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Wie soll man Geschichte schreiben?

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Textdaten
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Autor: Lukian von Samosata
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Titel: Wie soll man Geschichte schreiben?
Untertitel:
aus: Lucian’s Werke, übersetzt von August Friedrich Pauly, Sechstes Bändchen, Seite 635–684
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum: 2. Jahrhundert
Erscheinungsdatum: 1827
Verlag: J. B. Metzler
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Erscheinungsort: Stuttgart
Übersetzer: August Friedrich Pauly
Originaltitel: Πῶς δεῖ Ἱστορίαν συγγράφειν
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scan auf Commons
Kurzbeschreibung:
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[635]
Wie soll man Geschichte schreiben?

1. Die Abderiten, mein lieber Philo, wurden, wie man erzählt, unter der Regierung des Königs Lysimachus von einer ganz besondern Art von Krankheit befallen. Sie begann mit einem sehr heftigen und anhaltenden Fieber, das die ganze Einwohnerschaft auf Einmal ergriff: am siebenten Tage aber trat bei dem Einen ein starkes Nasenbluten, bei dem Andern ein sehr reichlicher Schweiß ein, worauf sich das Fieber verlor, dagegen in den Köpfen der guten Abderiten ein Uebel der lustigsten Art zurückließ. Jeden derselben kam nämlich die Narrheit an, Tragödie zu spielen: mag sprach in lauter Jamben, plärrte Solo’s hauptsächlich aus der Andromeda des Euripides, deklamirte[1] den berühmten Monolog des Perseus: kurz die ganze Stadt war voll blasser, abgemagerter Gesellen, die in jenen sieben Tagen zu Tragöden gediehen waren.

O Liebe! du, der Götter und der Sterblichen
Grausame Herrin,[2]

[636] und Aehnliches hörte man sie auf allen Straßen abschreien, und das so lange, bis endlich der Winter und eine eingetretene große Kälte dieser Tollheit ein Ende machte. Die Veranlassung zu dieser Erscheinung gab höchstwahrscheinlich der damals so berühmte tragische Schauspieler Archelaus. Als derselbe bei seiner Anwesenheit zu Abdéra mitten im Sommer an einem drückend heißen Tage ihnen die Andromeda gespielt hatte, brachte der größte Theil der Zuschauer das Fieber mit aus dem Theater nach Hause: und so wie sie sich von dieser Krankheit erholten, schweifte ihre ganze Seele nur in den Scenen des Trauerspiels umher, ihre Phantasie verweilte am liebsten bei den sie umgaukelnden Bildern der Andromache und des Perseus mit dem Medusenhaupte.

2. Wenn mir nun eine Vergleichung erlaubt ist, so möchte ich sagen, dieses Abderitenfieber habe auch in unsern Tagen gar viele unserer Schriftsteller ergriffen, nicht als ob sie auch tragödisirten – was immer noch eine leidlichere Art von Narrheit wäre; denn so wären sie nur von fremden Jamben, und von keinen schlechten, besessen – sondern, seit den großen Ereignissen unserer Zeit, seit den Kriegen mit den Barbaren, der großen Niederlage der Parther in Armenien, und den übrigen zahlreichen Triumphen unserer Waffen[3] ist Keiner, der nicht eine Geschichte schreiben wollte: in jeder derselben bekommen wir einen neuen Thucydides, einen neuen Herodot, einen neuen Xenophon. Und wie es scheint, [637] erwahrt sich auch hier der alte Satz [des Empedokles]: der Krieg ist der Vater aller Dinge. Denn diese ganze Schaar von Geschichtschreibern kam gleich mit dem ersten Waffenstreich zur Welt.

3. Indem ich nun so das Treiben derselben mit ansah und anhörte, fiel mir jenes Stückchen des alten Sinopensers dabei ein. Die Nachricht vom Anmarsche Philipps von Macedonien hatte zu Corinth Alles in ängstliche Bewegung und rührige Geschäftigkeit versetzt: der Eine suchte seine Waffen hervor, ein Anderer trug Steine herbei; Diese besserten die Stadtmauer aus, Jene befestigten die Zinnen: kurz Jeder arbeitete, wo er nützlich seyn zu können glaubte. Diogenes, der müßig zusah, weil ihm kein Mensch Etwas zu thun gab, schürzte endlich seinen Mantel auf, und fieng an, die Tonne, die ihm zur Wohnung diente, recht eifrig das Cranéum[4] auf und ab zu wälzen. „Was soll das? was machst du da?“ fragte ihn Einer seiner Bekannten. „Damit ich unter so vielen Geschäftigen nicht der einzige Müßiggänger sey, so setze ich mein Faß ein wenig in Bewegung,“ war seine Antwort.

4. So habe nun auch ich, um nicht allein den Stummen zu spielen in diesen unsern redseligen Tagen, und um nicht, wie ein Statist auf der Bühne dazustehen und Maulaffen feil zu haben, mich entschlossen, auch meines Orts eine Tonne zu wälzen, so gut ich’s vermag, das heißt, nicht etwa auch eine Geschichte zu schreiben und die Ereignisse unserer Zeit selbst zu erzählen; denn das hast du von deinem Freunde [638] nicht zu befürchten, der viel zu behutsam ist, und wohl weiß, welche Gefahr es für ihn hätte, wenn er sein thönernes, und nicht auf die Dauer gearbeitetes Fäßchen über jenen rauhen und felsichten Boden rollen wollte: das erste kleine Steinchen, an das es stieße, würde ihm Scherben genug aufzulesen geben. Laß dir also sagen, wozu ich mich entschloß, und wie auch ich, recht gefahrlos und ganz außerhalb Schußweite, an der allgemeinen kriegerischen Thätigkeit Theil nehmen werde.

Fern von dem Dampf und den Brandungen.[5] – –

und von den mannichfachen Sorgen, die mit der Geschichtschreibung verbunden sind, und mit welchen ich wohlweislich nichts zu schaffen haben will, werde ich nur eine kurze Erinnerung und einige gutgemeinte Rathschläge den Geschichtschreibern ertheilen, um wenigstens auf diese Art einigen Antheil an dem Bau ihrer Werke zu haben; wiewohl ich nicht hoffen darf, daß eine Inschrift an irgend einem derselben auch meines Namens erwähnen werde, da ich ja nur so Weniges beigetragen hatte.[6]

5. Einer Erinnerung oder Belehrung glauben zwar die Meisten bei diesem Geschäfte eben so wenig zu bedürfen, als einer besondern Anweisung zum Gehen, Essen und Trinken. Geschichte zu schreiben dünkt ihnen die leichteste Sache von der Welt, der sich Jeder unterziehen könne, wer nur nach einander zu erzählen wisse, was ihm Alles einfällt. Allein du weißt wohl selbst, mein Freund, wie dieses Geschäft so [639] leicht nicht ist, und sich keineswegs mit bequemer Sorglosigkeit betreiben läßt, sondern mit vieler Ueberlegung und Behutsamkeit behandelt seyn will, wie nicht leicht ein anderer Zweig schriftstellerischer Thätigkeit; wenn man anders ein Werk schaffen will, das, wie Thucydides sagt, ein Schatz für alle Zeiten seyn soll. Ich sehe nun zwar recht gut voraus, daß sich nicht eben Viele an meine Erinnerungen kehren werden, ja sogar daß ich Manchen und besonders denjenigen von ihnen sehr beschwerlich damit fallen werde, welche mit ihren Geschichtwerken bereits zu Stande sind, und dieselben der Welt schon vorgelegt haben. Wenn sie nun sogar den Beifall ihrer Leser einernteten, so wäre es um so thörichter, wenn ich mir Hoffnung machte, diese Glücklichen würden auch nur das Mindeste an Schriften ändern oder umarbeiten wollen, die sich nun schon in ein gewisses Ansehen gesetzt, und auf den Tischen der Großen ihren Platz eingenommen haben. Doch auch Diesen wird es nichts schaden, wenn sie sich einen guten Rath gesagt seyn lassen, und, wenn allen falls wieder ein Krieg, etwa zwischen den Deutschen und Geten, oder den Indiern und Bactriern, entstehen sollte (denn uns wird doch wohl Niemand mehr anzugreifen wagen, seitdem man die Barbaren alle zu Paaren getrieben), dieser unserer Regeln, falls sie sich triftig finden, sich bedienen wollten, um etwas Besseres zu machen. Wo nicht, so mögen sie immer bei ihrem alten Leisten bleiben: der Arzt wird sich nicht gewaltig darob grämen, wenn die Abderiten sich’s nicht nehmen lassen wollen, ihre Andromeda zu spielen.

6. Da das Geschäft eines Rathgebers ein doppeltes ist, indem er uns erstlich belehren soll, was wir zu vermeiden, [640] und zweitens, was wir zu beobachten haben, so will auch ich zuerst von den Fehlern, vor welchen der Geschichtschreiber sich hüten, und den Mängeln sprechen, von welchen er sich rein erhalten soll; sodann zeigen, was er zu beobachten hat, um immer auf dem richtigen und geraden Wege zu bleiben, womit er anfangen, wie er die Gegenstände ordnen, und jedem Theile das rechte Maß anweisen, was er mit Stillschweigen übergehen, was nur leicht berühren, wobei er verweilen, und endlich, welche Art der Darstellung er wählen und wie er für die Harmonie der ganzen Composition sorgen soll. Doch hievon später. Zunächst rede ich also von den Mängeln, welche schlechten Geschichtschreibern anzuhängen pflegen. Mich hier über Fehler zu verbreiten, welche mißlungenen Produkten redender Kunst aller Art gemein sind, ich meine Fehler gegen die Sprache, gegen die Einheit des Ganzen, gegen das richtige Denken und andere dergleichen Gebrechen, die den ungebildeten Schriftsteller verrathen, würde zu weit führen, und ist überhaupt nicht dieses Ortes: denn solche Mängel können sich, wie gesagt, in allen Arten schriftlicher Ausarbeitungen finden.

7. Wie mannichfach aber in der Geschichtschreibung gesündigt wird, wirst du, mein Freund, bei genauerer Aufmerksamkeit eben so leicht entdecken, als ich, der ich bei öffentlichen Vorlesungen solcher Werke, ihre Fehler zu bemerken, oft genug Gelegenheit hatte; zumal wenn du allen diesen Historikern ohne Ausnahme dein Ohr leihen wolltest. Indessen werden, denke ich, einige Beispiele dieser Art aus bereits vorhandenen Werken solchen Schlags nicht am unrechten Orte seyn.

[641] Betrachten wir nur gleich jene so gewöhnliche, aber sehr große Sünde dieser Autoren, daß sie größtentheils das Geschäft, die Ereignisse zu berichten, als Nebensache behandeln, und sich dagegen mit Lobeserhebungen der Fürsten und Feldherrn zu schaffen machen, wobei sie ihre Partei bis in den Himmel erheben, den Feind hingegen über alle Gebühr herabsetzen. Diese Leute scheinen gar nicht zu wissen, daß die Gränzlinie zwischen der Geschichte und der Lobrede nichts weniger als fein gezogen ist,[7] ja daß diese beiden Dinge, wie die Musiker sprechen, um zwei ganze Octaven aus einander liegen. Der Lobredner wird sich, wenn es ihm einzig und allein nur darum zu thun ist, seinen Helden um jeden Preis zu loben und sich ihm dadurch angenehm zu machen, wenig darum bekümmern, ob er auf Kosten der Wahrheit zu seinem Zwecke gelange. Allein die Geschichte verträgt auch nicht die mindeste Beimischung des Unwahren, so wenig als die Luftröhre (wie uns Aesculap’s Söhne versichern) im Stande ist, einen fremden Körper in sich aufzunehmen.

