Warum haben wir Luther lieb?
Luther lieb?
Kaufbeuren.
Ich darf mit einer persönlichen Erinnerung beginnen. Vor jetzt 30 Jahren (1883) als Assistent an das Neue Gymnasium zu Regensburg berufen hatte ich den Unterricht in fast ganz katholischen Klassen; selten waren etliche Protestanten unter meinen Schülern. In der fünften Lateinklasse später mit dem Geschichtsunterricht betraut sollte ich Reformationsgeschichte – allerdings nach dem trockensten und farblosesten Lehrbuch, dem kleinen Pütz – treiben, der, wenn er einmal Farbe annahm, die katholische Anschauung nicht verleugnete. Der Protestant, der protestantische Theologe, der dankbare Schüler Luthers, den er unter allen Menschen am meisten liebt, sollte vor den Zöglingen der Dompräbende und der Alten Kapelle Luthers Leben und Wirken behandeln! Die Worte, mit denen ich den notgedrungen ganz dürftigen Unterricht begann, habe ich mir fest eingeprägt: „Wir sind an einem Markstein angelangt, an dem unsere Wege sich scheiden. Ich bin gelehrt und bin überzeugt, daß Luther der größte Wohltäter des deutschen Volkes, sein bester Freund, sein gottgesandter und gottbegnadeter Lehrer war, der jetzt leuchtet wie des Himmels Glanz. Ihr seid erzogen und unterwiesen zu glauben, daß er der Zerstörer der Glaubenseinheit unseres Volkes, der Räuber seines Friedens, der abgefallene Mönch ist, dessen Andenken in Nacht versank. Zwischen diesen beiden Anschauungen gibt es weder Vermittlung noch Verständnis. Darum lesen und lernen wir, was im Buch steht.“ – Der „simultane“ Unterricht in der Geschichte hat seit jenen Tagen meine Freundschaft verloren und hat sie nimmer gewonnen.
Warum haben wir Luther lieb? Unsere katholischen Mitbürger verstehen dies nicht und können es nicht begreifen – wir verstehen diese Befremdung. Nicht recht aber verstehen, vielmehr tief beklagen werden wir, wenn Kinder der Reformation ihn nicht lieben und unsere Liebe belächeln und verwunderlich finden. Da gibt es etliche Protestanten, denen Luther der Mönch ist, dem die mittelalterliche Kutte um die Füße schlägt. Seine Anschauungen und Glaubensmeinungen, seine Lehre und Predigt sind befangene, gebundene, einseitig beschränkte Gedanken, denen er sich einmal, etwa um 1520, mit kühnem Ruck entreißen wollte. Aber der Riß in der Kutte war nicht ihre Ablegung und der Anlauf zur wahren Freiheit der Bekenntnislosigkeit blieb eben ein Anlauf. Das mönchisch befangene Wesen trat lähmend und fesselnd wieder herzu. Ihr echter Luther müßte etwa bei denen um Ostwald zu suchen sein, wo nur noch das Gewissen, das „Bewußtsein des Rechten“, wie der alte Heidelberger Paulus meinte, dem Menschen Gesetz ist. Was er nicht annehmen will, das bleibt verworfen. „Im echten Protestantismus richtet jeder sein Verhältnis zu unserem Herrgott, wie er will, nicht wie Gott will.“ Mit Leid gedenken wir derer, die nur von einem verkümmerten und verkrüppelten Luther zu reden wissen, der nie das geworden ist, was er hätte werden sollen und können und vielleicht auch wollen. Die Kutte war zu schwer, der Glaubensstrick zu hart und zu fest.
Aber wir verstehen sie doch noch eher als die ästhetischen Seelen, denen der Bauer Luther zu wenig geistlich, zu rüde und zu gewöhnlich ist, die einen Reformator eher aus dem aristokratischen Holze eines Calvin oder aus den zierlichen und zarten Abbe’s des 18. Jahrhunderts sich ersehnen. Das matte Zeug ohne Saft und Kraft wie lauter welke Blüten und Kamillenblümlein, wie Mörike einmal sagt, will diesen empfindsamen Leuten eher zusagen, als die kraftvolle,| reisige, derbe, zuweilen auch rohe Art Luthers, der mit beiden Füßen auf der Erde, auf fränkischer Erde stand, ein rechtschaffener Bauer auch im Priesterrock und im Professorentalar blieb und bleiben wollte. „Der Bär brummt eben immer nach der Höhle, in der er geboren ward“ sagt Goethe einmal. Wir entschuldigen Luthers Derbheit nicht und ahmen sie auch nicht nach, doch sind zu Zeiten goldene Rücksichtslosigkeiten erquicklich und wirken befreiend. Noch weniger freilich sammeln wir aus seinen Schriften, den Gelegenheitsworten und Tischreden alle Kynismen – Kaulbach hat in einer Zeichnung von den vier Haimonskindern und dem nachlaufenden Manne, der aufliest, was das Pferd nach seiner Art der Straße gibt, die rechte Kritik darüber gesprochen. Es hat ja auch nicht gefallen können, als Gladstone aus allen Enuntiationen Pius IX. die Scheltworte sammelte. – Nein, weil Luther oft derb redete, darum redete er bezeichnend, markig und konkret. Das Bild dessen, was er meint, steht alsbald vor Augen. Die feinen Seelen, denen es in Luthers Nähe den Atem beklemmt und das Herz beschwert, sollen erst einmal „reden mit seinen guten Worten!“ Dann werden sie das andere in den Kauf nehmen. Sie sollen auch bedenken, wie die Weltbühne, auf die Luther trat, beschaffen war. Nicht glatter Parkettboden, sondern roh gezimmerte und rauh gefügte Balken, Bretter und Bohlen streckten sich hin, auf denen hart und herb geredet wurde; das rauchlose Pulver, sagt Hausrath in der herrlichen Vorrede zu seinem Luther, war damals noch nicht erfunden. Ein alter Gottesmann hat einmal gemeint, niemand habe St. Paulum auf der Kegelbahn, noch St. Petrum mit den Karten in der Hand abkonterfeit, das sollten die Theologen sich merken. Ich füge hinzu: Und niemand wird Luther mit Glacehandschuhen, gebügelt und geschniegelt, abbilden, sondern als den groben Waldrecher, der einherfährt. „Die kranke Zeit brauchte einen scharfen Arzt“ sagt seine Leichenrede mit Recht.Hat er etwa selbst sich uns empfohlen, um unser Gedächtnis geworben, wie unsere großen Klassiker es taten? Er schreibt doch nicht umsonst an Freund Hartmuth von Kronberg (März 1522): „Den Luther lasset fahren, er sey ein Bub oder heilig. Gott kann sowol durch Bileam als durch Jesajam, durch Kaipham als durch Petrum, ja durch einen Esel reden. Denn ich kenn selbst auch nit den Luther, will ihn auch nit kennen. Der Teufel mag ihn holen, wenn er kann, er lasse aber Christum im Frieden bleiben.“ Und er bekennt: „Wer ist Luther? Lutherus sterbe, Christus lebe.“ Nein, so wenig er es darauf anlegte, groß zu sein (Carlyle), so wenig will er in unsere Liebe sich empfehlen. Oder ist vielleicht sein äußeres Bild dazu angetan, uns für ihn zu gewinnen? Zwar das Bildnis eines Raffael Urbinas aus seinen Jugendjahren bleibt dem Gedächtnis unvergessen, und das Mannesbild Albrecht Dürers mit dem edlen Trotz um die Lippen und dem kühnen Blick in die Ferne ist uns teuer. Das fast verklärte Stieler’sche Bildnis des greisen Göthe spricht immer wieder zu uns. Aber so viel auch Meister Kranach sich mühte, Luther uns darzustellen – (das schöne Bild im Sitzungszimmer des Oberkonsistoriums, das der selige Präsident Friedrich Roth ihm bei seinem Amtsantritt 1828 schenkte, soll nicht Original sein) –, es ist das grobknochige, wenig schöne Angesicht, das man sich großartiger, schärfer umrissen wünschen möchte (II. Kor. 10. 10), nur die Augen, die miri oculi, welche dem Kardinal Thomas Vio in Augsburg aufgefallen und Melanchthon oft so schrecklich waren, die aber wieder so treuherzig eine Welt des tiefen Gemüts in die Herzen senden und an ihm sich bezeugen konnten, bleiben schön und groß.
