Weihnachten hinter Eisengittern
Der Gefängnißbeamte hat nur wenig freie Zeit. Der regelmäßige Dienst beginnt Morgens fünf Uhr und endigt erst Abends acht Uhr. In diesem Zeitraume ist er seiner Familie und seinem Hauswesen gänzlich entzogen und im Dienste selbst mit einer Unmasse von Verdrießlichkeiten und Verantwortungen behelligt. Die Verdrießlichkeiten werden durch die Unfügsamkeit der Gefangenen, die Verantwortungen durch die äußerst strengen Dienst-Instructionen geschaffen. Der Gefängnißbeamte kann auch bei der gewissenhaftesten Pflichterfüllung, bei der allergrößten Strenge im Dienste Ordnungswidrigkeiten seitens der Gefangenen nicht immer verhindern, und dennoch werden diese den Gefangenen nur selten allein zur Last gelegt; in der Regel treffen damit Verweise an den Beamten zusammen.
Der Dienst geht indeß häufig auch noch über die gedachte Zeit hinaus. Ich meine damit nicht die regelmäßig wiederkehrenden Nachtwachen, an welche der Beamte sich schon gewöhnt, ich meine die Einlieferungen von Gefangenen, welche außerhalb der Dienststunden erfolgen. Für gewöhnliche Gefangene werden daher auch alle Tage eine oder mehrere Zellen in Bereitschaft gehalten; werden dagegen – was allerdings seltener ist – Gefangene eingeliefert, welche von vornherein mit den übrigen Gefangenen nicht gleichgestellt werden sollen, so macht dies stets eine Menge Vorbereitungen und die Thätigkeit mehr als eines Beamten nothwendig. Es läßt sich denken, daß einem solchen Gefangenen bei seinem Eintritt in die Anstalt nicht besonders freundliche Gesichter entgegentreten, daß er verdrießlich und mürrisch empfangen und unfreundlich untergebracht wird.
Am Abend vor Weihnachten 185* hatte ich meine Dienstgeschäfte etwas früher als gewöhnlich beendigt. Es war ein halb acht Uhr, ich wollte auf einige Stunden vergessen, daß ich Gefängniß-Inspector war, ich wollte Familienvater sein und heiligen Christ spielen. Die wenigen Gaben, welche ich von meinen Ersparnissen für Weib und Kinder hatte beschaffen können, waren bereits auf den Weihnachtstisch gelegt und die Lichter an dem Christbaume angezündet, ich war eben im Begriff, die Kinder eintreten zu lassen, als die Hausglocke in rascher Folge zwei Mal gezogen wurde. Ohne daß ich nachsah, wußte ich, daß der Untersuchungsrichter vor der Thür war, denn er meldete sich stets in gleicher Weise an; ich wußte aber auch, daß er nicht allein kam, denn er hatte zu dieser ungewöhnlichen Zeit in dem Gefangenenhause nichts zu schaffen. Was sollte ich thun? Sollte ich meine Kinder, oder sollte ich den Untersuchungsrichter warten lassen? Die Kinder waren unruhig, sie hatten ja schon so lange die Weihnachtsfreude ersehnt und mit Ungeduld die Stunden bis zur Christbescheerung gezählt, aber auch der Untersuchungsrichter war unruhig, er zog wiederholt und stärker als das erste Mal an der Glocke. Meine Unentschlossenheit war bald zu Ende, ich durfte nicht Vater, ich mußte Beamter sein, meiner Frau das Einführen der Kinder überlassen und auf die Theilnahme an deren Weihnachtsfreude vielleicht für die Dauer des ganzen Abends verzichten.
Als ich die Thür des Gefangenenhauses unmuthig geöffnet hatte, hörte ich den Untersuchungsrichter draußen sagen: „Treten Sie ein, gnädige Frau.“ Diese Worte machten mich noch mürrischer, denn ich berechnete in aller Geschwindigkeit, daß die Unterbringung einer „gnädigen Frau“ mich mehrere Stunden ausschließlich beschäftigen werde. Ich war zurückgetreten, um den Eingang frei zu lassen. Allein es trat Niemand ein, der Raum innerhalb der geöffneten Thür blieb leer. Um die Ursachen der Zögerung kennen zu lernen, näherte ich mich der Oeffnung und sah durch diese in das Freie hinaus. Ich erkannte den Untersuchungsrichter und bemerkte auch die Gestalt einer Frau, welche an der äußeren Seite der Thür lehnte und den Kopf mit beiden Händen gestützt hatte. Die Frau war ganz still, ich hörte keinen Laut, ich konnte keine Bewegung wahrnehmen.