8. Ferner scheint ihnen unbekannt zu seyn, daß Zweck und Gesetze der Geschichtschreibung gar sehr verschieden sind von denen der Poesie. Diese hat unumschränkte Freiheit, und des Dichters Willkühr ist ihr einziges Gesetz: in seiner Begeisterung und von den Musen selbst inspirirt, muß es ihm erlaubt seyn, Flügelrosse vor einen Wagen zu spannen, und seine Helden und Genien bald auf Wasserwogen, bald [642] auf den Spitzen der Kornähren wandeln zu lassen: und wenn ihr Jupiter Himmel und Erde sammt allen Meeren an einer einzigen Kette emporzieht und schweben läßt, so fällt es keinem Menschen ein, zu besorgen, die Kette möchte reißen, und der ganze Plunder über einander stürzen und zu Trümmern gehen. Und wenn sie einen Agamemnon preisen wollen, so wird ihnen Niemand verbieten, ihm die Stirne und den Blick von Jupiter, die Brust von dessen Bruder Neptun, die Hüften von Mars zu geben, und so aus Stücken von allen Göttern den Sohn des Atreus und der Aërope zusammenzusetzen: denn ein Jupiter, Neptun oder Mars für sich allein ist ihnen nun einmal nicht hinlänglich, um für ein vollständiges Bild von der Herrlichkeit ihres Helden zu gelten. Was würde aber aus der Geschichte, wenn sie Lobhudeleien in diesem Geschmacke sich erlauben wollte, Anderes werden, als eine Art prosaischer Poesie, die, entblößt von der erhabenen Pracht der Form und den Reizen des Rhythmus, das Abentheuerliche ihrer Natur nur um so greller an den Tag legte? Es ist also ein großer, ein außerordentlich großer Fehler, wenn man das Gebiet der Geschichte von dem der Poesie nicht gehörig zu scheiden weiß, und den Putz der Letztern, ihre Mythen, ihre Lobreden, ihre Uebertreibungen, auch in die erstere einführen will. Man versuche es, und stecke einen breitschultrigen, stämmigen Kerl von Athleten in ein Purpurgewand, putze ihn mit dem Flitterstaat einer Hetäre heraus, und schminke sein Gesicht mit Roth und Weiß, – Herkules! welche lächerliche Figur würde er machen, wie häßlich würde er gerade durch jene Schönheitsmittel werden!

[643] 9. Doch will ich damit nicht sagen, daß es schlechthin verboten sey, in einem Geschichtwerke Lob zu ertheilen: nur muß es am rechten Orte und mit behutsamer Mäßigung geschehen, damit es für die Leser, die nach uns kommen werden, nicht widerlich sey. Denn die Rücksicht auf die Nachwelt muß uns zur durchgängigen Richtschnur dienen, wie ich bald hernach zeigen werde. Wenn nun aber Viele das, was die Geschichte bezweckt, eintheilen in das Angenehme und Nützliche, und diesemnach auch die Lobrede in die Geschichte aufnehmen zu müssen glauben, als Etwas, das einen angenehmen Eindruck auf den Leser zu machen geeignet sey, so fällt in die Augen, wie unrichtig die Ansicht dieser Leute ist. Für’s Erste ist schon diese Eintheilung selbst eine falsche. Denn der Zweck der Geschichte kann nur ein einziger, und zwar das Nützliche seyn, und dieses wird allein nur aus der Wahrheit gewonnen. Gesellt sich das Angenehme dazu, je nun so ist es desto besser, gleichwie man einen Athleten lieber sieht, wenn er auch zugleich schön ist; ist er es aber nicht, so kann er nichts desto weniger ein wahrer Hercules seyn: wie denn zum Beispiel der berühmte Nicostratus, Isidot’s Sohn, der garstigste Mann war, den man sehen konnte, und gleichwohl zwei Gegner, deren Einer sein Liebling, der schöne Alcäus von Milet war, nach einander überwältigte. Allerdings ist nicht zu zweifeln, daß die Geschichte, wenn sie auch das Angenehme in ihrem Gefolge führt, der Liebhaber noch viel mehrere an sich ziehen wird. Allein wenn sie nur das, was sie eigentlich seyn soll, in vollkommenem Grade ist, ich meine eine wahrhafte Berichterstatterin, so hat sie sich um das Reizende wenig zu bekümmern.

[644] 10. Zweitens ist es nicht einmal wahr, daß gänzlich erdichtete Dinge der Geschichte einen Reiz geben können; so wie die Lobrednerei den Zuhörer jedenfalls anwidern muß, vorausgesetzt, daß du dir unter deinen Zuhörern keine Menschen aus der Hefe des Volks, sondern Männer denkst, die mit der Strenge eines Richters, ja vielleicht mit dem geheimen Vorsatz, Fehler auszuspioniren, dein Werk mustern, und, als ob sie, wie Argus, am ganzen Leibe lauter Augen wären, auch nicht die kleinste Unlauterkeit ungerügt entwischen lassen, scharfsichtigen Geldwechslern gleich, die Stück für Stück genau besehen, Alles, was ein solches Gepräge trägt, sogleich auf die Seite werfen, und nur das Aechte und Probehaltige annehmen. Solche Richter müssen dir beim Abfassen eines Geschichtwerkes stets vor Augen stehen: alle Uebrigen, und wenn sie sich in Beifallsbezeugungen erschöpften, dürfen dich nicht kümmern. Wolltest du aber, ohne dich an jene strengen Beurtheiler zu kehren, deine Geschichte mit Mährchen, Lobeserhebungen, Schmeicheleien aller Art, aufstutzen, in der Meinung, ihr dadurch Reize zu geben, so darfst du nicht zweifeln, sie würde eine Figur machen, wie einst Hercules in Lydien. Du hast gewiß schon ein Gemälde gesehen, das ihn darstellt, wie er, in seltsamer Verkleidung, die Dienste einer Sclavin der Omphale verrichtet. Sie hat seine Löwenhaut um sich geworfen, und hält seine Keule in der Hand, als ob sie Hercules wäre. Er sitzt da in einem safrangelben, mit Purpur gezierten Weiberrock, krämpelt Wolle, und läßt sich von der Omphale mit dem Pantoffel um die Ohren schlagen: – ein schmählicher Anblick, wie das weiche Gewand so weit und lose um den kräftigen Körper [645] spielt, und wie die edle Mannheit des Gottes zur weibischen Fratze verunstaltet ist.

11. Möglich, daß der Pöbel gerade einer solchen entstellten Geschichte seinen vollen Beifall gäbe: allein jene Wenigen, über deren Urtheil du dich hinwegsetztest, werden bei dem Anblicke deines ungereimten und übel zusammenstimmenden Machwerkes eine herzliche Lache aufschlagen. Denn jede Sache hat ihr eigenthümliches Schöne: wenn du nun einer Sache das nimmst, was an ihr schön ist, und auf eine andere überträgst, so wird das Schöne, eben durch den falschen Gebrauch, unschön. Nicht zu gedenken, daß Lobrednereien höchstens dem Gelobten angenehm, jedem Andern, aber nur widerlich seyn können; zumal wenn sie so unnatürlich und übertrieben sind, wie die in den meisten der neuesten Geschichtwerke, deren Verfasser bloß nach der Gunst ihrer gefeierten Helden haschen, aber in diesem Bemühen so weit gehen, daß am Ende ihr Loben als die platteste Schmeichelei zu Tage liegt. Diese Leute verstehen die Kunst nicht, das Verbindliche für die, welchen sie gefallen wollen, aus eine gute Art zu verschleiern; sondern sie fallen recht plump mit der Thüre in’s Haus, streuen ihren Weihrauch recht dick, und erlauben sich dabei solche Unwahrscheinlichkeiten, solche handgreifliche Lügen,

12. daß sie eben dadurch ihre Absicht nicht einmal erreichen, sondern als elende Schmeichler sich denjenigen gehässig und verächtlich machen, denen ihre Lobeserhebungen galten; was um so weniger ausbleiben kann, wenn die Letztern Männer von ehrenhafter Denkart sind. So hatte Aristobul in seiner Geschichte Alexanders des Großen einen (erdichteten) [646] Zweikampf desselben mit dem Indischen Könige Porus ausführlich beschrieben, und in der Meinung, durch solche, zu der Geschichte seines Herrn hinzugelogene, Großthaten und ungebührliche Uebertreibungen sich demselben ungemein gefällig zu machen, las er ihm einst, als sie eben auf dem Hydaspes fuhren, absichtlich jene Stelle vor: da riß ihm der König das Buch aus der Hand, und warf es in den Strom mit den Worten: „du hättest verdient, daß man dich selbst hineinwürfe, zum Danke dafür, daß du mich solche Zweikämpfe bestehen und Elephanten mit Einem Pfeilschuß zu Boden strecken lässest.“ Einen Alexander mußte nothwendig ein solcher Schmeichler empören, ihn, den sogar der kühne Gedanke jenes Baumeisters, die hohe Felsmasse des Atho in eine Bildsäule des Königes umgestalten zu wollen, mit solchem Widerwillen erfüllte, daß er sich der Dienste dieses Menschen, den er nun als Schmeichler erkannt hatte, von Stunde an nicht mehr bediente.

13. Worin soll also, auch für den Gelobten, das Angenehme solcher Schmeicheleien bestehen? es müßte denn ein sehr schwacher Kopf seyn, der sich über Lobsprüche freuen könnte, deren Grundlosigkeit jeden Augenblick bewiesen werden kann. Häßliche Leute, Weiber besonders, tragen dem Maler recht angelegentlich auf, sie so schön als immer möglich zu malen, und bilden sich ein, reizender zu werden, wenn der gute Mann ihnen hier eine blühendere Farbe gebe, dort etwas mehr Weiß auftrage und dergleichen. In einem ähnlichen Wahne ist der größte Theil unserer Geschichtschreiber befangen: sie fröhnen gemeinen Rücksichten des Augenblicks und trachten nach Privatvortheilen, die sie aus ihrem Geschäfte [647] zu gewinnen hoffen. Sie verdienen Widerwillen und Verachtung als offenkundige und plumpe Schmeichler ihrer Zeitgenossen, während sie bei der Nachwelt durch ihre grobe Verletzung der Wahrheit die ganze Geschichte verdächtig machen. Ist man übrigens der Meinung, das Angenehme und Gefällige müsse durchaus mit der Geschichte gepaart seyn, so liegen ja in einer schönen Darstellung Reize genug, welche ihr unbeschadet der Wahrheit gegeben werden können.[8] Allein um solche Schönheiten kümmert sich jener Troß der Historiker nicht, und überladet dafür die Geschichte mit Dingen, die ihrem Wesen fremd sind.

14. Ich will nun einige Beispiele von Geschichtschreibern dieser Art anführen, welche sämmtlich den neuesten Krieg beschrieben haben, und die ich vor nicht gar langer Zeit in Ionien, und noch ganz kürzlich hier im Griechischen Mutterlande selbst mit angehört habe. Vor allen Dingen aber bitte ich euch um der Grazien willen, kein Mißtrauen in meine Erzählung zu setzen, deren Wahrheit ich sogar beschwören wollte, wenn es schicklich wäre, in einer Schrift einen förmlichen Eid abzulegen.

