, ist nicht nur kein Mann, sondern auch kein Christ; und eine Frau, die sich nicht gerne in Gottes Ordnung fügt, ist nicht nur keine Christin, sondern auch kein Weib, hindert Gottes Ordnung, Gottes Frieden, Gottes Freude, hindert, daß ihre Familie eine heilige Familie werde.“

 Den Gefühlen, welche ihn bewegten, als Gott ihn zum ersten Mal in die Würde der Vaterschaft versetzte, gibt er in einem Brief an seinen Freund K. Ausdruck. Wir lassen die bezügliche Stelle hier folgen:

 „Seit sechs Wochen bin ich Vater und doch ein Kind und Knabe von Art und weiß nicht, wie ich mit Vateraugen meinen Sohn ansehen soll. Ehe er geboren wurde, zweifelte ich nicht an meiner Liebe zu dem Ankömmling; ich sagte aber oft zu Helenen, die ihn nicht zu lieben meinte: ,mit ihm selbst wird Deine Liebe zu ihm geboren werden‘. Nun ist’s bei Helenen so gegangen. Ich aber habe bei der harten Geburt des Knaben ihn aufgegeben, ihn in meinem Geiste heimgehen heißen ohne Schmerz, weil ein Leben auf Erden zwar keinen reut, der es selig hinter sich hat, aber wenn man’s vor sich hat, ein unübersteiglicher Berg und fast eine Unmöglichkeit zu sein scheint. Da er nun sein erstes Weinen hören ließ, konnte ich zwar durch eine Hinweisung auf dasselbe die Thränen meines Weibes trocknen; ich aber begrüßte das Kind als ein unerwartetes und bin ihm noch immer etwas fremd, zumal seine bestimmten Züge| mich an mich selbst zu sehr erinnern, und ich allzusehr erkenne, daß er ein Mensch nach meinem, d. i. nach Adams Bild ist. Ich bin arm und elend, wenn ich mich anschaue, und dennoch wandle ich im reichsten Fried und herzlichen Behagen unter den Meinigen. Wenn einmal Kreuz eintritt, so muß ich mit Hinsicht auf meine gegenwärtige Lebensstunde sagen: Haben wir Gutes vom Herrn empfangen etc. Mein Haus ist eine Hütte des Friedens etc.“

 Vielleicht dürfen wir auch noch eine Stelle aus einem Gevatterwerbebrief Löhe’s hier zur Mittheilung bringen, um zu zeigen, wie er alle Lebensverhältnisse, in welche die Ehe ihn führte, mit eigentümlichem Sinn und Geist durchdrang. Der an Pfr. K. gerichtete Brief lautet, so weit er hierher gehört:


 „Lieber Bruder und Gevatter!

 „Ich bitte Dich hiemit, Du wollest Dich heute, wenn es Dir anders möglich ist, bis gegen 4 Uhr Nachmittags bei mir einfinden und Dein Versprechen, meinen neugebornen Sohn bei der h. Taufe mit Red und Antwort zu vertreten, nach derselben Güte, mit der Du mir’s gegeben hast, auch lösen.... Was die Pathenschaft anlangt, so wünsche ich, daß Du sie in keiner andern Weise antretest, als ich sie von Dir erbitte. Ich verbitte mir jegliche irdische Gabe für das Kind. Alle im Nürnbergischen üblichen Sitten erkenne ich in keiner Weise und um so weniger an, als das Kind noch einen zweiten Pathen an seinem Großoheim bekommt. Die Hauptsache bei der Pathenschaft, um die ich Dich inständigst bitte, ist nicht mehr und nicht weniger als daß Du mir bei der Taufe beten helfest und ein Zeuge seiner Wiedergeburt werdest. Darauf kommt es mir ganz und gar an. – Darf ich Dich, und zwar nicht blos weil es Mode ist, bitten, daß Du auch ferner für das Kind betest, so sei Dir mein herzlichster Dank zum Voraus versichert.| Sterbe ich vor Dir, was Gott nach seinem heiligen Willen schicke, so habe, bitt ich, als ein treuer Beistand meines, wills Gott, lange mich überlebenden Weibes, ein Auge darauf, daß mein Kind im Glauben seines Vaters unterrichtet und für die evangel.-lutherische Kirche erzogen werde. Das Kind ist gestern Abends 3/49 Uhr geboren, während ich einen Sterbenden einsegnete. Wir werden es Philipp nennen. Der Name fällt nicht ins Ohr, ist nicht sentimental, aber eines Apostels Name und Name dessen, der den Kämmerer von Mohrenland taufte.
Leb wohl. 
W. L.“ 




 Von seinen Kindern Pflegte Löhe zu sagen: „Für mich haben sie einen Vorzug, den sonst keine Kinder in der Welt in meinen Augen haben: sie sind mein. Das ist das Höchste, was ich von ihnen zu sagen weiß.“

 Was Löhe’s Kinderzucht anlangte, so handelte er hier nach dem Grundsätze, daß alle Erziehung eine Erziehung zur Freiheit und Selbständigkeit sein müsse. Daher verlangte er zwar von seinen Kindern pünctlichen Gehorsam, ohne sie jedoch durch Gebote und Verbote allzusehr einzuengen. Pietistisches Drängen und Treiben war ihm wie überhaupt, so namentlich in der Kinderzucht, widerwärtig. Je gesetzlicher die Zucht, desto größer – meinte er – sei die Gefahr des Misbrauchs der Freiheit, wenn die Kinder einmal dem älterlichen Gängelbande entwachsen wären. Ueberhaupt sei alle äußerliche Zucht bald an der Gränze ihrer Wirksamkeit angelangt, sie könne wie das Gesetz in seinem ersten Brauch nur die groben Ausbrüche der Sünde zurückdämmen; das Pfingsten, durch welches dem Menschen das Gesetz ins Herz geschrieben wird, müsse jedem vom h. Geiste bereitet werden etc. Von diesen Grundsätzen aus waren auch seine| Rathschläge betreffs der Behandlung der reiferen Jugend und des Maßes von Theilnahme an (ehrbaren und äußerlich anständigen) weltlichen Vergnügungen, das ihr unter Umständen nicht verweigert werden könne, eingegeben. So streng er bei bewußten Christen auf Scheidung von der Welt drang, so bitter und scharf er das weltförmige Christentum tadelte, das die Gränzlinie zwischen Welt und Kirche verwischt, so verkehrt erachtete er es, bei solchen, denen das Christentum noch nicht Sache persönlicher Aneignung geworden war, die Forderungen der Religion des Kreuzes durch äußere Maßregeln zu erzwingen. Eine etwas pietistisch gerichtete Mutter hatte ihm ihr Leid darüber geklagt, daß ihr Gatte nicht nur ihren Kindern die Theilnahme an weltlichen Vergnügungen gestatte, sondern auch von ihr verlange, sie zu solcherlei Gelegenheiten zu begleiten, und hatte Löhe um Verhaltungsregeln gebeten. Hieraus antwortete er unter anderm: „Wenn Du Deine Kinder allein zu erziehen hättest, wäre es unweise, sie, während sie nach der Welt brennen, von der Welt abzusperren: sie würden ihr Gefängnis anzünden und mit ihm verbrennen. Du würdest Deine Kinder vor Excessen grober Art bewahren müssen, sie leiten müssen, aber nicht absperren können. – Nun Du Deine Kinder nicht allein zu erziehen hast, ist dir das Absperren um so weniger zu rathen, ist auch nicht möglich. Bekümmere Dich nicht, wenn Deine Kinder bei weltlichen Gelegenheiten sind; der HErr kann sie besiegen mitten unter ihren und Seinen Feinden. Wenn Er einem Herzen nahe kommt, dann werden die Freuden der Welt von selber schaal. – So Du könntest glauben, würdest Du die Herrlichkeit Gottes sehen! Noch Eins! Es wäre eine Maßregel der Lieblosigkeit, wenn Du, die Du von dergleichen Dingen für Deine Seele wenig zu fürchten hast, Deine Kinder zu keiner weltlichen Gelegenheit begleiten wolltest. Es wäre| aber auch eine Maßregel des Unglaubens, wenn Du sie begleiten wolltest, wie ihr Schatten. Der HErr ist ja ihr Schatten über ihrer rechten Hand.“

 Nach den hier dargelegten allgemeinen Grundsätzen handelte Löhe auch bei der Erziehung seiner Kinder. Das Wort, das ihn bei seiner Kinderzucht vor allem leitete, das er auch frühzeitig schon seinen Kindern einprägte, war das Wort 1. Timoth. 3,4: „Ein Bischof soll gehorsame Kinder haben.“ In diesem Puncte verstand er keinen Scherz. Im übrigen regierte er sein Völklein mit mildem Ernst. So überladen er mit Arbeit war, so wußte er doch sich Stunden des Umgangs mit seinen Kindern zu erübrigen. „Das ist mir gewiß“, – schreibt er einmal an seine Schwiegermutter – „daß eine Stunde mit meinen Kindern gespielt so wohl gethan ist, als eine Stunde studiert.“

 Er verstand es mit Kindern kindlich zu sein. Die Kinderfeste des Hauses, der Martinsabend und vor allem das Weihnachtsfest, wurden fröhlich begangen. Nie fehlte bei solchen Gelegenheiten der heiligende Ernst des göttlichen Wortes noch die Würze fröhlichen Humors. Man dankte am Martinsabend für Dr. Luther’s Sendung, und dann ließ man den Kindern den „Pelzmärtl“ kommen. „Deine Tochter Helene“ – schreibt Löhe scherzend an seine Schwiegermutter – „schimpft zwar, daß ich Geld dafür hinauswerfe, aber man muß sich auch von den Weibern nicht allen Spaß verderben lassen, und umsonst ist kein Spaß, sondern der Tod.“ Eigenhändig schmückte Löhe den Christbaum für seine Kinder und zwar in der geistreichen Weise, mit der er auch in das Kleine Sinn und Gedanken zu legen wußte. So stellte sein Weihnachtsbaum einmal eine Nachahmung des Hermon dar, von dem bekanntlich ein arabischer Dichter sagt: er trage den Winter auf seinem Haupte, den| Frühling auf seinen Schultern, den Herbst in seinem Schooße, den Sommer zu seinen Füßen.

 Vielleicht interessiert es unsre Leser auch aus Löhe’s Feder die Schilderung eines Weihnachtsfestes in seinem Hause zu lesen. Unter dem 29. December 1838 schreibt er an seine Schwiegermutter:

 „Wir haben, liebe Mutter, recht schöne Weihnachten gefeiert. Der Morgen des 24. December vergieng mir beim Predigtschreiben. Nach Tische machte ich Helenen die Freude, die Frankfurter Sachen auszupacken, sie war dabei so von Freude und Jubel übernommen, daß ihr darnach körperlich und geistig übel war. Mich erfreute summa summarum alles, die Bratwürste und der edle „Borjerkabbedähn“ voraus. Wenn ich Zeit hätte, so würde ich jede Wurst und überhaupt jedes Stück dankend recensieren; so aber nimm meinen einfachen tiefgefühlten Dank und das Zeugnis vor Gott und Menschen, daß Du eine sehr gütige Mutter bist. F. war am Weihnachtsabend noch ein wenig krittelich; der Hahn zog ihn am meisten an, und er zerbrach ihn deshalb noch am Tage des Empfangs, und nun gefällt er ihm desto besser: denn ein Hahn ohne Beine ist wunderbarer als einer mit Beinen. Nach dem Auspacken folgte die Hausvesper: wir sangen viel und lasen Jesaia C. 9, 11. 12. Bei dieser Hausvesper ist mir bisher besonders heimatlich zu Mut gewesen. Hierauf ließ ich meine Leute allein und gieng mit S. und G., der das Beil trug, in den Wald. Der Jäger hatte mir nämlich einen Baum gebracht, der mir nicht gefiel, und mir sagen lassen, wenn er mir nicht recht wäre, so sollte ich mir nur selbst einen auswählen. Der Gang gefiel mir – über den knarrenden Schnee unter dem schönen Abendhimmel mit geheimnisvollen Wolken und schöner, heiliger Ansicht der stillen Dettels-Aue. Wir giengen und wählten und wählten,| endlich fand sich ein herrliches Bäumchen, das einem schönen pyramidenförmigen Leuchter glich. Das wurde abgehauen und G. lud es auf. Als ich’s auf seiner Schulter sah, schlug mir mein Gewissen, denn es war lang und schön und prächtig. Doch nun heim und vorwärts! H. kam uns auf seinem Abendspazierlauf entgegen und sagte uns, es sei nun auch H–r noch gekommen. Mein Haus war voll. Es wurde ihnen Allen das Bett in unsrer ehemaligen Schlafstube gemacht. – Als Alles in Ordnung war, setzten wir uns sehr vergnügt an zwei gedeckte Tische. Nach Tisch wurde der schöne Baum zugerichtet; wir vermißten Dich dabei. Unser Baum wird sich zu Eurem verhalten haben wie ein schönes italienisches Landmädchen zu einer geputzten, geschmackvollen Dame von „Frankfort“. Die schönen Orangen, die rothbackigen Aepflein, die hellen Citronen, die goldenen Eier, die schönen Netze mit goldenen Erdäpfeln sahen recht hübsch aus dem Dickicht, und neue schöne Vögel saßen auf den Zweigen und sangen mir ein Lied von der neuen Schöpfung in Christo Jesu. Endlich waren wir müde und schliefen. Der kleine Bub ließ aber nicht viel Ruhe: er schlief am Tage viel, drum half er des Nachts den Engeln singen. Um fünf Uhr standen wir auf, und ich ließ dann Helenen bescheeren. Ich hatte von Böttinger zwei schöne Teller mit unseren Namen und zwei Sträußen Jelängerjelieber malen lassen: sie waren recht schön ausgefallen, die gab ich ihr. Auf den einen legte ich künstlich Zuckerwerk, auf den andern die drei Bände von Grübel’s Gedichten in Nürnberger Mundart und Rückert’s Rostem und Suhrab. Quer über legte ich einen Garnhaspel. Damit Punctum. Darnach ließen wir auf dem schön bedeckten Tisch unseren Mägden bescheeren, die wohl zufrieden waren. Dann ließ Helene mir bescheeren: eine schöne Zündmaschine, die mir wohl thun wird. Indes kam meine Mutter und gab mir ein neues Barett,| Helene bekam einen Wäschstrick etc. Der kleine Bube, den sie schon sonst aus ihrem Schatzkästlein beschenkt hat, bekam ein silbernes Büchslein und eine goldene Münze drin. Darauf kamen unsre Gäste, und wir frühstückten. Dann zündeten wir die Lichter auf dem Baume an, die Stube füllte sich mit unseren Sängern und Sängerinnen. Wir sangen:, Gelobet seist Du, Jesu Christ‘ etc., ich las Ps. 72 und betete den Lobgesang Zachariä und vermahnte meine Leute. Dann wurde gesungen: ,Der Tag der ist so freudenreich‘ etc., während der Tag kam. Hierauf sprach ich die Collecte um den Frieden, betete V.-U. und den Segen. – Die Zeit von da bis zur Kirche vergieng mit Gespräch. Dann predigte ich nach Herzenslust, Vormittags über das Evangelium, Nachmittags über die Epistel. Dann vertheilte ich 50 fl. unter die Hausarmen, welche der verstorbene Patrimonialrichter vermacht hatte. Dazwischen wollten wir vor Lachen uns ausschütten über Grübel’s Gedichte, z. B. über das herrliche Stück vom ,Gaßbuck‘ vom ,Guckguck‘. Ich würde Dir’s schreiben, aber wer die Mundart nicht kennt, muß es lesen hören, etwa von meinem breiten Maul.

 „Am Nachmittag haben wir auch nach der Kirche das Sacrament des Altars gefeiert. Am 26. December predigte ich nach der Epistel von der Taufe mit großer Freudigkeit. Am Nachmittag (Kinderlehre) über Art. 20 der Augsburgischen Confession, wobei es sehr fröhlich und theilnehmend hergieng. Am Abend fieng ich in Wernsbach an zu jubilieren. Der Heimweg, war prächtig, und wir unterhielten uns noch lange etc. Dein W. L.“

 Als Löhe’s Kinder heranwuchsen, hielt er es für seine Pflicht, auch deren Unterricht in die Hand zu nehmen. Damit stellte er sich freilich eine gewaltige Aufgabe, die vollends unlösbar zu werden schien, als am 24. November 1843 die geliebte Gattin von seiner Seite gerissen wurde und nun auch die Sorge für| die Erziehung seiner vier unmündigen Kinder allein auf ihm lag. Bei dem Uebermaß von Arbeit, welches er zu bewältigen hatte und bei dem Anspruch, welchen überdies die Pflichten der Gastfreundschaft an seine Zeit und Kraft stellten, war es nur der größten Energie und Consequenz möglich, die Aufgabe des Unterrichts und der Erziehung so weit zu lösen, als es Löhe wirklich gelang. Er machte es möglich, mit wenig fremder Hilfe und ohne die Dorfschule zu benützen, seinen Kindern nicht nur den gesammten Unterrichtsstoff der Volksschule beizubringen, sondern auch den Grund zu höherer Bildung in ihnen zu legen. Bis zu ihrer Confirmation waren sie ganz in seinem Unterricht und unter seiner Leitung; nur seine Tochter war während dieser Zeit auf ein Jahr einer Tante in Fürth zur Aufsicht und Pflege übergeben. Und auch deren Unterricht überwachte der Vater aus der Ferne mit einer bis ins Kleinste gehenden Sorgfalt. Wer wird es glauben, daß der vielbeschäftigte Mann sich Zeit nahm, der mütterlichen Pflegerin seiner Tochter brieflich eingehende Anweisung zu geben, wie sie der letzteren die Regeln der deutschen Orthographie am leichtesten beibringen könne, wie sie sie anhalten solle, die Feder beim Schreiben richtig anzusetzen, damit die Zähne derselben nicht knarrten etc.
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 Lag ihm schon an dem Unterricht seiner Kinder und der zweckmäßigen Ertheilung desselben so viel, so war ihm begreiflicher Weise die christliche Erziehung derselben ein noch weit größeres Anliegen. Für Jesum und seine Kirche wollte er sie erzogen wissen. Darum hielt er sie vor allem zum Gebet, zum Lesen des göttlichen Worts und zum Besuch der öffentlichen Gottesdienste an. Wie ihm aber selber der Name seiner geliebten Helene der zweite nach dem seines angebeteten Heilandes war, so wollte er auch seine Kinder im Andenken und in der Nachfolge der edlen Mutter leben sehen. Täglich pflegten seine Kinder| nach seiner Anweisung im Morgen- und Abendgebet für die Seligkeit ihrer Mutter zu danken[3]. Den Todestag der Mutter begiengen auch sie nach dem Beispiel des Vaters in feierlicher Weise, indem sie in der Todesstunde Helenens auf ihre Gruft Kränze niederlegten und im Andenken an sie den dritten Artikel beteten. „Hoffentlich (schreibt Löhe seiner Tochter am 24. November 1848) wirst auch Du nicht vergessen haben, um 1/23 Uhr den dritten Artikel zum Andenken an Deine Mutter zu beten. Das laß in Deinem Leben an jedem 24. November eine stehende Sitte sein. Wenn Du älter wirst und ich das Leben habe, will ich Dir viel von Deiner Mutter sagen. Ihr Leben ist mir wie ein Buch, in dem ich immer Neues finde und studiere. Die Welt kann das nicht fassen, aber wenn Du älter und ein Kind Gottes wirst, wirst Du’s verstehen, daß es keine bloßen Einbildungen sind.“
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 Wie im Andenken an die Mutter, so sollten seine Kinder auch in geistigem Zusammenhang mit der Gemeinde bleiben, der er als Hirte vorstand, und Wohl und Wehe mit ihr theilen. Ueber alle wichtigeren Vorkommnisse in der Gemeinde machte er ihnen, wenn sie abwesend waren, briefliche Mittheilungen, in der ausgesprochenen Absicht, ihnen dadurch die geistige Fühlung mit| der Gemeinde zu erhalten und ihnen auch in der Ferne ein Zusammenleben mit ihr zu ermöglichen. Seiner damals kaum achtjährigen Tochter schrieb er z. B. am 15. Februar 1848 einen eignen Brief, nur um ihr die Einpfarrung des Filialdorfes Reuth nach Dettelsau anzuzeigen. „Heut“ – schreibt er – „ist ein wichtiger Tag für Dettelsau, und weil Du auch ein Dettelsauer Kind bist, so mußt Du es auch erfahren. Vor ein paar Stunden kam ein Reuther Mann im Sonntagsstaat und mit einem königlich freudigen Gesicht. Er brachte ein versiegeltes Schreiben, und was war’s? Das Einpfarrungsedict von Reuth, welches der König gerade am 1. Januar 1848 unterschrieben hat... Es ist nun Alles voll Freuden. Deine Brüder schlagen die Hände zusammen und rufen im Haus herum: ,Reuth ist eingepfarrt, Reuth ist eingepfarrt!‘ Dein Vater hat es Deiner Mutter nicht sagen können, sonst würde er’s mit tausend Freuden gesagt, und Deine Mutter, die sich über alles Gute so von Grund der Seele freuen konnte, würde sonst es auch mit großen Freuden nachgesagt haben. Dafür sag ich’s eben Dir, und Du wirst doch auch noch so viel Dettelsauisches Herz haben, daß Du Dich freuen kannst. Es ist doch für die Reuther Kinder recht gut, daß sie nicht mehr so weit in Schnee und Kälte und Schmutz in den Confirmandenunterricht laufen müssen, und allen Reuthern ist’s gut, daß sie nun wissen, welchem Seelsorger sie angehören. – Dein Vater hat nun drei Kirchen zu versehen und thut es in Reuth, so lange der Herr Pfarrer von Weißenbronn noch da ist, umsonst. Diese Arbeit, mein liebes Kind, bring ich dem HErrn Jesu als ein geringes Opfer meines Dankes dar, darum, daß er mich und Deine heilige Mutter und Euch mit seinem Blute erkauft und zu seinem ewigen Eigentum erkoren hat.“
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 Auch an dem, was außerhalb des engen Kreises von Dettelsau in Welt und Kirche vorgieng, suchte er bei seinen| Kindern frühzeitig Theilnahme zu erwecken. „Laß Dir“ – schrieb er seiner Tochter im gleichen Jahre – „von Deiner Tante fleißig erzählen, wie es der Frau Herzogin von Orleans geht. Sie heißt Helene, wie Deine Mutter, und hat geheiratet, wie Deine Mutter heiratete, und hat schon so gar viel Kreuz und Jammer ertragen müssen in den zehn Jahren. Dein Vater betet für sie, weil sie auch eine fromme Frau ist und den Heiligen Gottes viel Wohlthat gethan hat. – Die Buben haben heute schon den Krieg gespielt, und es ist im Haus verboten worden, daß ein Kind das andere ,Du Franzos‘ schimpfe. – Vor allem, mein Kind, laß uns nach dem Himmel streben, wo es keinen Krieg und keine Unruhe gibt, wo Jesus, unser Friedefürst, regiert und in heiligen Chören sein ewiges Lob erschallt. Dort ist Deine Mutter – dort sind alle Gottesheiligen! Dorthin geht unser Weg!“