Der Untersuchungsrichter wartete einige Minuten. Dann erfaßte er die eine Hand der regungslosen Gestalt, zog diese sanft nach sich und sagte dabei: „Ich bitte, gnädige Frau, folgen Sie mir, treten Sie in das Haus, wir dürfen hier nicht länger verweilen.“
Bei der Berührung ihrer Hand zuckte die Frau zusammen, sie richtete auch den Kopf hoch, blieb aber immer noch ruhig. Eine Secunde später wendete sie sich rasch der Thür zu. Ich sah ganz deutlich, daß sie den einen Fuß hochhob, um diesen auf die Schwelle zu setzen, daß der Fuß jedoch einige Augenblicke in der gehobenen Stellung verblieb, ehe er die Schwelle berührte, und daß dann der andere Fuß hastig nachgezogen wurde. Es ist ein schwerer Schritt über die Schwelle eines Gefangenenhauses, der folgenreichste, den ein Mensch im Leben thun kann; warum sollte diese Frau da nicht zögern?
Während ich die Thür schloß, blieb die Frau neben dem Untersuchungsrichter ruhig auf dem nur matterleuchteten Flur stehen. Bei dem Eintreten in das Haus hatte ich von derselben, außer dem Fuße, nur die Kleidung, sonst nichts gesehen, da das Gesicht mit einem schwarzen Schleier bedeckt war. Ich wußte nicht, ob sie jung oder alt, schön oder häßlich, und ob mir dieselbe im Leben schon ein Mal begegnet war. Auch jetzt, als ich an ihr vorbeischrilt und die Gestalt mit einem neugierigen Blicke betrachtete, vermochte ich die Einhüllung nicht zu durchdringen.
Ich hatte beinahe mein Arbeitszimmer erreicht, als der Untersuchungsrichter mir zurief: „Herr Inspector, können wir nicht in Ihr Wohnzimmer eintreten?“
„Nein,“ versetzte ich kurz und unfreundlich, „das gehört heute, am Abend vor Weihnachten, meiner Familie.“
Diese hart gesprochenen Worte wurden durch ein lautes und heftiges Schluchzen unterbrochen. Ich blickte zurück. Die Frau war stehen geblieben, sie hielt beide Hände vor das Gesicht und weinte. Das Weinen allein würde ich vielleicht unbeachtet gelassen haben, das kam mir ja alle Tage vor; aber die Haltung der Frau zeigte einen so tief empfundenen Schmerz, ein so unendlich bitteres Leid, daß ich mich unwillkürlich ergriffen fühlte und die harten Worte bereute. Um diese zu mildern, fügte ich hinzu: „Herr Rath, in meiner Wohnstube brennt der Weihnachtsbaum, den Kindern ist soeben bescheert worden; ich möchte dieselben nicht gern in ihrer Freude stören, ich möchte aber auch der Dame nicht gern – “
„Nein, nein,“ fiel diese mir mit Heftigkeit in’s Wort, „nicht dahin, wo Kinder sich aufhalten; ich will allein sein, ganz allein.“
Die Stimme war frisch, sie war, obgleich bewegt, ich möchte sagen zitternd, doch glockenrein. Die Gefangene konnte nicht alt sein. Aber weshalb wollte sie nicht mit Kindern zusammentreffen?
Und gerade an diesem Abend nicht? War sie Mutter und aus dem Kreise ihrer Familie herausgerissen? Dann allerdings war sie tief zu beklagen, dann mußte der Anblick fremder Kinder ihren Kummer vermehren; die eigenen Kinder, die sie vielleicht hülflos verlassen hatte, mußten ihr ja vor Augen treten. Aber wenn sie auch nicht Mutter sein sollte, sie war dennoch bedauernswerth, weil sie gerade an dem Tage, an welchem entfernt und zerstreut wohnende Familienglieder sich zusammenfinden, um durch ihre Vereinigung die Festfreude zu erhöhen, die Freiheit verloren hatte. Ich nahm mir vor, nicht mehr unfreundlich zu sein, sondern der Gefangenen so viel, als ich durfte, Erleichterung zu bereiten.