Einer dieser Historiker nun beginnt sein Werk mit Anrufung der Musen und mit der Bitte, ihm bei seiner vorhabenden Arbeit hülfreich an die Hand zu gehen. Schon dieser Anfang, siehst du, wie überaus fein und schicklich für diese Gattung von Composition, für ein geschichtliches [648] Werk![9] Weiterhin vergleicht er unsern Fürsten[10] mit Achilles, den Parthischen König mit Thersites, ohne zu bedenken, wie weit herrlicher sein Achilles erschienen wäre, wenn er einen Hektor statt des Thersites überwältigt hätte; so daß man mit Homer hätte sagen können:

Vornan floh ein Starker, jedoch ein Stärkerer jagt’ ihn.[11]

Hieraus nimmt der Autor Veranlassung, seiner eigenen Person einige Schönheiten zu sagen und zu versichern, wie er so ganz der Mann sey, so glänzende Thaten durch sein Geschichtwerk zu verewigen. Sodann geht er auf das Lob seiner Vaterstadt Milet über, indem er hinzusetzt, daß er es hierin besser mache als Homer, der seiner Heimath mit keinem Worte Erwähnung gethan. Am Schlusse seines Einganges spricht er endlich mit dürren Worten den Vorsatz aus, unsere Thaten auf alle Weise zu vergrößern, die Barbaren hingegen auch an seinem Orte, nach besten Kräften, in den Staub zu werfen. Demnach beginnt er denn gleich die eigentliche Geschichtserzählung, indem er die Veranlassung zu diesem Kriege angeben will, mit folgenden Worten: „Der verfluchte Vologesus, den alles Unheil heimsuchen möge, fieng den Krieg um folgender Ursache willen an – –“ und in diesem Tone geht’s fort.

[649] 15. Ein Anderer, ein eifriger Nachahmer des Thucydides, der dieses sein Muster in Allem ganz vortrefflich ausprägt, beginnt sein Werk, gerade wie jener, mit der Nennung seines Namens und seiner Heimath, Wunder meinend, welche Attische Grazie darin liege. Das giebt denn den possierlichsten Eingang, den man sich denken kann. Man höre: „Creperius Calpurnianus aus Pompejopolis hat den Krieg der Parther und Römer, wie sie gegen einander kämpften, beschrieben. Er begann sein Werk sogleich mit dem Ausbruche des Kampfes u. s. w.“ Nach einem solchen Anfange brauche ich dir nicht zu sagen, was z. B. der Armenische Gesandte für eine Rede gehalten hat; es ist von Wort zu Wort der Corcyräische Redner, den er auftreten läßt;[12] oder woher er die Pest nimmt, die er der Stadt Nisibis auf den Hals schickt, weil sie die Partei der Römer nicht ergriffen habe; er hat sie dem Thucydides wörtlich abgeborgt, nur daß er das Pelasgikum und die langen Mauern, wo die Verpesteten damals wohnten, weglassen mußte.[13] Im übrigen läßt er seine Pest ebenfalls, wie Thucydides, aus Aethiopien kommen, und führt sie über Aegypten in die Länder des Parthischen Königs, wo sie, zum gutem Glücke, stehen bleibt. Ich lief aus der Vorlesung, wie er eben mit dem Begräbniß der armen – Athener zu Nisibis beschäftigt war; indem ich genau wissen konnte, was noch weiter kommen würde. Eine gegenwärtig sehr allgemeine Einbildung solcher Leute ist die, daß sie glauben, das heiße wie Thucydides [650] schreiben, wenn sie sich, oft nur mit geringen Veränderungen, seiner eigenen Worte und besonders ihm sehr geläufiger kleiner Redensarten recht fleißig bedienen, als z. B. „du wirst mir selbst zugeben“ – oder „nicht aus derselben Ursache“ – „bei’m Jupiter“ – „beinahe hätte ich vergessen zu sagen“ – und dergleichen mehr. Eben dieser Historiker hat die Sitte, die verschiedenen Gattungen von Waffen, Maschinen und andere Kriegsgegenstände mit Römischen Namen zu benennen, und also fossa statt τάφρος (Graben), pons statt γέφυρα (Brücke), und dergl. zu schreiben. Nun stelle dir vor, wie gut sich das mit der Würde des geschichtlichen Vortrags verträgt, wie wohl es insbesondere dem (alterthümlichen) Thucydides ansteht, wenn lateinische Wörter in seine Attische Sprache eingeflickt werden? Oder meinte der Mann etwa, diese Italienischen Brocken werden sich ausnehmen wie Purpurverzierung auf einem Gewande, und, als eine recht passende Zuthat, zur Hebung des Ganzen dienen?

16. Wieder ein Anderer trug eine bloße Chronik der Begebenheiten zusammen: sein Ausdruck ist so platt, hält sich so sehr am Boden, daß man das ganze Werk für ein Tagebuch halten möchte, das sich etwa ein Soldat, ein Feldzimmermann, oder ein Marketender vom Troß der Armee nach und nach aufgesetzt hatte. Indessen mag die Arbeit dieses Laien in der historischen Kunst noch hingehen, da sie sich sogleich für das giebt, was sie ist, und einem Mann von Bildung und Geschmack, der Geschichte zu schreiben versteht, immer als brauchbare Vorarbeit gelten kann. Nur das tadle ich, daß der Mann seinem Werke und jedem einzelnen Buche desselben eine für den Rang des Produktes zu hochtrabende [651] Ueberschrift gab: „Des Callimorphus, Feldarztes bei den Hastaten der sechsten Legion, Parthischer Geschichte erstes, zweites, drittes Buch“ u. s. w. Auch kann ich nicht bergen, daß mir kalt und warm ward, als ich die Vorrede las, wo er seine Behauptung, daß Geschichte zu schreiben vorzüglich den Aerzten zustehe, damit beweisen will, daß Aesculap der Sohn des Apollo, Apollo aber der Vorsteher der Musen und der Patron aller Gelehrsamkeit sey! Vorn herein schreibt er im Ionischen Dialekte,[14] verfällt aber, man weiß nicht warum, auf einmal in die gewöhnliche Mundart, so daß er, einige einzelne Ionismen[15] ausgenommen, im Uebrigen die gemeinsten Alltagsausdrücke, wie man sie auf der Straße hört, gebraucht.

17. Soll ich hier auch noch eines gewissen Hochweisen erwähnen – sein Name möge verschwiegen bleiben – und einige Worte von dem Geiste seines unlängst zu Corinth erschienenen, alle Erwartung übertreffenden, Werkes sagen? Gleich vorn, in der ersten Periode seiner Vorrede, geht er dem Leser mit einer syllogistischen Frage zu Leibe und bemüht sich auf eine außerordentlich tiefsinnige Weise darzuthun, daß es nur dem Philosophen zukomme, Geschichte zu schreiben. Nach wenigen Zeilen folgt ein zweiter Syllogismus, diesem ein dritter: kurz die ganze Vorrede besteht in fragweise gefaßten Schlußfolgerungen aller Gattung. Dabei [652] ist die Schmeichelei bis zum Ekel getrieben, und die Art, zu loben, so plump, wie sie nur der gemeinste Speichellecker sich erlauben würde: und sogar diese Stellen sind in Schlußform und in syllogistische Fragen gekleidet. Besonders aber war mir widerlich, was er, seiner Philosophenwürde und seinem langen grauen Barte zur Unehre, in eben dieser Vorrede sagte: dieß werde unser Fürst vor andern Regenten voraus haben, daß sogar Philosophen seine Thaten einer Beschreibung würdigten. So etwas, auch wenn es Grund hätte,[16] mußte er nicht selbst sagen, sondern uns zu denken überlassen.

18. Auch glaube ich hier jenen Historiker nicht übergehen zu dürfen, der sein Buch so anhebt: „Ich komme, zu reden von den Römern und Persern,“ und weiterhin: „denn es mußte so seyn, daß es den Persern übel ergieng,“ wie auch: „das war Osroës, der von den Griechen Oxyroës genannt ist,“[17] und vieles andere Dergleichen; woraus dir klar wird, daß, wie Jener dem Thucydides, so Dieser dem Herodot – auf ein Haar gleicht.

19. Noch ein anderer, wegen seiner Wohlredenheit sehr gefeierter, Schriftsteller, der gleichfalls ein ausgemachter Thucydides, wo nicht mehr ist, beschreibt auf’s anschaulichste alle Städte, alle Berge, Ebenen und Flüsse, stößt hie und da einen kräftigen Fluch über die Feinde aus, und ist bei allem Dem – so frostig, wie nur immer der Schnee der Kaspischen [653] Berge und das Eis Germaniens seyn konnte. Um uns den Schild des Kaisers zu beschreiben, reicht ihm kaum ein ganzes Buch zu: da ist zu sehen auf der Wölbung desselben ein Gorgonenhaupt mit Augen, deren Farbe ein Gemisch von Blau, Weiß und Schwarz ist; um den Rand des Schildes ein Gürtel von allen Regenbogenfarben, und Schlangen in lockenartigen Windungen geringelt um das Haupt der Medusa. Ferner die Hosen des Vologesus, der Zaum seines Pferdes: Herkules! wie viele tausend Worte braucht er für jedes dieser Dinge! Und nun vollends, wie das Haupthaar des Osroës aussah, als er durch den Tigris schwamm, und wie er sich in eine wunderbare Grotte flüchtete, über welche dicht verwachsene Ranken von Epheu, Myrten und Lorbeer ein Schattendach bildeten – lauter Schilderungen, wie du siehst, die zur Geschichte unentbehrlich sind, und ohne welche wir gar nicht wissen könnten, was denn eigentlich vorgieng!

20. Doch nein – aus Unvermögen, ihrer Geschichte Nutzen und Werth zu geben, und zu beschränkt, um zu wissen, was sie ausheben sollen und was nicht, verfallen sie auf dergleichen Gemälde von Höhlen und Landschaften. Kommt ihnen ein reichhaltiger, großartiger Stoff in die Hände, so geht es ihnen wie einem Sclaven, der so eben durch Beerbung seines Herrn plötzlich reich geworden ist: er weiß nicht, wie er seinen Mantel umnehmen, noch wie er es angehen soll, um mit Anstand zu speisen; und, während das leckerste Wildpret aller Art auf seiner Tafel steht, fällt er über eine Schüssel voll Linsenbrey und Pökelfleisch her, und frißt, bis er bersten möchte. – Derselbe Schriftsteller, von welchem ich so eben sprach, weiß auch von ganz unglaublichen Verwundungen [654] und seltsamen Todesarten zu erzählen. Einer ward an der großen Zehe getroffen und gab auf der Stelle den Geist auf. Der Legate Priskus schrie einsmals etwas stark, und sieben und zwanzig Feinde stürzten todt zur Erde. Sogar die Zahlen der Gefallenen erlaubt er sich falsch anzugeben, ungeachtet die amtlichen Berichte der Feldherrn ihn widerlegen: so seyen in der Schlacht bei Europus von feindlicher Seite gefallen dreimal hundert siebenzig tausend zweihundert und sechs Mann, während die Römer zwei Todte und neun Verwundete gehabt hätten! Das ist nun doch wohl mehr, als ein gesunder Leser sich gefallen lassen kann.

