Wandlungen
Wandlungen.
So habe ich es gern, wie es heute draußen war. Für einen verhältnismäßig schon alten Junggesellen just das rechte Spätherbstwetter. Mein lieber Neffe schalt auf den Sturm, wie er im Walde durch die gepeitschten Baumkronen raste, und fand den Weg zum Bahnhof höchst ungemütlich. Es steckt keine Poesie mehr in dem jungen Volk. Da waren wir anders. Die sind heute viel zu „patent“, viel zu geschniegelt geworden, um noch jung sein zu können. Und wir waren doch auch gerade nicht von der Bank gefallene Kinder, sondern Gesellen, die sich sehen lassen konnten in der Cereviskappe, mit Band und Bierzipfel. „Wenn wir durch die Straßen zogen, recht wie Bursch’ in Saus und Braus“ – das machte sich wenigstens ebensogut, wie wenn die jungen Herren heute mit Glacéhandschuhen und mit „durchgezogenem“ Scheitel Fensterparade machen. Doch was ereifere ich mich da um nichts und wieder nichts: es waren ja doch prächtige Tage, da der junge Gesell in meinem stillen Pfarrhaus weilte, und es thut mir leid darum, daß sie vorbei sind. Und nun sitze ich hier wieder allein und schreibe an meinem Tagebuch. Was soll man schließlich thun, wenn man niemand hat, mit dem man sprechen kann? Und gerade heute stürmen Erinnerungen so mancher Art auf mich ein. Was ein Wort, ein Name doch thun kann! Wie wir da durch den Sturm unsern Weg im Walde machten, kam uns ein Ponygefährt entgegen. Unseres Försters Töchterlein saß darin, frisch und blühend. Ich sprach einige freundliche Worte mit ihr, während Hermann abseits stand, nicht ohne mit wohlgefälligem Blick das saubere Mädel zu betrachten.
„Du, Onkel, die hättest Du mir eigentlich auch früher zeigen können,“ sagte er schmollend, als wir weitergingen. „Weißt Du, bei Dir war’s ja sehr nett, aber solch kleine Bekanntschaft, das ist doch der Tau in der Rose und die ideale Seite des studentischen Lebens.“
Ich verwies ihm seine leichtfertigen Reden, wie sich das für mich gebührte. „Ach was, Onkel, das ist nicht so schlimm!“ rief er lustig. Ihr würdigen Herren seid auch ’mal jung gewesen. Hab’s in Deinem alten Kommersbuch selbst gesehen, wie das Lied von dem Wanderburschen rot angestrichen war, und der Vers noch besonders:
So manches liebe Gläschen Wein
Müßt wahrlich ungetrunken sein;
So mancher Mund, der kußlich ist,
Der bliebe wahrlich ungeküßt;
Denn wenn kein Wanderbursche wär’,
Wo käm’ das liebe Wandern her?“
Und der Schlingel (übrigens hatte er recht) sang es mit heller Stimme in den herbstlichen Wald hinein. „Junge,“ sagte ich sehr ernst, „ich bitte mir etwas mehr Achtung vorm Alter aus.“
Da umfaßte er mich und sagte: „Ach Du mit Deinen zweiundvierzig Jahren könntest noch gerade so gut Student sein wie ich! Weißt Du was, Onkel? Heiraten mußt Du! Es ist Sünde und Schade um Dich, daß Du als Junggesell einem einsamen Tod entgegensiehst.“
„Habe nur keine gefunden, mein Junge, die mir so recht gefallen hätte; weißt Du eine?“ Er pfiff leise zwischen den Zähnen vor sich hin. „Ich weiß eine, Onkel, aber ich sag’ es Dir nicht! Ein bißchen jung ist sie freilich für Dich. Ein reizender Besen. Lernte sie bei Oberamtmann Fabri kennen. Da war sie ein Jahr im Hause. Waren alle närrisch in sie verschossen. Aber unnahbar wie die Gipfel des Himalaya und dabei doch freundlich wie ein Frühlingstag. Das Mädel hatte nur einen Fehler: sie war arm wie eine Kirchenmaus. Eine Pfarrerstochter. Aber ich sag’ Dir, Onkel, und wenn sie nur hunderttausend gehabt hätte ich hätt’ sie unbesehen genommen, die kleine Else Oswald.“