 Ebenso suchte er seine Kinder frühzeitig zur Wohlthätigkeit zu reizen. Seine Tochter, damals ein Mädchen von sieben Jahren, hatte ihre Sparkasse gewünscht. Er schickt sie ihr mit der Bemerkung: „Da ist Deine gewünschte Sparkasse. Dein Bruder hat darein sein Spargeld gethan, für das Du Dir etwas kaufen sollst, nicht ihm. So sagt er. Ich denk, Du machst Dir die Freude und gibst einem Armen was. Unser HErr sagt: ,Geben ist seliger denn Nehmen.‘ Ich hab Dir auch ein paar Kreuzer und Pfennige dazu gethan, die kannst Du auch Armen geben. Leb wohl, mein kleines Mädchen, und mach Deinem Alten die Freude, daß Du recht folgst und wie Deine fromme Mutter andern Leuten zu Liebe und zu Gefallen lebst.“ – –

 Nachträglich lassen wir hier noch einige Bruchstücke aus einem Brief Löhe’s an eine Freundin „über Erziehung einer Dorfpfarrerstochter“ folgen, die einigermaßen zur Ergänzung seiner oben dargelegten pädagogischen Grundsätze dienen können.

|  – – „Mein Schlagwort für die Erziehung des Mädchens ist Einfalt, Einfalt und Einfachheit in geistlichen wie leiblichen Dingen. Ich wage es, mich um die in andern Pfarrersfamilien gewöhnliche Mädchenerziehung nicht zu kümmern, und Gott sei mir gnädig, daß ich durchbringe, was ich für recht und gut erkenne.

 „Einfalt und Einfachheit sind nun aber, um von dem religiösen und sittlichen Leben, dessen Leitung zunächst doch mir obliegt, zu schweigen, verschieden bei verschiedenen Ständen. Die Prinzessin, das Freifräulein sollen auch einfach sein, aber ein Dorfpfarrermädchen muß nicht in Einfalt hoch und vornehm, sondern in Einfalt gering und niedrig sein. Die Hoheit eines Dorfpfarrersmädchen kann und mag in der Höhe der Lebensansicht, in der religiösen und kirchlichen Herzensstellung, in der Bildung liegen. Dagegen muß sie im häuslichen und leiblichen Leben sich herunterhalten zu dem Niedrigen; sie steht einem Bürgermädchen vom mittleren Stande gleich, nur daß das Landleben manches ändert, manche Weitschaft und Ungeniertheit erlaubt, welche in der Stadt allerdings auch dem armen Bürgermädchen vielleicht weniger zugestanden werden können.

 „Wenn das überhaupt der Standpunkt eines Dorfpfarrermädchens sein dürfte, so wird er’s bei M. zehnmal sein.... Es liegt auch mit daran, daß sie, indem ich sie an Bildung über andere zu heben suche, das Gegengewicht einer ernsten Weisung zu einem geringen Leben im Aeußeren spüre, ein äußerlich geringes Leben ertragen lerne, sich desselben freuen, sich über dasselbe heben lerne und endlich dahin komme, daß sie es als große Wohlthat erkennen lerne, von ihrem Vater für wahrhaft Herrliches in Demut erzogen worden zu sein. Mag sie dann einmal heiraten oder ledig bleiben müssen, gesund oder krank sein, immerhin wird sie dann den Spruch erfahren:

„Wenn Du mich demütigst, machst Du mich groß.

|  „Die Niedrigkeit wird ihr vor allen Werth geben und nützlich sein, während sie die Stellung ihres Geistes und Herzens, wie ich sie wünsche, für allerlei Uebel trösten kann. Jedermann achtet auf die Länge einen hohen Sinn, der in Einfalt und geringem äußerlichen Wesen fröhlich ist.

 „Ich will diese allgemeinen Grundsätze ins Einzelne führen. M. soll jede Arbeit lernen und fortwährend üben. Sie soll lernen, können und üben, was eine Magd lernt, kann und übt. Ich wünsche also, daß das Mädchen kochen lernt, daß sie alles zurichten, heben (natürlich mit Rücksicht), tragen, waschen, kehren, fegen, spülen etc. lernt und es nach und nach als ihren Beruf erkennt. Ich wünsche das auch ihrer Gesundheit wegen. Ich kann ihr keine Leibesübung verschaffen als die der weiblichen Arbeit. Wegen Nähens und Strickens bin ich ohnehin mit Ihnen Eines Sinnes.

 „Und wie ich ihr gerne Geschmack an einem geringen Thun – am edelsten Thun des Weibes – beibrächte, so auch an einem einfachen, ihrem Stande geziemenden Wesen in der Pflege ihres Leibes und in der Kleidung. In der Speise halte ich das Mädchen einfach und mäßig. Im Schlafen ist sie für ihr Alter auch mäßig...

 „Was die Kleidung anlangt, so erfordert schon meine Kasse, meine geringer gewordenen Einnahmen und meine größer werdenden Ausgaben, daß M. sich zum Geringen neige. Wenn das Wetter gut ist, ist es ihr gewiß gut, wenn Hals und Brust nicht zu sehr verwahrt sind. Wozu die Halskrausen und Bänder, die man ihr am Sonntag, zu bestimmten Zeiten gewähren kann, die aber doch sonst zu wenig mehr als zur Eitelkeit dienen?

 „Ebenso ist es mit der Wahl des Haarputzes. Ich glaube, das Haar muß fleißig Oel haben und gesalbt werden, namentlich bei einem so dunklen Teint. Ich meine aber auch, das| Haar muß gewaschen, getrocknet, geölt sein. Mir ist alle Unordnung aufs höchste widerwärtig, sonderlich am Haar der Frauen. – Nicht minder scheint mir auch in Betreff der Wahl des Stoffs und der Form der Kleider, soweit nämlich von Wahl des Stoffs die Rede sein kann, überall eine reinliche Einfalt walten zu sollen. Mir scheint ein einfach am Hals geschlossenes und bis zu den Knöcheln wallendes, über den Hüften gegürtetes Gewand für ein heranwachsendes Mädchen das Natürliche zu sein. Den Schnürleib gestattete ich zunächst nur der Haltung willen, wozu er nun doch nicht viel hilft.

 „Von der Bildung des Gemüts und Geistes ist nicht nötig zu reden; ich thue was ich kann.

 [„]Gibt Gott Segen, so werden Sie, verehrte Freundin, sich vielleicht dieses Ganges noch einmal freuen, wenn nach Jahren ein Mädchen erzogen sein wird (der HErr gebe es), das zufrieden und fröhlich mit geringer äußerer Lage und innerlich reich überall hin taugt, beim Fortschritt in den höheren Stand, wenn er ihr würde, ein tüchtiges Hausfrauentalent und Einfachheit, einen gefunden, gestählten Leib – und beim Einkehren zum niedrigeren Stande Fähigkeit, ihn zu lieben, und inneren Ersatz mitnähme.“




 Doch indem wir von Löhe’s erzieherischer Arbeit an seinen Kindern berichteten, waren wir bereits genötigt, vorausgreifend jenes schmerzlichsten Ereignisses Erwähnung zu thun, welches jäh und unerwartet seinem kurzen Erdenglück ein Ende bereitete[.] Das Jahr 1843 war das Todesjahr Helenens. Unsere Leser kennen die ergreifende Beschreibung ihres Krankens und Sterbens, wie sie Löhe in dem „Lebenslauf einer heil. Magd Gottes etc.“ veröffentlicht hat. Wir fügen den hieher gehörigen Abschnitt der Vollständigkeit wegen unserer Darstellung hier ein. „Das Jahr 1843 war Helenens letztes Lebensjahr auf Erden.| Es begann so schön. Die gute Mutter, welche die Einsamkeit des stillen Dorfes und die reichen Segnungen eines friedereichen Pfarrhauses so oft in den sechs Jahren aufgesucht hatte, war bei der geliebten Tochter und ihren Enkeln überglücklich: trübe, kranke Stunden wurden von dem Frieden und der Freude des Hauses verjagt. – Am 22. Januar gebar Helene ihr viertes Kind, das dritte Söhnlein. In dem angstvollen Stündlein war sie voll der liebenswürdigsten Heiterkeit und des stillsten Glaubens. Das Lied: ,In dich hab ich gehoffet, HErr‘ beschäftigte ihre Seele; mit kindlicher Freude schlug sie es auf und legte es auf ihr Bette vor Gottes Augen und ihre eigenen hin. Der HErr half ihr gnädig und gab ihr den Sohn in die Arme, zu derselben Zeit, in welcher ich ein sterbendes Kind einsegnete. – Wie freute ich mich damals, wenn ich an allen den Segen des HErrn gedachte. Bereits standen in meinem Fenster blühende Hyacinthen, silberweiße, im schönsten Flor. Ihr Duft brachte mir Erinnerung an den lieben Frühling. Ich bedurfte aber gar keines Frühings, um mich her blühte Alles. Kurz nach der Geburt des Jüngsten waren meiner Liebsten Thränen beschieden. Frau Hedwig Zeilinger, welche so oft mit der guten Mutter und Helene den Frieden meines Hauses getheilt hatte, entschlief am Nervenfieber in Frankfurt a. M. Die erste von drei eng verbundenen Seelen fehlte. – In der Mitte des Monats März erkrankte die gute Mutter. Am Tage, da sie liegen blieb, hauchte sie ihre ganze Sehnsucht in ein Lied aus und schrieb es, die letzten Züge der segensreichen Hand, in ihr Gedenkbuch ein. Am 21. März verschied sie, wie sanft und friedlich! Die Art, wie Helene den großen Schlag ertrug, gewann ihr meine ganze Seele, wenn ich so von einer Seele reden darf, die sie ohnehin besaß. Ich baute eine Gruft, dahinein stellte man den theuren Sarg. Wie freute sich Helene,| daß in derselben noch Platz war für sie und mich. Eine immerwährende Sehnsucht nach der Mutter blieb Helenen, aber sie ertrug diese Sehnsucht so schön. Ihr freundliches, fröhliches Wesen wurde dadurch nicht im mindesten getrübt. Im Gegentheil immer heiterer, immer edler, immer heiliger, immer selbstverläugnender, immer mehr nur für andre lebend, immer stärker erschien sie mir. Selbst ihr Leib, der anfangs durch das Wochenbette und den Verlust der Mutter gelitten hatte, verjüngte sich. Rüstig und mutig that sie das Ihrige, ja immer rüstiger und mutiger wurde sie. Wenn ich früher schon die Entwickelung ihrer Seele und ihrer Geisteskräfte mit fröhlichster Befriedigung betrachtet hatte, so erregte mir im letzten Sommer ihr rascher Gang zur Vollendung oft wirkliche Besorgnis. Eine bange Ahnung bemächtigte sich meiner. Wenn ich ihr zuweilen ins Auge schaute, war es, als vernähme ich eine Botschaft des Todes. Oft war mir, als läge sie im untern Raume des Hauses im Sarge und ich drücke ihr zum letzten Male die kalte Hand, so wie ich es hernachmals wirklich that und thun mußte! – Ich weiß nicht, was man davon sagen will, aber es ist nicht zu leugnen, daß wir von den Dingen, welche nach der Meinung des Volkes Tod weissagen, auffallende Erfahrung machten. Einmal z. B. stand das ganze Haus am lichten Tage und hörte jenem unbegreiflichen Glucken zu, welches das Volk ‚dem Todtenhühnlein‘ zuschreibt. – Es war überhaupt so manches Ungewöhnliche in unserer Umgebung, wie wenn eine selbst der leblosen Creatur theure Person in Gefahr wäre. – Doch Alles das achtete man nicht. Eine theure Freundin konnte Helenen bei dem letzten Besuche, den ihr diese machte, nie ohne Thränen ansehen, ohne doch zu wissen, warum? Eine andere wurde zu dem ihr selbst nicht wohl begreiflichen Ausspruch, daß Helene keines langen Lebens sein werde, hingerissen. Meine| alte Mutter jammerte oftmals in unbegriffener Angst und behauptete, es müsse der Familie ein schwerer Schlag bevorstehen etc. etc. Auch dessen achtete man nicht! – Am Tage aller Heiligen hatte ich von der triumphierenden Kirche in einer Betstunde geredet. Es war ein heller Nachmittag, der für meine Seele etwas Eigenes hatte. Ich gieng Hand in Hand mit der Geliebten einem Dorfe zu, in welchem ich dem Pfarrer, meinem Freunde, das heil. Mahl zu reichen hatte. Sie erzählte mir in ihrer Weise, was sie aus der Betstunde gemerkt hatte. Wir verweilten bei dem Gedanken, daß die heil. Kirche einem langen Pilgerzuge gleiche, dessen erste Schaaren schon in Zion seien, während die andern noch hienieden wallen. Wie freute ich mich mit ihr! – Aus dem Heimweg recapitulierte sie ihren Lebensgang, tadelte, was sie an sich Alles tadelhaft fand, freute sich wieder der Gnade! Ich achtete mich so reich, als sie mit mir ins stille Haus zu den geliebten Kindern trat. – Ich wurde zuerst krank. Ein heftiger Grippanfall warf mich hin. Helene diente mir mit einer Freundlichkeit, bei der mir wunderlicher Weise war, als wolle sie mein Unwohlsein auf sich nehmen. Ich genas durch Anfälle von Ohnmächten. Sie hingegen begann unwohl zu werden. Schon bald sagte sie zu mir: ,Laß lieber mich sterben, an mir ist wenig gelegen!‘ Ihr Uebel bildete sich zur Brust- und Unterleibsentzündung und gar bald zu jenem schrecklichen Nervenfieber aus, dem ihre ohnehin sehr nervenschwache Anlage nicht widerstehen konnte. Wie oft hatte mich diese Anlage geängstigt – und nun kam, was ich fürchtete. Sie gerieth oft in Phantasieen: ihre Seele war dann im himmlischen Jerusalem und in Tempeln, auf deren Kanzeln zur Predigt zu steigen sie mich dringend ermunterte. Sie hatte dann eines Engels Angesicht, ihre Züge strahlten vor Freude! – Am Dienstag vor ihrem Tode kämpfte sie| einen wahrhaftigen Todeskampf; aber wie heilig und lieblich war ihr ganz Benehmen, so daß sie meine schmerzliche Seele zur Kraft, sie mit dem göttlichen Worte zu erfreuen, emporhob. In diesem Kampfe kam es dahin, daß der Odem stille stand, mein Herz durchbohrte der Gedanke: ‚sie stirbt‘. Da öffnete sie die Augen wieder und wurde von Stund an besser. Ich that Gott mit heißer Sehnsucht brünstige Gelübde für ihre Genesung. Ich hätte sie gern vor aller Welt auf die Altäre gelegt. Schon glaubte ich erhört zu sein. Ich stellte mir sie schon als eine langsam Genesende, durch die Krankheit sehr Geschwächte und Entstellte vor, freute mich aber, nun erst meine Liebe beweisen zu können. – Das Fieber wich, Zeichen der Besserung traten ein. Was ernstere Anzeichen waren, die ich an andern leicht erkenne, sahe ich nicht. – Am Nachmittag vor ihrem Tode redete sie viel irre. Immer beschäftigten sie geliebte Personen, die Schwiegermutter, der Schwager Max und dessen Söhnchen etc. Dazwischen rief sie mir zu: ,Du mußt ja doch auch sterben‘. Manchmal glaubte sie, die gute Mutter zu sehen, drückte der neben ihr stehenden Nichte die Hand, als wäre es die Mutterhand, ließ sich’s auch nicht verneinen, rief mit dem innigsten Seelenausdruck: ‚Beste Mutter!‘ – Ihre Worte wurden immer ernster. Sie betete:

,Ich weiß, an wen ich glaube.
Ich nahe mich im Staube
Zu Dir, o Gott, mein Heil.
Ich bin der Schuld entladen.
Ich bin bei Dir in Gnaden,
Und in dem Himmel ist mein Theil!‘