21. Noch muß ich bemerken, was eben nicht unerheblich ist, daß eben dieser Autor in dem ängstlichen Bestreben, das reinste Attisch zu schreiben, sich hat einfallen lassen, sogar die Römischen Eigennamen in’s Griechische umzuformen, so daß er statt Saturninus Kronios, statt Fronto Phrontis, statt Titianus Titanios schreibt, anderer noch viel lächerlicherer Beispiele dieser Art nicht zu gedenken. Derselbe versichert uns, da er von dem Tode des Severianus spricht, daß alle Geschichtschreiber, die ihn durch’s Schwerdt umkommen lassen, falsch berichtet seyen: der Mann habe sich zu Tode gehungert, weil ihm diese Todesart die schmerzloseste geschienen habe. Unser Historiker weiß also nicht, daß Severianus [von der verlornen Schlacht an bis zu seinem Tode] im Ganzen nur, wenn mir recht ist, drei Tage in der Klemme war, daß hingegen der Mensch wenigstens sieben Tage ohne Nahrung ausdauern kann: man müßte denn nur annehmen, Osroës hätte vor ihm gestanden und gewartet, bis Severianus [655] verhungert seyn würde, und deswegen bis zum siebenten Tage keinen Angriff gemacht.[18]

22. Was sollen wir aber von denen sagen, mein lieber Philo, welche sich dichterischer Ausdrücke und Redensarten in ihrer Geschichte bedienen, wie z. B. „es erdröhnte die Maschine – und dumpf krachte der Mauer gewaltiger Einsturz.“ Und an einer andern Stelle desselben vortrefflichen Werkes: „So war Edessa von Waffengetümmel rings umtost, allenthalben Geklirr, allenthalben Gerassel“ – wiederum: „der Feldherr aber rathschlagte unschlüssiges Herzens, wie er der Stadtmauer beikommen sollte.“ Mitten unter solchen Phrasen finden sich hinwieder die plattesten, gemeinsten – ich möchte sagen – bettelhaftesten Ausdrücke, als: „der Lagermeister schickte dem Herrn [Kaiser] einen Brief“ – ein andermal: „die Soldaten handelten, was sie brauchten, ein, badeten sich und machten sich dann darüber her.“[19] Kurz, der Mann kommt mir vor wie ein Schauspieler, der mit einem Fuße auf dem hohen tragischen Cothurne steht, und den andern noch in dem Pantoffel stecken hat.

23. Wieder Andere bekommt man zu Gesichte, die ihren Werken glänzende, hochtrabende und übermäßig lange Einleitungen voranschicken, so daß man in gespannter Erwartung ist, welch große Wunderdinge man zu hören kriegen werde: allein die eigentliche Geschichte kommt hinterher als [656] ein schmächtiges, dürftiges Körperchen, das aussieht, wie Amor auf dem bekannten Gemälde, wo er sich zum Zeitvertreib die ungeheure Larve eines Herkules oder Titanen auf den Kopf gesetzt hat. Was Wunder, wenn die Zuhörer dem Autor das bekannte Sprüchlein zurufen: „Es kreißt ein Berg –?“[20] Denn es muß doch, sollte ich denken, Ebenmaß und Einheit in den Verhältnissen, so wie im Tone des Ganzen seyn; der übrige Körper muß mit dem Haupte harmoniren, sonst entsteht das lächerliche Bild eines Kriegers, dessen Helm aus Gold gearbeitet, der Brustpanzer aus allen möglichen Lumpen oder alten Lederflecken zusammengeflickt, der Schild aus Flechtwerk, und die Beinschienen aus Schweinshaut geschustert sind.

So wie es nun solche Schriftsteller zur Genüge giebt, die einem zwerghaften Körperchen den Kopf des rhodischen Colosses aufsetzen, so fehlt es hinwieder auch nicht an solchen, welche Körper ohne Kopf zu Tage fördern, das heißt, ohne allen Eingang sogleich auf die Sache selbst los gehen. Diese meinen es mit Xenophon zu halten, weil er [seine Anabasis] mit den Worten anfängt: „dem Darius waren von der Parysatis zwei Söhne geboren worden.“ Wirklich beginnen auf ähnliche Weise noch mehrere der alten Geschichtwerke. Allein die guten Leute wissen nicht, daß es eine Art von Einleitungen giebt, die der große Haufe freilich nicht dafür ansieht, und die nichts destoweniger ihrer Wirkung [657] nach wahrhafte Einleitungen sind, wie ich weiter unten zeigen werde.

24. Jedoch, so weit die Fehler nur in der Art der Darstellung und in der übrigen Einrichtung der Composition liegen, mag man sie hingehen lassen. Wenn man aber ganz falsche Angaben liest, wenn zum Beispiel Oerter und Schauplätze der Begebenheiten, nicht etwa um etliche Parasangen,[21] sondern um ganze Tagereisen fehlerhaft angesetzt sind, – wie soll man solche Verstöße entschuldigen? Ein Gewisser schrieb seine Geschichte so nachläßig zusammen, daß er nicht einmal den nächsten besten Syrer befragt, noch auch nur in einer Badestube über jene Begebenheiten kannegießern gehört zu haben scheint, wenn er von der Stadt Europus sagen konnte: „Europus liegt in Mesopotamien, zwei Tagreisen vom Euphrat, und ist eine Colonie von Edessa.“[22] Und damit nicht genug: der Ehrenmann läßt sich in demselben Buche sogar beigehen, meine Vaterstadt Samosata mit sammt ihrer Burg und ihren Festungswerken von ihrer Stelle zu nehmen und nach Mesopotamien zwischen den Euphrat und Tigris zu versetzen, wo nun beide Ströme so nahe an ihr vorbeifließen, daß um ein Kleines ihre Ringmauer von den Wellen derselben bespült würde. Es wäre doch lustig, lieber Philo, wenn ich erst noch weitläuftig darthun müßte, daß ich nicht zu den Parthern oder Mesopotamiern gehöre, unter welche mich zu verpflanzen der wunderliche Mann sich einfallen ließ.

[658] 25. Um so glaubwürdiger, bei’m Jupiter, ist dagegen die Erzählung von dem Lebensende des oben genannten Severianus, welche eben dieser Geschichtschreiber von einem Augenzeugen, der sich mit der Flucht gerettet, vernommen zu haben, eidlich betheuert. Dieser Feldherr habe sich, meldet er, weder erstechen, noch vergiften, noch erhängen wollen, sondern eine ganz neue, hochtragische Todesart sich ausgesonnen. Zufällig hätte er einige sehr große Pocale vom schönsten Glase bei sich gehabt. Da nun der Entschluß, sich den Tod zu geben, fest bei ihm gestanden, hätte er den größten dieser Pocale zerbrochen, und sich mit einer Glasscherbe die Kehle abgeschnitten! – Daß doch der Mann nicht einmal eines Dolches oder eines Spießes habhaft werden konnte, um wenigstens eines ehrlichen Soldaten-Todes zu sterben!

26. Weil nun Thucydides den ersten Gebliebenen im Peloponnesischen Kriege eine Leichenrede [von Perikles] gehalten werden läßt,[23] so meint unser Autor, seinem Severianus ein Gleiches angedeihen lassen zu müssen. Denn es ist ein beständiges Ringen dieser Leute mit dem guten Thucydides, der doch an allen jenen fatalen Auftritten in Armenien so unschuldig ist! Unser Mann begräbt also den Severianus mit allem möglichen Pompe, pflanzt sodann einen gewissen Hauptmann Afranius Silo auf den Grabhügel, und läßt diesen würdigen Nebenbuhler des großen Perikles so rührend und so gewaltig peroriren, daß ich – die Grazien wissen es! – gar viele Thränen vergoß – vor Lachen; besonders [659] als der Leichenredner am Schlusse seines Sermons weinend, und unter den schmerzlichsten Seufzern, der vielen köstlichen Mahlzeiten und frohen Trinkgelage gedachte, die ihnen der Verstorbene zum Besten gegeben. Zuletzt krönt der Held diesen Auftritt mit einer Katastrophe, ähnlich der des sophokleischen Ajax. Er zieht sein Schwerdt ganz mit dem edeln Heroismus, der von einem Afranius zu erwarten ist, und giebt sich damit auf dem Grabe selbst, im Angesichte Aller, den Todesstoß: – was freilich, so wahr mir Euyalius [Mars] gnädig sey, besser gewesen wäre, wenn er es früher gethan hätte, ehe er einen so herzbrechenden Vortrag hielt. Uebrigens fügt der Geschichtschreiber hinzu, alle anwesenden Zuschauer wären von Staunen ergriffen worden, und hätten den großen Afranius bis in den Himmel erhoben. Ich hingegen, so sehr mir schon seine ganze Rede mißfallen, worin er nahe daran war, einzelne Brühen und Braten nahmhaft zu machen, und bei’m Andenken an jene vortrefflichen Kuchen in Thränen ausbrach, mache ihm doch hauptsächlich das zum Vorwurf, daß er nicht vor seinem eigenen Ende noch den saubern Historiker und Dichter dieser Tragödie abgethan hatte.

27. Ich könnte dir noch eine ganz lange Reihe von Autoren dieses Schlags aufzählen, mein lieber Philo: weil aber der zweite Theil meines obigen Versprechens noch zu erfüllen übrig ist, so will ich nur noch einiger Weniger derselben kurze Erwähnung thun, und dann zu meinen Vorschlägen übergehen, wie man es anzugreifen habe, um besser, als es von Jenen geschehen ist, Geschichte zu schreiben. – Es giebt Historiker, die aus Unbekanntschaft mit den Regeln ihrer [660] Kunst, aus Geschmacklosigkeit und aus Unkunde dessen, was gesagt und nicht gesagt werden soll, gerade die wichtigsten und denkwürdigsten Begebenheiten entweder ganz verschweigen, oder doch nur im Vorbeigehen berühren, hingegen bei den unbedeutendsten Kleinigkeiten verweilen und auf ihre Darstellung die beharrlichste Sorgfalt verwenden: gerade, wie wenn Einer die großen und mannigfaltigen Schönheiten der Jupiterstatue zu Olympia nicht betrachtete und bewunderte, noch auch solchen Leuten, die sie nicht gesehen, davon zu erzählen wüßte, dagegen die außerordentlich feine Politur an dem Fußschemel derselben und die passenden Verhältnisse des Piedestals mit Staunen beschaute, und sodann mit angelegentlicher Sorgfalt und Ausführlichkeit schilderte.