Nein, durch Aeußeres hat Luther nicht uns gewonnen, auch nicht durch seine Genialität. Das Genie bricht neue Bahnen und achtet der alten Wege nimmer, sie sind ihm zu schmal und passen wie die Weise von andern nicht zu ihm, sondern es schafft sich seine Weise und zwingt Gesetze auf, die niemand ganz überschaut. Dem Genie ist der Augenblick groß genug, um in ihn schöpferische Pläne zu legen, aber der Tag zu lang, um deren Ausreifung gelassen abzuwarten. Er eilt weiter, denn er will sein genießen und verwirft eben Geschaffenes, um dem Reize nach Neuem zu dienen. Das Genie spielt verschwenderisch mit den Gaben, weil es nie an ihnen Mangel| hat. Aber Luther hat mühsam alte Schachte wieder erschlossen, ist in verschüttete Bergwerke gelassen hinabgestiegen, auf betretenem Wege seinem Gott und seinem Volk genaht: er wollte nichts Neues, sondern ließ sich zum Alten zurückführen; wir sind die wahre katholische Kirche – so klingt es wie durch die Bekenntnisschriften, so durch sein ganzes Wirken. Als „St. Pauli lieber natürlicher Sohn“ hat er den Reichsschatz des Evangeliums wieder gehoben, die Formen vom Geist bestimmen, die Ordnung in der Zeit werden lassen. „Genie ist Fleiß“ sagt Palmer einmal. Genial war Calvin, universell Melanchthon, vorzüglich praktisch Bugenhagen – Luther war weniger als sie alle, aber er war einheitlicher, einseitiger mit Willentlichkeit, in allem auf Eines gerichtet, „daß das Wort unter die Leute komme“.So lieben wir ihn, weil er in alle Lebensverhältnisse eine Weise einführen, eine Weisheit sie lehren wollte, aus herzlicher Liebe zu seinem Volk, dessen Eigenart er in sich verkörperte mit seinem sehnlichen Suchen, seinem Erdentrotz und sinnigem Heimweh, seinem stürmischen Wagemut und gelassenen Gleichmut, seiner gesunden Diesseitigkeit und wahrhaften Jenseitigkeit. „Theologie deutsch“, sein Lieblingsbuch seit 1516, heißt den Menschen das eine Auge schließen, damit das andere recht sehen möge: Wer in den Himmel blickt, darf für die Erde nimmer ein Auge haben. Er tut beide Augen auf, denn ihm ist die Erde erlöst und der Himmel erdennahe, Herberge die eine, Heimat der andere. Erdenleben muß dem Himmel zu gerichtet sein, damit der Himmel die Erde finde, irdischer und himmlischer Beruf eint sich durch das Berufensein und in ihm. Oft redet er dabei von den drei Gottes-Stiftern, wenn ihm allerlei selbstgewähltes Heiltum das Herz schwer macht. Das sind die vom Paradiese her verordneten, aus dem Schöpferwillen durch die heilsame Erlösung für den Tag der Vollendung vermeinten des Hauses, des Staates und der Kirche. Was er an und in ihnen getan hat, das macht ihn uns lieb.
Luther hat die Ehre des Christenhauses wieder helle leuchten lassen. Die Pietät gegen das eigene Elternhaus, das doch eine harte, oft freudlose Jugend ihm bescherte, hat ihn befähigt, sein Haus würdig zu gründen und vorbildlich auszugestalten. Wenn er 1511 zu Rom schier bedauert hatte, daß seine Eltern noch lebten, weil er ihnen gerne die Guttat einer besonders heilkräftigen Totenmesse hätte angedeihen lassen, so hielt er sich allerwege in ernstem und dankbarem Gehorsam gegen die Seinen. Des Vaters ernstes Wort| an jenem Maitag 1507, ob der Eintritt ins Kloster nicht gottwidrig gewesen sei, ist ihm lange nachgegangen. Und den herrlichsten Dank hat er dem Vater erstattet, als er ihm den Trostbrief schrieb (15. Februar 1530). „Es ist ja dieses Leben nichts anderes als ein rechtes Jammertal, drinn man je länger je mehr Sünde und Unglück sieht und erfährt und ist des kein Aufhören noch Abnehmen da, bis man uns mit der Schaufel nachschlägt, da muß es doch aufhören und uns zufrieden in der Ruhe Christi schlafen lassen...., sintemal der Abschied von diesem Leben vor Gott viel geringer ist, denn ich von Mansfeld hieher von euch oder ihr von Wittenberg gen Mansfeld von mir zöget. Das ist gewißlich wahr, es ist nur um ein Stündlein Schlafs zu tun, so wirds anders werden.“ Die liebe Mutter aber ward von dem Sohne reichlich in dem bekannten Brief (vom 20. Mai 1531) aufgerichtet. „Lieber Tod, liebe Sünde, wie lebst du und schreckst mich? Kennst du nicht einen, der von dir sagt: Ich habe die Welt überwunden. Mir gebührt nicht, die Schrecken anzunehmen, sondern die Trostworte meines Heilands. Das ist der Siegmann, der rechte Held, der mir hiermit seinen Sieg gibt und zueignet. Bei dem bleibe ich, des Wortes und Trostes halte ich mich, darauf bleibe ich hier oder fahre dorthin, er lügt mir nicht... Es bitten für euch alle eure Kinder und meine Käthe. Etliche weinen, etliche essen und sagen: Die Großmutter ist sehr krank. Gottes Gnade sei mit uns allen. Amen. Euer lieber Sohn.“Wer sich die Musik erkiest,
Hat ein himmlisch Gut gewonnen.
Denn ihr erster Ursprung ist
Von dem Himmel hergenommen,
Da die lieben Engelein
Selber Musikanten sein.