 „Sie rief laut und mit dem ihr eigenen freundlichen, edlen Ernst: ‚Ich glaube an den heiligen Geist, Eine heilige, christliche Kirche, die Gemeinde der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung des Fleisches und ein ewiges Leben! Amen.‘ –| Immer stiller wurde sie; doch erkannte sie meine Stimme bis ans Ende, redete auch selbst noch oft mit mir im Delirium, forderte mich zu diesem und jenem auf, ,den Christbaum, da ja Weihnachten sei, anzuzünden‘ etc. Endlich wurde sie ganz stille und schlief, wie es schien, einen natürlichen Schlaf mit geschlossenen Augen. Die Drüsengeschwulst, welche wir Tag und Nacht zu erweichen bemüht waren, schien aufzugehen. Man überließ sich der Hoffnung, da eben der Tod an der Thüre pochte.
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 „Von vielem Wachen, leiblicher und geistiger Anstrengung über die Maßen müde worden, schlief ich auf dem Sopha ein, und die Wärterinnen thaten nicht, wie ich ihnen geboten hatte, sie weckten mich nicht. Als ich erwachte, war es hell, und mich überfiel ein Schrecken, als ich bemerkte, daß das arge Fieber wieder durch den kranken Leib hinjagte. Ich hatte gehofft, – denn es war Freitag, – Betstunde halten und dem Herrn danken zu dürfen, nachdem ich die ganze Woche außer sacramentlichen Handlungen nichts Amtliches vorgenommen hatte. Wie war meine Freude zu nichte! – Am Vormittag ruhte das Fieber einige Augenblicke. Zweimal sah sie mir mit aller Freundlichkeit ihres lieben Angesichtes in die Augen. Darauf sagte sie bittend: ,Ach, halt mich! Ach, Mutter! Ach, Wilhelm!‘ Dann lag die Zunge gelähmt im Munde. – Dennoch hoffte und hoffte ich, bis ich nicht mehr konnte. – Schon in der Nacht zuvor hatte mich einmal der Gedanke durchzuckt: ,Bisher hast du Alles mit ihr gelitten, nun geht sie die Leidensbahn allein, ist los von dir!‘ Nun aber trat der Gedanke mit gebieterischer Notwendigkeit hervor. Ich ergoß mein schmerzenreiches Herz in Gebete, die ich nicht mehr weiß. Nur das weiß ich, daß ich sie Keinem, Keinem überlassen konnte, übergab und opferte, als Ihm, unserm HErrn Jesu, – und daß ich betete, Er wolle mich durch sie aufnehmen in die ewigen Hütten. –| Zwei meiner Amtsnachbarn waren gekommen, in Hoffnung, eine Genesende zu treffen. Sie kamen eben recht, um mitzubeten, mitzusegnen. Heftige Schmerzen drangen auf sie ein, sie stöhnte. Hernach betete sie mit lallender Zunge, das trübe Auge fest auf einen Punkt gerichtet. Ich vernahm, wie sie oftmals von der müden Zunge ein ,Herr, hilf!‘ abwälzte. Endlich – gieng ihr der HErr entgegen. Sie entschlief unter dem lauten, gemeinsamen Segen der anwesenden Priester und Hausgenossen. Ich dankte ihr für die zahllosen Wohlthaten ihrer aufopfernden Liebe, – ich wurde der ärmste unter der Sonne, während sie ewigen Reichtum ererbte.

 „Bei ihrem Scheiden erwies sich’s, welche Liebe eine anspruchslose Frau finden kann. Bescheidener, anspruchsloser, demüthiger als sie, habe ich nie ein Weib gesehen. Aber sie hat viele und große Liebe gefunden. Davon zeugten die Thränen und Wehklagen auch solcher Leute, die für fremde Leiden wenig Herz und Theilnahme haben.

 „Mein theurer Bruder, der sie kannte, schrieb mir: ,Du hattest an ihr, was auf Erden kaum mehr zu finden, ein ächtes Weib voll Sanftmuth und Liebe und ohne Falsch. Ob ich sie gleich mehr, als meine leiblichen Schwestern liebte, so war meine Hochachtung gegen sie doch noch viel größer. Denn an ihr merkte ich mehr, als an allen Weibern, die ich je kennen lernte, was ein Weib sein soll, und wie ein Weib das Vorbild der heiligen Ehe begreifen kann. Heiligung war ihre andere Natur. Dafür soll sie von uns ewig gesegnet sein! Sie hat uns und ihrer ganzen Umgebung zur Freude gelebt, und seitdem sie gestorben und die ewige Freude genießt, die der Herr den Seinen nach diesem Kreuzesleben als Gnadenlohn bereitet hat, seitdem habe ich eine unbeschreibliche Sehnsucht auch nach dem HErrn, bei dem nun ihre heilige Seele lebet.‘

|  „Sie starb am 24. November 1843, Nachmittags gegen 3 Uhr, am Todestage, in der Todesstunde des HErrn. Hier auf Erden hat sie 24 Jahre und fast fünf Monate gelebt. – Am letzten Sonntage des Kirchenjahres, 26. November, stellten wir ihren Sarg neben den der vielgeliebten Mutter, und ich hielt ihr am Grabe den kurzen Lebenslauf. – Du weißt nicht, Leser, was ich hiebei verschweige.

 „Der Herr vereinige mich und meine Kinder mit ihr vor Seinem Throne ewiglich!

Amen.

 ‚Selig sind die Todten, die in dem HErrn sterben!‘

 Der Tod Helenens schlug Löhe’s Herzen eine Wunde, die sich Zeitlebens nicht mehr schloß. Es währte lange, bis der Entwöhnungsschmerz nur so weit überwunden war, daß er seine Seele wieder setzen und stillen konnte. In seinem Tagebuch von 1844 ist fast jede Seite voll thränenreicher Erinnerung an seine Heimgegangene. Er strafte sich mitunter wohl selbst, daß er dem Geist der Traurigkeit allzusehr Raum ließ. Auch von den Seinigen erfuhr er darob Tadel. Aber wenn auch viele mit ihm fühlten, so empfand doch niemand wie er die Bitterkeit des Kelches, den Gottes gewaltige Hand ihm eingeschenkt hatte. Es ist ergreifend, in den zahllosen Seufzern seiner Tagebücher das Stöhnen der starken Mannesseele unter dem ihr auferlegten Wehe zu vernehmen. Vielleicht begehen wir keine Indiscretion und ermüden auch unsre Leser nicht, wenn wir einige Stellen des erwähnten Tagebuchs hier mittheilen. Sie beweisen, welch tiefer und starker Empfindungen Löhe’s Seele fähig war und wie schwer es auch ihr wurde, im Leiden Gehorsam zu lernen und sich zu völliger Ergebung hindurch zu ringen.


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2. Januar. 

 „Womit ich einschlafe, damit schlaf ich auch zu und wache ich auf. Es ist mein Unglück. Ich habe nach dem Frühstück mein Haushaltungsbuch eingerichtet und hernach bitterlich geweint. Ach, die süße Gewohnheit des Lebens mit ihr! Doch ist das nicht die Hauptsache, sondern daß ich ihre Herrlichkeit nicht erkenne. Ach, mein Unglück ist der Unglaube. Gott erbarme sich meiner!

 „Nach Tisch mit H. nach Petersaurach. Auf dem Heimwege Gespräche über Beichten, Helene, mein Hauswesen. Droben Gespräche von Helene. Auf dem Heimwege desgleichen Gespräche von Helene. – Armer Ersatz! – Ich erklärte H., wie selig meine Ehe mit Helenen gewesen, wie unnachahmlich sie sich benommen, wie durchaus unersetzlich mein Verlust, von wie ganz andern Gesichtspunkten eine zweite Ehe für mich ausgehen müßte, daß ich keine weiter wünschen möchte.“




3. Januar. 

 „Mit H. nach Heilsbronn gefahren, wo Plenarsitzung war. – Heimgekommen öffnete ich ein Frankfurter Päckchen, das meiner Helene vor 3–4 Jahren gemaltes Bild enthielt. Sie ist’s nicht. Es ist hart, daß ich nicht einmal ihr Bild haben soll. Ach Gott!“




10. Januar. 

 „Heute kam Herr M. Nach Tisch machte er sich ans Bild meiner Liebsten. Ach, wie sehnte ich mich, ihre Züge wieder zu sehen.“




11. Januar. 

 „M. zeichnete. Er brachte ihre Züge weder Vor- noch Nachmittag aufs Papier. Ich rieth ihm endlich traurig, es sein zu lassen. Er sah selbst die Unmöglichkeit ein.“




16. Januar. 

 – – „Wenn sie jetzt bei mir wäre, würde ihre Freundlichkeit mir nach der Last des Tages den Abend fröhlich machen. Aber sie ist in der unbegreiflichen Herrlichkeit des ewigen Lebens.“




18. Januar. 

 „Ich möchte so recht von Herzen mich ihrer Seligkeit freuen, aber die Entbehrung und der Unglaube betrüben mich so sehr. Dazu bin ich so einsam, habe keinen Menschen, der mit mir meinen Jammer theilte. Sie sind alle schon drüber hinweg!“




9. Februar. 
 „Nach Bechhofen zu einem kranken Kinde bei L. M. Diese Leute beweinten meinen Verlust und meiner Allerliebsten Tugend mehr als die| Not und den drohenden Tod des eignen Kindes. Ach, wie mancher Jammer durchbebte meine Seele!“




20. Februar. 

 „Da ein Lebensjahr zu Ende geht, wo so viele schöne Erinnerungen an meine Allerliebste erwachen, so rettete ich mich auf meine Kniee.“




9. März. 

 „Je länger, je sehnsüchtiger nach meiner Allerliebsten. Ach, nur ein wenig fühlbare Bestätigung des Zusammenhangs mit ihr, und ich hätte Freude. Aber ihr Leben ist mit Christo verborgen in Gott.“




11. März. 

 – – – „Correctur der Agende bis zum späten Abend. Alle emsige Arbeit aber ist nur eine dünne Decke über meine Sehnsucht und mein Leid.“




22. März. 

 „Ach, daß ich nicht daheim bei ihr. Ihr Heute war’s, das mich zur Predigt über des Schächers Heute anthat.“




27. März. 

 „Da ich so vom Fleische falle, fällt es den Leuten auf und man redet von meinem Tode. Ich stimme gern mit ein, zumal ich spüre, daß ich nicht gesund. Ach, meine Helene! Es ist die Sehnsucht nach ihr, die zehrt.“




30. März. 

 „Ich schloß meinen pastoralen Unterricht und kann wie bei der Agende meiner Liebsten nicht mehr sagen: ‚Ich bin fertig‘, nicht mehr ihr trauliches: ,Das freut mich, Lieber!‘ hören. Ach, ich Armer! Gott sei mir gnädig.“




4. April. 

 „Ich gieng zum heiligen Mahle. Ich erkenne, daß mein Zustand sündlich. Ich habe nicht, wie ich soll, weder Gott noch meine Liebste lieb. Ich möchte Glauben haben. Ich hange an meiner Heimgegangenen, ich bin unglücklich. Ach, daß ich ihre Seligkeit ihr gönnte und selber hintrachtete mit fröhlichem Herzen!“




6. April. 

 „Es war mir gar nicht recht österlich. Am meisten (noch), da ich Nachmittags zur kranken Froschmüllerstochter gieng und mit ihr betete. Ich glaube, mir wird nur wohl, wenn ich außer dem Leibe walle.“




14. April. 

 „Abends die schönen Sachen vom Tod der Frau des Mathesius gelesen. Gar schön. Erinnerte mich sehr an das, woran ich nicht erinnert zu werden brauche.“




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18. April. 

 „Ich brachte den Tag mit Raumer zu. Unter anderem durfte ich Raumer aus meinem Pastorale vorlesen. Das ,von den Pfarrfrauen‘ gefiel ihm am besten, natürlich, weil es das Bild meiner Allerliebsten und nichts anderes war. Gott sei mir gnädig und helfe mir zur ewigen Gemeinschaft meiner Seligen!“




26. April. 

 „Es haben die traurigen Sommermonate begonnen, in denen ich oft Vierteljahre keinen Heller einnehme, sondern nur Schulden mache, die dann der Herbst wieder zahlt, damit ich dann im nächsten Sommer wieder nichts habe. Ach, wie hat das meine liebste Helene mit mir empfunden! Wie weh hat ihr der Mangel gethan, da sie an Ueberfluß gewöhnt war!“




31. Mai. 

 – – „Im Garten, wo Alles so schön, so üppig. Sähst Du’s, mein kindlich Herz. Du siehst zwar Besseres, aber ich bin so elend ohne Dich. ,Daß wir uns ewig lieben können‘, hat meine Geliebte oft gewünscht. Du hast ihr ja zu ewigen Freuden geholfen und kannst auch mir helfen. Ach, HErr, hilf mir zu meiner Liebsten! Amen.“




 Alljährlich begieng Löhe den Todestag Helenens mit stiller, ernster Feier. In dem Sterbegemach Helenens waren dann die Vorhänge niedergelassen und auf dem Hausaltar brannten die Kerzen von Morgen bis Abend. Am 24. November 1870 ergriff er einen jungen Freund, der zufällig zu ihm gekommen war, tiefbewegt bei der Hand und führte ihn in sein Sanctuarium, indem er von seiner unsterblichen Liebe zu Helenen redete. Auch in seinen Tagebüchern feierte er an diesem Tag Helenens Gedächtnis in schmerzlichen Ergüssen seiner Seele. Im Tagebuch von 1846 findet sich zum 24. November auf schwarzgerändertem Blatt folgende Aufzeichnung:

 „Heute ist bei mir ein Tag der Trauer, wenn ich an mich und meine Kinder denke. Vor drei Jahren starb mir das Weib meiner Jugend, die mir nie Leides sondern nur Liebes gethan hat. – Sie hat nun überwunden; wie viel Jammer folgte aus| ihrem Siege für mich, wie viel Jammer für meine Kinder! Ich lege mich in den Staub und schweige über dem unaussprechlichen Unglück, mit dem ich bedeckt bin.... Meine weißverhängte Stube, mein geschmückter Hausaltar sehen feierlich, weisen mich nach oben. Die Kerzen, die den Tag über brennen, leuchten mir heim. Gott sei mir gnädig! Amen.“

 Und am 24. November 1847 schreibt er:

 „Der Charakter der seligen Helene und ihr ängstliches Rufen im Sterben ist mir in diesem Jahre klarer geworden. Unmittelbarkeit, Ursprünglichkeit, Lauterkeit des Benehmens – das ist’s, und ich wüßte nicht, wer ihr darin gliche... Ich habe im Leben nie Glück gehabt, als da ich Helenen fand. Seitdem ist’s ein täglich Sterben, wovon ich lebe. Gott sei mir und meinen armen Waisen gnädig! Amen.“

 Und am 24. November 1848:

 „In der Betstunde kam 2. Cor. 5 dran. Das freute mich, obwohl ich nicht vermochte, eine ordentliche Betrachtung darüber zu halten. Es war mir nicht wohl. Es war ein trüber Freitag wie vor fünf Jahren. Ich bin fünf Jahre älter, Helene fünf Jahre daheim. Ich im heißen Streit, sie in süßer Ruhe. Wie ich ihr Alles gönne! Ach, wär’ ich bei ihr und sähe mit ihr die Herrlichkeit des HErrn! Es kommt mir oft vor, daß ich auf Erden so gar nichts mehr zu schaffen wüßte. Nur meine Kinder halten mich. – Meine edle Helene, wie ist mir Dein Sterbetag werth und theuer. Gott tröste Dich und dann auch mich mit Dir ewiglich! Amen.“

 Hier wird sich passend auch ein Gedicht anreihen, welches sich in Löhe’s Tagebuch vom Jahre 1847 fand und seinen Schmerz wie seine Sehnsucht nach der geliebten Gattin rührend zum Ausdruck bringt:

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Ich will Dich suchen gehen,
Die ich so lang vermißt.
Ich kann nicht stille stehen,
Seitdem Du gangen bist.

Ich weiß, daß ich nicht finde
Hier, wo ich suchen kann.
Ich suche Dich jedennoch.
Weil ich’s nicht lassen kann.

Ich hab noch eine Strecke
Zu wandern bis zu Dir,
Bis ich vom Tod erwecke
Die Freude mir in Dir.

Doch kenn’ ich schon die Pforte
Des Hauses, wo Du bist,
Wo Du mit süßem Worte
Meiner erwartend bist.

Ich werde baldig kommen,
Dann klopf’ ich bei Dir an;
Dann thu mir auf die Pforte,
Wie Du mir sonst gethan.

Du öffnetest die Pforte
Und sprachst Dein freundlich Wort
Und lenktest meine Schritte
Zum stillen Bergungsort.

So thue mir dann wieder,
Wenn ich nun klopfe an.
Reich mir die Hand, die liebe,
Und nimm mich freundlich an.

Führ mich mit holder Liebe
Zu Deinem König hin
Und dann auch zu den Hütten,
Wo ich so selig bin.

Da zeigst Du mir die Räume,
Lehrst mich den Lobgesang
Und bist mir ohne Ende
Die Freundin lobesam.

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Ich weiß mir keinen Himmel,
Wo Du, mein lichter Strahl,
Nicht leuchtetest dem Freunde
Beim ewigen Abendmahl.

Ich will Dich ewig finden:
So komm entgegen mir!
Ach, HErr, vor dem ich flehe,
Vereinige mich mit ihr.

Und sei, wie Du gewesen
In unsrer Lebenszeit,
Der Dritt’ in unserm Bunde
In alle Ewigkeit.

Und hab ich mir zu irdisch
Das Alles ausgedacht,
So laß mich’s schöner finden
In nie geahnter Pracht.

Indessen trag ich innen
Die Wunde blutig roth.
Ich werd vergeblich sinnen
Auf Heilung bis zum Tod.




 Auch ein zweites, am 12. November 1848 entstandenes Gedicht, das in seinen vier ersten Versen schon länger bekannt geworden ist und allgemeine Verbreitung gefunden hat, gehört seinem Inhalte und seiner Veranlassung nach hieher. Es ist nicht eigentlich ein Ausdruck des Heimwehs nach der Ewigkeit, sondern eine dichterische Ausführung eines Lieblingsgedankens Löhe’s, des Gedankens nämlich, daß der HErr im Sacramente eine communio zwischen der streitenden und der triumphierenden Kirche gestiftet hat und daß das Bewußtsein, im heiligen Abendmahl denselben Leib zu empfangen, den unsre seligen Abgeschiedenen im Himmel mit Augen schauen, ein kräftiger Trost in allem Trennungsschmerz sei. Die vier ersten Verse sind allerdings weitaus die herrlichsten, doch sei um| des schönen Grundgedankens willen hier das ganze Gedicht mitgetheilt:

O Gottessohn, voll ewiger Gewalt,
O Menschensohn in göttlicher Gestalt,
Der Gottes Macht und Ehren überkommen.
Du hochgelobter HErr und Christ,
Der Du der Deinigen Verlangen bist:
Zu Dir, zu Dir, zu Dir begehr’ auch ich,
Nur wo Du bist, da find ich’s wonniglich.

Das Feld ist golden, blumenreich die Au,
Die Berge hehr und frei, der Himmel blau.
Wohl wird’s dem Menschenkind auf Erden:
Auch mir ist Alles angenehm,
Doch gnügts mir nicht, ich will Jerusalem.
Da, wo Du thronst, da treibt mein Segel hin,
Heimat wird’s nur, wenn ich daheime bin.

Dort flammt der Engel Heer in Deinem Licht,
Und meine Väter schaun Dein Angesicht;
Die gottverlobte Menschheit sonder Gleichen
Ist aufgedeckt vor ihrem Blick;
Von ihr wallt her ein unermeßlich Glück
Den Seelen zu – es rauscht ihr Freudenton
Wie Meeresbrausen zu des Lammes Thron.