28. So habe ich einen Historiker gehört, der die Schlacht bei Europus mit nicht vollen sieben Zeilen abfertigte, von den allerunerheblichsten Dingen hingegen eine frostige Beschreibung machte, während welcher die Wasseruhr wohl zwanzigmal ablief: wie z. B. einmal ein Maurischer Reiter, Namens Mausakas, von Durst gequält auf einem Gebirge umherirrte und unvermuthet auf ein Paar Syrischer Bauern traf, die ihn mit einem Frühstück bewirtheten, und wie diese Leute ihn Anfangs gefürchtet, bald aber, da sie die Entdeckung gemacht, daß er ein guter Freund sey, ihn willkommen geheißen hätten; denn der Zufall hätte gewollt, daß Einer derselben, dessen Bruder in Mauretanien Kriegsdienste that, einst selbst eine Reise dorthin gemacht hätte. Und nun geht es an ein Erzählen und endloses Beschreiben von Jagden, bei denen er in Mauretanien gewesen, von Elephanten, die er einst in großer Zahl zusammen weiden gesehen, und wie er [661] einst in großer Gefahr gewesen, von einem Löwen gefressen zu werden, und welche außerordentlich große Fische er in Cäsaréa [der Hauptstadt Mauretaniens] gekauft habe. Das Blutbad bei Europus, und welche Angriffe dort gemacht und abgeschlagen, wie die beiderseitigen Vorposten gestellt, wie am Ende ein Waffenstillstand nöthig befunden und geschlossen wurde – alles Das kümmert diesen Wundermann von Geschichtschreiber gar wenig; er bleibt bis zum späten Abend bei seinem Syrischen Bauer Malchio in Cäsarea stehen, und sieht ihm zu, wie er um ein Spottgeld herrliche Meerbrassen einkauft; und wenn die Nacht ihm nicht über den Hals gekommen wäre, so hätte er sie ihm ohne Zweifel auch verzehren helfen, da die Fische doch wohl inzwischen fertig gemacht seyn konnten. Wären nun solche Scenen nicht mit aller Treue und Genauigkeit in die Geschichte aufgenommen, über wie vieles Wichtige blieben wir ununterrichtet! welchen unheilbaren Schaden hätten die Römer erlitten, wenn der Maure Mausakas für seinen durstigen Gaumen nichts zu trinken gefunden, und ungegessen wieder ins Lager hätte zurückziehen müssen! Und gleichwohl übergehe ich hier absichtlich manche andere noch viel wichtigere Dinge, wie z. B. auch eine Flötenspielerin aus dem nächsten Dorfe zu jenem Frühstück gekommen, und wie sie sich bei’m Abschiede einander beschenkt haben, wo denn Malchio von dem Mauren eine Lanze, und Mausakas von dem Erstern eine Mantelspange zum Andenken erhielt – und was dergleichen wesentliche Nachrichten über die Schlacht bei Europus mehr sind. Thut man diesen Leuten Unrecht, mein Freund, wenn man sagt, daß sie über der aufmerksamen Betrachtung der Dornen an [662] dem Stiele einer Rose, die Blume selbst nicht gewahr werden?

29. Nicht minder lächerlich macht sich ein anderer Historienschreiber, der nie einen Fuß aus Corinth gesetzt hat, und nicht einmal bis Cenchreä[24] gekommen, geschweige je Syriens oder Armeniens ansichtig geworden ist, und gleichwohl – wie ich mich noch genau erinnere, so anhebt: „den Ohren ist minder, denn den Augen zu trauen.[25] Darum erzähle ich nur, was ich selbst gesehen, nicht was ich gehört habe.“ Wie genau nun dieser Mann Alles gesehen, ergiebt sich gleich daraus, daß er erzählt, die Drachen der Parther (eine Art Feldzeichen bei diesem Volke: tausend Mann gehören, wenn ich nicht irre, zu einer solchen Drachen-Standarte) seyen lebende Schlangen von ungeheurer Größe, die in Persien, etwas über Iberien hinaus, einheimisch wären. Wenn es nun ins Treffen gienge, so trügen die Parther anfangs diese Schlangen an große Stangen gebunden, so daß sie in der Höhe schweben und schon von weitem dem Feinde Schrecken einjagen: wenn nun beide Theile sich nahe genug wären, um den Kampf selbst zu beginnen, bänden sie ihre Schlangen los und schleuderten sie unter die Feinde. Auf diese Art wären schon Viele unserer Landsleute von ihnen aufgefressen, oder, da sich die Schlangen ihnen um den Leib ringelten, erwürgt und zerquetscht worden. Er selbst, unser Gewährsmann, habe Das ganz aus der Nähe mit angesehen, während er übrigens auf dem hohen Baume, den er sich zum [663] Beobachtungspunkt gewählt, nicht das Mindeste zu befahren hatte. Und das war sehr wohlgethan, daß er den Bestien sich nicht selbst aussetzte; denn wie leicht wären wir jetzt um einen vortrefflichen Geschichtschreiber und um einen Helden ärmer, der in diesem Kriege so viele glänzende Großthaten eigenhändig verrichtete! Denn der Mann ist ohnedieß schon oft genug in Gefahr gewesen: er wurde bedeutend verwundet bei Sura [am Euphrat] – das heißt doch wohl, als er einmal aus dem Cranéum nach Lerna[26] spazierte? – Solche Dinge las er in Gegenwart von Corinthiern vor, die doch recht gut wissen mußten, daß er noch keinen, auch nur an die Wand gemalten, Krieg gesehen hatte! Ja, er hat nicht einmal einen rechten Begriff von Waffen und Kriegsmaschinen, so wenig als von Anordnung der Heerhaufen und ihrer Aufstellung. Denn er macht sich nichts daraus,[27] eine quere Schlachtordnung zu nennen, was Schlachtordnung in Colonnen ist, und umgekehrt, in Colonnen marschiren, wenn die Truppen in Fronte anrücken.

30. Ein anderer, ganz allerliebster Autor hat alle Ereignisse in Armenien, Syrien, Mesopotamien, am Tigris und in Medien von Anfang bis zu Ende, auf nicht volle fünfzig Zeilen gebracht, und das nennt er nun eine Geschichte geschrieben haben. Es fehlte nicht viel, so wäre der Titel länger gerathen als das ganze Buch; er lautet nämlich: „des Antiochianus, Siegers in den heiligen Kampfspielen des Apollo (er hatte, wenn ich nicht irre, als Knabe irgendwo [664] einen Preis im Dolichus[28] gewonnen) Erzählung aller, von den Römern in Armenien, Mesopotamien und Medien in neuesten Zeiten verrichteten Thaten.“

31. Ja ich habe Einen gehört, der sogar schon beschrieben hatte, was erst noch geschehen sollte, die Gefangennehmung des Vologesus, das blutige Ende des Osroës, der einem Löwen vorgeworfen wird, und zur Krönung des Ganzen, worauf wir uns Alle so sehnsüchtig freuten, einen prächtigen Triumph. In dieser prophetischen Begeisterung eilt der Autor dem Schlusse seines Werkes entgegen, nachdem er noch zuvor in Mesopotamien eine Stadt erbaut, die „an Größe, Alles was groß, an Schönheit, Alles was schön ist,“ übertreffen sollte. Nur ist er mit sich noch nicht darüber einig, ob sie den Namen Nicäa (Siegesstadt) oder Concordia oder Irenia (Friedensstadt) erhalten wird. Es bleibt also vor der Hand unausgemacht, wie wir diese herrliche Stadt nennen sollen, die er übrigens mit den wunderlichsten Gebilden seines kranken Gehirnes einstweilen bevölkert hat. Auch versprach er uns eine Geschichte alles Dessen, was einst in Indien gethan werden würde, und eine Beschreibung der ganzen Küste des Indischen Oceans: und in der That, er hat es nicht bei dem bloßen Versprechen bewenden lassen, sondern bereits den Eingang zu der Indischen Geschichte fertig geliefert. Schon sind die dritte Legion nebst Gallischen Hülfsvölkern und eine Abtheilung Mauretanischer Reuterei unter Anführung des Cassius über den Indus gegangen. Was sie [665] nun dort ausrichten, wie sie den Sturm der wider sie anrennenden Elephanten empfangen werden, davon wird uns dieser Wundermann mit Nächstem aus Muzuris oder aus dem Oxydraker-Land[29] Bericht erstatten.

32. Auf solche Albernheiten verfallen diese Leute aus Mangel an wahrer Bildung. Das eigentlich Sehenswürdige sehen sie entweder gar nicht, oder wenn sie es auch gewahr werden, so wissen sie es nicht gehörig darzustellen, und erdichten dafür nach Belieben Dinge, wie sie ihnen nur eben in den Kopf kommen. Dabei setzen sie etwas Besonderes darein, ihre Werke in viele Bücher zu theilen und ihnen vornehme Titel zu geben, die dann freilich oft lustig genug sind. So schrieb ein Gewisser Parthischer Siege so und so viel Bücher: ein Anderer (vermuthlich der Atthis des Philochorus zu Gefallen) der Parthis erstes, zweites Buch. Ein Dritter wollte es noch ausgesuchter machen, und so lesen wir des Demetrius aus Sagalassus Parthonicika.

Alles dieses nun sagte ich nicht, um so vortreffliche Werke lächerlich und zur Zielscheibe meines Spottes zu machen, sondern weil ich in der That etwas Nützliches dabei beabsichtigte. Denn wer nur diese und ähnliche Fehler vermeidet, hat wirklich schon einen großen Schritt zum Gutschreiben gethan: ja es wird ihm gar wenig mehr dazu fehlen, wenn anders der logische Satz wahr ist, daß man von zwei Dingen, [666] zwischen welchen es kein Drittes giebt, nur das Eine aufzuheben braucht, um das Andere zu setzen.

33. „Nun gut,“ höre ich dich sagen, „du hast jetzt deinen Boden aufgeräumt, und von allen den Dornen und Disteln, die aus ihm wucherten, ihn gesäubert, allen Schutt weggeschafft, den Platz geebnet: wohlan so baue auch Du etwas auf, wodurch du uns überzeugest, daß du nicht blos ein Held im Einreißen, sondern im Stande seyst, auch selbst etwas Tüchtiges zu schaffen, woran sogar Momus Nichts zu tadeln finde.“

34. Wohl, ich beginne. So behaupte ich denn: wer ein guter Geschichtschreiber werden will, muß dazu zwei Haupterfordernisse schon von Hause mitbringen, richtiges Urtheil in allen politischen Dingen, und Darstellungsgabe. Das Erstere ist ein natürliches Talent und kann nicht durch Unterricht gewonnen werden. Die Letztere hat man sich durch Uebung, anhaltendes Studium, und Nachahmung der alten Muster anzueignen. Für Beides giebt es also keine Kunstregeln, und so bedarf es hier auch meines Rathes nicht. Denn dieses mein Büchlein macht sich nicht anheischig, Beurtheilungskraft und Scharfsinn Demjenigen beizubringen, welcher von Natur dergleichen nicht erhalten hat: wiewohl, es wäre viel, ja Alles in der Welt darum zu geben, wenn sich auf diese Art die Natur selbst umschaffen, und Gold aus Blei, Silber aus Zinn, oder aus dem schmächtigen Conon ein Titormus, aus einem leichten Leotrophides ein Milo machen ließe.[30]

[667] 35. „Allein was bezwecken nun deine Kunstregeln und deine Rathschläge?“ Nicht, die erforderlichen Eigenschaften dir zu geben, sondern, wenn du sie schon hast, ihren rechten Gebrauch zu zeigen. Athletenmeister wie Iccus, Herodikus, Theon, würden es wohl nicht auf sich nehmen, aus einem Schwächling wie Perdiccas[31] einen Kämpfer zu machen, der dem Theagenes aus Thasus oder dem Polydamas aus Scotussa zu Olympia die Krone entriße: wohl aber würden sie eine für die Gymnastik empfänglich geschaffene, kräftige Natur, wenn sie in ihre Schule gegeben würde, mit Hülfe der Kunst in hohem Grade vervollkommnen. Ferne sey also auch von mir die Anmaßung, Kunstregeln gefunden haben zu wollen, nach denen das große und schwierige Geschäft eines Geschichtschreibers sich von Jedwedem betreiben lasse. Was ich verspreche, ist nicht, den Nächsten Besten zu einem Historiker zu bilden, sondern, einem von Natur mit gesundem Urtheil begabten Kopfe, der sich auch in der Kunst der Darstellung mit bestem Erfolge geübt hat, einige zweckmäßige Vorschriften – wenn sie sich wirklich als solche erweisen sollten – mitzutheilen, mit deren Hülfe er vielleicht [668] sicherer und leichter, als ohne dieselben, zu seinem Ziele gelangen dürfte.