Ludwig Richter hat in seinen Jahreszeiten diese edle Hausmusika uns so rein und schön dargestellt, „was uns hart anleit, fährt hin mit großer Traurigkeit.“ Und nun singt der Doktor manch edles Lied das Jahr hindurch, bis das Kinderlied „auf die heilige Weihnacht zu singen“, ertönt und der treue Johann Matthesius in lichtem Gewande die engelische Botschaft den harrenden Kindern verkündet. Daneben wird die christliche Haustafel vorgenommen, nach der ein Hausvater seine Kinder und Gesinde ermahnen soll; denn „kein stärkeres Weihwasser oder Weihrauch gibt es, als mit Gottes Geboten und Worten umgehen, davon reden, singen oder denken.“ (Großer Katechismus.) ·
Der Sonntag mit seiner heiligen deutschen Poesie im Feiergewande edler Freiheit und dankbarer Freude steigt herauf, daß die, so die ganze Woche ihrer Arbeit und ihres Gewerbes gewartet, einen Tag haben da sie ruhen und sich erquicken. Feiern aber und müßig gehen können die Unchristen auch wohl, darum soll Gottes Wort in Schwang und Uebung gehen, daß ein rechter Feiertag gehalten werde (Großer Katechismus), „daß Gott sein Werk in uns hat.“
Wenn aber Amt und Amtssorge den Vater in die ferne führen, schreibt er den Kindern Briefe vom Besuch des Paradieses, seinen süßen Früchten und frohen Spielen, seiner kindesfrohen und lebensfrischen Herrlichkeit, die Lipp und Jost und Hänsichen Luther genießen sollen, wenn sie fromm sind und gerne beten. Wahrlich, dieser Brief, den ein Goethe in sein freudenarmes unfrohes Haus am Alten Plan zu Weimar nicht hätte senden können, ist der Freibrief für die christliche Jugend| und der Frohbrief ihres treuesten Freundes, der mit ihm fort und fort unseren Kindern einen schönen Jahrmarkt mitbringt.Wie es den Kindern im Hause wohl sein soll, im „Vaterhause“, so wird das Gesinde, die Ehehalten, treulich in die Freuden und Leiden des Hauses mit herein genommen. „Muhme Lene,“ die entfernte Verwandte der Hausfrau ihre Stütze würde man sie jetzt nennen – genießt Recht und Ehre der Hauszugehörigkeit, der alte treue Diener, der längst nichts mehr leistet, das Gnadenbrot, die Magd Margarete „Grete mit ihrem Besen“ höchste Ehre als Heilige, weil sie ganz tue, was ihr aufgegeben ist. Die immer schwieriger werdende Frage der Dienstbotennot wird immer wieder am ehesten gelöst, wenn man die Dienenden in das Leben des Hauses hereinnimmt und ihnen nicht nur das pflichtige Recht gibt, sondern sie als Miterben der gleichen Seligkeit die Liebe und Fürsorge spüren und erkennen läßt, wie man ihr Seelenleben nicht geringer einschätze als das eigene und ihren tief begründeten Ansprüchen entgegenkomme. Auf dem Grund innerer Angleichung löst sich am füglichsten die Frage der Ueber- und Unterordnung.
Dem evangelischen Hause ziemt Uebung und Pflege der Freundschaft, damit „gute Freunde und getreue Nachbarn“ nicht mangeln, Schmuck und Schutz des Hauses zumal. Wie lebt Luther für seine Freunde und mit ihnen! Er trägt schwer an Melanchthons Unbeständigkeit und Zaghaftigkeit, weil er „die Sorge so gierig in sich sauge wie der Egel (Blutegel) das Blut und das Gebet Luthers so kraftlos mache“ (27. Juni 1530), er versteht den Freund nicht, der nur begreifen will, wie die Sache Ende und Ausgang nehmen werde, so doch Gott den Ausgang (sc. der Reformation) in einen Begriff gestellt hat, der heißt fides (Glaube) (29. Juni). Und schon tags darauf tadelt er ihn, weil er sich allein glaube, Luther aber und den Freunden nicht. „Aber es muß nicht heißen: So ich Philippus. Das „Ich“ ist zu gering. Es heißt: So Ich: Das ist sein Name: der ich sein werde. Man sieht nicht, was er ist, aber Er wirds sein. So werden wir sehen (an Spalatin 30. Juni 1530).“ Wie wünscht er, daß Melanchthon aufhören wollte, die „Welt zu regieren,“ d. i. sich selbst zu kreuzigen und zu martern (Brief an Brenz). Aber die Freundschaft hat er ihm nie gekündigt, sondern treulich durch alle Fährlichkeiten bewahrt, in streitbarer Fürbitte zu Weimar erwiesen und noch über seinem Grabe von dem also Geehrten bezeugt erhalten. „Eure Söhne,“ schreibt er weiter an Dr. Rühel,| den Kanzler (29. Juni 1534) „werden bei mir sein, wie die meinigen. Ihr seid ja nicht mein falscher Freund, so will ich ja auch nicht falsch gegen euch und die Euren allen werden, so lange mir Gott den Odem läßt.“ Und dem also Gestärkten gibt er den großen Trost aus Röm. 14, 8. „Domini sumus“, ja wohl im Genitiv und Nominativ, des Herrn, weil wir sein Haus, ja seine Glieder sind und Herren sind wir, weil wir über alles herrschen durch den Glauben, der unser Sieg ist.[.]. Den Studierenden der Theologie, Hieronymus Weller, den Lehrer seines Hänschen tröstet er in seiner Schwermut, er solle Sorgengedanken nicht anblicken, nicht in ihnen grübeln noch sie verfolgen, sondern sie verachten wie das Schnarren einer Gans, die bösen Gedanken, die ihm einfallen wieder ausfallen lassen (eine Lieblingswendung!), den Vögeln der Sorge nicht Nester in die Haare zu setzen verstatten, sondern den Herrn Jesus zum Beistand nehmen, den tapferen Streiter und unüberwundenen Sieger. (19. Juni, 10. Aug. 1536.) Ob er an Brück, den kursächsischen Kanzler den herrlichen Freundesbrief schreibt, von den zwei Wundern des feststehenden Himmels und des stützenden tragenden Regenbogens oder an Brenz, den Pfarrherrn von Schwäbisch-Hall, wie man Sorgen bannen soll, ob er Freund Zink in Nürnberg wegen des Verlustes eines trefflichen Sohnes tröstet (23. April 1532), der „ihm ein sehr lieber Knabe gewesen, weil er fein still, züchtig und im Studium sonderlich fleißig war und den Diskant viele Abende sang“ – immer bleibt er der selbstlose, sich und sein Leid vergessende, nur für die andern bedachte Freund. Ich schließe mit dem Hinweis auf einen Brief in seinen letzten Jahren (25. Dezbr. 1542), in dem er Justus Jonas wegen des Hinscheidens seiner Gattin tröstet „der in Wahrheit geliebten Seele, weil sie alle unsere Erlebnisse, gute wie schlimme, ganz als ihre eigenen aufnahm und trug“. Es ist das Wesen der Freundschaft, daß sie glaubt und trägt, hofft und duldet, das vielleicht Getane ebenso wenig nachrechnet als das Erlittene und im Vertrauen nicht wankt. Napoleon I. hat einmal das ihm unfaßliche und unübersetzbare Wort „Gemuet“ mit l’esprit allemand gedeutet. Deutscher wie christlich-evangelischer Geist hat Luthers Haus so weit wie sein Herz erschlossen; sein Gemüt hat Freundschaft gebraucht und darum geleistet. Bloßes Geben des einen Teils erdrückt, die zumutende und empfangende Liebe gleicht wieder aus. Wie gerne hat Luther sich dienen lassen im Kleinen und Großen! Seine Naivität im Bitten blieb die gleiche und seine Willigkeit anzunehmen,| Goethe hat über sein Haus einmal die Ueberschrift gesetzt:Warum stehen sie davor? Ist nicht Türe da noch Tor?
Kämen sie getrost herein, würden wol empfangen sein.
Das zu schreiben hat Luther nicht not gehabt. Wo Treue baut, öffnet die Liebe Türen und Fenster. So ist das erste Gottesstift von Luther nicht erbaut noch verändert, sondern wieder verneut worden, daß es heimisch, traut und wohnlich ward.