Was hält mich auf? Laßt mich von dannen gehn
Zu meinem Volk, den Menschensohn zu sehn.
Den Blick nicht nur, die Seele will ich tauchen
In Seiner Schöne Majestät.
Schon jetzo Freud’ und Zittern mich durchweht.
Laßt mich hinweg! O HErr, hinauf zu Dir,
Zu Deinem Anschaun schreit mein Geist in mir.

Ich soll noch nicht? Nicht öffnet sich das Thor?
Du weisest mich zu meiner Brüder Chor?
Mit ihnen soll ich noch im Glauben wallen?
Es wird mir schwer und ach, so bang,
Daß ich muß gehn das Thränenthal entlang.
Ach, wäre doch mein Thränenquell versiegt.
Mein Seel und Geist in Deinem Licht vergnügt! – –

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Dieweil mir also meine Freudigkeit
Darnieder war gelegt in bittres Leid,
Bin ich ins ird’sche Heiligtum gekommen,
In Seiner Freuden Vorgemach,
Wo Ahnung lindert zeitlich Weh und Ach.
Da sah ich meine Brüder feiernd stehn
Und singend um den Altar Gottes gehn.

Und zwischenein hört ich des HErren Wort
Ertönen vom gebenedeiten Ort:
„Das ist der Leib, das Blut für Dich vergossen“,
Da fiel ich hin voll Scham und Reu
Und meines HErren Stiftung ward mir neu.
Ich fand mich nun im offnen Himmelsthor
Bei größern Gütern, als ich je verlor.

Zwar wird im Sacramente nicht geschaut
Der Hort, der uns vom Himmel wird vertraut;
Allein es wird von Menschenmund empfangen.
Was aller sel’gen Augen Trost,
Das ewige Lied der Engel, ihre Lust.
Ihr Geistesaug’ und unser Leibesmund,
Sie stehn durch unsers HErren Leib im Bund.

Ja, hochgelobet, hochgebenedeit
Sei unsres Gottes große Freundlichkeit.
Denn Erd’ und Himmel ist nun völlig einig
In Christi Leib und seinem Blut;
Was Beide einigt, ist dasselbe Gut.
So wird getröstet unsre Wartezeit,
Dies Mahl verzehret ihre Bitterkeit.

Darum bis ich zur Ewigkeit kann gehn,
Soll meine Hütte am Altare stehn:
Der Vogel hat sein trautes Nest gefunden.
Ich werd’ in Jesum eingesenkt,
Ein ewig Leben wird mir hier geschenkt.
Hier wird sogar mein Fleisch und Bein erneut,
Mein Leib und Seel zur Ewigkeit erfreut.

Gelobt sei Gott, daß ich geboren bin
Im neuen Testament, mir zum Gewinn!
Was ist der Tempel König Salomonis,

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Was sein Altar, sein Heiligtum?
Das ärmste Kirchlein hat den sichern Ruhm,
Daß sich in ihm mit Brot des Wortes Leib vereint,
Der nur in jener Welt noch herrlicher erscheint.




 Noch ein Gedicht fand sich in Löhe’s Nachlaß, das, obwohl es dem Zusammenhang nach nicht hierher gehört und seine Veranlassung dem Schreiber dieses nicht bekannt ist, doch hier wird mitgetheilt werden dürfen.

Weißt Du, wie weit von hier die Wolken ziehen?
Wie weit von diesen jene Sterne fliehen?
Wie weit vom Throne,
Der dem Menschensohne
Zur Ruh und Regiment ist überlassen,
Dieselben Stern’ sich zitternd niederlassen?
Wie weit? – Ich weiß es nicht, ’s ist mir zu wunderlich.

Du weißt, wie nah am Leibe Deine Kleider,
Weißt Du, wie nah und eng beim Leib die Seele?
Sie ist ihm nah, sagst Du. Ja, laß Dir sagen:
Viel näher als die Seele meinem Leibe
Ist Er der Seel’, dem Leibe, dem die Kronen
Der Länder all auf seinen Schläfen wohnen,
Vor dem die Sonne und die Monde lassen
Den Standpunkt, fliehend, ohne sich zu fassen.
So nah ist meiner Seele der Entfernte.
Ich hab’ ihn angezogen als ein Kleid,
Ich bin in Ihm, Er ist in mir! – Nun rechne meine Freud!




 Wie Löhe im stillen Selbstgespräch in seinen Tagebüchern den Schmerz seiner Seele ausschüttete oder auch den Tönen seiner Lieder einhauchte, so quillt auch in seinen Briefen oft die Feder von dem über, wovon das Herz ihm voll war. So mögen denn auch noch einige Briefe hier zur Mittheilung kommen, die in der Zeit seines großen Verlustes oder in der Erinnerung an denselben geschrieben sind. Der erste von den hier folgenden| Briefen ist an seine Schwester, der zweite an eine Freundin Helenens geschrieben, der dritte, aus viel späterer Zeit, ist ein Beileidsschreiben an einen durch den Tod seiner Gattin in tiefe Trauer versetzten Freund, Dr. Besser.


 „Liebe Schwester!

 „Während ich auf eine Leiche warte, thue ich, was ich schon längst hätte thun sollen, ich schreibe an Dich, um Dir und Deinem lieben Erhard für alle die Wohlthaten zu danken, welche Ihr theils selbst, theils durch die Hände Eurer Tochter ao. 1843 mir und den Meinigen erwiesen habt. Ich kann Euch nicht vergelten, nicht danken; mein Herz, das ja keines Guten fähig ist und gegenwärtig ohnehin nicht mehr im gewohnten Geleise fährt, ist auch zu elend, um von Grund der Seele zu danken. Was hätte ich je von Grund meiner Seele gesagt? Ich habe immer eine übermütige Keckheit begangen, wenn ich die Worte ,herzlich‘ u. dergl. gebrauchte. All mein Innerstes und mein Geschrei aus der Tiefe ist ein Geschrei um Erlösung von dem steinernen Herzen, das mich preßt und noch nie etwas Göttliches und Gutes hat Wurzel schlagen lassen.

 „In meinem letzten Brief, den ich von Dir empfangen habe, versuchst Du mich zu trösten und zwar damit, daß Du sagst, ich werde das Bild meiner Allerliebsten in ihren Kindern vierfach erblühen sehen. Du hast recht; ich möchte ihr freundliches Angesicht gerne wieder sehen, und es gehört zu meinen Schmerzen, daß ich ihr Bild nicht habe. Aber da ich gegenwärtig wie ein Probierstein bin, an dem man Trostgründe prüft, so kann ich Dir sagen, daß der Trost nicht probehaltig ist. Es gehört zur Natur des Verlustes einer geliebten Person, daß sie in allen Fällen unersetzlich ist. Wenn ihr Bild zehnfach erblüht, so ist’s ihr Bild. Sie ist daheim. – Und ich bin| in der Fremde, und wenn ich sie liebe, so muß ich dazu setzen: ,Ich kenne sie nicht dem Fleische nach‘. Sie ist nicht mehr mein, wie sie’s gewesen ist und wird’s nicht mehr. Sie ist mein, aber anders. Und dies ist’s, was ich fassen muß; denn auf diesen Wechsel war ich nicht gefaßt. Als Helene vor drei Jahren einige Wochen ohne mich in Frankfurt war, war ich auch ein Wittwer und entbehrte sie mit Schmerzen. Aber wenn sie noch drei Jahre in Frankfurt gewesen wäre, so würde ich doch immer gesagt haben: ,Mein Weib ist in Frankfurt‘. Wenn sie nun in derselben Eigenschaft im Himmel wäre, so wäre sie mein und ich ihr – und was wär’s dann? Aber wir sind geschieden – und so herrlich und ewig im dritten Artikel unsre Vereinigung steht und begründet ist, so ist doch noch mir nicht erschienen, was wir sein werden, und meiner Seele ist bange. Du wirst sagen: ,Nun natürlich!‘ Aber das ist’s eben: was von ferne ganz natürlich scheint, ist übernatürlich und schwer, in der Nähe erkannt. Aller Trost liegt in den Verheißungen Gottes von der Herrlichkeit des ewigen Lebens, in der Vereinigung der streitenden und triumphierenden Kirche und in der Flucht der Zeit. Meine Aufgabe ist glauben lernen – und wer mir dazu hilft, Gottes Wort sagt und mich wirksam vermahnt, der tröstet mich. Denn meine zeitliche Lage ist mir vollkommen klar – und all mein zukünftig Thun ist mir auch klar. Ich wollte aber, ich hätte hier nichts mehr zu thun, sondern dürfte durch Todesschmerzen in die nähere Gemeinschaft meiner Seligen und des HERRN HERRN kommen.
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 „Mir geht’s – meine Seele weigert sich zu sagen ,gut‘. Es ist Glaube, dies Wörtlein ,gut‘ auf mein Ergehen anzuwenden. Ich will’s aber sagen: ,Es geht mir nach dem verborgenen Willen meines Gottes, und darum gut. Amen. Amen‘.“


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An Frau Pf. K. in P.

 „Verehrte Frau Gevatter!

 „Sie haben nun zum sechsten Male das Grab und Bild meiner seligen Freundin Helene mit Blumen geziert, und ich will Ihnen einmal wenigstens in meinem eigenen Namen Dank für Ihr treues Andenken sagen. Ich habe es bisher unterlassen, weil ich dachte, Sie thäten bei der Liebe, welche Sie zu der Seligen haben, eigentlich Ihrem eigenen Herzen Genüge, gleichwie ich dem meinigen, wenn ich alljährlich den Abschiedstag meines zeitlichen Glückes feiere. Ich dachte, länger als Ihr eigenes Herz Sie nach Blumen greifen hieße, würden Sie es auch nicht thun. Der Ansicht bin ich noch, und ich wäre ein zugleich stolzer und ungezogener Mensch, wenn ich Ihr Thun nur fernehin in eine Verbindung mit meiner armseligen Persönlichkeit setzen wollte. Indes ist es doch auch mir lieblich und angenehm zu sehen, daß die Seele, welche ich am meisten liebe, auch anderen noch unvergessen im Herzen lebt, und für diese meine Freude sage ich Ihnen hiemit den herzlichsten Dank.

 „Helenens seltene Ursprünglichkeit des Benehmens, ihr Wesen ohne Falsch, ihre Einfalt, ihre herzliche Zufriedenheit mit dem, was ihr geschah, ihre thränenreiche Unzufriedenheit mit ihrem wenigstens vermeinten Zurückbleiben, ihre Sehnsucht hinauf, ihr heißes Sehnen und Flehen und so manches Andere, was ich an ihr erlebt, ist mir Alles zu Idealen verklärt. Was Helenen fehlte, wußte sie und ich; aber was sie hatte, hat ihr mein Herz gewonnen, und je mehr es mir ein Thema der Betrachtung ist und wird, desto mehr sehe ich, daß sie mir zur Erkenntnis vieler wesentlicher Wahrheiten gegeben ward, daß ich mich ohne sie nicht kennen gelernt hätte. Ich denke Millionen Male an sie, bete, daß ihr Alles, was sie mir gewesen und ist, vergolten werde nach dem Reichtum göttlicher Barmherzigkeit, und was| ich mir an ihrem Sterbebette erbeten habe, daß mir ihr Name als der zweite nach dem meines angebeteten Erlösers sei, das ist mir geworden, auch wenn ich nichts von ihr rede, – denn ich will gerne schweigen.

 „Indem ich meinen alten Freund K. und Ihre Kinder grüße, bin ich

Ihr 
dankbarer Freund 
Wilhelm Löhe.“ 
 Neuendettelsau, 24. November 1848.




 An Herrn Dr. B.

 „Verehrter Freund!
 Lieber Bruder!

 „Sie sind – nach der traurigen Mittheilung, welche Sie mir zu machen so gütig waren – in den Orden eingetreten, in welchem ich bereits 14 Jahre lebe und trage. Ich kenne diese Leiden und weiß, daß Sie, mein theurer Bruder, bei Ihrer Anlage der Seele und des Leibes tief ergriffen sein müssen. Und das ist ja der Wille des HErrn, der allezeit geschehe. – Als vor einigen Jahren meine liebe alte Mutter in meinem Hause nach schwerem Leiden starb, war es immer Ein Gedanke, der mich bewegte: ,Was bist Du für ein Gott, daß Du sitzen kannst, wie ein Schmelzer und Deine Lieblinge im Feuerofen wenden und drehen, daß Du zusehen kannst und die Hilfe verzögern – und das Alles aus Erbarmen! aus Liebe! Du scheinst nicht zu hören, unbarmherzig zu sein, aber das macht eben Dein Erbarmen!‘ O, was werden die erlösten Seelen, wenn sie ausgeseufzt haben, für eine Ruhe finden bei Ihm, dem HErrn, und für eine süße Liebe genießen nach der heißen, unbegreiflichen Liebe der Todesschmerzen. Da ist doch vorüber all die große Noth, und sie werden ,getröstet‘. Da wird ihnen und muß| ihnen werden viel tausend Mal besser als uns, die wir hier beim Andenken an unsere Abgeschiedenen nichts schwerer tragen, als die Erinnerung an die Todesleiden und Schmerzen. Es ist zwar nicht Einem wie dem Andern, – nicht Jeden ergreift derselbe Gedanke so mächtig, wie den Andern, zumal in solchen Fällen, wo ganze Fluten von Gedanken und Gefühlen sich drängen. Doch aber, glaube ich, liegt etwas für Alle in dem Gedanken, daß es nach tiefem Leid unsern Abgeschiedenen wohler ist als uns. –

 „Was hat mich in solchen Fällen die reiche Fülle der Offenbarung über das Leben nach dem Tode, das selige Seelenleben, erfreut und getröstet! Der Schmerz um Heimgegangene war die Anfechtung, welche mich lehrte, auf dies Gebiet des Wortes zu achten. Ich genas an Gräbern von dem Spiritualismus der alten Lutheraner, und der Todesschmerz, an Gräbern der Meinigen gefühlt, erschloß meine Seele für alle Freuden unserer großen ,Hoffnung‘. Die Zukunft hier, die geschichtliche, und dort, die ewige, ist die Gegengabe geworden, welche mir der HErr schenkte, wenn er mir ein liebes Angesicht nach dem andern entzog. Sie, mein lieber Bruder, wissen diese Lustgefilde der Seele und kennen sie schon längst, aber vielleicht wird doch gegenwärtig die Betrachtung jenes Lebens, wo nun Ihre Inkunde ist, auch für Sie wie ein Thau sein, der Ihre müde, leidende Seele erquickt. Möge es Ihnen nach Ihrem Maße gehen wie mir! Seit 14 Jahren ist mir mein persönlicher Gang ein trüber, mein irdisches Leben eine abgebrochene Säule; aber meine Hälfte ist in der Herrlichkeit des HErrn, und mir ist auf meinen Ruinen die Sonne des Lebens höher gestiegen, und Licht und Klarheit ist mir in manches Gebiet gefallen, das mir vormals nächtlich war. So bin ich meiner Helene auf Erden etwas ähnlicher geworden. Ihr und mein Gewinn ist in ihrem Heimgang dennoch gewesen.

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„Man muß sich recht darein ergeben,
Dann ist der schmale Weg auch breit genug zum Leben.“

 „Wie oft fällt mir das Gleichnis ein, das ich bei Melanchthon las, – daß wir im zeitlichen Leben wie in Mutterleib verschlossen seien, im Sterben kämen wir ans Licht des ewigen Tages. Es keimt mir je länger je mehr eine Lust, ausgeboren zu werden, wie meine Seligen, weil ich Licht in der Ferne, vor meinen Füßen Dunkel sehe. Ueber ein Kleines, so sind die Füße auf weitem Raum, und es leuchtet um uns her wie der Tag, und zwar ewiglich.

 „Ich weiß ja nicht, ob Ihnen aus meinen Worten und der von mir gemachten Erfahrung ein wenig Trost zugeht. Wenn auch nicht, so redet doch jeder Buchstabe, den ich aufs Papier schreibe, von meiner Theilnahme – und oft ist der so Heimgesuchte am offensten für den Trost der Gemeinschaft und Liebe, und die stumme Stille des Mitleids und die schweigende Hand brüderlicher Liebe gibt ins Herz manchmal den ersten Strahl der Hoffnung, daß die Nacht, darin wir wandeln, doch Licht sei, und daß bald eine Erkenntnis unserer Leiden kommen könne, die uns anbetend in Lob und Dank auf die Kniee niederzieht.

 „Der Geist unsers HErrn tröste Sie, und der Friede Gottes sei mit Ihnen und

Ihrem treuen 
Wilhelm Löhe, Pfr.“ 
 Neuendettelsau, am Tage Marien Magdalenen,
 22. Juli 1857.


 An Herrn v. Raumer.

 „Du fragst gütig nach meinem Hause. Am Freitag bin ich mit all dem Volke, dem ich Hausvater heiße, nach Bechhofen gegangen. Es war ein duftiger Himmel, wie vor zwei Jahren, da ich mit Helenen an demselben Tage nach Petersaurach zur| Pfarrersfamilie gieng. Daran dachte mein Völklein nicht, aber ich dachte dran. Ich habe meinen Kindern im November 1843 befohlen, für die Seligkeit ihrer Mutter zu danken, und es geschieht von allen bis heute in jedem Morgen- und Abendgebet. Ich weiß aber leider nicht, ob ich in den zwei Jahren einmal in Wahrheit gedankt habe für das, was mein und meiner Kinder größtes Unglück ist. Meine Kinder wissen nicht was ihnen fehlt, sie suchen aber und finden nicht, was man nur einmal völlig hat, ein Mutterherz, und ich selber weiß, daß meine Freude dieser Welt dahin ist, um derjenigen ewige Freude zu bereiten, die mir im Lichte der Verklärung noch viel schöner und lieblicher erscheint, als ich ihre Seele hier erfahren. – Ich sag Dir, es ist gar nichts mehr in und mit meinem Hause und in gar keinem Stück. Es ist eitel, eitel unerträgliche Lumperei, die ich aber doch trage, weil mir’s eben so beschieden und ich ja doch auch bald hoffe, mein Tagewerk vollbracht zu haben. – Man hat oft ein Gefühl, daß der oder jener fertig ist; das Gefühl hab ich oft von mir. Fürs Ganze vermag ich nichts – die Richtung, der ich angehöre, kommt erst und, wie es scheint, nicht gleich, und in Neuendettelsau könnten andere besser was ich.

 „Du billigst das Alles nicht, ich weiß. Du hast mich um mein Haus gefragt und kennst im Haupt den ganzen Leib.

Dein W. L.“ 




 Die vorausstehenden Mittheilungen legen Zeugnis davon ab, wie tief und unauslöschlich in Löhe’s Seele die Erinnerung an seinen schmerzlichen Verlust eingegraben war. Das schwere Leid ergriff aber auch seinen Leib so tief, daß seine Gesundheit schon damals in seinen kräftigsten Jahren mehrfach ernstlich wankte.