36. Denn man wird nicht läugnen wollen, daß auch der Talentvolle in Dingen, worin er noch keine Erfahrung hat, einer gewissen methodischen Anweisung bedarf: sonst wäre ja Jeder im Stande, auch ohne vorhergehenden Unterricht, die Cither zu spielen, die Flöte zu blasen, kurz Alles zu machen, was er wollte, während doch die Erfahrung lehrt, daß Keiner zu recht kommt, dem man nicht gewisse Handgriffe gezeigt hat; daß hingegen, wer Unterricht erhält, ohne Mühe lernt und in kurzer Zeit sich selbst zu helfen weiß.

37. Man übergebe also auch mir einen Schüler, der mit den natürlichen Talenten des gesunden Urtheils und des Darstellungsvermögens einen scharfen und richtigen Blick verbände, der Brauchbarkeit zu öffentlichen Geschäften, militärischen Geist, und bei der Klugheit eines Staatsmannes die Einsicht des Feldherrn besäße: einen Mann, der selbst schon in Feldlagern gewesen, mehrmals schon die Uebungen und Stellungen der Truppen beobachtet, und sich Kenntnisse aller Waffengattungen und Kriegsmaschinen verschafft hätte, der also wüßte, was colonnenweise, und was in Fronte aufmarschiren heißt, welcher Gebrauch vom Fußvolk, welcher von der Reiterei zu machen ist, was man bei letzterer einen Schoc, was Ueberflügeln nennt. Mit Einem Worte, man gebe mir keinen Stubenmenschen, der Alles glauben muß, was er erzählen hört.

38. Vor allen Dingen aber sey er ein Mann von freisinniger Denkungsart, der keinen Menschen fürchtet und von keinem etwas hofft: widrigenfalls er einem schlechten Richter [669] gliche, der, um Lohn gedungen, nach Gunst oder Ungunst entscheidet. Es darf ihn nicht anrühren, daß Philipp bei Olynth durch Aster, einen Bogenschützen aus Amphipolis, um ein Auge kam; noch darf ihn, wenn er offen und ehrlich Geschichte schreiben will, des Alexanders heftige Reue[32] bestechen, die er nach jener an Clitus über der Tafel verübten rohen und blutigen That an den Tag legte. Eben so wenig soll ihn die Allgewalt, mit welcher ein Cleon[33] auf der Rednerbühne die Volksversammlung beherrscht, einschüchtern, diesen Menschen als den unheilvollen Wütherich darzustellen, der er war. Und die Ungnade der ganzen Stadt Athen darf ihn nicht abhalten, wenn er die Unfälle in Sicilien zu erzählen hat, der Gefangenschaft des Demosthenes zu erwähnen, und zu sagen, was Nicias für einen Tod fand, und wie die Athener ihren Durst an einem Flusse stillen wollten, aber in demselben Augenblicke vom Feinde überfallen und größtentheils erschlagen wurden.[34] Denn er darf mit allem Grunde überzeugt seyn, daß kein Vernünftiger es ihm zum Vorwurf machen wird, wenn er Unglücksfälle oder unanständige Unternehmungen nach ihrem wahren Verlauf erzählt: er soll ja nicht der Erfinder, sondern nur der Berichterstatter seyn. Werden denn seine Landsleute zur See geschlagen, je nun, so ist ja er es nicht, der ihre Schiffe in den Grund bohrt; suchen sie ihr Heil in der Flucht, so ist ja er es nicht, der sie jagt. Er hat nichts für sie, als seine guten Wünsche, und [670] nur wenn er ihnen diese versagt, kann er sich an ihnen versündigen. Wäre es mit dem Verschweigen gethan, und ließen sich begangene Fehler oder Unfälle dadurch wieder gut machen, daß man das Gegentheil erzählte, so hätte Thucydides mit wenigen Federstrichen die Festungsweste von Epipolä einreißen, die Trireme des Hermocrates versenken, und den verwünschten Gylippus, wie er eben alle Zugänge [zur Stadt Syracus] verrammelte und durch Gräben abschnitt, zu Boden strecken, die Syracusaner sammt und sonders in die Steinbrüche sperren und am Ende machen können, daß die reizenden Hoffnungen, die Alcibiades gleich anfangs den Athenern vorgemalt, in Erfüllung gegangen und ihre Flotte rings an Siciliens und Italiens Küsten triumphirend erschienen wäre. Allein ich denke, was geschehen, ist geschehen, und selbst Clotho kann nimmermehr den Faden des Verhängnisses aufdrehen.

39. Der Geschichtschreiber hat nur das einzige Geschäft, das Geschehene, und wie es geschehen, zu berichten. Diesem wird er aber nicht Genüge zu leisten vermögen, so lange er [wie Ctesias] Leibarzt eines Artaxerxes ist, dessen Ungnade er fürchten muß, von dem er sich aber für die Lobeserhebungen, die er in seine Geschichte verwebt, ein Persisches Purpurgewand, eine goldene Kette und ein edles Nisäisches Reitpferd versprechen darf. So macht es weder Thucydides, noch [sein Nachfolger)] der gleichfalls unparteiische Geschichtschreiber Xenophon. Auch im Fall ein Solcher gegen Diesen oder Jenen einen persönlichen Widerwillen hegt, so ist ihm doch die Rücksicht auf das Allgemeine ungleich wichtiger, und die Wahrheit schlägt er unendlich höher an, als seine Privatfeindschaft. [671] Eben so wenig wird ihn die Zuneigung zu einem Manne verleiten, seine Fehler zu verschweigen. Dieß ist – ich wiederhole es – das alleinige Gesetz der Geschichte: wer zum Historiker sich anschicken will, darf allein nur der Wahrheit huldigen, alles Andere muß ihm gleichgültig seyn. Es giebt für ihn nur Eine, aber untrügliche Richtschnur, nämlich die stäte Rücksicht, nicht auf seine jetzigen, sondern auf diejenigen Leser, welche sich in kommenden Zeiten mit seinem Buche beschäftigen werden.

40. Wer nur der Mitwelt gefallen will, wird mit Recht unter die Schmeichler gerechnet: ein Geschlecht, das der Muse der Geschichte von jeher nicht minder zuwider gewesen, als Toilettenkünste der Gymnastik.

Man erzählt folgende merkwürdige Aeußerung Alexander’s, die er einst gegen [seinen Geschichtschreiber] Onesikritus gethan haben soll: „Ich möchte wohl nach meinem Tode auf einige Augenblicke wieder in’s Leben zurückkehren, um zu erfahren, was die Menschen dann sagen werden, wann sie deine Geschichte lesen. Denn über die freundliche Aufnahme und den Beifall, den dein Werk jetzt findet, darfst du dich nicht wundern: Jeder hält es, wenn er dich lobt, für das wirksamste Mittel, meine Gnade anzuködern.“ Wenn es Leute giebt, die dem Homer, dessen Erzählungen von Achilles doch größtentheils in’s Fabelhafte spielen, zu glauben geneigt sind, so wissen sie keinen andern Beweisgrund für seine Wahrhaftigkeit anzuführen, als den, daß er ja nicht zu seines Helden Lebzeiten geschrieben, so daß also nicht abzusehen sey, warum er hätte lügen sollen.

[672] 41. Der Geschichtschreiber sey also ein unbestechlicher, freisinniger, offener Wahrheitsfreund, ohne Menschenfurcht, der sich nicht schämt, Alles beim rechten Namen zu nennen,[35] der weder dem Haß, noch der Zuneigung auch nur das Mindeste über sich einräumt, und eben so wenig aus Schonung und Mitleid, als aus Schaam oder Ehrerbietung irgend Etwas verschweigt; er sey ein billiger, Allen gleich wohlwollender Richter, ohne dem einen oder dem andern Theile mehr, als ihm gebührt, zuzuerkennen: er zeige sich in seinem Buche als keiner besondern Heimath angehörig, als keines Staates Bürger, als keines Herrn Unterthan, sondern als einen unabhängigen Mann, der berichtet, was sich zugetragen, ohne in Anschlag zu bringen, was etwa Dieser oder Jener dazu sagen dürfte.

42. Sehr richtig macht somit Thucydides die Wahrheit zum Grundgesetz der Geschichte, und beurtheilt darnach das Verdienst oder die Verwerflichkeit eines Geschichtschreibers. Und obwohl er sah, wie Herodot die Bewunderung seiner Zeitgenossen in solchem Grade für sich gewann, daß seinen Büchern sogar die Namen der Musen beigelegt wurden, so wollte er doch, wie er selbst sagt, lieber ein Besitzthum für alle Zeiten, als ein Prunkstück für die Gegenwart schaffen;[36] kein Freund des Mährchenhaften, wollte er blos einen treuen Bericht des Geschehenen den kommenden Geschlechtern überliefern. Sein Zweck, setzt er an derselben [673] Stelle hinzu, sey blos das Nützliche gewesen (was, denke ich, jeder Verständige zum Zwecke der Geschichte zu machen hat), damit die Nachkommen, wenn einst einmal Aehnliches sich ereigne, aus der Betrachtung des Vergangenen lernen möchten, wie sie die Gegenwart zu behandeln hätten.

43. Ein Geschichtschreiber von solcher Gesinnung ist es nun, den ich willkommen heiße. – An das Geschäft der Darstellung gehe er mit leidenschaftloser Ruhe, so daß seine Sprache ferne sey von dem Aufgeregten und Heftigen rhetorischer Deklamationen, so wie von gedehnten und ineinander geschlungenen Satzverbindungen, verwickelten und verkünstelten Beweisführungen und allen jenen, nur in den Rednerschulen einheimischen Kunststücken.[37] Die Gedanken seyen angemessen, bündig und gedrängt: der Ausdruck lichtvoll, aus dem Kreise des öffentlichen Lebens genommen, und geeignet, den vorliegenden Gegenstand so klar als möglich zu bezeichnen.

44. Denn wie wir an den Charakter des Geschichtschreibers die Forderung stellten, wahrheitsliebend und aufrichtig zu seyn, so ist, hinsichtlich des Ausdrucks, seine einzige und wichtigste Aufgabe die, das Geschehene so deutlich und anschaulich als möglich darzustellen, und sich eben so wenig ungeläufiger und außer Gebrauch gekommener, als solcher Wörter zu bedienen, die man nur auf dem Markte und in den Schenken kennt, kurz, eine Sprache zu sprechen, die der gemeine Mann versteht und die dem Gebildeten gefällt. Immerhin darf seine Darstellung auch mit rednerischen Schönheiten geschmückt seyn, nur sey es mit solchen, die sich durch [674] ungekünstelte Natürlichkeit empfehlen: andere würden den Vortrag verderben, wie schlechtes Gewürz eine Brühe.