So hat er, der Priester und Professor, die Türe des evangelischen Pfarrhauses aufgetan, aus der wahrlich nicht so viel Segensströme entsprungen wären, wenn es mit der Sünde des Eidbruchs und der Treulosigkeit erbaut worden wäre. Ich übergehe, was jede Statistik erweist, daß eine große bedeutende Zahl tüchtiger, arbeitskräftiger, bahnbrechender Männer aus den bescheidenen Räumen des Pfarrhauses hervorgegangen ist. Vielmehr betone ich: die stille Predigt der Genügsamkeit in ihm, die doch nicht ärmlich im Haben noch kärglich im Geben ist, die Freude am Kleinen in Wald und Flur, in Welt und Kirche, der heilige Humor weisen darauf hin, welch verborgene Kräfte in der würdevollen Beschränkung des Pfarrhauses, in seiner schlichten Gastlichkeit und all umfassenden Liebe liegen. Ich möchte den kennen, der einmal in ein echtes Pfarrhaus Einblick getan und nicht Heimweh nach ihm empfunden hat, die Lebenserinnerungen lesen – man braucht nicht nur an Kügelgen, Kerner oder Kußmaul noch an Hippels Lebensläufe zu denken –, deren Verfasser des Jugendglückes vergäße, wenn es ihm in einem Pfarrhause und in dem ländlichen Stilleben erblühte! Dabei ist das Pfarrhaus nicht verbauert noch verflacht. Die edle Hausmusik, der fromme Hausbrauch, die Pflege feiner Liebhabereien hat es weltoffen, freudig, zuchtvoll auf Luthers Wegen erhalten. Gott lasse die Edelsteine der Treue, der Dankbarkeit, der Beschaulichkeit und Friedenskraft dem Pfarrhause nie mangeln, das nicht am Markte liegen, sondern abseits vom Getriebe in Ihm eine stille Zuflucht des Trostes, der Fürbitte und des Rates bieten will.
„Und die Schule hat er uns erbaut.“ Wie oft ist dieses Wort der Juden über den heidnischen Hauptmann (Luc. 7, 5) auf Luther angewendet worden! Nicht als ob er erst die Schule ins Leben gerufen hätte, erzählt er doch mit Dank von seinen Lehrern, den Nullbrüdern in Magdeburg und Melanchthon weiß von dem alten Magister Trebonius gar Liebliches zu berichten. Aber die Volksschule, die christliche Volksschule als Fortsetzung| der häuslichen Erziehung und auf dem evangelischen Grunde wie diese sich erbauend hat er doch erst recht geweiht. Sie soll alle Kinder umfassen, auch in den „Maidlinschulen“, soll taugliche Männer frommer Art zu Lehrern, vielgeschickte Jungfrauen zu Lehrerinnen haben, soll wenig, aber das Wenige gründlich darbieten, den Katechismum traktieren, die biblische Geschichte in ihrer ganzen Größe und Tiefe darstellen, die Kinder im Heiligtum leben lassen, die Geschichte des Volkes nicht vergessen und den Gesang fleißig üben, denn „einen Schulmeister, der nicht singen kann, den seh ich gar nicht an“. Der Unterricht soll kurz sein, die vielgerühmten körperlichen Uebungen nicht vergessen. Dieser Volksschule bescherte er den Katechismus, das einfältigste und großartigste Buch aus seiner Feder, das um seiner Schwere willen zu schelten noch nicht ihn verstehen heißt und der Konstanzer Johann Zwick schenkt Kinderlieder, andere wie Agricola Reimlein und Rätsel. Die allgemeine Schulpflicht zuerst eingeführt zu haben, ist Ehre und Verdienst protestantischer Länder. Die rechten Lehrer aber „soll man zehn Jahre stehen lassen, dann stäupen und losgeben: sie haben ihr Brot wohl verdient, darum soll man sie in Ehren halten.“ Die ersten Lehrer der Volksschule aber waren und wurden Pfarrherren, ein Nikolaus Hermann, ein Matthesius, ein Thomas Venatorius (Jäger), wohl auch ein Vinzenz Obsopoeus (Koch) in Ansbach. Wenn aber dem durch die neue Zeit und ihren reicher pulsierenden Verkehr die idealen Güter verkümmert und ihre Pflege verkürzt werden will, mahnt er – und nicht umsonst – die Ratsherrn (1524), daß sie höhere christliche Schulen gründen sollen. Ilefeld im Harz und sein Michael Neander, Goldberg in Schlesien und sein Trotzendorf, Schlettstadt und sein Johann Sturm, Nürnberg mit Joachim Camerarius, Ansbach mit seinem Koch, Augsburg bei St. Anna mit dem Harburger Schreiber Hieronymus Wolf, das Gymnasium Poeticum zu Regensburg sind die Antwort auf solchen Rat, der kleineren Schulen nicht zu gedenken, wie sie auch durch unser Bayernland verstreut waren. Dem evangelischen Gymnasium schenkt Melanchthon seine griechische Grammatik, die wohl 80 Auflagen erlebte. Edle Schulkomödien dienen ihm, wie Rollenhagens „reicher Mann und armer Lazarus“, reine Bilder sollen das Gelehrte veranschaulichen, aber vor allem soll man an den Sprachen, dieser „Kemenate des Geistes halten, der Scheide des Geistesschwertes.“ So ward Latein, in dessen Handhabung Luther nach seiner Art Meister war, fleißig geübt – man „konnte meinen, Deutschland liege in Latium“ – und die griechische Sprache| kam zu Ehren, die Muttersprache aber blieb nicht dahinten. Aus Luthers Werken haben ja die – Jesuiten die Musterbeispiele für eine deutsche Grammatik geholt! (Schnedermann: Zur Literaturgeschichte.)Aus der friedlichen Enge des Hauses, aus dem vorbereitenden Ernst der Schule geht der Weg in die Oeffentlichkeit und Unruhe der bürgerlichen Gemeinschaft, des zweiten Gottesstiftes, des Staates. Wenn im Mittelalter die einen alle Lebensinteressen im Staate aufgehen ließen und für den Staat alles angelegt sehen wollten, welttrunken und weltferne zugleich – ich erinnere nur an die Florentiner Medicäer und an den wissenstrunkenen Humanismus mit seiner altgriechischen Staatsidee, hinter der die Rücksicht auf die Familie zurückstehen sollte und in der nur wirklich tüchtig war, der für die Oeffentlichkeit arbeitete und ihr diente – so hat Luther den Staat in seine Schranken gewiesen, ihm nur die Berechtigung zuerkannt, die das Weltwesen, das vergänglich ist, erwarten und verlangen kann, hat nicht die tätige Mitarbeit an der Gestaltung des öffentlichen Lebens für jedermanns Pflicht gehalten, wie er denn selbst von bewundernswerter Naivität in Beurteilung der weltlichen Konjunkturen war, ob er gleich mit intuitivem Tiefblick meist das Richtige erschaute. Aber so weit er von antiker Ueberwertung des Staates sich entfernte, die alles Eigenleben als Idiotie im schlimmsten Sinne erklärt, so ernst warnte er vor Unterschätzung des Staates, wie sie die mittelalterliche Theologie eines Gregor VII., Innocenz III. und Bonifaz VII. predigte und in der Lehre von den zwei Schwertern, im Bilde von Sonne und Mond versinnlichte. Er gab den weltlichen Ordnungen und Gesetzen ihr volles Recht und predigte die schlichte Pflicht des Gehorsams nach apostolischem Vorgange auch unter schweren Verhältnissen, deren Unleidlichkeit er nicht nach Calvins Rat und Meinung mit offenem Widerstand beseitigt wissen, sondern in stillem Gehorsam und gegebenen Falles durch Auswanderung aus dem Lande des Druckes gehoben sehen wollte. Die Hugenotten und die Niederländer sind nicht seine geistlichen Söhne, so wenig die Salzburger und Zillerthaler Nachfolger Calvins sind. Und weder der Schmalkaldische noch der dreißigjährige Krieg sind lutherischem Wesen entsprungen; Friedrich V. war Calvinist und Johann Friedrich von reformierter Seite beraten!