 „Ich habe mich“ – schreibt er am 2. April 1844 an C. v. Raumer – „den Winter über innerlich und äußerlich so| abgearbeitet, daß mir mancher Bauer schon gradezu ins Angesicht geweint hat. Ich bin müde, und als ich heut Nacht um 3 Uhr von einem Krankenbesuch auf der Froschmühle heimgieng, taumelte ich, daß mich fast der Mondschein umgeworfen hätte. Ich bedarf des Frühlings zur Erholung, und doch ist er mir nicht angenehm. Ich fühle mich am wohlsten in Arbeit und wenn ich predigend die Flügel hebe. Es ist ein Wunder ums Amt, das mich im Innersten schreckt und doch wieder hebt.“

 Und ein andermal, am 2. Januar 1846:

 „Was mich anlangt, so bist Du mit Recht berichtet worden, daß ich unbaß war, aber mit Unrecht, daß ich trauriger bin als überhaupt seit dem 24. November 1843. Es ist wahr, daß mir kein lieblich Loos gefallen, sondern daß ich unterm Kreuze bin, wie meiner Brüder nicht alle. Der HErr hat mir aber verliehen, daß ich, in mir traurig, ja sehr traurig, in Ihm fröhlich bin. Es ist wahr, daß mich öfter als vor 10 Jahren Unwohlsein schnell und heftig überfällt; mein unheimlichstes Leiden ist mir in solchen Fällen das Delirium. Da sitzt meine wache Seele immer und wehrt sich mit aller Macht, den wirren Gedanken die Zügel schießen zu lassen. Da lern ich, wie dem Fieberkranken zu Mut sein muß. Da lern ich mich sehnen, ein Wort von Außen her zu vernehmen, das meiner müden Seele die schwere Arbeit erleichtere. Da lern ich mich, wenn ich mich ergeben muß, stille fügen und weiß doch, daß mir meine Beilage aufgehoben ist. Da lern ich der Nacht und Einsamkeit Leid und Freud, und wenn ich wieder etwas wohler, find ich mich in der Macht des HErrn friedevoll und mutig. Ich habe in Leibesleiden bisher immer zu rühmen gehabt, daß der HErr meine Seele und ihre Saiten sehr friedlich und fröhlich stimmte. Und so ist mir auch die Krankheit zum Segen.

|  „Wir müssen traurig werden, um fröhlich zu sein. Es gibt verschiedene Blicke in den Einen Himmel. Auch meine werden richtig sein. Aber es schaut kein Fröhlicher dieser Welt jenseitige Herrlichkeit. Wer aber diese schaut, dem wird gegeben, die Traurigkeit, die unabwendbar ist auf Erden, in Freuden zu ertragen.“




 Doch die Pforten des Jammers waren mit Helenens Tod für Löhe noch nicht geschlossen. Sein jüngstes Kind, ein kräftig entwickelter Knabe, fieng bald nach dem Tode der Mutter zu kränkeln an. Das Kind hatte Monate lang schwer zu leiden, bis ihm am 14. September 1844 der Tod Erlösung brachte.

 „Mein lieber Philipp“ schrieb Löhe an diesem Tag in sein Tagebuch – „geht Abends 6 Uhr heim zur allerliebsten Mutter und seinem HErrn HErrn.“

 Löhe hielt seinem Kinde die Leichenfeier und verlas dabei den schönen Lebenslauf, den unsere Leser S. 85–89 mitgetheilt finden.




 Beim Blick auf seine verwaisten Kinder, von welchen das älteste beim Tode der Mutter erst fünf Jahre zählte, drängte sich selbstverständlich Löhe der Gedanke der Wiederverheiratung zu ernstester Erwägung auf. Der Rat seiner nächsten Verwandten war, daß er zu einer zweiten Ehe schreite. Nur zögernd und widerwillig nahm Löhe diesen Rat in Ueberlegung. „Man drängt in mich“ – heißt es einmal in seinem Tagebuch – „wegen N. N. Aber wenn ich ruhig denke, ist mir Vereinigung mit Helene im ewigen Leben wünschenswerther. Meine ganze Seele ist bei Helene. Mein Geist sehnt sich nach ihr. Gott lenk’s zum Besten!“

 Löhe war damals, wie ja auch aus dem ersten Theil seines evangelischen Geistlichen bekannt ist, nicht principiell wider die| zweite Ehe eines Geistlichen. Als jedoch der Plan einer Verbindung mit der Einzigen, mit welcher er zu einer zweiten Ehe zusammenzutreten sich hätte entschließen können, gescheitert war, stand auch sein Entschluß zum Beharren im Wittwerstande fest.

 Am 9. November 1844 schrieb er seiner Mutter:

 „Vom Heiraten bitte ich Sie, nicht mehr zu reden. Es geschieht nicht mehr. Ich kann der Kinder wegen nicht thun, wovor ich eine große Furcht habe. Ich begebe mich nicht mehr in die Wechselfälle der Ehe. Ich gestehe es Ihnen, daß ich mir es nie, seit meine geliebte Helene heimgegangen ist, habe denken können, daß ich ferner ein Weib ehelich lieben könne. Lassen Sie mich dieserhalb in Ruhe. Ich will Gott meinen Dienst erzeigen; Er wird mir helfen und mir verleihen, daß ich mich, so lange ich noch zu leben habe, auf meine Heimfahrt freue.“

 Und später schrieb er seiner Schwester: „Der Rat, den man mir oft gibt, der nämlich vom Heiraten, paßt nicht. Ich kenne keine einzige Person, an die ich die Zukunft meiner armen Kinder und meinen eigenen unglücklichen Lebensüberrest wagen möchte. Der HErr hat mir die Einzige genommen, für die ich im ganzen Leben eine wahre, selbständige Neigung gehabt habe. Ich kann nicht dafür, daß ich andern Wittwern zum Heiraten rate und selbst ein Herz behalte, das voll Traurigkeit um das Weib meiner Jugend ist. Auch geht es sonst nicht. – Schon mehrere Wochen gehe ich mit dem Gedanken um, der Magd das Regiment zu nehmen, um es in die Hände einer ältlichen, gebildeten Person niederzulegen. Ich weiß, daß auch das nicht viel sein wird, allein wenn meine Kinder größer werden und auf Schulen sind, brauche ich Niemand mehr und kann mir selbst leicht helfen. Bis dahin muß ich eben meine unbequeme| Straße gehen wie ich kann. Lieber Gott, daß ich mit solchen Dingen mich plagen muß, ich elender, armer Mensch.“

 Es gehörte zu seiner besondern Führung, daß er von nun an seinen Lebensweg einsam gehen mußte. Das Bild Helenens blieb ihm so allerdings lebendig und unverblichen. Kein anderes Frauenbild drängte es in den Hintergrund. Die Vergangenheit und die Erinnerung an dieselbe behielt ihr Recht ganz und voll über ihn. Je öder und ärmer die Gegenwart für ihn war, desto mehr verklärte die Erinnerung ihm die Vergangenheit und die Hoffnung die Zukunft. Vielleicht forderten auch die großen Aufgaben im Dienste des Reiches Gottes, zu denen Löhe berufen war, eine solche Freiheit der Seele, die mit ungetheilter Hingabe sorgen läßt, „was dem HErrn angehört.“ Doch wer darf hier Bestimmtes sagen? Jedenfalls aber war Löhe’s Entschluß Wittwer zu bleiben mit schweren Opfern erkauft. An Stelle der schönen Häuslichkeit, in deren Frieden es ihm so innig wohl gewesen war, traten nun Einrichtungen, die doch nichts mehr als armselige Notbehelfe waren, so daß Löhe sein Leben von da an mit Recht als ein „getröstetes Elend“ bezeichnen und sagen konnte: „er habe von den Ehepsalmen nichts mehr übrig als die Worte: ,Du wirst Dich nähren Deiner Hände Arbeit‘.“

 Anfangs halfen bei der Führung des Haushalts Löhe’s weibliche Verwandte aus. Zu Zeiten blieb auch nichts übrig als sich mit der Mägdewirtschaft zu behelfen. Bei den zahlreichen Besuchen, die Löhe damals erhielt und welchen er in wahrhaft großartiger Uebung der Gastfreundschaft immer Aufnahme, Herberge und Bewirtung zu Theil werden ließ, erschien es bald als notwendig, das Regiment des Hauswesens in die Hände einer gebildeteren Person zu legen. Eine schon bejahrtere adelige Dame, Fräulein Sophie von Tucher, übernahm im| Jahr 1849 die verwaiste Stelle einer Repräsentantin des Hauses und leitete Löhe’s Hauswesen bis zum Jahr 1853, wo dann Löhe’s Tochter die Führung des väterlichen Haushalts übernahm und – wenn auch mit längeren durch Krankheit veranlaßten Unterbrechungen – bis zu ihres Vaters Tode behielt.
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 Wenn auch die klaffende Lücke, die Helenens Tod im Hause Löhe’s hinterließ, nie wieder völlig sich schloß, so war doch durch Gottes Barmherzigkeit Löhe für sein verlorenes Erdenglück mancher Ersatz in der treuen Liebe anhänglicher Freunde bereitet. Unter diesen war wohl der damalige Functionär am Landgerichte Heilsbronn, der jetzige Bezirksgerichtsrath Hommel in Ansbach, der am häufigsten anwesende, dessen Umgang Löhe namentlich in den ersten Jahren seiner Wittwerschaft oft zum Troste gereichte. Er benutzte die Nähe von Tettelsau und kam jeden Samstag dorthin, um den Sonntag daselbst zuzubringen. In Folge dieser häufigen, fast regelmäßigen Besuche in Löhe’s Haus wurde H. fast wie ein Glied der Familie betrachtet, und es war Löhe schmerzlich, als H. als Assessor an das Landgericht Hilpoltstein versetzt wurde. „Du mußt wissen“ – schreibt er am 2. August 1848 an seine Tochter – „daß mein Freund, Herr Friedrich Hommel, Assessor in Hilpoltstein geworden ist. Nahe an fünf Jahre, seitdem deine gute Mutter daheim ist, habe ich mit ihm Alles was Euch, mich, mein Amt und Wirken angeht, besprechen können, und er ist mein treuer Freund und Ratgeber in allen Stücken gewesen. Die Samstagabende und Sonntage waren mir immer sehr lieb, weil er da war. Das ist nun auch vorbei. Jetzt muß ich den HErrn Jesum allein zum Ratgeber erwählen, und da ich im Schwabenalter bin, ist’s auch recht, daß ich mit Ihm allein bin. Ich werde anfangs an Sonnabenden und Sonntagen| das Maul ein wenig verziehen; dann werden die Lippen wie gewöhnlich über einander klappen.“

 Aber trotz alles Ersatzes, den Löhe in der Freundschaft, im anregenden Umgang mit besuchenden Fremden und vor allem in seiner reichen und reichgesegneten Wirksamkeit fand, war doch seit dem 24. November 1843 die Freudenkrone dieser Erde von seinem Haupte gefallen, und er wurde von da an je länger desto mehr eingeführt in die Erfahrung, daß dieses Leben, auch wenn es köstlich gewesen, dennoch Mühe und Arbeit ist, und daß es nur die Freude des Glaubens ist, welche von uns Niemand nehmen kann.




 Im Jahre 1853 starb auch Löhe’s hochbetagte Mutter. Alljährlich pflegte sie zur Sommerszeit ihren Sohn auf längere Zeit heimzusuchen, und bei Gelegenheit eines solchen Besuches war es, daß ihr Ende sie ereilte. Bei der Nähe von Fürth und Tettelsau, die häufigen persönlichen Verkehr ermöglichte, war der Briefwechsel zwischen Mutter und Sohn ein seltner. Doch liegen uns aus einer Reihe von Jahren die Gratulationsbriefe vor, die Löhe seiner Mutter zu ihren letzten Geburtstagen schrieb. Sie sind alle durchdrungen von den Gefühlen innigster Verehrung und Dankbarkeit, die der Sohn seiner Mutter bis zum Ende bewahrte. Mögen zwei dieser Briefe als Denkmal kindlicher Pietät Löhe’s hier Mittheilung finden. Der eine ist vom 11. Mai 1848 und lautet:


 „Liebe Mutter!

 „Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Geburtstag und freue mich, daß ich heuer noch rechtzeitig daran denke, um Ihnen gratulieren zu können. Ich danke mit Ihnen unserm lieben HErrn, daß Er Ihnen 78 Jahre durch alles Kreuz und allen Jammer so gnädig geholfen hat, und hoffe, Er wird Ihnen| ferner helfen und ewig helfen, wie auch mir und meinen armen Kindern. Ich habe auch mein armes Gebet zu Gott erhoben, daß Er Ihnen, falls es Ihnen gut und selig ist, das kostbare Augenlicht erquicken und ferner erhalten wolle. Der HErr, der kein Uebel thut, wird mein Gebet erhören und, es gehe, wie es gehe, Ihr Herz erfreuen mit Seinem himmlischen Lichte und göttlichen Troste. Ich bin 38 Jahre jünger als Sie, aber es däucht mich fast, ich sei auch schon auf der Neige, und so gratuliere ich Ihnen zu Ihrem guten gesegneten Alter und mir dazu. Gott sei unser Gott ewiglich, und die ewige Heimat erquicke unsere Seele schon hier!

 „Es ist jetzt bei uns recht schön. Die schönen grünen Wiesen und die reinen Lüfte müßten Ihnen gewiß nützlich sein. Wenn Sie darum Lust haben, ein wenig auf dem Lande zu sein, so sind Sie herzlich eingeladen... Hier werden Sie auch nicht so viel von dem politischen Getriebe hören. – –

Ihr 
dankbarer Sohn 
W. Löhe.“ 


 Der zweite vom 11. Mai 1849 lautet wie folgt:

 „Liebe Mutter!

 Wir haben morgen einen Festtag, weil Ihr Geburtstag ist; heut ist der Vorabend, und da sitzen wir alle und schreiben Briefe an Sie. Die Kinder haben vor Freuden ganz schnell ihre nichtssagenden Briefe auf die Tafel geschrieben und sind nun nur in beständiger Angst, beim Abschreiben Fehler zu machen. Ich freue mich, daß die armen Raben wenigstens das Eine haben, daß sie ihre Großmutter lieb haben. Ich wollte, meine und meiner seligen Helene Kinder wären besser und ihrer Mutter ähnlicher, damit sie ihrer Großmutter mehr| Freude machten. Gott der HErr verleihe Ihnen, liebe Mutter, daß Sie noch lange recht gesund leben und gute Tage sehen. Alles, was Sie ängstigt, müsse sich auflösen wie der Nebel in Sonnenschein, und am Abend Ihres Lebens müsse es völlig Licht werden. Da Sie den Nebo hinansteigen, so lasse Er, unser Gott, Sie immer entzückter in das heilige Land der Verheißung schauen, nach dem wir uns alle schmerzenvoll sehnen – und wenn Ihre Stunde der Verherrlichung kommt, so verjünge Er Sie wie den Adler, daß Sie auffahren mit Kraft und Siegsgeschrei und vor dem HErrn opfern, bis wir alle bei Ihnen sind und mit Ihnen opfern. Der Name unsers angebeteten Herrn und Heilands sei hochgelobt über Ihrem grauen Haupte im Leben und Sterben und über dem Grabe meines Vaters und über mir, Ihrem ältesten Sohn! Ich bin auch durch den Meridian gegangen, und vielleicht ist mein Tagewerk bald vorbei. Der HErr erhalte Sie, bis ich sterbe, und lasse mich dann an der Hand meiner Mutter gen Zion gehen zu meinen Vätern, zu meiner Freundin Helene, der Allerliebsten, und zu meinem Philipp
und zu unserm HErrn!

 „Mir gehts gut. Alles blüht. Den Rauch der Welt acht ich durch Gottes Gnade nicht. Ich will meinem König dienen, weiter nichts. Sein schmaler Steig ist unter meinen Füßen; Sein guter Geist führt mich auf ebener Bahn. Ich bete an vor Dem, der mein Reisen im Todesthal zu Herzen genommen hat. Er entbinde mich meiner Sünden und mache mein armes Herz gnadenreich – ja gnadenreich.

„Ich bin in Ewigkeit Ihr dankbarer 
Wilhelm.“ 


 Mit solch kindlicher Liebe war Löhe seiner Mutter zugethan bis an ihr Ende. Gott verlieh ihm auch das Versprechen| zu erfüllen, das er als Knabe seiner Mutter gethan hatte: daß sie aus seinen Händen ihr letztes Abendmahl empfangen und unter seinen Gebeten entschlafen und er ihr die Augen zudrücken würde. So geschah es auch, als die hochbetagte Greisin in Folge wiederholter Schlaganfälle am 6. Juli 1853 in seinem Hause entschlief. Die Beschreibung ihres letzten harten Kampfes und seligen Sieges geben wir am liebsten mit den Worten des Lebenslaufes, den Löhe an ihrem Sarge verlas (s. S. 90 ff.).




 Wir sind mit der Darstellung des häuslichen Lebens Löhe’s zu Ende. Die Schwiegermutter, die Gattin, das jüngste seiner Kinder, endlich die hochbetagte Mutter sah Löhe vor sich zu Grab gehn. Er hat jedem dieser theuren Anverwandten in den wahrhaft gesalbten und weihevollen Lebensläufen, die er über ihren Särgen verlas, ein Denkmal der Ehren gesetzt. Unsre Leser werden im Verlaufe dieser Darstellung ja so viel Theilnahme für diese mit Löhe so eng verbundenen Seelen gefaßt haben, daß ihnen die Mittheilung ihrer Lebensläufe nicht unerwünscht ist. Sie dienen doch auch zur Charakteristik Löhe’s als Gatten, Vaters, Sohnes und Schwiegersohnes. Und so mögen denn diese vier Lebensläufe als ebenso viele Denksteine, von Löhe’s Hand seinen theuren Seligen gesetzt, hier eine Stätte finden.

 Wir lassen sie in chronologischer Ordnung folgen, zuerst den Lebenslauf seiner am 21. März 1843 verstorbenen Schwiegermutter, sodann den in seiner Knappheit vielleicht auffallenden Lebenslauf seiner Gattin, der den unnennbaren Schmerz seiner Seele mehr verbirgt als offenbart, dann den herrlichen Lebenslauf seines am 14. September 1844 in zartestem Alter entschlafenen Söhnleins und endlich denjenigen seiner am 6. Juli 1853 heimgegangenen greisen Mutter.




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Lebenslauf der Schwiegermutter Löhe’s.

 Frau Anna Elisabetha Andreä-Hebenstreit, eine gottselige Matrone, welche der HErr zu Seinen ewigen Freuden heimgerufen hat, ist es, deren Leichnam wir hier im Heiligtum niedergesetzt haben. Es ist ihr letzter Besuch, welchen sie in diesem Gotteshause macht, in welchem sie so gerne war, so lange ihre Seele durch die Bande des Leibes hienieden zurückgehalten war. Sie war im Geiste ein lebendiges Glied der hiesigen Gemeinde, welches auch viel geliebt und ihre Liebe aller Orten thätig bewiesen hat. Laßt uns in diesen Augenblicken auch Liebe üben und ihr Andenken feiern.