45. Bisweilen wird die geschichtliche Muse sogar als eine Verwandte der Dichtkunst erscheinen, in so weit auch sie eines erhabenen Schwunges fähig ist, zumal wenn sie Schlachtordnungen, Gefechte und Seetreffen darzustellen hat. Denn alsdann muß ein poetischer Geist gleich einem günstigen Winde in ihre Segel blasen, und ihr Fahrzeug hoch über die Wogen hinwegtragen. Der Ausdruck aber muß gleichwohl zu Lande nebenher gehen, und wiewohl er von der Schönheit und Größe der Gedanken mit emporgehoben werden, und ihnen, so viel möglich, sich gleich halten muß, so darf er doch nichts der Natur (historischer Darstellung) Fremdartiges annehmen, noch in eine unzeitige Begeisterung gerathen. Denn in diesem Falle liefe er die größte Gefahr, sich ganz aus seiner Bahn zu verirren, und von dem Schwindel poetischer Schwärmerei fortgerissen zu werden. Wie der Koller ein schlimmes Uebel an einem Pferde, so ist brausende Heftigkeit kein geringeres an dem geschichtlichen Vortrage: daher gilt es hier, wenn irgend anderswo, mit besonnener Mäßigung dem Zaume zu gehorchen. Das Beste ist, wenn in solchen Fällen, wo die Phantasie gehoben, gleichsam zu Pferde, dahereilt, der Ausdruck zu Fuß nebenherläuft, allein, um nicht von dem raschen Ungestüm der erstern im Stiche gelassen zu werden, den Zügel nicht aus den Händen läßt.[38]

[675] 46. In Hinsicht der Verbindung und Stellung der Worte ist eine weise Mitte zu halten: sie dürfen weder ohne alle Rücksicht auf Silbenfall und vereinzelt nacheinander, wie sich’s eben trifft, noch auch so zusammengestellt werden, daß, wie jetzt von so Vielen geschieht, ein fast dichterischer Rhythmus entsteht: denn das Letztere ist in dieser Gattung durchaus verwerflich, das Erstere macht den Ausdruck holpricht und unangenehm für die Zuhörer.

47. Die Gegenstände selbst aber soll der Geschichtschreiber nicht auf’s Gerathewohl zusammentragen, sondern erst nach vorhergegangener sorgfältiger, bisweilen selbst mühsamer und wiederholter Prüfung zur Darstellung ausheben. Hauptsächlich, aber berichte er uns das, wovon er als Augenzeuge sprechen kann: und kann er es nicht, so höre er wenigstens blos auf die Zeugnisse derer, von denen er voraussetzen kann, daß sie als unbestechliche Wahrheitsfreunde weder von Gunst, noch von Ungunst sich bestimmen lassen werden, irgend eine Thatsache zu verkleinern oder zu vergrößern. Und hier wird vornehmlich das Talent erfordert, mit Sicherheit zu urtheilen, und durch richtige Combinationen das Wahrscheinlichste auszumitteln.

48. Und wenn er dann seinen Stoff ganz oder größtentheils beisammen hat, so fange er damit an, denselben in einem vorläufigen Entwurf zusammenzuordnen, so daß das Ganze vorerst als ein roher, noch ungegliederter, reizloser Körper vorhanden sey. Jetzt erst lege er die ausbildende Hand an, gebe dem Ganzen, wie jedem einzelnen Theile, seine Schönheit und Vollendung, und schmücke sein Werk [676] mit den Reizen des Ebenmaßes und den blühenden Farben der Darstellung.

49. In seinem ganzen Geschäfte soll der Geschichtschreiber dem Homerischen Jupiter gleiten, der (mit ruhigem Blicke) bald auf die rossetummelnden Thracier, bald auf die Bewohner Mysiens herabschaut;[39] ebenso hat er bald die Römer besonders in’s Auge zu fassen, und uns zu belehren, wie ihm von seinem hohen Standpunkte aus ihre Lage, ihre Angelegenheiten erscheinen, bald hat er ein Gleiches mit den Parthern zu thun, sodann Beide zugleich zu betrachten, wenn sie mit einander im Kampfe begriffen sind. Alsdann, wann ihre Reihen wirklich einander gegenüber stehen, soll er nicht blos Eine Seite, oder gar nur einen einzelnen Reiter oder Fußsoldaten im Auge haben: es müßte denn ein Brasidas seyn, der eine Schanze zu stürmen wagte, und ein Demosthenes, der ihn zurücktriebe.[40] Sein erstes Augenmerk sey auf die Befehlshaber gerichtet: er bemerke sich genau ihre Anordnungen, so wie die Art und Weise, den Zweck und die Absicht derselben. Und wenn dann das eigentliche Handgemenge beginnt, so sey er ein unbefangener, auf alle Theile zugleich aufmerksamer Beobachter, wäge Alles, was vorgeht, auf gleicher Wage, und folge mit gleich ruhigem Blicke den Fliehenden und den Nachfolgenden.

50. In allen solchen Beschreibungen aber wisse er kluges Maß zu halten, dehne sie nicht bis zum Ueberdruß aus, und ermüde den Leser nicht durch geschmacklose Breite und [677] kindischen Wortschwall. Mit Leichtigkeit verlasse er einen Gegenstand und gehe auf einen andern über, der seine Gegenwart erfordert, und kehre, wenn ihn der erstere ruft, mit eben so vieler Ungezwungenheit wieder zu jenem zurück. Er bemühe sich, mit den Begebenheiten so viel als möglich gleichzeitig an den gleichen Punkten zu seyn, und stiege von Armenien nach Medien, und von da in einem Nu nach Iberien, von da wieder nach Italien, um hinter keinem Ereignisse zurückzubleiben.

51. Hauptsächlich aber sey der Charakter eines Historikers einem hellen, ungetrübten und getreuen Spiegel ähnlich, der alle Gestalten so, wie er sie aufnimmt, genau wieder giebt, ohne die Umrisse im mindesten zu verzerren oder ihre Farben zu verändern. Denn er schreibt nicht, wie in den Schulen der Rhetoren (über erdichtete Gegenstände): sondern was er berichten soll, sind bereits vorliegende Acten, er hat sie blos zu ordnen und darzustellen. Also kann für ihn nicht die Frage seyn, was, sondern wie er berichten soll. Ueberhaupt muß man sich vorstellen, der Geschichtschreiber sey ein Künstler, wie etwa ein Phidias oder Alcamenes oder irgend ein Anderer dieser Art: Diese machten den Stoff, in welchem sie arbeiteten, das Gold, Silber oder Elfenbein, nicht selbst, sondern fanden ihn schon zu ihrem Gebrauche bereit liegen, indem er ihnen von den Eleern, Athenern oder Argivern geliefert ward: sie formten blos den Stoff, sägten das Elfenbein, und glätteten es, fügten die Stücke zusammen, machten ein harmonisches Ganze daraus, und trugen goldene Verzierungen auf. Ihre ganze Kunst bestand also darin, mit dem Stoffe gehörig umzugehen. Von ähnlicher [678] Art ist auch das Geschäft des Geschichtschreibers: er hat blos das Geschehene in einem schönen, möglichst lebendigen Gemälde darzustellen; und wenn er dieß gethan hat, wenn dem Leser ist, als sähe er das Erzählte vor seinen Augen sich zutragen, und er sofort (unwillkührlich) dem Werke seinen Beifall spendet, dann, und nur dann ist seine Geschichte eine vollendete, und das allgemeine Lob, das sie erntet, wird dem Werke eines historischen Phidias angemessen seyn.

52. Bisweilen läßt sich eine so passende Anordnung des Ganzen treffen, daß die Ausführung sogleich, ohne besondern Eingang, begonnen werden kann; es sey denn, daß die Natur des Stoffes es schlechthin erfordert, den Leser in einer förmlichen Einleitung vorzubereiten. Oft aber thut eine bloße klare Angabe des Darzustellenden schon die volle Wirkung eines eigentlichen Vorberichtes.

53. Will aber der Historiker wirklich eine Einleitung vorausschicken, so hat er dabei nur von zwei Rücksichten auszugehen, und nicht von dreien, wie die Redekünstler in ihren Eingängen zu thun pflegen. Denn während Diese gleich Anfangs auch um das Wohlwollen ihrer Zuhörer sich bewerben, wird der Geschichtschreiber (dieses Buhlen verschmähend) blos dafür sorgen, wie er erstlich das Interesse der Leser für seinen Stoff rege mache, und zweitens, wie er sie auf einen richtigen Standpunkt stelle. Das Erstere wird ihm gelingen, wenn er darzuthun weiß, daß er von wichtigen und zu wissen nöthigen, oder unser Vaterland betreffenden, oder überhaupt nützlichen Gegenständen sprechen werde: das Zweite, nämlich die Leser (zu richtiger Auffassung und Beurtheilung [679] des Darzustellenden) auf den gehörigen Standpunkt stellen und das Gemälde, das er ihnen zeigen will, in ein helles Licht setzen, wird er dadurch, wenn er die Veranlassung zu den Begebenheiten im Allgemeinen, und klare Umrisse der Hauptmomente derselben vorangehen läßt.

54. Solcher Eingänge haben sich die vorzüglichsten unserer Geschichtschreiber bedient. Herodot giebt als den Zweck seiner Geschichte an, zu verhindern, daß das Andenken an große und wunderwürdige Thaten, zumal an Griechische Triumphe, und an Niederlagen der Barbaren, nicht im Laufe der Zeiten erlösche. Thucydides hingegen versichert, er hätte sein Werk sogleich mit dem Ausbruche des Kampfes begonnen, in der Erwartung, er werde groß und denkwürdiger als alle frühern werden; denn der Wechselfälle des Glücks hätten sich in demselben viele und außerordentliche begeben.

55. An diese Einleitung, welche nach Maßgabe der Sachen kürzer oder länger seyn kann, schließe sich nun die eigentliche Geschichterzählung durch einen passenden und ungezwungenen Uebergang an. Und da der ganze übrige Körper eines Geschichtwerkes in einer fortlaufenden Darstellung besteht, so muß auch diese mit allen den Vorzügen geschmückt seyn, die ihr gegeben werden können. Sie schreite in stets gleichmäßiger Bewegung auf ebenem und aufgeräumten Wege vorwärts, ohne sich bald zu heben, bald wieder herabzusenken. Das Ganze trage die gefällige Farbe lichtvoller Klarheit, welche, wie gesagt, nur durch eine geschickte Anordnung und Verbindung der Gegenstände bewirkt wird. Jede einzelne Partie sey mit möglichster Sorgfalt ausgearbeitet, und wenn die erste vollendet ist, so knüpfe sich an sie [680] die folgende in einem so lebendigen Zusammenhange, daß alle Theile der Geschichte, wie die Glieder einer Kette, in einander greifen, und die Geschichte ein ununterbrochenes Ganze bilde, das nicht aus einer Anzahl vereinzelt neben einander stehender Erzählungen, sondern aus Darstellungen bestehe, von welchen das Ende der vorhergehenden innig mit dem Anfange der nachfolgenden verwachsen sey.