So hat Luther den Sinn rechter Loyalität gepflegt, für den Kaiser, das „junge deutsche Blut“ (das freilich arg verdünnt war), das Beste gedacht und von ihm erwartet, auch nach 1522 und 1530, hat für den Kaiser beten heißen. Ihm sollte der Türkenpfennig willig gezahlt| und sein Sohn Paul zu Gebot gestellt werden, daß er wider die Türken ziehe. Die Beichtväter in der Nähe Karls V., welche, lutherischer Neigungen verdächtig, der Inquisition verfielen, mögen es ihm bezeugt und der Bayernherzog Wilhelm IV., nach anderen sein eigener Bruder Ferdinand, bewiesen haben, daß die Evangelischen „den Artikel von weltlicher Obrigkeit“ hochhalten, wie es der 15. Artikel ihres Grundbekenntnisses und die Auslegung beider, des 4. Gebotes und der 4. Bitte, ausweisen. Aber die Loyalität ward nicht zum Byzantinismus. Ein Byzantiner schreibt nicht davon, daß er den Kurfürsten mehr schützen könne, denn dieser ihn und daß dieser nichts gesehen habe, weil er nichts glaubte, ein Byzantiner buhlt um Fürstengunst und trachtet in ihre wärmende Nähe zu kommen. Einmal wollte und sollte Luther seinem fürstlichen Gönner nahen: es war der Weg zum Sterbenden. Noch ehe er hinkam, war Friedrich der Weise entschlafen. Wenn man aber die beiden Leichenpredigten (Parentationen) zu Ehren seines treuesten Schutzherrn, Johann des Beständigen († 16. August 1532) liest, die Luther wiederholt weinend wie ein Kind am 18. und 21. (?) August gehalten hat, staunt man über die Freimütigkeit, mit der „unser liebes Haupt“ beurteilt, aber auch über die Ruhe und Unbekümmertheit, mit der des Kommenden und Johann Friedrichs gedacht wird. „Unter seinem Schutz und Schirm haben wir bisher in gutem Frieden gesessen und aus seinen Händen das liebe Brot gegessen. Nun wird hinfort ein anderes Regent und Regiment, und niemand weiß, wie es geraten soll. Unser lieber Herr ist ein sehr frommer, freundlicher Mann gewesen, ohne alles Falsch, in dem ich noch nie einigen Stolz, Zorn noch Neid gespüret habe, der alles leichtlich tragen und vergeben konnte und mehr denn zu viel milde gewesen ist. Ob er im Regiment auch gefehlt hat, wie sollte man ihm tun? Ein Fürst ist auch ein Mensch und hat allenthalben zehn Teufel um sich her, wo sonst ein Mensch nur einen hat.“ Aus dieser Loyalität heraus, die um Gottes willen die Obrigkeit ehrt, warnt er vor unreifer und leichtsinniger Kritik ihrer Maßregeln. Wenn wir sehen, daß Regenten straucheln, sind wir bald da, meinen: „Ei, so wollte ichs machen und so, und sollten wohl den Karren recht in den Kot hinein führen oder gar über und über werfen, wenn wir regieren sollten. Daß uns niemand kann recht tun, und sind doch selbst nie recht worden.“ Und mit heiligem Ernste mahnt er: „So wir mehr für die Obrigkeit zu Gott redeten als wider sie zu Menschen, wäre es ihr und uns nütze.“| Die Anhänglichkeit an das Vaterland ist dem Manne, der doch so gerne des jüngsten Tages gedacht und die Herberge nicht ungerne verlassen wollte – „wir wollten gerne los sein und heim fahren, wenn’s Gott will. Amen. Amen. Amen“ –, doch ein süßes Ding und eine angeborene Pflicht. Wie rühmt er sein deutsches Vaterland und dessen Sprache, in deren Schätze er mit wachsender Lust sich vertieft, wie tritt in der Erinnerung späterer Tage Welschland, und seine Schönheit hinter deutschem Wald und Berg und Tal zurück. Nürnberg, „Auge und Ohr Deutschlands“, Augsburg und seine freundlichen Straßen und Häuser, selbst Wittenbergs Sand und Heide, ein „rechtes Schindleich“ verklären sich ihm in der Heimatsliebe. Eben aber weil er sein Vaterland liebt mit echtem und heiligem Ernste, schreibt er an Hartmut von Kronberg (1522): „Gott ist mein Zeuge, daß ich in meinem Herzen eine Angst und Sorge habe, wo der jüngste Tag nicht das Spiel unternimmt, wird Gott sein Wort aufheben und der deutschen Nation solch eine Blindheit senden und sie also verstocken, da mir greulich ist, dran zu denken“. Er kennt den Teufel jeglicher Nation, sein Volk soll am Saufteufel zu Grunde gehen. „Faule Hände müssen ein böses Jahr haben“, wenn sie den fahrenden Regen der Gottesgnade nicht einbringen. Patriotismus ist nicht Chauvinismus, nicht Verliebtheit in das Volk und seine Herrlichkeit, sondern Gebet und Arbeit, Sorge und Achtsamkeit für das Volk. Darum war auch die letzte Tat des scheidenden Reformators eine patriotische für seine lieben Landesherrn, die Mansfelder Grafen, deren „Schlegelgesellen und Bergwerksleute“ Jakob Reinicke) ihm liebe Genossen gewesen waren. Zum Tode krank und müde hat er „das stachlichte Schwein“ der Händel und Zänkereien zwischen den Grafen abgetan und darf sich freuen, daß die jungen Herrlein und Fräulein bereits gemeinsam Schlitten fahren, und „man greifen darf, wie Gott Gebete erhört.“ Dann kehrt er heim, um zu sterben.Daß der Staat kein fleischloses, blutleeres Phantom, noch das alles ausfüllende Ideal ist, diese Erkenntnis verdanken wir Luther. Er hat uns das Vaterland und die Erdendinge lieben gelehrt, ohne daß wir an sie uns verlieren dürften, hat das Auge und das Gewissen für die Pflicht gegen den uns schützenden Staat geöffnet, der dafür sorgt, daß nicht alles verkehrt und zerstört werde, Steuer und Abgabe willig zu tragen gemahnt und dabei nie versäumt, von dem wahren und bleibenden Bürgerrecht zu zeugen und seine ewige Bedeutung einzuschärfen. Wenn Friedrich der Große der erste Diener des Staates sein, und wiederum im Jahre 1813 der ärmste Bürger sein Scherflein auf den Altar des Vaterlandes niederlegen wollte, wenn die Könige von Gottes Gnaden sein und die Untertanen landesväterlich regieren, diese um des Gewissens willen gehorchen wollten, so ist das eine Frucht der Reformation, deren rechte Erfassung der Revolution ebenso wehrt als der Diesseitigkeitspolitik.
Die den Armen stützenden (ich erinnere an die Ordnung des „Gemeinen Kastens“ zu Leisnig), den Ohnmächtigen schützenden, wahrhaft sozialen Gesetze sind aus evangelischem Geiste geboren. Der Staat weiß es nicht oder vergißt es oft, was er Luther verdankt.