 Sie ist in Frankfurt a/M. geboren, eine Tochter angesehener und ehrbarer Eltern. Sie verlor ihre Mutter in frühen Jahren, und da sie die älteste unter drei Töchtern war, so wurde sie frühzeitig selbständig. Sie führte von ihrem 12. Jahr an ein Hauswesen, von dessen Größe und Beschwerlichkeit wir in unsrer Gemeinde keinen Begriff haben. Da sie frühe das Zeitliche besorgen mußte, so hätte man sorgen können, daß sie im Zeitlichen untergehen möchte. Aber sie war ein Weib von großen und weitausgreifenden Bedürfnissen des Geistes, und das Hauswesen füllte ihre Seele nicht aus. Der Herr hatte sie in früher Jugend mit aller Schönheit und allem Liebreiz der Seele ausgestattet, und da sie auch mit zeitlichen Gütern reichlich gesegnet war, so fehlte es nicht, daß die Welt und ihre Kinder sie zu gewinnen suchten. Man hätte fürchten können, daß die Eitelkeit und Lust der Welt sie verschlingen könnte, aber sie lebte nicht allein ein jungfräuliches und ehrbares Leben, sondern sie fühlte sich auch von allem Tand der Welt unbefriedigt und blieb immer im Suchen. Ihr hungriger Geist trachtete weiter. Eine Ahnung des Ewigen verließ sie nicht. Sie hatte Gelegenheit ihren Geist| auszubilden wie Wenige. Es sind berühmte Namen unter ihren Lehrern. Sie war angesehen und geliebt um ihres Geistes, ihrer Bildung willen. Aber auch menschliches Wissen und Weisheit dieser Erde befriedigte sie nicht. Ihre Seele suchte Offenbarung, und gerade diese fand sie nicht. Sie gab aus edlen, ungemeinen Gründen ihre Hand ihrem nunmehr in schweren Trauertagen lebenden Wittwer, Herrn Ferdinand Andreä, Kaufmann zu Frankfurt a/M. Sie wurde sehr geliebt. Liebliche Kinder wuchsen um sie auf. Allein auch das Glück der neuen Ehe befriedigte sie nicht. Sie war nicht von dieser Welt, darum genügte ihr diese Welt auch nicht. Auch die Wonne der Freundschaft erfuhr sie und suchte in ihr Seelenstillung. Aber diese Freundschaft ließ sie auch unbefriedigt. – Alles Glück der Erde half ihr zu keinem Frieden. Auch den Jammer der Welt erfuhr sie in einem Maße wie Wenige. Eine schwere Nervenkrankheit überfiel sie, nachdem sie 16 Jahre alt geworden war. Das Nervenfieber aber lehrte sie nicht Lebenslust, sondern Himmelslust. Schon damals hatte sie vor dem Tode keine Furcht, Gottes vorlaufende Gnade hatte ihren Sinn und ihre Erwartung auf die Ewigkeit gestellt. – Sie wurde durch frühen Tod der Mutter, des Vaters ergriffen und tief bewegt – ein Bruder – Kinder – eine theure Schwester – treue Freunde wurden ihr durch den Tod entrissen. Die Vergänglichkeit des Zeitlichen trat ihr in die Augen, der Schmerz des Lebens wurde ihr offenbart. Desto mehr suchte sie das Ewige. Doch war ihr größtes Leiden allewege das, daß ihre Umgebungen nicht im gleichen Maße von Tand und Eitelkeit unbefriedigt blieben, – nicht mit gleichem Hunger und Durst nach dem Ewigen strebten. Ach, wie konnte sie sich betrüben. Welch eine Sorge, welch einen Kummer um die Ihrigen sprach sie aus und besiegelte ihn mit schlaflosen Nächten und zahllosen Thränen, wenn sie der Meinung war, eines ihrer| Lieben möchte in den Wegen der Welt ein Wohlgefallen finden. Ja, sie hat viel geweint, viel getrauert um Seelen!
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 Daß sie der Jammer dieser Erde nicht glücklich machte, versteht sich wohl von selbst. Daß sie von dem Glücke dieser Erde nicht satt wurde, habe ich ihr bezeugt. Aber sie fand, nachdem sie lange gesucht hatte, das Heil, das ihr Herz begehrte, und die Seelenstillung, die sie lange gesucht hatte. Sie lernte den HErrn kennen und Sein heiliges Wort. Sie rang darnach, Ihn zu ergreifen, gleichwie sie von Ihm ergriffen war, und sie ergriff Ihn. Nun gab es Freude. Ja, ich darf wohl bezeugen, daß ich nur äußerst wenige Menschen gefunden habe, welche so ganz zur Theilnahme an geistlichen Freuden geschaffen waren, wie sie. Sie konnte sich freuen, wie sich Wenige freuen können. Die Welt freut sich ihrer Eitelkeiten so lebhaft nicht, wie sie sich ihres Heilandes freute. Indes sie litt an den Nerven seit jenem ersten Nervenfieber, ja, es brachte es ihre natürliche Anlage mit. Da drückte oft die irdische Hütte den zerstreuten Sinn. Da half ihr keiner von all den Aerzten, die gebraucht wurden, nur das gewaltige Wort des ewigen Freundes riß sie aus ihren Traurigkeiten, machte ihre Seele immer wieder still und fröhlich. Sie erfuhr es an sich, daß der Herr alle Traurigkeit in Freude verwandele. Christus wurde ihr je länger je mehr Alles in Allem. Keine leibliche Entbehrung, keine zeitliche Entsagung wurde ihr schwer, wenn sie nur Jesum hatte und Sein heiliges Wort. Die Lehren des Evangeliums erfuhr sie an ihrem Herzen, darum waren sie ihr nicht pure Meinungen, über die man wohl disputieren könnte. Sie konnte ihrem bittersten Feind mit heiterer Anmut die Hand reichen, wenn sie ihn zu demselben theuren Glauben einkehren sah. Sie fühlte aber auch die Unvollkommenheit der schönsten Verbindungen, so wie sie hartnäckigen Widerstand gegen die ewige Wahrheit wahrnahm. Sie war um Jesu| willen der glühendsten, aufopferndsten Liebe, aber auch des glühendsten, standhaften Hasses gegen das Widerwärtige und Feindselige fähig. Es war in ihrem ganzen Wesen nichts Gemeines und all ihr Leben wurde je länger je mehr zu einem Lichte Gottes. Alles Feuer ihrer Seele gieng, je mehr sie den HErrn kennen lernte, darauf aus, ihre Kinder dem HErrn zuzuführen. Ihr schwerer thränenvoller Kampf ist nun vor Gott, – und, wie wir hoffen, durch Jesu Blut gereinigt und angenehm gemacht. Sie war keine Mutter, die ihre Kinder schöner und besser sah als sie waren, sie floß von ihren Fehlern über. Sie beneidete nie andere Leute ihrer Kinder willen. Die ihrigen waren ihr, so wie sie waren mit all ihren Unvollkommenheiten gerade recht, wenn sie nur Jesum und Sein Heil zur Krone hatten. Aber das wollte, darum weinte, darum betete sie, darum litt und stritt sie und ließ sich verkennen mit leichtem Mut. Der HErr erhörte sie auch. Sie sah einige ihrer Lieben zu Jesu Füßen niedersinken und Seine werden. Es war ihr unaussprechliche Wonne. Andere ihrer Kinder sah sie wenigstens nahe kommen. Für andere hoffte sie. Alle ihre Lebensschicksale betrachtete sie nur in der einen Beziehung auf ihr ewiges Heil. Ihre Gebete vor dem Throne des Lamms, ihre Andacht vor seinem Angesicht werden vollenden, was unvollendet geblieben ist. Die noch übrige größte Sehnsucht für das Seelenheil der Kinder wird vollendet werden. Ihr Paradies wird über ihrem Grabe blühen.
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 Von ihrem edlen, heiligen Leben in hiesiger Gemeinde, von ihrer Freundlichkeit und Holdseligkeit gegen Arme, Kranke und Sterbende – von dem, was sie mir und meinen Kindern gethan hat, – von der Zartheit, Zuvorkommenheit. Achtung und Liebe, mit welcher sie mich, ihren Schwiegersohn, behandelt und diese sechs Jahre meiner Ehe meine Wege mit Blumen bestreut hat, will ich hier schweigen. Aber am Throne Gottes, zu welchem| ich zu kommen hoffe, will ich’s rühmen, – und unauslöschliches Gebet soll von mir zu Gott aufsteigen, daß ihr dort mein Dank in den ewigen Hütten bezahlt werde.
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 Vorigen Samstag vor acht Tagen saß sie noch hier in diesem Gotteshause und beichtete. In der Nacht darauf erkrankte sie. Neun schwere Leidenstage folgten. Zwar dachte sie nicht zu sterben, sie überlegte Alles, sie sorgte mit zartem Sinn über den Tod hinaus – und hoffte dann eben so frisch wieder ins Leben herein. Als ich ihr gleich in den ersten Tagen ihrer Krankheit die Möglichkeit des Todes vorstellte, nahm sie es mit freudigem Dank an, ohne ängstlich ums Leben zu sorgen. Sie war bereit – und ihre Sehnsucht war längst schon nach dem Anschauen Jesu. Sie hatte oft in traulichen Gesprächen bezeugt, sie würde so gerne sterben, wenn sie der HErr rufen würde. Ich dagegen machte sie oftmals auf die Erfahrung aufmerksam, daß, die im Leben sich nach dem Tode sehnen, oft harten Kampf im Sterben haben. Sie aber blieb dabei, sie würde gerne sterben, wenn ihr nur ihre Sünden vergeben sein würden. Und wie sie es behauptet hatte, so geschah es ihr. Am Morgen ihres Todes zeigten sich deutliche Spuren, daß der HErr ihrer wartete, die Schmerzen waren gewichen. Ein heiliger, feierlicher Ernst lag auf dem Angesichte. Ihre Haare wallten um das Haupt, wie wenn der Morgenwind jener Welt mit ihnen spielte. Das Angesicht prangte wie von Morgenroth des ewigen Lebens. Mein Herz, das gegen sie bei Gott mit der innigsten Liebe schlägt, hätte sie gerne zurückgehalten – und wer hätte mich darin lieber unterstützt, als das dankbare Herz der Tochter, die unter allen Kindern der Mutter am meisten verdankte? Aber der HErr verlieh, daß ich meine Seele beschwichtigen konnte. Eingedenk ihrer oft gethanen Bitte, daß ich sie, wenn sie sterben würde, so hinausleiten möchte, wie ich es meinen lieben Pfarrkindern| oft vor ihren Ohren that, zündete ich die Fackel des ewigen Lebens an, um ihr vorzuleuchten zum seligen Ausgang.
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 Sie begehrte zu beten. Ich betete mit ihr ein oft gebetetes Dienstagsgebet der Väter, das sich in den Samenkörnern findet: „O Herr Gott Zebaoth, mache Du Alles still, friedlich und einig in unsern Herzen, in unserer Gemeine, in unserm Lande, in unsern Häusern, und hole uns zur seligen Stunde in das stille, ruhige und friedliche Land der ewigen Freude und Herrlichkeit!“ Darauf gieng ich zu Euren Kindern, um sie zu unterrichten. Ich betete mit ihnen manch schönes Lied von dem Leiden Jesu. Ich wußte, für wen ich flehte. – Nach einer Stunde trat ich wieder an ihr Bette, sie zu stärken. Dann gieng ich wieder zu Euren Kindern und las mit ihnen die Erscheinung Jesu, welche Daniel nach den letzten drei Kapiteln seiner Prophezeihung hatte. – Ich wurde geholt, meiner geliebten Freundin hinüber zu helfen – dahin, wo das Anschauen Seiner Herrlichkeit nicht mehr tödtlich, sondern ewiges Leben ist. – Der HErr hatte ihre Seele stille gemacht. Allen Zuspruch empfieng sie mit großer Inbrunst. Sie verstand die Stimme Anderer nicht mehr. Aber die Stimme des Priesters verstand sie. Alle Besorgnisse, die etwa das sterbende Herz noch drücken konnten, lösten sich leicht vom Herzen. Nur eins drückte noch – die Sünde. Sie wurde absolviert und sagte die Worte der Absolution fröhlich mit. Sie wurde zur Freude aufgerufen mit den Worten des heiligen Apostels: „Freuet euch in dem HErrn!“ Sie wiederholte mit fröhlicher Kraft: „Und abermal sage ich euch: ‚Freuet euch‘.“ Sie betete die Sprüche: „Christus ist die Versöhnung etc. So Jemand sündigt etc. Also hat Gott die Welt geliebt etc.“ mit dem tröstenden Priester. Das Lied: „In Dich hab ich gehoffet, Herr“ oder den 31. Psalm betete sie so mit, daß, wenn des Priesters Lippen bebten, sie fortbetete und die himmlische Kraft| des göttlichen Wortes kund gab. Dabei wurde ihr Antlitz immer ehrwürdiger wie ein Schleier verborgenen Heiligtums. Ihr Odem wurde still. Es wurde ihr zugerufen: „Ihr seid gekommen“ etc., sie betete mit. Sie wurde eingesegnet, das Hosianna wurde angestimmt. Da hauchte sie noch einmal, und ihre Lippen lispelten leise den Namen „Heiland“. Das Auge brach nicht, kein Todeskampf war da, kein Schmerzenszug. „Wer an Mich glaubt, der wird den Tod nicht schmecken ewiglich“. – Das erfuhr sie. Eine stille selige Stunde, die mit Gebet um Aufnahme ihrer theuer erkauften Seele und um eine selige Nachfahrt beschlossen wurde!

 Gott sei gelobt für Alles, was ER der Verstorbenen hienieden gethan hat! Gelobt sei ER für ihre herrliche Führung! Gedankt sei Ihm für Alles, was ER den Ihrigen durch sie gethan hat! Mein Tod sei wie ihr Tod und mein Ende sei wie das Ende dieser Gerechten!

 Wir loben Gott! Aber welch ein Jammer wird die fernen Kinder erfüllen, – welch ein Jammer das Herz des Gatten! Brüder, wir haben für den Tod der Seligen nur zu danken, aber laßt uns beten, daß der Tod der Seligen, die nun in Friede und ewiger Wonne schwebt, allen ihren Hinterlassenen zum Heile gedeihe, daß sie alle mit ihr am Throne des Lammes vereinigt werden.

V. U. Amen. Segen.




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Lebenslauf der Gattin Löhe’s.
 Hier ruht, neben der vielgeliebten Mutter, Frau Maria Helene Löhe, Ehefrau des hiesigen Pfarrers. Sie ist eine Tochter des Kaufmanns Ferdinand Andreä zu Frankfurt und dessen Ehegattin Anna Elisabetha, geb. Hebenstreit. Geboren wurde sie am 27. Juni 1819, da man eben mit allen Glocken zum Friedensdankfest läutete. Bald wurde sie durch die Taufe dem HErrn geweiht. Ihre Taufpathin war Frau Helene, Ehefrau des Kauf- und Handelsherrn zu Offenbach und Regensburg, Herrn d’Orville. Von ihrer ersten Kindheit auf war sie ein Kind der Sehnsucht und Thränen. Sie besuchte die Schulanstalten Frankfurts, und es wurden keine Kosten gescheut, ihr diejenige weibliche Bildung zu geben, welche die Frauen ihrer Heimat auszeichnet. Dabei war sie die unzertrennliche Gefährtin ihrer Mutter. Mit ihr kam sie deshalb im Anfang des Jahres 1835 nach Nürnberg in die Familie ihres Onkels, Herrn Christian Helfrich zu Nürnberg. In demselben Hause wohnte damals ihr nun trauernder Ehegatte als Pfarrverweser bei St. Aegidien. Der HErr verlieh, daß sie, als sie dessen Confirmandenunterricht besuchte, zu einem neuen Leben kam. Am 8. Juni 1835 wurde sie von ihrem nachherigen Ehegemahl confirmiert, in der Kirche zu Behringersdorf nahe Nürnberg. Nach ihrer Confirmation gieng sie mit ihrer Mutter nach Frankfurt zurück. Hier bewährte sie sich unter nicht leichten Verhältnissen und erwuchs zu einer heiligen Jüngerin Jesu, welcher von Jedermann Anerkennung gezollt wurde. Als der dies liest, im Jahre 1837 Pfarrer in Neuendettelsau wurde, ward es ihm bald zur Gewißheit, daß unter allen Jungfrauen keine, als Helene Andreä sein Pfarrhaus betreten sollte. Der HErr fügte es wunderbar, daß er sich am 25. April 1837 verloben konnte.| Ihr Brautstand und der Anfang ihres Ehestandes waren heilige Zeiten. Am 25. Julius 1837 wurde sie getraut. Bei ihrer Trauung sang man auf ihr Verlangen das Lied: „Nun danket alle Gott,“ von welchem der zweite Vers ihr insonderheit lieb war. Ihr erinnert Euch, daß er heißt:

„Der ewig reiche Gott woll’ uns bei unserm Leben
Ein immer fröhlich Herz und edlen Frieden geben
Und uns in seiner Gnad erhalten fort und fort
Und uns aus aller Noth erlösen hier und dort.“

 Am 1. Aug. 1837 zog sie mit ihrem Gatten in Neuendettelsau ein. Derselbe erstaunte je länger, je mehr über die Einfalt und Demut, über die Sanftmut und Freundlichkeit, über die Zartheit und Festigkeit ihrer Liebe. Mit jedem Tage schätzte er sie mehr und achtete sie als das heiligste Kleinod seines Lebens. Sechs schöne, friedenvolle, herrliche Jahre lebten wir zusammen. Sie wurde ganz Pfarrerin und fand sich leichten Mutes in die vielen Entbehrungen, welche ihr im Vergleich mit ihrem frühem Leben auferlegt wurden.

 Sie gebar ihrem Ehegatten vier Kinder, drei Söhne und eine Tochter. Ach, wie hatte sie ihre Kinder geliebt, und welch eine Gnade wurde ihr verliehen, sie zu ziehen! Als ihr letztes Kindlein geboren wurde, segnete ihr Gatte zur Stunde der Geburt ein sterbendes Kindlein ein. Wenige Tage lag sie auf dem Wochenbette, da wurde ihr der Tod ihrer liebsten Freundin, Frau Hedwig Zeilinger, gemeldet. Wenige Wochen war sie außer dem Wochenbette, da starb ihr die edle Mutter. Sie ertrug den Tod derselben mit christlichem Mute, aber es blieb ihr eine unaustilgbare Sehnsucht nach ihr. Im Verlauf des Jahres starb noch eine edle Freundin ihrer Seele. Sie empfand Alles, sie wurde desto aufmerksamer auf das Sterben. Sie besuchte die Kranken und Sterbenden eifriger als je. Sie schickte| ihre Seele zu göttlichem Frieden. Wie inbrünstig und selig waren ihre Beichten, und wie ward es ihr gegeben, in ihrem Ehegatten den Seelsorger zu erkennen. Alles in ihr gieng sichtlich der Vollkommenheit und Vollendung entgegen. Vor 14 Tagen wurde sie krank. Brust- und Unterleibsentzündung bildeten sich aus. Bald entwickelte sich der furchtbare Typhus. Eine hohe herrliche Gesinnung erfüllte sie. Ihr Angesicht leuchtete in den Fieberphantasien, wie eines Engels Angesicht. Alle ihre Reden giengen auf Göttliches. Sie glaubte schon daheim zu sein in der himmlischen Stadt. Als das furchtbare Uebel die Kräfte verzehrte und die Schwachheit mehrte, fielen ihre Phantasien herunter in den Kreis ihres liebthätigen Lebens, und wenn man anfangs ihre himmlische Gesinnung mit Staunen erkannte, so fand man hernach in den Phantasien ausgedrückt, wie sehr ihr gegeben war, in der zweiten Tafel der Gebote Gottes daheim zu sein. Dazwischen hinein fielen jedoch Neuerungen des Glaubens und der Anbetung. So bekannte sie am Tage vor ihrem Tode ins Fieber hinein den 3. Artikel: „Ich glaube an den h. Geist, eine h. christliche Kirche, die Gemeinde der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung des Fleisches und ein ewiges Leben.“ Auch betete sie eines Abends, da sie meinte, ihre Mutter bete sie zum Schlafe ein: „Ich weiß, an wen ich glaube“ etc. Vorigen Dienstag hatte sie einen harten Kampf, es schien, sie sterbe. Sie wurde getröstet. Ach, wie dankte sie da Gott für die Freuden ihrer Krankheit – wie fand sie sich glücklich im Leiden, – wie sehnte sie sich zu überwinden, wie ihre Mutter überwunden hatte. Aber das Leben flammte noch einmal auf. Alle Zeichen der Genesung traten ein. Man hoffte! Am Morgen des 24. November aber bemerkte man mit Schrecken die Wiederkehr des Fiebers. Ach, welch ein schwerer Tag! Gerne hätte ihr Ehegatte Alles, Alles dahin gegeben, um| sie bei sich zu behalten. Er hätte gerne alle seine Habe an die Armen vertheilt, um sein Kleinod zu behalten. Der HErr aber nahm sein Gelübde nicht an. Er eilte mit ihr zu ewigen Freuden. Große Schmerzen, schwere Leiden mußten überwunden werden. Dazu war ihre Zunge gebunden, daß sie nicht mehr reden konnte. Ach Gott, ach Gott! Wie schwer wurde es nun dem Ehegatten, sein Kleinod fahren zu lassen und Gott zu opfern. Es geschah, der HErr führte sie am Tage seiner Leiden, Nachmittag 1/23 Uhr heim. Sie ist Seine Braut und Er ihr ewiger Bräutigam. Ihr zeitliches Leben währte 24 Jahre 5 Monate 3 Tage, ihr Leben bei Gott hat kein Ende.