56. Eine bündige Kürze ist in allen Fällen zweckmäßig, besonders aber, wenn ein sehr reichlicher Stoff vorhanden ist. Diese Kürze aber muß nicht sowohl im Ausdrucke, als in den Sachen selbst liegen. Ich meine nämlich, man soll das Unbedeutendere und minder Wesentliche nur im Vorbeigehen berühren, ja Manches ganz übergehen, und nur das Wichtige befriedigend ausführen. Wenn du deinen Freunden ein Gastmahl giebst, und deine Tafel mit den ausgesuchtesten Schüsseln aller Art, seltenen Vögeln und Fischen, dem besten Wildpret und dergl. versehen ist, wirst du diese stehen lassen, und ihnen gemeinen Pickling mit Bohnenbrei anbieten?

57. Am meisten nüchterne Besonnenheit wird erfordert, wenn Gegenden, Gebirge, befestigte Plätze, Flüsse zu beschreiben sind, um sich nicht den Vorwurf zuzuziehen, als wolle man seine Stärke in solchen Schilderungen zur Unzeit an den Tag legen, und nicht die Sache der Geschichte, sondern seine eigene betreiben. Solche Gegenstände hat man nur, so weit es der Deutlichkeit wegen erforderlich ist, zu berühren, und sodann (ungesäumt auf das Wesentlichere) überzugehen, ohne sich durch das Verführerische, das solche Malereien für den Schriftsteller haben, zu einem längern Verweilen bei denselben verlocken zu lassen. Siehe, wie es hierin der großartige [681] Homer machte. Bei aller dichterischen Freiheit, die er hatte, hält er sich (in des Ulysses Wanderung nach der Unterwelt) gleichwohl nicht mit Beschreibung des Tantalus, Ixion, Tityus und Aehnlicher auf: hätte hingegen ein Parthenius, Euphorion oder Callimachus jenes Abentheuer des Ulysses darzustellen gehabt, wie viele Verse meinst du wohl, würden sie sich’s haben kosten lassen, um das Wasser allmählig bis an des Tantalus Lippen zu bringen, und wie viele andere, um den Ixion ein paarmal auf seinem Rade zu trillen? Oder noch besser: betrachte den Thucydides, wie sparsam macht er von dieser Gattung der Darstellung Gebrauch, wie sorgfältig enthält er sich alles Weiteren, sobald er z. B. eine kriegerische Vorrichtung, oder den Plan einer Belagerung, die Befestigungen von Epipolä oder den Hafen von Syracus, nur so weit es zur Sache dienlich und nöthig ist, beschrieben hat! Wenn er uns jene Pest ausführlich schildert, so könnte zwar seine Beschreibung auf den ersten Anblick weitläufig erscheinen: bedenken wir aber die Wichtigkeit dieses Gegenstandes, so sehen wir gerade daran, wie rasch der Gang seiner Erzählung ist, indem er von der Fülle des Stoffes, während er sich ihm entziehen wollte, wider Willen sich ergriffen und aufgehalten fühlte.

58. Kommt der Geschichtschreiber in den Fall, öffentliche Reden halten lassen zu müssen, so sey er darauf bedacht, daß dieselben sowohl den redenden Personen, als den jedesmaligen Umständen angemessen seyen. Und auch hierin, wie in allem Uebrigen, herrsche die möglichste Klarheit. Uebrigens ist es in diesem Falle dem Schriftsteller gestattet, die [682] ganze Stärke seines rednerischen Talentes in das Licht zu stellen.

59. Lob und Tadel müssen mit vieler Mäßigung und Vorsicht, (letzterer) nie in verläumderischer Absicht, (beide) mit wenigen Worten und an der rechten Stelle ausgesprochen und jedenfalls mit Beweisen belegt werden: jedes andere Loben oder Tadeln würde sich schlecht für den Richterstuhl der Geschichte schicken; und was das Letztere betrifft, so müßte man sich dieselben Vorwürfe gefallen lassen, welche dem Theopomp gemacht wurden, weil er in seiner Geschichte eine gehässige Neigung zeigt, von den Meisten der handelnden Personen Nachtheiliges zu sagen, und sich ein eigentliches Geschäft daraus gemacht zu haben scheint, zu lästern, statt die Thatsachen zu berichten.

60. Trifft sich’s, daß etwas Mährchenhaftes zu erzählen ist, so hat der Historiker es zwar zu melden, soll sich aber gänzlich enthalten, dessen Wahrheit verbürgen zu wollen, sondern den Lesern überlassen, davon zu halten, was ihnen gut dünkt. Er selbst spielt das Sicherste, wenn er sich weder für, noch wider die Sache erklärt.

61. Ueberhaupt – ich wiederhole es abermals – vergiß nie, daß du nicht blos in der Absicht, von deinen Zeitgenossen gelobt und geehrt zu werden, sondern mit stetem Hinblick auf alle kommenden Geschlechter schreiben sollst; von diesen erwarte den Lohn für dein Werk, daß man einst von dir sage: das war nun doch ein Mann von freier Seele, und fern von allem kriechenden Sklavensinn, ein Mann, der sich nicht scheute, in allen Stücken die Wahrheit ohne Rückhalt zu sagen. Ein solches Zeugniß wird jeder Edeldenkende [683] hoch über alle die Vortheile stellen, welche er sich von der Gegenwart versprechen könnte, und die ja nur von so kurzer Dauer sind.

62. Du weißt doch wohl, was jener Cnidische Baumeister that, welcher den Leuchtthurm auf Pharus, eines der größten und herrlichsten Werke der Welt, gebaut hatte, um von demselben den Schiffern weit in die See hinein Feuersignale geben zu können und zu verhindern, daß sie nicht in die sehr gefährlichen Scheren von Parätonium gerathen, aus welchen sonst, wie man sagt, keine Rettung seyn würde. Wie er mit diesem Werke zu Stande war, so grub er seinen Namen in die steinerne Mauer dieses Thurmes, übertünchte sodann dieselbe sammt der Schrift mit Kalk, und schrieb auf diesen den Namen des damaligen Königs (Ptolemäus des Zweiten), indem er wohl voraussah, daß, was auch wirklich geschah, in Kurzem die Tünche mit den Schriftzügen herabfallen und alsdann die Worte zu Tage kommen würden: Sostratus, Dexiphanes Sohn aus Cnidus, den rettenden Göttern zum Besten der Seefahrer. So hatte also dieser Mann nicht auf seine Gegenwart und die kurze Zeit seines eigenen Lebens, sondern auf die jetzige und alle künftigen Zeiten gerechnet, so lange der Leuchtthurm von Pharus und in ihm der Zeuge seiner Kunst bestehen wird.

63. Ebenso soll nun auch Geschichte geschrieben werden, mit Wahrheitsliebe in Hoffnung auf die Zukunft, nicht aber mit Schmeichelei um des Genusses willen, von Zeitgenossen sich loben zu hören. – Dieß, mein Freund, gelte dir für Regel und Richtschnur einer ächten Geschichte. Wollte sich [684] einer oder der andere Historiker nach derselben richten, desto besser! so hätte meine Schrift gewirkt, was sie sollte: wo nicht – so habe ich doch wenigstens auch eine Tonne gewälzt.



  1. Nach dem Texte (ἐν μέλει) genauer etwa: „trug im Recitativ – vor“: s. Genelli das Theater zu Athen S. 132.
  2. Bruchstück aus der Andromache.
  3. Man denke an die glücklichen Kämpfe der Römer mit den Markomannen und Parthern unter Mark-Aurels Regierung.
  4. S. Todtengespr. I.
  5. Hom. Odyss. XII, 219.
  6. Im Original sprüchwörtlich: „da ich den Mörtel nur mit den Fingerspitzen berührt hatte.“
  7. Im Original: „daß es nicht ein schmaler Isthmus ist, der die Geschichte von der Lobrede trennt, sondern daß sich eine gewaltige Mauer zwischen beiden befindet.“
  8. Der Text ist verdorben. Ich vermuthe: – Τῇ ἰτορία. ἄλλα γε σὺν ἀληθεία τερπνά ἐτιν –.
  9. Wenn Dichter am Eingange ihrer Werke die Musen anriefen, so erwarteten sie von ihnen die Eingebung der Gegenstände, des Inhalts ihrer Dichtungen: vergl. Hom. Odyss. I, 1. Il. II, 485. Virgil. Aen. I, 12.
  10. Ohne Zweifel den L. Verus.
  11. Il. XXII, 158.
  12. Thucyd. I, 32.
  13. Ebend. II, 47–54. Vergl. ebend. 17.
  14. Vermuthlich, weil der große Hippokrates sich dieser Mundart bedient hatte.
  15. Im Original: er sagt zwar ἰητρείην, πείρην, ὁκὀσα, νοῦσον und dergl.
  16. Die Rede ist von dem unwürdigen L. Verus, der seine Lorbeeren lediglich seinen Legaten, einem Cassius und Priscus, verdankte.
  17. Das Anstößige bestand hierin für den Griechischen Leser in der Nachäfferei Herodot’scher Spracheigenthümlichkeiten.
  18. Severianus wurde nach einem unglücklichen Angriff auf die Parther bei Elegia in Armenien, mit dem ganzen Heere eingeschlossen und aufgerieben. Xipsilin, aus Dio Cass. B. LXXI.
  19. αὐτά statt αὐτούς mit Wieland nach Grävius.
  20. Bekannt ist Horazens: „Siehe, es kreiset ein Berg und gebiert – ein possirliches Mäuschen.“ Dichtk. v. 139.
  21. Die armenische Parasange ist gleich einer Reisestunde, die Persische ist etwas größer.
  22. Das hier, ohne Zweifel, gemeinte Europus lag dicht am Euphrat auf Syrischer Seite.
  23. Thucyd. II, 34. ff.
  24. Ein, zwei Stunden von der Stadt entlegenes Hafenstädtchen der Corinthier, am Saronischen Meerbusen.
  25. Aus Herodot I, 8.
  26. Eine schattige Promenade mit einer Quelle bei Corinth.
  27. Πάνυ γ᾿ οὐκ nach Lange’s Vermuthung.
  28. Nach der neuern Turnsprache etwa: im Dauerlauf. Der Dolichus war eine Bahn (wahrscheinlich) von zwölf Stadien, oder einer halben Stunde.
  29. S. Todtengesp. XIV, 5. – Muzuris, eine berühmte alte Handelsstadt, ohne Zweifel das heutige Mirdschao auf Malabar.
  30. Von dem Kuhhirten Titormus erzählt Aelian Verm. Erz. XII, 22. einige Proben außerordentlicher Leibesstärke, die [667] sogar dem berühmten Athleten Milo von Croton den Ausruf abnöthigten: „O Jupiter, hast du uns denn einen zweiten Herkules herabgeschickt?“ Des Leotrophides erwähnt der Schol. zu Arist. Vögeln 1406. Conon ist nicht weiter bekannt.
  31. Hier ist der, nur als fremdes Einschiebsel einigermaßen erklärliche, Zwischensatz εἰ δή – ἐκείνης ausgelassen worden.
  32. Nach Fritzsche’s Vorschlag μήτε εἰ ᾿Αλεξ.
  33. S. Timon. 30.
  34. Das Nähere der hier und im Folgenden erwähnten Begebenheiten erzählt Thucydides VII, 82 ff. und 43. 73. f.
  35. Wörtlich: „wie der Komiker sagt, eine Feige eine Feige, und einen Kahn einen Kahn zu nennen.
  36. Thucydides I, 22.
  37. Δεινότητα hier vielleicht genauer Bravourstücken.
  38. Wörtlich: „sich an der Satteldecke hält.“
  39. Il. XIII, 4 f.
  40. Thucyd. IV, 11 f.