In meinem Arbeitszimmer veranlaßte der Untersuchungsrichter die Frau zum Niedersitzen. Diese kam auch der Aufforderung sofort nach, aber mir schien es, als ob sie dies in halber Bewußtlosigkeit thue. Sie setzte sich eigentlich nicht, der Körper fiel mehr auf ein altes, hartgepolstertes Sopha nieder, er hatte offenbar keine Festigkeit, keinen Halt, er fiel, als er den Ruhepunkt erreicht hatte, in sich zusammen. Auch die geistigen Kräfte mußten erlahmt sein. Denn der Untersuchungsrichter erhielt auf die verschiedenartigsten Fragen, die er von Zeit zu Zeit an sie richtete, keine Antwort. Böser Wille war das auf keinen Fall, der Frau fehlte allem Anscheine nach das Verständniß und die Fassungskraft.
Die vergeblichen Versuche versetzten den Untersuchungsrichter in Verlegenheit. Nachdem er das Zimmer mindestens zehn Mal durchschritten hatte, blieb er vor mir stehen.
„Was fangen wir an?“ fragte er leise.
„Gönnen Sie der Frau noch einige Zeit,“ erwiderte ich in derselben Weise bittend, „sie scheint zu sehr angegriffen zu sein.“
„Ja, ja, ich weiß das; es kann ja nicht anders sein. Das Unglück ist zu groß, der Schlag ist ganz unverhofft gekommen,“ versetzte er weich.
„Wir können ja noch einige Zeit warten.“
„Ich möchte aber gern nach Hause, ich wollte schon um sechs Uhr zurück sein, Frau und Kinder warten.“
[809] „Gehen Sie doch, Herr Rath, ich werde mit der Gefangenen schon fertig werden.“
„Sie haben Recht,“ sagte dieser nach einigem Nachdenken, indem er seinen Hut wieder in die Hand nahm; „ich kann heute Abend so nichts weiter vornehmen. Sehen Sie, wie Sie mit der Frau fertig werden; üben Sie nur alle Rücksicht, welche die Instruction zuläßt, und wenn Sie noch weiter gehen wollen, so will ich auch das in diesem Falle genehmigen und vertreten. Hoffentlich wird die Dame sich bald erholt haben.“
Die letzten Worte wurden bereits außerhalb des Zimmers gesprochen. Ich wollte den Mann nicht zurückhalten, obwohl ich über die näheren Verhältnisse der Gefangenen, namentlich über den Grund der Verhaftung, gern Auskunft gehabt hätte.
Die Gefangene war während dieser Zeit unverändert liegen geblieben. Als ich nach dem Zimmer zurückkehrte, blieb ich unwillkürlich einige Zeit vor ihr stehen. Ich weiß wirklich nicht, welche Gründe mich hierzu bestimmten, ich weiß nur, daß ich unentschlossen war, in welcher schicklichen Weise ich mich bemühen sollte, das Bewußtsein der Gefangenen zurückzurufen. Daß der Untersuchungsrichter dieselbe „gnädige Frau“ angeredet hatte, machte mir wenig Sorge; mir war jeder Gefangene gleich, alle waren unglücklich, und das Unglück hat überall, auch wenn es verschuldet ist, Anspruch auf Theilnahme. Vielleicht veranlaßten mich nur die ganz eigenthümlichen Umstände, unter welchen die Gefangene mir entgegengetreten war, zu einer mehr als gewöhnlichen Theilnahme. Genug, ich stand einige Zeit unschlüssig vor der leblosen Gestalt.
„Gnädige Frau,“ redete ich dieselbe endlich an, „ich bitte Sie inständigst, machen Sie mir die Erfüllung meines Amtes nicht schwer. Sagen Sie mir vor allen Dingen Ihren Namen.“
Ich bekam keine Antwort.