„Oswald?“ rief ich und blieb stehen, den Stock in die Erde stemmend. „Oswald hieß ja mein liebster Freund auf Erden, mein Waffenbruder und Spießgesell; weißt Du nicht, wo sie her war?“
„Freilich. Irgend so ein gräßliches Ding in Sand und Heide da hinten, wo des heiligen römischen Reiches Streusandbüchse anfängt, rühmt sich ihrer Geburt ...“
Keine Frage, ich hatte eine alte Spur wieder aufgefunden, und mein Herz klopfte bei dem Gedanken, als ich den langen Weg durch den dämmernden Abend wieder zurück machte, allein, in stillem Sinnen. Es kam etwas über mich wie Wehmut der Einsamkeit. Ich sehnte mich mit einem Mal nach altem Glück vergangener Tage. Tausend lichte Bilder stiegen vor meiner Seele auf, wie dunkler und dunkler die stürmende Nacht sich niedersenkte. Ich halte euch fest, ihr Bilder. –
Ich war ein Bursche, der viel vom Leben verlangte – auch einen Freund. Und der sollte mir werden. Es war ein blütenreicher Tag gewesen, als wir zum erstenmal draußen im Waldschlößchen uns getroffen und mit warmen jungen Herzen erkannt hatten, daß wir zusammengehörten. Beim ersten Sternenschimmer, als wir Arm in Arm nach Hause gingen, kehrten wir noch einmal in der „Ohrwaschel“ ein, dem Wirtshaus im Steinbruch, über dem die Tannen rauschten, und da blieben wir sitzen. Das Bier war gut, am Bach sang eine einsame Nachtigall, die Mondsichel stand klar am Himmel und stieg höher und höher und als sie im Morgenrot unterging, da saß der Wirtin Töchterlein tiefschlafend hinterm Ofen; aber wir beide saßen noch beisammen. Hatten viel miteinander geredet in der Nacht, und es war Morgenlicht nicht nur über der Welt, als wir heimpilgerten, nein, auch in uns, wie wir singend durch den stillen Wald zogen.
Die „Dioskuren“ nannten sie uns, und mächtig wurden wir „gekeilt“ von allen Verbindungen. Es sah gut aus, wenn wir beide um Mittag durch die Hauptstraße bummelten. Und wir sprangen beide ein bei den „Märkern“. Zwei Renommierfüchse, wie sie im Buch stehen. Aber er, Werner, war mir über, wenigstens in einem Stück. Wo er zwei Mädchenaugen blitzen sah, da flog sein Herz hin. Der „schöne Märker“ hieß er bald, der ritterliche Gesell, der den Blondkopf so hoch trug. Und sie waren stolz darauf, die Mädel, deren Spur er folgte, und seine Streiche mochten so toll sein, wie sie wollten, ihm wurde alles verziehen, wenn er mit seinem siegreichen Lächeln auf den Plan trat, mit dem bittenden Blick der Augen, in denen ein eigentümlicher Zauber lag, dem wenige widerstanden. Ich habe ihn oft gewarnt: „Werner, eine kannst Du doch nur heiraten!“ Dann lachte er laut und fröhlich auf und schlug mich mit starkem Schlag auf die Schulter. „Ja, aber dann die beste und schönste von allen!“
Es gab großes Trauern, als er davonzog, er selbst leichtherzig, wie er gekommen, und manch Philistertöchterlein hat heimlich geweint, daß er ihr nimmer Ständchen brachte um Mitternacht und im Sternenschimmer nach der Rose suchte, die ihm zum Dank durch die Fensterspalte hinabgeworfen wurde.
Auf der Abschiedskneipe, da saßen wir noch einmal bis zum Morgengrauen beisammen und tranken noch einmal mit mächtigem Zug zusammen aus dem großen silberbeschlagenen Horn, dann gaben wir ihm singend das Geleit zum Bahnhof. Aus dem Wagenfenster drückte er mir die Hand, daß es mich schier schmerzte, sah mir mit jenem unbeschreiblichen Blick in die Augen und sagte leise dazu: „Siegfried, Deine Liebe ist mir köstlicher gewesen denn Frauenliebe; Gott befohlen – und auf Wiedersehen!“ So fuhr er hin – und mit ihm meine beste Jugendzeit.