Aber am meisten verdient und empfängt Luther unsern liebenden Dank, weil er unsere Seele in der Kirche heimisch gemacht hat, die nicht als starrer, weltbeherrschender Organismus mit dem antiken Herrschaftsgedanken, sichtbar und greifbar, äußerlich imposant, wie „das Königreich der Franzosen und die Republik Venedig“ (Bellarmin † 1621) mit streng bestimmenden Gesetzen in das Leben des Einzelnen eingreift, dem sie die Pflicht der Selbstentscheidung, aber auch die Aufgabe der Selbstverantwortlichkeit abnähme, sondern die als gottgeschenkte, von dem Herrn Christus gestiftete innere Gemeinschaft unbeschadet äußerer Ausgestaltung und Entwicklung als Freikirche, als Landes- oder Volkskirche um diesen ihren Herrn, der sie erlöst und geheiligt, mit Ewigkeitskräften für und über die Zeit ausgestattet, in fortgesetzter Durchwaltung und fürbittender Regierung zu behüten verheißen hat, sich im Glauben schart „als die heiligen Gläubigen und die Schafe, die ihres Hirten Stimme hören.“ (Schmalkald. Artikel.) „Wo also (sagt Melanchthon ganz in Luthers Sinn) Gottes Wort rein geht, wo die Sakramente demselben gemäß gereicht werden, da ist gewiß die| Kirche, da sind Christen“. „Wo Christus ist, da ist Kirche. Und wie Er gehalten wird, so ist die Kirche.“ Daß dieser Kirche, „so lange dieses Leben währt“, „nach äußerlicher Gesellschaft“ viele Ungläubige, Laue, Gleichgiltige angehören, muß getragen werden, andererseits hebt die Gewißheit, daß nicht die Teilkirche oder jene allein selig macht, sondern daß weit über die Grenzen der Konfession viel wahre Christen leben. Luther hat nicht umsonst von Staupitz († 1524) und frommen Klosterbrüdern herztröstende Zusprache empfangen, „den besten Tröster und Beistand, so unter Menschen zu finden, nämlich den ehrwürdigen M. Bartholomäum“ (Brief an Georg Leiffer). Da die Kirche, die weder auf Erfindungen – diese ist einmal geschehen (Hebr. 9, 12) – noch auf Entdeckungen Luthers, nicht auf Spekulationen philosophischen Denkens noch auf unbedachten und unberufenen Neuerungen beruht, nicht Deformation des mittelalterlichen Kirchtums, sondern die von Gott veranlaßte, geleitete und gesegnete Reformation ist – wir sind die „wahre katholische Kirche“ gegenüber Johann Ecks 404 Irrtümern der Neuerer und seiner Erweisung, daß „die Lutherischen schlechter als die Türken“ seien (1530) – , gibt es nur eine Instanz in ihr: „Gottes Wort“. „Dieses soll Artikel des Glaubens stellen, und sonst niemand, auch kein Engel (Schmalk. Art. vergl. Gal. 1, 8), denn „Gott will mit uns nicht anders handeln als durch sein Wort, ohne welches er keinem seinen Geist oder Gnade gibt“. Dieses Wort, Gottes persönliche ob auch „in geringe Windeln gelegte“ Offenbarung, in heiliger Schrift verfaßt, bezeugt über allem und vor allem, aber auch in allem, daß Jesus Christus „sei nicht der Mann, der uns verklagt noch droht, sondern der uns versöhnt und vertritt durch seinen eignen Tod und Blut, der liebe Heiland, der süßeste Tröster, der treue Bischof unserer Seelen. Er allein „ist der einige Weg und Steg, der Zirkel, darin der einige Punkt steht, in dem alle anderen Figuren begriffen werden, das einige Eins, der Anfang aller Zahlen.“ Darum sagt Er (Matth. 11, 28): zu Mir. Wer aber sind, die da kommen sollen? Die Mühseligen und Beladenen. Was ist das für ein Gesindel? Ich kenne die Bauern nicht: Meister, Mühselige und Beladene. Stattliche Namen als Bürgermeister solltens sein! Die Verheißung erstreckt sich über Bös und Gut, Klein und Groß, Kalt und Warm, Dürr und Grün, so ist sie nicht allein frommen heiligen Leuten zuzuschreiben in langen Kleidern bis auf die Schuhe! – (An einen Ungenannten 1528.) Dieser Christus liegt in der Krippen, „aber sitzt gleichwohl zur rechten| Hand Gottes, des allmächtigen Vaters; nicht allein seine bloße Gottheit ist bei uns, die doch wie ein verzehrendes Feuer gegen Stoppeln wäre, sondern Er, der Mensch, den alle Trübsal versucht hat, der mit uns als mit Menschen und mit seinen Brüdern Mitleid haben kann.“ Nicht der weltferne Richter, der in unnahbarer Majestät thront oder von den Triumphbögen der Kirche in hoher Erhabenheit herabsieht (Kähler Vorr. zu seinen Osterbetrachtungen), dessen Gnade die göttliche Mutter und die Heiligen erst erbitten müßten, sondern „der rechte Trotz, Meister und Tröster, der mir nichts sagt als von Gottes Gnade und ewigem Leben“ (Predigt über Joh. 14, 18–21).Diesem Worte muß man trauen. „Sind doch die Sprüche Stecken, ja Bäume, daran sich einer hält und läßt das Wasser brausen und rauschen, wie es will. Mit dem Wort in der Faust mag man die Feinde scharren und pochen, drohen und schrecken lassen, wäre das Wasser noch so tief, wir kämen hindurch.“ „Der Teufel zwar kann das Wort nicht leiden. Von Natur ist er so boshaftig und giftig, daß ihm leid ist, daß ein Apfel auf einem Baum wächst, daß du einen gesunden Finger hast. Keinem Ding aber ist er so feind als dem lieben Wort, das deckt ihn auf, daß er sich nicht bergen kann und weiset jedermann, wie schwarz er ist. Es brauet immer ein Unglück über das andere, denn er ist ein mächtiger, boshaftiger und unruhiger Geist. Aber das Wort ist ein Fels, der nicht zu gewinnen ist.“ (Ein schöner, tröstlicher Sermon in den Fasten 1530.)