„Fühlen Sie sich unwohl,“ fuhr ich mit etwas stärkerer Stimme fort, „so haben Sie die Güte mir das zu sagen, ich werde den Arzt herbeirufen lassen.“
Ein fast unmerkliches Zucken der einen Hand, die auf der Brust ruhte, war Alles, was ich wahrnahm.
„Sie wünschen, daß ich den Arzt rufe?“ fragte ich, da ich das Zucken für eine bejahende Bewegung hielt und mir nur Gewißheit verschaffen wollte.
Die Frau blieb regungslos. Ich hätte mit ihr weinen können, wenn sie ihren Kummer, ihr Elend mir mitgetheilt hätte; ihr beharrliches Schweigen ließ mich die Theilnahme vergessen, welche ich ihr hatte bezeigen wollen. Meine Geduld war zu Ende.
„Sie sind Gefangene,“ sagte ich hierauf hart, „vergessen Sie das nicht, so lange Sie in diesem Hause sind. Als solche müssen Sie sprechen, wenn Sie gefragt werden.“
Auch dies hatte keinen Erfolg, ich bekam keine Antwort.
„Jetzt befehle ich Ihnen, daß Sie aufstehen!“ schrie ich in größter Heftigkeit.
Aber auch dies blieb unbeachtet, die Gefangene rührte sich nicht. Das laute, heftige Schreien war in meiner Wohnstube gehört worden. Meine Frau kam zu mir. Sie wußte, daß ich mit der Gefangenen allein war, und hatte geglaubt, daß diese sich renitent zeigen und daß ich Unterstützung nöthig haben möchte. Ich ließ sie eintreten und indem ich nach dem Sopha hinwies, sagte ich ihr, sie möge nachsehen, ob die Gefangene todt sei.
Meine Frau schlug den Schleier, welcher das Gesicht bis zu diesem Augenblicke bedeckt hatte, leise zurück. Kaum war das geschehen, so rief sie laut: „Herr Gott, das ist ja Frau von .ch!“ Ich trat näher hinzu und fand dies bestätigt.
Herr von .ch, ein sehr reicher Grundbesitzer, bewohnte ein etwa zwei Stunden entfernt gelegenes weitläufiges Rittergut. Er war in der Umgegend wegen seiner vielen Eigenheiten bekannt, wegen seines großen Geizes und aus anderen Gründen aber nur wenig geachtet. Seit seiner Verheirathung, also seit ungefähr zwei Jahren, wurde er vielfach lächerlich gemacht. Man sagte, daß er seine Frau auf Schritt und Tritt überwache und daß er dies aus grenzenloser Eifersucht thue. Er selbst war bereits einige fünfzig Jahre alt, ziemlich unschön und stets mit einem widerlichen, hektischen Husten behaftet, während seine Frau kaum dreißig Jahre zählen konnte und für eine interessante Erscheinung gehalten wurde. Von dieser wußte man nur, daß sie aus einer verarmten, altadeligen Familie abstamme und daß sie den Herrn von .ch nur seines Reichthums wegen geheirathet haben solle. Ueber ihre Vergangenheit dagegen war nichts bekannt; ich hatte mehrfach davon sprechen hören, daß dieselbe in ein tiefes Dunkel gehüllt sei und daß beide Ehegatten darüber Schweigen beobachteten. Bemerken muß ich noch, daß ich mich erinnerte, vor einiger Zeit, es mochten etwa vier Monate her sein, in der Zeitung gelesen zu haben, wie Herr von .ch mit einer komischen Feierlichkeit anzeigte, daß ihm ein Sohn und Majoratserbe geboren sei.
Das ist Alles, was mir über die Persönlichkeit meiner Gefangenen bekannt geworden war. Ich fragte mich, was der Grund ihrer Verhaftung sein möchte. Alle bekannten Gesetzesübertretungen traten mir geschwind vor Augen. Es wollte keine passen, keine schien schwer genug zu sein, um die hochgestellte Frau aus ihrer Stellung, die Mutter von dem hülfsbedürftigen Kinde loszureißen. Zuletzt war mir nur noch eine übrig geblieben, die schwerste, die das Strafgesetz kennt: der Mord. Ich wollte mich losreißen von diesem Gedanken, und dennoch schien mir gerade dies Verbrechen genau zu den Verhältnissen der Gefangenen zu passen. Ihre Ehe konnte keine glückliche sein; der alte, häßliche Mann, mit seinen widerlichen, Ekel erregenden Leidenschaften, konnte unmöglich geliebt werden; die Ueberwachung der jungen Frau mußte diese tief verletzen, und gewiß manche Scene zwischen den Gatten hervorrufen. Bis dahin war ich gekommen, als mit meiner Gefangenen eine auffällige Veränderung eintrat.