Ist nun bald ein Vierteljahrhundert über dem allen dahin. Wir kamen auseinander, schneller, als ich für möglich gehalten. Aber vergessen thut man darum doch nicht. Ich such’ ihn mir, such’ ihn auf! Möchte noch einmal im Gasthof zur „Goldenen Jugendfreundschaft“ einkehren, um in ihm einen tiefen Trunk guten Feuer- und Freudenweines zu thun. Aber unvermutet möchte ich hineintreten in seinen Kreis, an seinem fröhlichen Erstaunen mich weiden, wenn da plötzlich solch ein alter Confuchs hereinschaut. Ein Bett ist ja immer übrig, und paßt es nicht, nun, dann geh’ ich halt in den Krug. Kommt Zeit, kommt Rat. Es liegt ja noch ein langer Winter zwischen heute und der Reisezeit. Aber wozu es doch manchmal gut ist, wenn einen ein Neffe besucht und ein Ponywagen durch den Wald fährt!
So schrieb ich voriges Jahr. Seitdem ist viel Wasser von den Bergen geflossen und vieles hat sich gewandelt, in anderer Leben und in meinem. Es ist Abend. Draußen ist alles so stumm, als wär’ ich allein in der Welt. Die Geschäfte des Tages, die großen und kleinen, sie ruhen nun, die Gedanken aber werden wach, traurige und fröhliche, wie sie so im Herzen beisammen wohnen. Solch Herz ist ja wie ein großer Gottesacker; sind viele Gräber drin, in denen eingesargte Wünsche, Freuden und [608] Hoffnungen ruhen; aber auf den Grabhügeln blühen jedes Frühjahr neue Blumen, und im Sommer gar geben die Rosen köstlichen Duft. Ich grüße euch, ihr Blumen all’; ich grüße dich, junge liebliche Rose, die du jetzt wohl in der Ferne schlummernd das Haupt geneigt – –
Es war ein heißer Julitag des vorigen Jahres, da wanderte ich meinem Ziele zu, dem Hause des Freundes. Den Stab fröhlich schwingend, schritt ich aus, durch Felder, die der Ernte entgegenreiften, durch niedrigen Kiefernwald, auf den die Sonne sengend niederbrannte. Endlich lag es vor mir, das Dorf, über dem ein stumpfer Kirchturm aufragte, ein Haufen weißer und grauer Häuser und Hütten mit dunklen Dächern hier und da ein einzelner Baum über dem Giebel aufragend, sonst kein Schmuck und keine Zier irgend welcher Art. Still und stumm, wie erstorben war alles in der Glut des Sommernachmittags. Gleich einem Geist fürchterlicher Langweile lag es über Wald und Feld und Dorf. Es wurde einem schwer, daran zu glauben, daß da Menschen wohnen könnten mit schlagenden Herzen, mit schaffenden Gedanken, Menschen, die Freud’ und Leid fühlten. Aber einen wußte ich, in dem lebte das alles, der hatte sich mit seinem reichen übersprudelnden Geiste hineingebaut in diese Einöde und in ihr sein eigen Reich aufgerichtet, barmherzig und hilfreich niederblickend auf die ihm anbefohlene Schar. Der wohnte da in dem Hause neben der Kirche, das den strohgedeckten Giebel über all die anderen Dächer hob und über dem eine Linde mit runder Krone aufragte.
Eilig schritt ich durchs Dorf. Alles still, alle draußen beim Heu. Dort lag der Pfarrhof der Kirche gegenüber; eine Mauer trennte den Vorgarten von der Straße, zur Seite davor war ein großes Einfahrtsthor, das offen stand. Ich überblickte den Hof – unordentlich und heubestreut lag er da, in einer Ecke ein rostiger Pflug, an der Scheunenmauer eine Egge und dicht daneben eine Hundehütte, deren Bewohner wohl auch dem Bann zum Opfer gefallen war, der über dem Dorf lag: er schlief. Aber jetzt mußte er die Nähe eines Fremden wittern, plötzlich mit wütendem Gebell fuhr er heraus, daß er sich fast an der Kette erwürgte, und heulte mich an. Gut, daß ich nicht näher herangetreten war.
Da schallte eine Samme aus der offenstehenden Stallthür: „Tyras, infamer Köter, willst Du das Maul halten!“ und ein gut gezielter Stein fuhr dem lärmenden Tier in die Rippen, daß es mit kurzem Aufheulen in die Hütte kroch. Der Werfende stand in der Stallthür, eine große ziemlich hagere Gestalt, bartlos, mit ergrauendem Haar. So stand er in Hemdärmeln da, mit der einen Hand die Augen vor der Sonne schützend, um nach mir auszuspähen.