 Der HErr verzeihe dem Ehegatten, ihren Waisen, ihren Dienstboten Alles, wodurch sie sich an ihr versündigt haben. Denn eine so sanftmütige, heilige Gattin, Mutter und Hausfrau zu betrüben, ist doppelte Sünde. Er vergelte ihr aber vor Seinem Thron alle die unzähligen Wohlthaten, welche sie mir und meinen Kindern gethan hat. Er vergelte, vergelte, vergelte ewig!

 Dank aber sei Ihm für ihr Leben und für ihre Auflösung, Dank für das heilige Beispiel, welches sie gegeben, Dank für den Trost, den sie empfangen, Dank für alle zeitliche und ewige Wohlthat, die sie genoß! – Der HErr verleihe, daß mein Gebet erhört werde und sie mich aufnehme in die ewigen Hütten.

 Ihr aber, ihr Glieder dieser Gemeinde, habt eine treue, wohlwollende Freundin verloren. Sie kannte euch Alle mit Namen. Sehet ihr Ende an und folget ihrem Glauben nach.

Amen.




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Lebenslauf des Söhnleins Löhe’s.
 So haben wir neben der theuern Mutter den jüngsten ihrer Söhne Johannes Leonhard Philippus zur Ruhe gebracht. Er ist geboren am Abend des 22. Januar 1843 und gestorben am Abend des 14. September 1844. Die Zeit seiner Wallfahrt war also kurz, sie dauerte nur 1 Jahr 7 Monate 3 Wochen. Die Zeit seiner Geburt war eine Zeit der Freuden in seines Vaters Hause. „Wie die Pfeile in der Hand des Starken, so sind die jungen Söhne; wohl dem, der seinen Köcher derselben voll hat“, so beglückwünschte man den Vater des Knaben an seinem Geburtstage. Aber wie ganz anders wurde es bald! Am 21. März – 2 Monate nach seiner Geburt – starb ihm die geliebte Großmutter, die ihm so viel Wohlthat und Segen gegeben hatte – und noch am 24. November desselben Jahres traf ihn das größte Unglück dieser Welt, das ihn hätte treffen können. Die edelste, liebenswürdigste Mutter, welcher oft zugerufen worden war: „Deine Söhne kommen auf und preisen Dich selig“, starb nach unerforschlichem Rate Gottes dahin. Bis dahin hatte das Knäblein geblüht. Die Form seines Hauptes verriet vorhandene besondere Gaben, seine Augen einen hellen klaren Geist, seine Körperanlage ein langes gesundes Leben, sein Benehmen eine Natur voll entschiedener Kraft. Aber mit der edlen Mutter starb des Kindes Gesundheit, und es war auch keine Ruhe, bis seine Seele mit den vorangegangenen Seligen vereinigt war. Wie viel hat das Kind namentlich in den letzten Monaten und Wochen gelitten! Wer es sahe, wunderte sich über so viele Ausdauer des Körpers. Wie oft standen die Seinigen und fürchteten, es möchte ihnen entrissen werden! Und wie oft kehrte ihm die Kraft und denen, die ihn liebten, einige Hoffnung wieder! Es war ein harter Kampf.| Aber welche Natur wollte dem Tode gewachsen sein, und welches Mittel wäre erfunden, das Wort Dessen rückgängig zu machen, von welchem geschrieben steht: „Du lässest aus Deinen Odem, so werden sie geschaffen; du nimmst weg ihren Odem, so vergehen sie und werden wieder zu Staub“, Ps. 104. 30. 29. – Ein harter Kampf gieng einem leichten Siege voran. Hätte sein Vater nicht eben seine Blicke voll Sehnsucht in die lichten, auch da noch glänzenden Augen des Kindes eingesenkt, so wäre vielleicht sein Ausgang aus der Zeit ganz unbemerkt geblieben. Der schauende Vater aber bemerkte ein eigentümliches Zittern des Auges und dann ein Stillestehen desselben und zugleich des Athems. Kaum daß noch vergönnt war, die letzten Segnungen über dem Davoneilenden zu sprechen! Man hatte Zeit gehabt, sich auf den Abschied zu bereiten, und nun kam er dennoch überraschend schnell. Das Leben des Kindes floh wie ein süßer Traum dahin! –

 Es war der Feierabend der vergangenen Woche, Abends wenige Minuten vor 6 Uhr, als das Leiden des Kindes und die Hausuhr im Pfarrhause stehen blieb, dagegen aber Freuden an dem Kinde offenbart wurden, welche nicht wie Leiden dieser Welt nach Stunden gezählt und nicht wie der Tod des Leibes durch Stundenschläge abgewartet werden.

 Noch eine halbe Stunde vor dem Heimgang betete man brünstig um das Leben des Kindes, ja, ein Wunder schien dem Beter eine Kleinigkeit für den wunderreichen Gott. Nur wenn ein längeres Leben hienieden dem Kinde, seinem Vater oder andern zum Seelenunheil gedeihen würde, wollte der Beter seinen Sohn ziehen lassen. Die Antwort kam schnell. Dies Sterben war dem Sterbenden zum Seelenheile nötig, vielleicht auch seinem Vater oder einem andern. Als darum die Seele des Kindes heimgegangen war, da gieng es dem Vater wie| dem Vater David: zuvor voll Jammers und Kummers, wurde er still und getrost. – Das Kind ist versorgt, geborgen, durch seiner Taufe Kraft selig, unantastbar, keine Versuchung naht ihm mehr, es ist heilig – heilig, wie seine Mutter, weise, wie seine Mutter, selig, wie seine Mutter. Es wird nicht mehr zu mir kommen, aber ich werde zu ihm fahren zu seiner Zeit! Amen! Amen!

 Welch’ ein lieblicher, schöner Anblick war das Kind nach dem Tode, daß seine Geschwister mit ihm gerne spielten, es liebkosten und ihm Blumen brachten! Wie gerne sah man ins liebe, nicht geschlossene Auge, ins freundliche Gesicht, das im Leben den Grad von Lieblichkeit nicht erreicht hatte! Und doch, was ist ein Leichnam, auch wenn die erlöste, entfliehende Seele ihm die lieblichsten Spuren ihrer Seligkeit zurückläßt, gegen die Seele selber und ihre Lieblichkeit! Der gesagt hat: „Lasset die Kindlein zu mir kommen, ihrer ist das Himmelreich“, der hat es aufgenommen. Es sieht seinen Heiland, es ist mit ihm ewig vereint – es ist ein König, wie Er, und alle Erdenkönige sind Staub dagegen – ein Priester, wie Er, und so, wie das Kind, lobt und opfert der nachgelassene Vater weder auf Kanzel noch Altar, seine Dankopfer und Lobopfer sind angenehm, – dazu braucht’s keine hohe Schule, kein mühsames Lernen, es schaut den Urgrund aller Weisheit, seinen Gott! Ja, mein Kind ist selig!

 Und was wird das für eine Freude gewesen sein, als die selige Mutter Helene, die ohne Zweifel für ihre Nachgelassenen ohne Ende betet, in dem seligen Heimgang ihres Philipps die kommende Erhörung ihrer Gebete sah. Wer kann beschreiben, mit welchen Freuden dieses Kind von seiner Mutter empfangen worden ist und von den vorausgegangenen Freunden und Freundinnen, die es liebten? Wenn schon große Freude ist| über einen Sünder, der Buße thut, – was für eine Freude muß erst unter den Seligen im Himmel in Zion sein, wenn eine Seele heimkommt, gewaschen von aller Sünde und gereinigt von allen Flecken durch das allmächtige Wasserbad des HErrn. Nun ist mein Philipp bei seiner Mutter und Großmutter, in der allerheiligsten Kirche der Stadt Gottes, – einer von den Geistern der vollendeten Gerechten! Wer ist seliger zu preisen, als mein Kind? – Wären wir doch Alle so weit – und vor allem ich, der ich im Thale des Elends, wer weiß, wie lange, wallen und mich sehnen muß nach dem Glücke, das die Seelen derjenigen fanden, deren Leichname diese Gruft für den herrlichen Tag der Auferstehung verwahrt.

 Geliebte Freunde und Brüder! Ich habe meinem armen Kinde so wenig sein und wohlthun können im Leben. Es schmerzt mich, daß mir Andere in der Wohlthat vorangekommen sind. Ich danke denjenigen, welche ihm gedient haben, in meinem Namen und seinem Namen und im Namen der seligen Mutter. Kind und Mutter werden Euch in jenem Leben selber danken, wenn Ihr hingelanget, – und ich werde dann auch, wenn mich Gott durch die Kraft seines Wortes und Sacraments auch hindurchgerissen haben wird, am Danke es nicht fehlen lassen. Ja, auch Gott wird Euch danken für das, was Ihr an diesem geringen Knechte gethan habt!

 Zweierlei aber bitte ich Euch. Meine Todten leben – liebet sie und bleibet mit ihnen in Gemeinschaft. Danket dem HErrn und lobet ihn für ihre Seligkeit – und das nicht blos eine kleine Zeit. Lasset uns unsere Todten lieben, mit denen wir, so lange es auch noch währen kann und mag, vereinigt sind. Wir sind ja auch schon gekommen zum Berge Zion – und wenn wir gleich noch nicht in der Stadt Zion sind, die seinen Gipfel krönt, so sind wir doch schon im Hinansteigen.| Liebet meine Todten, wie Ihr alle Eure Nächsten liebet! Das ist eine Bitte. Eine zweite aber ist die: Brüder, wohin wir kommen können und sollen, ist uns bekannt; aber wir sind noch nicht dort. Es wäre möglich, daß wir gar nicht hinkämen! Das wäre schrecklich! Wir kämen dann nicht zu unseren seligen Todten, nicht zu unserm Volke, sondern dann müßten wir in die ewige, fluchbethaute Oede gehen. Lasset uns, ach Gott stärke uns, daß wir’s thun! – lasset uns Fleiß thun, daß wir die Verheißung, einzukommen zu Seiner Ruhe, nicht versäumen. Es handelt sich nicht darum, die Ewigkeit mühevoll zu verdienen, – wer wird so blind und hochmütig sein, daß er sich so etwas einbilden könnte! Nein, meine Freunde! Aber im Gegentheil handelt sich’s darum, den Kindern gleich zu werden, gleich an kleinem Sinn, gleich an Empfänglichkeit und Glauben und Hingabe an das mütterliche Wort der Kirche und der Schrift. Wenn wir nicht werden, wie die Kinder, kommen wir nicht ins Reich der seligen Kinder, nicht zu unsern Todten, nicht zur triumphierenden Kirche Gottes! Darum laßt uns Fleiß thun, abzulegen, was nicht kindlich, nicht einfältig, nicht demütig, nicht gläubig, nicht lenksam, nicht hingebend ist in die gute Hand des HErrn! Lasset uns das ablegen – und anlegen Kindersinn, Demut, Glauben, Liebe, Einfalt und Gehorsam.

 Amen, du großer Gott der Todten und Lebendigen! Amen, du Haupt und König der Gemeine hier und dort! Amen, du Gott des Trostes, du Licht in Finsternis! Amen, dreieiniger ewiger Gott! Amen.




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Lebenslauf der Mutter Löhe’s.

 Meine innig geliebte Mutter, Frau Barbara Maria Löhe, ist zu Fürth geboren am 12. Mai 1770 und ohne Zweifel alsbald durch die Taufe dem HErrn und seiner Kirche verbunden. Ihr Vater war Herr Adam Christoph Walthelm, Handelsmann und zweimal rechnungsführender Bürgermeister, dann Waldsyndicus, Schuladministrator im damaligen Hofmarkt Fürth. Ihre Mutter war Frau Maria Katharina, eine geb. Gollingin von Fürth. Ihre Taufpathin war die von ihr bis ins hohe Alter hochgeehrte Bierbrauereibesitzerin in Fürth, Frau Barbara Maria Gebhardt. Gott hatte ihren Eltern 13 Kinder geschenkt, von denen meine liebe Mutter die letzte Tochter und das elfte Kind war.

 Mein lieber Großvater war ein Thüringer und in Fürth ein Fremdling, der Sohn einer vortrefflichen Mutter. Er hatte sich, ein armer Jüngling, als Drechslergeselle auf die Wanderschaft begeben und war über Ansbach nach Fürth gekommen. Dort lernte er die einzige Tochter einer wohlhabenden Glaserfamilie kennen, gewann ihr und der frommen Eltern Herz und verband sich mit ihr zu einer 29jährigen, glücklichen Ehe. Er verließ die Glaserei, wurde Handelsmann, und sein Detailhandel dehnte sich unter Gottes reichem Segen zu einer Bedeutung aus, von welcher man gegenwärtig in Fürth, wo fast das dritte Haus ein Kramladen ist, keinen Begriff mehr hat. Der Fremdling wurde einer der ersten Männer zu Fürth, von dessen redlichem und frommem Sinn und Wandel Zeugnisse genug vorhanden sind. Und Maria Katharina Gollingin wurde ein Trost der Armen und Kranken, eine fleißige Wohlthäterin, welcher bei einer gewaltigen Last des Haushalts und Geschäfts dennoch die Zeit zum frommen Thun nicht mangelte.

|  Unter solchen Eltern verlebte meine herzliebe Mutter ihre Jugend.

 Ihr Lehrer und Seelsorger war der von ihr bis in den Tod hinein innig geliebte und verehrte Herr Dr. theol. Fronmüller, ein Schüler Gellert’s, an dem auch ihr lieber Vater mit inniger Liebe und Verehrung hieng. Der legte neben den frommen Eltern in ihr den Grund ihrer ungeheuchelten Religiosität.

 Als meine liebe Mutter 12 Jahre alt war, am 7. Octbr. 1782, starb ihr die fromme Mutter. 2 Jahre 10 Monate und 16 Tage lebte der theuere Vater im Wittwerstande, dann verheiratete er sich zum zweiten Male mit Anna Barbara Ammonin, einer frommen Müllerstochter von Petersgemünd, mit welcher er am 24. August 1785 getraut wurde. Diese Ehe dauerte nur 9 Monate und 4 Tage: am 28. Mai 1786 an einem Sonntag Nachts zwischen 11 und 12 Uhr starb der edle Mann an einem Gallenfieber fauler Art. Er hatte heiße Todesleiden, aber Dr. Fronmüller dankte am Grabe insbesondere „für die reichen Tröstungen, die ihm der HErr unter dem Kampfe seiner Leiden aus seinem Worte hatte zufließen lassen.“ Das sind die Worte Fronmüller’s, welcher ihm die Leichenpredigt über den Spruch hielt: „Das Gedächtnis des Gerechten bleibt im Segen.“

 Nun war meine liebe Mutter, eine Jungfrau von 16 Jahren, eine vater- und mutterlose Waise. Alle Verhältnisse änderten sich. Die Stiefmutter, welche nach dem Tode ihres Eheherrn eine noch lebende, liebe Tochter, Helene, verheiratete Dräsel, geboren hatte, verheiratete sich anderweit, und das väterliche Haus und Geschäft kam an die ältere Tochter, Maria Clara, geb. 25. November 1765. Sie heiratete einen Fürther Jüngling, Johannes Löhe, dem sie aber bereits in ihrem ersten Wochenbette starb. Der verwittwete Kaufmann Johannes Löhe heiratete nun meine Mutter, die damals 19 jährige Barbara| Maria Walthelm, meine herzliebe Mutter, welche hiemit ihr eheliches Leben begann. Mein theuerer Vater, an Talent und Gemüt ein Nachfolger meines Großvaters, kam empor, wie er – trat in die Aemter ein, welche der Großvater verwaltet hatte, und war das Bild eines starken und zugleich grundgütigen Mannes. Meine Mutter gebar ihm in einem etwa 27 jährigen Ehestande 11 Kinder, stand dem großen Haushalte und an der Seite des Vaters dem Geschäfte vor und hatte in ihrem Ehestände viel Segen und Gnade, aber auch viel, ja recht viel Kreuz und Leiden. Die Summe ihrer Leiden wurde voll, als im Jahre 1816, im Herbste, mein theuerer Vater, der zuvor von Krankheit nichts gewußt hatte, nach mehrmonatlichem Leiden und schweren Kämpfen aus der Zeit gieng. Nun war sie mit ihren unmündigen und unversorgten Kindern – vier Töchtern und zwei Söhnen – (die anderen waren früh gestorben) – allein und trug von da an die Last des Haushalts und des nicht unbedeutenden Geschäftes allein, ohne fremde Hilfe, als die, welche ihr ihre Kinder bieten konnten. Der HErr aber war mit ihr in ihrer Wittwenschaft und alles ihr Thun gelang. Zwar die älteste Tochter Anna, eine Jungfrau voll Gabe, Kraft und Tüchtigkeit, aber von zartem und krankem, immer furchtbarer werdenden epileptischen Anfällen ausgesetztem Körper, starb fünf Jahre nach dem Vater hin, aber mit ihrem herrlichen, seligen Tode schloß eine Reihe unnennbarer Leiden, welchen mit ihr meine Mutter und ihre Kinder ausgesetzt waren. Dagegen wurden die andern Töchter an geachtete Männer verheiratet, ein Sohn trat von Gottes Barmherzigkeit geleitet in das schönste aller Aemter, das ihre Seele liebte, ein, und der jüngste bildete sich zur Kaufmannschaft aus und übernahm später das väterliche Geschäft. Beide Söhne traten auch in die Ehe ein – und eine zahlreiche Nachkommenschaft blühte zur Seite| meiner Mutter empor. Und nicht nur Enkel erlebte sie: sie konnte Enkel und Enkelinnen zum Traualtar führen und Urenkel zur h. Taufe begleiten.

 Ein so großes Glück gibt Gott den Seinen niemals ohne ein kräftiges Gegengewicht von Kreuz und Leiden. Zwei edle Töchter, Mütter zahlreicher Familien, giengen in ihrem hohen Alter vor ihr aus der Zeit und zwar unter sehr angreifenden und schmerzlichen Umständen, – und auch das gehörte zu den Bitterkeiten ihres Lebens, daß die von ihr so treu geliebte Pfarrerin dahier, die Ehegattin ihres ältern Sohnes, im blühenden Alter dahin starb. Und wer kann all den Jammer erzählen, welchen sie an den zahlreichen Krankenbetten ihrer großen Familie und in so vielen, unausbleiblichen Gefahren und Nöten ihrer Theueren durchzumachen hatte!