In dem Moment nämlich, in welchem meine Frau den Schleier zurückschlug, zeigte sich das Gesicht der Gefangenen leichenblaß mit geschlossenen Augen und festzusammengedrückten Lippen. Dieser Druck ließ jedoch bald nach, die Lippen öffneten sich, und auch die Augenlider zogen sich auseinander, aber langsam, als ob die Kraft oder der Wille fehle. Der Blick aus den so geöffneten Augen richtete sich unbeweglich und starr auf mich. Ich konnte denselben schon nach wenigen Secunden nicht mehr ertragen. Es war mir genau ebenso, als ob mich eine Leiche mit gebrochenen Augen anstarrte; ich fühlte dieselbe Beängstigung, dasselbe unheimliche Grauen.
Da mit einem Male belebte sich erst das Auge und dann das ganze Gesicht. Der Blick wurde beweglich, er wendete sich von mir fort und nach der Thür zu, er war nicht mehr starr, nicht mehr ausdruckslos, nicht mehr todt; ich las darin eine ängstliche Aufmerksamkeit, ein freudiges Ergriffensein, es war als ob ein Ereigniß sich verwirklichen sollte, dessen Eintreten vorher nicht für möglich gehalten worden war.
Ich gab mir Mühe, irgend etwas Auffälliges im Zimmer zu entdecken, vermochte jedoch nichts Besonderes wahrzunehmen, namentlich nicht an der Thür, die fest zugemacht worden war. Im Zimmer selbst waltete eine feierliche Stille, nur draußen auf dem Flur oder sonstwo ließen sich das schwache, gedämpfte Schreien eines kleinen Kindes und die Bemühungen hören, welche zur Beruhigung desselben gemacht wurden.
Diese Laute näherten sich, sie wurden von Augenblick zu Augenblick vernehmlicher. Aber auch die Aufmerksamkeit und die Spannung der Gefangenen steigerten sich und wurden zusehends lebendiger. Der Kopf derselben ruhte bald nicht mehr auf dem harten Kissen, er hatte sich gehoben; der Oberkörper nahm nicht mehr die liegende Stellung ein, er hatte sich langsam aufgerichtet; die Muskeln zeigten sich nicht mehr schlaff, sie hatten sich gekräftigt; das Gesicht verlor das leichenähnliche Aussehen, ein mattes Roth färbte die Wangen, beide Arme stützten sich fest und kräftig auf das Polster des Sophas und gaben dem Oberkörper, der sich immer mehr vorn überbeugte, eine feste Stütze.
Die Thür wurde von draußen leise geöffnet, das Schreien des Kindes drang klar und hell durch die Oeffnung in das Zimmer, gleichzeitig aber auch der Ruf: „Madame, bitte, kommen Sie einmal heraus!“
Diese Worte waren noch nicht vollständig gesprochen, als die Gefangene aufsprang und in der Richtung nach der Thür hastig fortlief.
In dem ersten Augenblicke dachte ich nur an einen Fluchtversuch; ich erfaßte deshalb auch die Gefangene, noch ehe sie die Thür erreicht hatte, am Arme und hielt sie zurück.
„Mein Gott,“ sagte diese, als sie sich festgehalten sah, im Tone ängstlicher Besorgniß und indem sie sich loszureißen versuchte, „lassen Sie mich doch gehen, das Kind weint, ich will nachsehen.“
„Bleiben Sie nur,“ erwiderte ich erfreut, daß die Gefangene [810] sprach, „das Mädchen kann hereinkommen, die Mutter wird den kleinen Schreihals schon beruhigen.“
„Wie denn?“ rief Frau von .ch, indem sie sich verwundert umsah. „Bin ich nicht in meinem Hause? Wo bin ich denn? Herr Gott!“ schrie sie plötzlich laut auf, daß es mir eiskalt über den Rücken lief. „Jetzt weiß ich’s – ich bin im Gefängnisse!“ setzte sie dumpf hinzu.