Der Glaube und das „verwogene Vertrauen ist ein Gottesdienst, da ich mir schenken und geben lasse.“ Es tuts nicht, daß ich die Historie weiß, wie Christus geboren ist, gelitten hat, das wissen die Teufel auch, sondern das gewisse starke Vertrauen im Herzen, daß es sich desselbigen ganzen Schatzes annimmt und sich des tröstet, daß Gott uns schenkt und uns mit allem Schatz der Gnade in Christo überschüttet.“ Dieser Glauben ist nicht ein Fühlen: will einer ein Christ sein und nach dem fühlen sich richten, der verliert Christum! – Auch nicht ein Wissen „was Gott will heimlich halten, das sollen wir gerne nicht wissen“. „Denn das ist der Apfel, davon Adam und Eva den Tod gefressen haben samt allen ihren Kindern, da sie auch wissen wollten, was sie nicht wissen sollten“. Sondern Glaube ist die höchste Tat des Willens, da man „das Werfen der Sorgen wohl lernt und erfährt, daß es gewiß also sei“. Wer aber solches Werfen nicht lernt, der muß bleiben ein verworfner, zerworfner, unterworfner,| ausgeworfner, abgeworfner Mensch“ (zu Psalm 55, 23), nimmt Gott beim Wort, Christum bei der dargebotenen Rechten, hält sich an den Unsichtbaren, als sähe er ihn und hält das Unsichtbare in die Erscheinung hinein, hofft wider Hoffen und ist so eng „mit dem Geglaubten verbunden, daß auch keine Luft zwischen beide käme“. „Bist du aber noch schwach gläubig, so sprich: ich wollte ja gerne stärker glauben, weiß auch wohl, daß solches wahr und zu glauben ist. Ob ichs nun nicht genug kann glauben, so solls doch Wahrheit sein“. Dieser Glaube und damit führt Luther wahrlich keinen neuen Gedanken ein – der Christum hält wie der Ring den Stein, spricht frei von Sünden, ledig von Angst und Furcht des Todes und dessen peinvoller Knechtschaft (Hebr. 2, 15) und los von dem Gericht der ewigen Gottesferne, er erklärt und verkündet den Todverfallenen als Lebenshelden und den Verworfenen als Begnadeten, er rechtfertigt. „Davon kann man nichts weichen und nachgeben, es falle Himmel und Erde und was nicht bleiben will. Des müssen wir gar gewiß sein, sonst ist alles verloren“. Ja, der Herr Christus ist „ein guter Kaufmann und gnädiger Händler, der uns Leben um Tod, Gerechtigkeit um Sünde verkauft“ (1534). „Ohne unsere Gerechtigkeit können wir selig werden, aber ohne Christus nie im Frieden sein“. So gehört ihm Christus und Glaube, Glaube und Leben zusammen, daß er die ganze Lebenskunst in das kurze Wort legt: „Glaube an den Herrn Jesum, brich den Hals und stirb selig.“Wenn aber trotz der kraftvollen Predigt, diesem „allerhöchsten, heiligsten und nötigsten Gottesdienst“, trotz der heilwertigen Sakramente, trotz der seelsorgerlichen Zusprache in der Beichte, da Gottes Stimme vom Himmel tönt, dein Glaube wanken will und nicht Kraft gewinnen kann, so gibt Luther ähnlich wie Bernhard von Clairveaux dem zaghaften Mönche aufgab, mit seinem Glauben zu kommunizieren, den kühnen Rat, mit fremdem Glauben uns zu trösten. „Es müssen notwendig sein, die da an unsrer Statt glauben, sonst wäre keine christliche Kirche mehr in der Welt und hätte uns Christus vor dem Ende der Welt verlassen“. (An Melanchthon 29. Juni 1530.) Die Zugehörigkeit zur Gemeinde der Gläubigen hebt den eigenen Glauben, wie die alten Deutschen mit Ketten sich aneinander banden, so daß die Reihe der Stehenden den Strauchelnden stützte.
Der Glaube aber, der Christum für sich weiß und bekennt und Ihn als Seinen Fürbitter und Lossprecher preist und so die fröhliche Rechtfertigung her aufführt, bleibt nicht, wie die Gegner einhalten, ohne Frucht und Gewinn, tatenlos und erträgnisarm, sondern so gewiß Erbgut Zinsgut trägt, so gewiß muß der Glaube im Heiligungsleben sich bewähren, das alle Gebiete gleichmäßig umfaßt, langsam, mühsam, aber um so tiefgründiger und echter in alle Aufgaben und Pflichten, Verbindlichkeiten und Verhältnisse verneuend, umgestaltend und schöpferisch eindringt. Gerne erinnere ich an die Stelle aus der Predigt über Joh. 14, 18–21: „Nun (nach der Rechtfertigung) ist Christus in mir: ich habe mich sein angenommen und bin in ihn gekrochen, aus der Sünde, Todes und Teufels Gewalt getreten; so erzeigt er sich wieder in mir und spricht: gehe hin, tröste, diene dem Nächsten, sei geduldig. Ich will in dir sein und alles tun. Was du tust, das will ich getan haben. Sei getrost, keck und unverzagt auf mich und siehe, daß du in mir bleibst.“ Die magna charta libertatis Christianae, der evangelischen Christen höchster und edelster Freibrief, vom Himmel geholt und im Himmel bekräftigt, lautet| fortan: „Glaube an den Herrn Jesum Christum und tue die Werke deines Berufs“, da fällt selbstgemachte Heiligkeit, bei der das Wasser im Munde zusammenläuft – man denke an jenen Anhaltiner Fürsten mit der Bettelkappe in den Gassen Magdeburgs, – die Virtuosität der Sittlichkeit, die Erfüllung der „evangelischen Räte und der hohen Gelübde“, die doppelte Sittlichkeit der Armen und der Helden, dieser griechisch-heidnische Gedanke in Staub und Trümmer. „Christliche Vollkommenheit besteht nicht darin, daß ich mich vom Irdischen absondere, sondern der Glaube und echte Gottesfurcht im Herzen ist die Vollkommenheit.“ Alle Menschen, „sie seien in welchem Stande sie wollen, Bauern oder Schneider oder Bäcker sollen ein jeder in seinem Beruf nach der Vollkommenheit streben und allezeit zunehmen in Gottesfurcht, im Glauben und Liebe gegen den Nächsten, und dergleichen geistlichen Gaben“ (Apolog). Nun kommen die ehrsamen Gewerke des Melchior Lotter, des Hanns Lufft, des Hans Sachs und des Meister Nunnenbeck, die edle Kunst Albrecht Dürers und Lukas Kranachs, die Staatsweisheit der Hans Metzsch und Berlepsch, der Feilitzsch und Rühel, der Brück und Beyer, der Vogel und Schurff, der Maler und Meister, der Ratsherrn und Rechtsp[r]echer, der Kanzler und Vielgelehrten zu ihrer Geltung, und auch der Kriegsmann kann in seligem Stande sterben. Nun erblüht jedwedem Stande seine Ehre und erwächst ihm sein rechtes Ziel. Erdenberuf, dieses echt evangelische Wort, ist das gottgefällige Gefäß, in das man den Heiligungswillen einsenkt, aus dem die Heiligungsgaben erstrahlen: „Da siehe deinen Stand an!“ In solcher Heiligung, da Wort und Wille, Werk und Wesen dem sich zuneigen, von dem sie herstammen, ersteht die Freude am Kreatürlichen, am Frühling und seiner Pracht, am Sommer und seiner Freude, am Herbst und seinem Reichtum, an allem Edlen und Reinen, das Gott geheiligt hat, damit der Mensch es nicht gemein mache. Hier hat auch der reine, köstliche Humor seine Wurzeln und Stätte, der „wie Silberwolken auf der Himmelsbläue des Glaubens dahinzieht“ (Kögel).So bleiben auch die Bilder der Heiligen, daß man an ihnen seinen Glauben stärke und ihr Exempel sich dienen lasse, und mit Fug werden die Bilder St. Christophori „erneut“, des „heiligen Christoffel, obgleich nie je ein Mann gewesen ist, der also geheißen oder leiblich das getan hat, was man von ihm sagt, sondern der dieselbe Legende oder Fabel gemacht hat, ist ohne Zweifel ein feiner, vernünftiger Mann gewesen, der dem Volke vorgemalt hat, wie christliches Leben gericht und geschickt sein soll.“ Und wenn das Sakramentshäuschen als himmelanstrebender Dank, der aus den Steinen quillt, wenn das ewige Licht – ich erinnere an die alte v. Tucher’sche Stiftung in St. Lorenz zu Nürnberg – als Mahnung an Joh. 8, 12 und 12, 35 gefaßt werden will, warum sollten sie an heiliger Stätte nicht bleiben dürfen? Christ, unser Meister heiligt die Geister: die Reformation schlägt die Kunst nicht nieder, so wenig Rauchs betender Moses in der Friedenskirche zu Sanssouci und Rietschels Pieta, die Reliefs und Apostelgestalten und der ladende Christus in der Frauenkirche zu Kopenhagen den reformatorischen Geist verleugnen. Gerade ein Vergleich zwischen dem Friedensengel Tenerelli’s über den Gräbern Friedrich Wilhelms IV. und der Königin Elisabeth mit Rauchs Moses ist lehrreich. Hat die Reformation nicht die Machtgestalt Pauli geschaffen, „nicht die dürres und mageres Leibes, so eine kleine, geringe Person“ – und gegenüber der leichtfertigen Doré’schen Kunst die heilig ernsten, herben und doch trauten Gestalten der Schnorr’schen Bilderbibel?