 Am 24. Mai gieng sie nach ihrer Gewohnheit mit mir, ihrem Sohne, zu einem Sommeraufenthalt hieher – und zwar gerade diesmal mit besonderer Lust und Freudigkeit. Zwar war sie durch das heurige nasse Wetter vielfach gehindert, den schönen Sommer nach Lust im Freien zu genießen, aber sie war doch gesund und recht wohl aussehend. Am 27. Juni aber, da wir den Geburtstag der Heimgegangenen sel. Pfarrerin feierten, bemerkte sie am Nachmittage mit ahnungsreichem Ernste, ihre Augen seien seit einer Stunde so schwach, sie sehe fast nichts. Doch das vergieng; am andern Tage aber klagte sie über Kopfschmerz, welchen sie litte, gieng aber doch an meinem Arme am Abend recht gerne im blühenden Gärtchen und schönen Lüften auf und ab. Sie schlief vortrefflich, aber als sie am Morgen darauf, früh 5 Uhr sich anzog, um in die Kirche zu gehen, da wurde ihr wunderlich zu Mute, und ihr Gesicht sah feurig aus. Doch schien es vorüber zu gehen, und ich hoffte sie nach der Betstunde wieder wohl zu finden. Aber nein! Ein Blutschlag| hatte sie während des Gottesdienstes gerührt, und da lag sie, todesnahe, ein Beispiel von unserer Hinfälligkeit. Doch noch einmal half Gott der HErr. Sie erwachte, sie freute sich, einige Tage außerordentlicher Freudigkeit und Freundlichkeit traten ein – und am Sonnabend Morgens stand sie auf, um am Sonntag im Kreise ihrer hiesigen Angehörigen zu sein. Es war ihr wohl, nur daß sie über einen leiblichen Mangel klagte, den man nicht als hoch anschlug. Da rührte sie am Nachmittag des Samstags ein nur ganz kurz geahnter Nervenschlag, ihre Rechte, ihr Arm und Fuß und ihre Zunge wurden gelähmt – und unaussprechliche heiße Leiden kamen nun, abwechselnd mit Stunden und mit Minuten der Erleichterung über sie. Solche Tage und Nächte des Jammers hatte sie in 83 langen Jahren nicht erlebt, und ach, – sie endeten am verwichenen Mittwoch 6. Juli 5 Minuten nach 1/44 Uhr mit ihrem Tode, nachdem sie 83 Jahre 1 Monat 24 Tage in dieser Welt gelebt hatte.
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 Dieser äußerliche Abriß eines eben so einfachen, als reichbewegten Lebens ist nun aber nicht das, was wir hier wissen wollen, sondern es ist eine uralte, ehrwürdige und heilsame Sitte der Christenheit, den Lebenslauf der Entschlafenen so anzusehen, daß man daraus Beispiele des Glaubens und der Heiligung entnehme und Ursachen, die Gnade und Barmherzigkeit des HErrn zu preisen. So habe ich’s immer gehalten, so halte ich’s auch hier und glaube, ohne von der Wahrheit zu weichen, auf unsere Vollendete weisen und sagen zu dürfen: „Schauet ihr Ende an und folget ihrem Glauben nach.“ Ich glaube, ihren ganzen Wandel als Christin nicht besser bezeichnen zu können, als mit den Worten, mit welchen der selige Dr. Fronmüller den geistlichen Lebenslauf ihres Vaters zusammenfaßte. Es sind diese: „Er erkannte, bereute, beseufzte seine Sünden und hielt sich im Glauben an die Gerechtigkeit Jesu Christi und an die| verordneten Heilsmittel, besonders durch den würdigen Gebrauch des heiligen Abendmahles, damit durch selbigen die Gnade Gottes und erhaltene Vergebung der Sünden möchte versiegelt werden.“ Ganz so habe ich sie erkannt.

 Sie hatte Schwachheiten und Gebrechen, wie alle Menschen; aber ich habe sie oft in ihrem Leben sich geistlich in den Staub legen sehen vor Gott dem Heiligen. Es ist nicht die Uebertreibung kindlicher Liebe, sondern das wahrhaftige Zeugnis eines Dieners Christi, wenn ich sage: Sie hat mit tiefer Ehrfurcht vor dem HErrn die heilige Absolution gesucht und sie mit inniger Begier, mit viel Bewegung empfangen unter den Ergüssen dankbarer Thränen. Besonders schien mir ihr letzter öffentlicher Beichtgang ein sehr feierlicher gewesen zu sein. Und mit welcher Inbrunst der Seelen, mit welcher Andacht hat sie am vorigen Sonntag die Absolution empfangen! Ja, als sie nicht mehr reden konnte, ihre Zunge wie eine ausgetrocknete Scherbe im Munde lag, da zog sie mein Haupt zu ihrem Munde und lispelte vernehmlich: „Wird mir doch Jesus auch alle meine Sünde vergeben haben?“ Mein ernstes Ja, meine amtliche Versicherung machte sie zufrieden: ich sah ihr stilles Auge und hörte ein leises, vergnügtes: „So!“ – So nah lag ihr das Elend ihrer Sünde – und man darf sagen, das war ihr Zeichen bis zum letzten Hauch: „Gefühl der Unwürdigkeit, Kleinheit vor Gott.“ Von diesem Gefühl befürchtete und bemerkte ich ihre ernsteste Anfechtung, und meine seelsorgerliche Behandlung gieng darum stracks darauf hin, den Feind zu bekämpfen und das Gefühl der Sünden im Glauben zu verklären zur heiligen Demut eines von Gott begnadigten Christen, und ich hoffe, der HErr hat’s gethan.

 Ihr Glaube, von Jugend auf in ihr gepflanzt, später von einer ungläubigen Zeit angefochten, aber hernach bei Eintritt der| gnädigen Zeit der Erweckung, welche Gott unserm Vaterlande gab, wieder auferstanden – gieng stracks auf Jesum Christum, den Sohn Gottes und Marien. Sein Leben, sein Sterben, seine Auferstehung, seine Auffahrt, sein Leben in der Ewigkeit, seine Macht und Herrlichkeit – waren ihr lebenslänglich Gegenstände der tiefsten Verehrung und immerwährender Betrachtung. Wie ihre Eltern ihr, so ist sie ihren Kindern mit dem gesegneten Beispiel der Anbetung vorausgegangen und hat an den Namen des HErrn nicht blos geglaubt, sondern ihn auch bei jeder Gelegenheit bekannt und ihre Kinder in allen Füllen, wenn sie in Not, Krankheit und Sterben kamen, mit gesegnetem und holdseligem Munde vermahnt, im Glauben auszuharren und das Vertrauen nicht wegzuwerfen, welches eine große Belohnung hat. Ihre Zunge war gelähmt in ihrer letzten Krankheit, sie konnte nicht reden: ihr Glaube wurde durch heiße Anfechtung geprüft; aber es war in dieser heißen schweren Zeit, daß sie mein Ohr zu ihrem Munde zog und ich vernehmlich hörte: „Gelobt sei Jesus Christus.“ Ich aber sagte: „Wie groß und herrlich ist der Name dieses Menschensohnes von Bethlehem, daß die verstummten Lippen und ein sterbend Herz ihn preisen! Sie konnte nicht reden, aber ihr schönes, sprechendes Auge predigte vom Namen des HErrn. Als man am letzten Sonntage zum Gottesdienst läutete, da erinnerte sie sich an die gesunden Tage, wo sie wallen gieng zum Hause des HErrn, ihr Herz wurde weit, Verklärung lag auf dem mit Thränen bethauten Antlitz, mit einer mir unvergeßlichen Miene, mit Blicken, die mehr als tausend Reden redeten, entließ sie mich, der ich hart von ihrem Lager gieng. „Ich bleibe im Geiste bei Ihnen,“ sagte ich; „Sie gehen im Geiste mit mir; der HErr Jesus ist bei uns Beiden, – ich will auch in Ihrem Namen das Gloria anstimmen.“ Da war sie vergnügt. – Eben so vermahnte sie durch unaussprechliche| Blicke ihre Enkel in feierlicher Abschiedsstunde und ihre Kinder. Einer nach dem Andern trat vor sie und empfieng die redenden, feierlichen, innigen Blicke, die von Vermahnung zu Gott und seinem heiligen Worte trieften. Ihre eigentliche Kampfzeit begann am Nachmittag des Dienstags, und unmittelbar vor dieser ernsten, schweren Zeit that ihr Gott, wie geschrieben steht: „Erquicke mich, ehe ich hinfahre.“ – Das war die letzte, feierliche Zeit des Vermahnens und der gegenseitigen Freude im HErrn.
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 Und wie das wahr ist, daß sie im Bekenntnis des wahren Glaubens lebte; so war sie auch die treueste Anhängerin und Liebhaberin der Gnadenmittel. Die Gemeinde Fürth ist die größte im Königreich. Aber ist wohl in dieser großen Gemeinde noch eine Christenseele, welche – und das je länger je mehr – das Wort Gottes mit solchem Eifer suchte, so regelmäßig, so wachsam und, was hervorzuheben, so vorbereitet suchte? Sie gieng bereitet zum Gotteshaus, – das Vorläuten des Gottesdienstes hieß bei ihr: „Wach auf, meine Ehre, wach auf, Psalter und Harfe.“ Der Höhepunkt im ganzen Leben war ihr aber der Genuß des heiligen Sacraments. Wer sah die greise Jüngerin gesammelt und voll Ehrfurcht zum Altar gehen, ohne gerührt bekennen zu müssen: Das ist eine bereitete Seele! Ihr letzter Abendmahlsgang dahier war ihr ein seliger Feiergang – und der Genuß desselben auf dem Sterbebette ein Anfang der Verklärung. Sie nahm den Kelch des Heils, wie wenn sie hätte sagen wollen: „Ich will den heilsamen Kelch nehmen und den Namen des Herrn verkündigen.“ Sie hielt ihn selbst in ihrer Hand und zog ihn an sich. Der HErr hatte nicht blos ihre Sprachwerkzeuge, sondern auch die des Schlingens gelähmt; sie lebte seit vorigen Sonnabend ohne alle Nahrung und ohne Erquickung, außer daß ihr ein paar Male der HErr in Gnaden verlieh, einige Tropfen Wasser oder Saft von Früchten zu| schlucken. Eine solche Erleichterung war bei dem Sacramentsgenusse nicht vorhanden; sie mußte fürchten, beim Schlingen des Weines sich heftige, schmerzhafte Anfälle zu erregen und hatte schon Warnungen durch Beispiele empfangen; aber das achtete sie nicht; den Schluck Weines, aus welchem sie das Blut Jesu Christi gewann, schlürfte sie, sechs bis sieben Mal absetzend, um ja die Gewißheit völligen Empfangs zu haben. Dabei leuchtete ihr Angesicht von Morgenroth des ewigen Lebens und großer Schönheit. – Die Selige hat eigenhändige Anordnung um ihre Leiche hinterlassen. Diese Anordnung schließt mit folgenden Worten: „Das habe ich Euch, meine Kinder, darum geschrieben, wenn mich der HErr mit einem Schlagflusse heimsuchen sollte und ich nimmer reden könnte. Und dann, und dann, wer kann sie denken die Wonne, die mein Herz erfüllt, wenn keine Leiden mich mehr kränken, Licht Gottes mir aus Christo quillt! O, dann, dann ist mein Geist genesen, und ich werde bei dem HErrn sein allezeit. Ich freue mich recht darauf, und auch ihr, meine Kinder, werdet ein freudiges Halleluja anstimmen, denn ich glaube fest darauf, daß mich der HErr nicht verläßt, sondern zu sich nimmt. Amen. Durch Jesum Christum, seinen Sohn.“ Die feierliche, fröhliche Stimmung dieser Worte lag bei ihrem letzten Abendmahlsgenuß auf ihrem Angesicht.
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 Bei solcher religiösen Gesinnung konnte es auch an Früchten des Geistes nicht fehlen. Ein durchaus würdiger Wandel, ein gestrenges Halten auf Zucht und Sitte, auf Haus- und persönliche Andacht, Nüchternheit, Mäßigkeit, Ordnung, Stille und Schweigsamkeit, Mildigkeit und Gütigkeit waren an ihr gewiß Jedem erkennbar, der näher mit ihr umgieng, – und es ist das um so mehr anzuerkennen, als sie keinen schwachen, sondern einen starken Charakter, einen ungemeinen Scharfblick in Beurteilung fremder und der eigenen Kinder hatte. Eine besondere| Gabe und Gnade hatte sie aber, zu ermahnen und zu trösten. Den Spruch: „Ich will Euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet“ habe ich aus ihrer Tröstung verstehen lernen. Ueberhaupt leuchtet sie insonderheit als Mutter. Sie wußte, daß sie Mutter war und darum die hohe Majestät besaß. Wie sie bis ins höchste Alter vor ihrem Vater und ihrer Mutter sich neigte; so oft sie ihrer gedachte, es mit inniger Verehrung that: so forderte sie ein Gleiches von ihren Kindern nicht, im Gegentheil, sie fand sich gedemütigt durch die Liebe und Ehrerbietung ihrer Kinder, sie hätte dieselbe gewiß nicht angenommen, wenn nicht das Bewußtsein der Mutterschaft sie dahin erhoben hätte, sich kindlich ehren zu lassen, wie sie ihre Eltern ehrte und damit den Segen des vierten Gebotes ganz offenbar ererbte. Allein die Würde der Mutterschaft war weitaus nicht mächtig genug, die Güte, die Liebe, die Hinneigung, die Aufopferung ihres mütterlichen Herzens zu übertreffen. Gewis, keine Gluckhenne hat so um ihre Küchlein je gegluckt, als meine Mutter um ihre Kinder. Ihre mütterliche Liebe machte sie nicht blos sorgen- sondern auch ahnungsvoll. Es sind Beispiele vorhanden, daß sie auf 32 Stunden hin schmerzenvoll ahnte, daß einem ihrer Kinder groß Leid geschehen werde. Ihre mütterliche Liebe wurde Ahnung und wie unzählig öfter Gebet! Wann hat sie mein, der ich am meisten und häufigsten von ihr räumlich getrennt war, vergessen, an welchem Morgen und Abend nicht für mich gebetet? ... Aber was will ich hier sagen, was rühmen? Der große Gott im Himmel hat kein höheres Bild der Liebe geschaffen, als Mutterliebe, und meine Mutter war ohne Zweifel ein leuchtendes Beispiel dieser hohen Liebe. Vor Gott und allen seinen heiligen Engeln, jetzt und in der Stunde meines Abschieds, in meinem Namen und im Namen meiner lebenden und heimgegangenen Geschwister gebe ich meiner Mutter das Zeugnis| und besiegle es für die Wahrhaftigkeit eines Dieners Christi, daß die Liebe dieser Mutter eine unaussprechliche, eine nie versiegende Flamme gewesen ist – und noch ist.
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 „Noch ist“, sage ich. Denn sie ist nicht todt, sondern sie lebt. Der HErr ist ihr Gott, und der ist kein Gott der Todten, sondern der Lebendigen. Die Todesschmerzen meiner lieben Mutter waren so groß, daß sie mir zuweilen zur Anfechtung gedeihen wollten. Vor dem Auge der Sterbenden hieng das Bild des Dorngekrönten; wie oft richtete ich meine Blicke dorthin und sagte laut oder leise: „Ja, Du bist ein großer König, denn Du kannst es sehen, ja verfügen, wie Deine Heiligen alle Tage – denn meine Mutter ist nur eine von Millionen, die also leiden und litten – mit unaussprechlichem Schmerz zubereitet werden. Seit 1800 Jahren kannst Du das fügen und weichst von Deinem Wege nicht, wenn wir auch noch so schreien. Du bist ein Herz, das Alles das in einem Maße erfahren hat, von dem wir nichts verstehen oder begreifen: Du bist das mitleidigste Herz geworden durch Dein eigen Leiden. Was ist denn mein kindlich Mitleid? Und doch kannst Du das alles fügen, so fügen – und zusehen, zusehen, das Feuer sehen und schüren, wodurch Deine Heiligen geläutert werden. Was bist Du für ein Menschensohn und für ein großer König!“ So habe ich oft gesagt. Aber St. Johannes schreibt: „Selig sind die Todten, die im HErrn sterben“, und meine Mutter schreibt in ihrer Leichenanordnung: „Mein Leichentext ist: ,Selig sind die Todten, die im HErrn sterben‘. Und das ist ja gewislich wahr. Im HErrn sterben heißt nicht schmerzlos sterben, ohne Anfechtung, ungeprüft, schön, sanft und leise sterben: im Gegentheil, ein Sterben ohne Todeskampf ist ein gefährlich Ding: wo kein Kampf ist – wie leicht kann es kommen, daß da auch kein Sieg ist! Denn im Kampf ist der HErr mit den Seinen.| Da ist er in dem Schwachen mächtig, da löst er die Seele von Erdendingen und Unreinigkeiten, die ihr ankleben, von Fleck und Runzeln und macht sie auserwählt, und wenn er sie auserwählt gemacht und ihnen seinen süßen Jesusnamen im heißen Schmerz eingebrannt hat, dann kommt er und gibt ein selig Ende, einen seligen Anfang und unaufhörliche Herrlichkeit. Im HErrn leben, das heißt: im Glauben und Anrufung seines Namens, in seiner Lieb’ und Hoffnung, im Gebrauch seiner Gnadenmittel leben – und im HErrn sterben, ist gleicher Maßen zu nehmen, und wer darunter Nebensachen, sanftes Fühlen und dergleichen versteht, der verwechselt eben Wesen und Unwesentliches. Im HErrn sterben ist gewis nichts Anderes, als in der Anrufung des Jesu-Namens, im Glauben an die allerhöchste Majestät, in der Vergebung der Sünden, im Genüsse des Leibes und Blutes Christi sterben. So starb meine Mutter.

 Das Gebet wie die Anrufung verstummte nicht, so lange der Odem aus- und eingieng. Wie sie selbst sich ohne Zweifel zitternd und zagend vor den Pforten des HErrn bewegte und der Ruf: „Du Sohn David, erbarme Dich meiner“ in ihrem Herzen lebte; so wurde sie von den Ihrigen unter großem Geschrei und Thränen Gott geopfert. Als es sichtlich war, daß die Hand voll Ernst und ewigen Erbarmens an die Fügung des Leibes und der Seele rührte, um sie zu lösen, da begannen die Kinder und Enkel zu singen: O Lamm Gottes unschuldig etc. – und als das Leben indes fast hineilte, da fiengen wir an jene alten, unaussprechlich schönen Gebete der Einsegnung zu sprechen. Unter denselben gieng sie dahin: Selig sind die Todten, die im HErrn sterben! Amen.





  1. Es ist der inzwischen auch heimgegangene Prof. Rudolf v. Raumer.
  2. Wir wollen absichtlich von den Spukgeschichten, die man sich über das Dettelsauer Pfarrhaus erzählt, schweigen. Daß es eine Stätte gespenstischen Treibens war, ist ohne Zweifel. Es ließen sich da merkwürdige Geschichten erzählen, die jedoch besser der Oeffentlichkeit vorenthalten bleiben. Löhe meinte, Teufeleien dieser Art müsse man geringschätzig behandeln „als Todeszuckungen der alten Schlange, verächtliche Bewegungen des sterbenden Drachen, nicht werth, daß man ihretwillen auf seinem Lager den Kopf von einer Seite auf die andere lege“. Er kannte auch solchen Erscheinungen gegenüber kein Grauen. Schließlich wich auf sein ernstliches Gebet der Spuk aus dem Hause, und man hat nicht gehört, daß die Bewohner desselben späterhin irgend wie mehr belästigt wurden.
  3. Das Gebet, das er zu diesem Zwecke seinen Kindern aufsetzte, lautete: „Guter Heiland, ich danke Dir, daß Du meiner lieben Mutter und meiner Großmutter Deinen heiligen Geist gegeben und sie selig gemacht hast. Ich bitte Dich, Du wollest sie ewiglich trösten und erfreuen mit allen Engeln und Auserwählten und sie durch Deinen Geist an uns erinnern, daß sie vor Deinem Throne fleißig für uns beten. Gib auch mir, meinem Vater, Großvater, Großmutter, meinen beiden Brüdern, allen meinen Onkeln und Tanten, der ganzen Gemeinde Neuendettelsau und Deiner ganzen Kirche Deinen heiligen Geist, daß wir auch glauben und selig werden und zu Dir kommen, wo auch schon meine liebe Mutter ist. Gelobet seist Du ewiglich! Amen.“


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