„Sie sind noch nicht da, gnädige Frau, ich muß Sie aber dahin bringen,“ versetzte ich, um sie vorzubereiten.
Frau von .ch entgegnete nichts, sie schien meine Erwiderung gar nicht gehört zu haben, sie sah unverwandt nach meiner Frau, welche dem Mädchen das Kind abgenommen hatte und dies liebkoste. Das Kind weinte nicht mehr, es war still geworden, als es sich von den Armen der Mutter umschlungen und an der Brust der Mutter ruhen fühlte.
Ich beobachtete Frau von .ch mit immer höherem Interesse, ich sah, daß ihre Augen feucht wurden, daß es in ihrer Brust gewaltig arbeitete, daß sich aber die Lippen fest zusammenpreßten, als ob sie die innere Bewegung gewaltsam niederdrücken sollten; ich sah, daß die langen, schwarzen Wimpern die Thränen nicht zurückzuhalten vermochten und daß diese endlich in großen, schweren Tropfen herabfielen.
Die Thränen verschafften Linderung, das Arbeiten der Brust hörte auf, der Ausdruck des Gesichts wurde weich.
„Sie sind glücklich, Madame, weil Sie Mutter sein dürfen,“ sagte Frau von .ch mit kleinen Unterbrechungen, als ob sie sich erst auf die Worte besinnen müsse, zu meiner Frau.
„Ach, gnädige Frau,“ enlgegnete diese, „Sie werden auch wieder glücklich werden, Sie können ja nichts Böses gethan haben, Sie werden Ihr liebes Kind wiederfinden.“
„Mein Kind? sagten Sie nicht so?“ fragte die Gefangene; dann setzte sie in größter Betrübniß hinzu: „ich habe kein Kind.“
„Aber die Anzeige in der Zeitung?“ versetzte ich fragend.
„Ist die Frucht einer Lüge. Haben Sie,“ fuhr Frau von .ch in ganz verändertem Tone fort, „in sich noch nie eine Leere gefühlt? Sehen Sie, mir war es so, als ob mir das Herz fehle. Ich hatte das Bewußtsein, daß ich ohne Herz nicht leben könne, daß ich sterben müsse, wenn es mir nicht möglich sein sollte, ein Herz zu finden. Die Thätigkeit meines Geistes war ausschließlich nach diesem Ziele gerichtet, ich dachte an nichts weiter, als an das Aufsuchen und das Auffinden eines Mittels, durch welches ich das zu meinem Leben nothwendige Bedürfniß erlangen wollte. Und als ich endlich ein solches gefunden zu haben glaubte, da war ich unaussprechlich glücklich, denn ich sah den Tod nicht mehr vor mir, ich hatte die Bürgschaft noch für ein langes Leben erworben. Das war der Trieb der Selbsterhaltung. In solchem Zustande behält der Mensch nur das Ziel im Auge, er fragt nicht darnach, ob der Weg gerade oder krumm, ob er geebnet oder holprig ist, wenn er nur zum Ziele führt. Nicht wahr, Sie verstehen mich nicht?“ sagte sie nach einer kleinen Pause, „ich will mich kürzer fassen, ich will deutlicher sprechen. Ich führte in meiner Ehe ein elendes Leben; ich war nichts weiter, als ein Spielzeug in der Hand eines Kindes, das weggeworfen, mitunter auch mit Füßen getreten wird, wenn das Kind des Spielens überdrüssig ist. Als ich mir dessen klar bewußt wurde, da wünschte ich mir eine Seele, in die ich mich hineinleben wollte, die mir Ersatz geben sollte für namenlose Leiden. Mir selbst war jede Aussicht benommen, Mutter einer Seele zu werden, darum kaufte ich eine solche, und der Besitz derselben ließ mich alle Leiden vergessen und alles Elend mit Freudigkeit ertragen. Verstehen Sie das? Es enthält Alles, was ich verschuldet habe; ist denn diese Schuld so gar schwer?“
Frau von .ch machte eine Pause. Ich hatte sie verstanden, wußte, daß es sich um ein Verbrechen handelte, welches das Strafgesetz mit „Unterschiebung eines Kindes“ bezeichnet und mit Zuchthausstrafe bis zu zehn Jahren bedroht.