Und wenn jemand die Einfachheit des Kultus und der gottesdienstlichen Feier beanstanden wollte, denke er daran, daß die oft ändernde und helfende Zeit an Nebensächlichem nur sich versucht hat. Wollten wir die Pracht der gottesdienstlichen Gewänder wieder zurückführen, wie sie Schweden in seinem Meßkleid jetzt noch hat, und| einmal im Jahre in Deutschland etwa der Abt von Lokkum (in Hannover) anlegt? Luther würde nichts dagegen einzuwenden haben, da er launig erklärt, seinetwegen könne einer drei Gewänder über einander anziehen, wenn es ihm gefalle. – In fränkischen Landen hatten die Geistlichen wie es in Altwürttemberg noch heutigen Tages gilt, über dem schwarzen Talar das weiße Chorhemd, bis diese Lande dem sparsamen Preußen zufielen, das 1797 wegen der Wäscheunkosten die Alben kurzerhand abschaffte, nachdem Friedrich Wilhelm I. sie schon sechzig Jahre vorher in Berlin verboten hatte. Freilich ist Gewand und Aeußeres unserer Gottesdienste bescheiden und einfach, so daß man wohl darauf achten muß, die Einfachheit nicht zur Unwürdigkeit herabsinken zu lassen: Domum Domini decet decorari: „dem Gebäu Gottes gebühret Geschmuck“.Wenn aber der Choral ehrfürchtig schweigt, tut die Kirche Luthers das Bibelbuch auf, dessen Verdeutschung dreizehn Jahre seines teueren Lebens gefordert hat. Wie baut er den Heiligen Alten Bundes, daß man ihnen durch den Psalter ins Herz sehe (Vorw. zum Psalter), den lieben Propheten allen eine Hütte auf deutscher Erde, die hehrste aber und herrlichste ihrem und seinem Herrn! (Matth. 17, 4.) Und zum Dank heben sie an, deutsch zu denken, deutsch zu reden. In seiner Schrift vom Dolmetschen hat es uns Luther an etlichen Beispielen verraten, wie er die liebe Biblia in deutsche Klänge goß. „Du liebe (Kecharitoméne Luk. 1, 28) Maria“ – voll der Gnaden, sei undeutsch du „Holdselige“, reich an Huld(sal: in Salbuch, das Verzeichnis der Landgüter), gnadenreich. – Das Bauerndeutsch, die Volkssprache, der Ton, der vom Herzen her das Herz trifft, das Sprichwort, die bräuchliche Redensart, der Feierklang, der Betspruch, der Kindervers – sie alle müssen beitragen, damit aus den ewigen Hütten unsre Sprache ertöne.
Und Worte, aller Müden Labe,
Die fern des Heilands Lippe sprach,
Die sprach der blonde deutsche Knabe
Im Schoße seiner Mutter nach –
Darum haben wir Luther lieb, weil er so viel in die Kirche gestiftet und das Gotteshaus heimlich gemacht hat, weil er die Schule weihte und das Haus schmückte, das Vaterland lieb und sein Gesetz und Brauch wert machte. Er hat seinem Volk in Jahrzehnten gegeben, was Jahrhunderte ihm versagt hatten, hat es beichten gelehrt und zur Gnade geführt, die Sünde ernst, aber die Gnade viel größer und trauter gepredigt, das liebe heilige Kreuz ihm als köstliche Reliquie verehrt und die Hoffarbe des Kreuzes in lichte Freude verklärt.
Wo die Sonne so reich und herrlich leuchtet, muß der Schatten sein, um ihren Glanz erst recht erkennen zu lassen, Heroen der Gnade müssen Schwächen haben, damit sie sich nicht überheben. Wir kennen keinen heiligen Luther, keinen fünfzehnten Nothelfer, obgleich er uns, mit Dürer zu reden, aus großer Not geholfen hat und sein Leben größer, edler, frömmer war als das „manches stolzen Heiligen“. Wir wissen von seiner ungestümen Heftigkeit – und doch hatte er keinen persönlichen Feind; wir wenden uns mit Unlust von mancher derben, ja unzarten Wendung, aber zweideutige Schlüpfrigkeiten und eindeutige Zoten, wie bei Enea Silvio, dem späteren Pius II., finden wir nicht bei ihm. Er ist manchmal zu gewaltig, ja vermessen. Aber er ist nie hochfärtig, sondern von Herzen demütig. „Wir sind Bettler, das ist| wahr“. Dies sein letztes Bekenntnis am Ende einer Arbeit, die so viele reich machte! Ja, Carlyle hat recht: Großer Mann, so gar nicht darauf es anlegend, groß zu sein. Himmelansteigendes Waldgebirge, aber in seinen Tälern liebliche Auen und Blumen.1617 hat der Rektor der Schule zu Eilenburg im Sächsischen, Martin Rinckart von seinen Schülern eine „Komödie“ aufführen lassen: Eques Islebiensis. Wir kennen diesen Ritter von Eisleben ohne Furcht und Tadel, mit der Helmzier der Hoffnung und dem Sturmhelm der Getrostheit, mit dem Schild des Glaubens und dem Schwert des Geistes, wir sehen ihn getrosten und gelassenen Mutes mit dem Untier streiten, dem Teufel widersagen, den Tod verachten. Zu seinen Füßen liegen seine Feinde, er aber lenkt der Burg der Väter zu: O Ehrenburg, sei nun gegrüßet mir. Aus dem Stolze des Protestanten auf seinen geistlichen Vater, aus der Freude des Lutheraners an seinem treuesten Freund, aus dem Danke des evangelischen Christen für den Glaubensgewinn, den die Reformation bedeutet und täglich verbürgt, lieben wir unseren Luther trotz seiner Schwächen, die Gott längst von ihm abgetan hat. Aber wir kennen die Mahnung des apostolischen Briefes (Hebr. 13, 7), in der Betrachtung der Lebensbilder apostolischer Väter nicht zu schwelgen und tatenlos zu ruhen, sondern ihrer Glaubensarbeit nachzufolgen. Nur durch Arbeit wird Arbeit geehrt.
1917 steigt langsam herauf. Man schmückt das stille Grab dort unter der Erzplatte in der Wittenberger Kirche, man umkränzt seine Bilder und Monumente. Aber man vergesse nicht, zu bitten, daß sein Geist als Doppelerbe auf uns niedersteige, der einfache, wahre, lautre, fromme Geist, der von sich nichts, alles von Christo hat, hält, bewahrt.
Glaubt an das Evangelium, braucht das Licht (Joh. 12, 36), dieweil ihrs habt – mahnt er uns. Und wir antworten: Ich glaube an Jesum Christum, meinen Herrn, der mein Wissen, mein Können, mein Alles ist bis ich Ihn schaue und Ihm danken kann, in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit. Das ist gewißlich wahr.
in Kaufbeuren.