Diese Entdeckung bereitete mir auf der einen Seite Freude, denn ich hatte in meine Listen keinen Mord zu verzeichnen, das Uebelste, was mir in meiner Stellung begegnen konnte, auf der anderen Seite machte mich dieselbe aber traurig, denn ich hatte es mit keiner Unschuldigen zu thun, ich mußte die schöne, zarte Frau auf den Aufenthalt im Zuchthause vorbereiten.
Von da ab gab Frau von .ch kurze, doch bestimmte und befriedigende Antworten, sie schien sich ruhig und ergeben in ihr Schicksal zu fügen, wenigstens kam kein Wort der Klage über ihre Lippen. Es war beinahe eilf Uhr geworden, als ich sie bat, mir nach dem Gefängnisse zu folgen. Ich hätte sie so gern die erste Nacht in meiner Wohnung behalten, allein ich durfte es nicht thun, ich setzte mich der Gefahr aus, Amt und Brod zu verlieren.
Frau von .ch folgte ohne Widerstreben. Auch im Gefängnisse war sie ruhig, nur als ich fortgehen wollte und die Laterne bereits in die Hand genommcn hatte, kam sie noch einmal auf mich zu und fragte mich mit zitternder Stimme: „Muß ich denn ohne Licht bleiben?“ und als ich darauf erklärte, daß ich das Licht nicht zurücklassen dürfe, schlug sie beide Hände ineinander und murmelte dumpf vor sich hin: „die erste Nacht, das ist schrecklich!“ Sie trat sodann langsam zurück und setzte sich auf den Rand des Bettes, das ich für sie hatte besorgen lassen.
Ich blieb, nachdem ich die Thür geschlossen, noch einige Zeit vor derselben stehen, die Gefangene verhielt sich jedoch vollständig ruhig. Die Gemüthserregungen hatten sie jedenfalls ermüdet, sie mochte sich nach Ruhe sehnen und diese auch gefunden haben.
Jeder Verbrecher hat für seine That eine Entschuldigung. In der Regel werden „die Verhältnisse“, in welchen derselbe ohne Verschulden sich befunden zu haben vorgiebt, vorgeschoben. Frau von .ch hatte mir gegenüber dasselbe gethan. Sie sagte: mir fehlte das zum Leben eines Menschen nothwendige Herz; der Trieb der Selbsterhaltung mußte das Verbrechen erzeugen. Nun ja, das mochte sein. Sie befand sich aber durchaus in keiner besseren Stellung, als der Dieb, welcher behauptet, nur deshalb gestohlen zu haben, weil er nicht habe verhungern wollen.
Ich wußte es aus unzähligen anderen Fällen, daß diese Art der Entschuldigung vor dem Gericht keine Anerkennung findet und daß deshalb die arme Frau dem Zuchthause nicht entgehen konnte.
Meine Weihnachtsfreude war dahin. Bei der Rückkehr in meine Wohnung kurz vor Mitternacht fand ich Weib und Kinder bereits in tiefem Schlafe.
Ueber das fernere Schicksal der Frau von .ch kann ich nur noch Weniges mittheilen. Sie wurde trotz einer meisterhaften Vertheidigung zu zwei Jahren Zuchthausstrafe verurtheilt, von mir auch in die Strafanstalt abgeliefert. Ueber ihren Verbleib nach der Entlassung aus dem Zuchthause – auf Verwendung mehrerer hochangesehener Damen wurde ihr ein gut Theil der Strafzeit erlassen – ist mir nur bekannt geworden, daß sie jetzt in einer mitteldeutschen Residenz lebt; zu dem Herrn von .ch ist sie nicht zurückgekehrt.
Im Gefängnisse war ihre Führung musterhaft. Sie versicherte wiederholt, daß der Aufenthalt darin noch lange nicht so schrecklich sei, wie das Zusammenleben mit Herrn von .ch, ohne sich jedoch über Einzelnheiten zu verbreiten.