„Ist Herr Pastor Oswald zu sprechen?“ rief ich hinüber.
„Ja, das ist er, treten Sie nur näher!“
Langsam kam der Mann in dem ungeordneten Anzug auf mich zu. „Können Sie mich melden?“ fragte ich und hielt ihm meine Karte hin. Er nahm sie, blickte darauf, sah mich an, und zweifelnden zögernden Tones fragte er, und etwas wie grenzenloses Erstaunen und plötzliche Verlegenheit malte sich auf seinem Gesicht: „Pastor Siegfried Willmann – Sie sind doch nicht –“
„Ja, Werner, ich bin’s!“ sagte ich und stützte mich unwillkürlich mit beiden Händen auf meinen Stock. Ja, es war Werner! Der elegante ritterliche Student, der hochfliegende Geist – den ich augenscheinlich beim Ausräumen seines Stalles gestört hatte. Ein Vierteljahrhundert!
Verlegen gab er mir die Hand. „Alter Freund, das freut mich ja! Aber warum hast Du Dich nicht angemeldet?“ sagte er gemessenen Tones, ohne Ausdruck der Freude.
Mich fror beinahe, trotz der glühenden Hitze. „Ich wollte nur im Vorbeigehen bei Dir vorsprechen,“ log ich, „ich bin auf einer Fußreise und hatte zufällig erfahren, daß Du hier wohnest –“
„Hast Dir aber eine wunderliche Zeit und eine wunderliche Gegend ausgesucht zum Wandern!“ sagte er mit einem verlegenen Lachen. „Bis zum nächsten Krug sind’s zwei Stunden, und zum Uebernachten ist’s hier und dort nicht gemacht für patente Leute wie Du. Wir fahren hier alle vierter Klasse durchs Leben und Du jedenfalls zweiter. Entschließ’ Dich, bei mir fürlieb zu nehmen! Viel kann ich Dir nicht bieten –“
Da wallte mir das Herz über. „Werner!“ rief ich, ließ den Stock fallen und legte ihm beide Hände auf die Schulter, „biet’ mir nur die Hand wie einst und biet’ mir Dein Herz!“
Er sah mir in die Augen. „Du alter treuer Gesell!“ sagte er leise, und dann plötzlich laut. „Da hast Du sie beide!“ – und er streckte mir die Hände hin und schüttelte die meinen mit aller Kraft. „Ich hätt’s nicht geglaubt, daß das Leben noch diese Freude für mich aufbewahrte!“ Er zog mich an sich und sah mir lange in das Gesicht. „Lohn’ Dir’s Gott, daß Du mich aufgesucht!“
„Weißt Du’s denn nicht mehr, unser Abschiedswort. Was Du auch thust, das thu’ mit Bedacht, und behalte mich lieb ...?“
„Ja . . . das thu’ mit Bedacht!“ sagte er langsam und senkte den Kopf. „Aber nun komm’ – und erwarte nichts, gar nichts!“ fuhr er fort. „Dann mag’s sein, daß Du zufrieden davon gehst.“
„Elsbeth!“ rief er mit lauter Stimme zum Hause hinüber, „Elsbeth!“
Auf der Küchentreppe erschien eine übereinfach gekleidete Frau, deren Gesicht noch die Spuren einstiger Schönheit trug, jetzt aber welk geworden war und müde vergrämte Züge zeigte. „Meine Frau!“ sagte er nachlässig.
Also das war seine Frau, die Frau des verzogenen Lieblings der Frauen! Ich hatte im Stillen an eine hochfeine Salondame gedacht. So irrt man sich im Leben!
„Was soll ich denn?“ fragte sie mit matter Stimme. „Ich muß das Abendbrot machen.“
„Dann mach’ für einen lieben Gast mehr!“ rief er. „Hier –“
Sie musterte mich, den Grüßenden, mit erstauntem Blick.
„Mein lieber alter Studienfreund und Bundesbruder, Siegfried Willmann, von dem ich Dir oft erzählt –“
Sie kämpfte im Näherkommen mit dem Versuch, freundlich auszusehen. „Ach so, das sind Sie,“ meinte sie, die Hände an der blauen Küchenschürze abtrocknend. „Ja, Ihr Bild ist auch im Album und man erkennt Sie noch!“ Sie reichte mir eine feuchte harte Hand. „Aber Sie haben’s schlecht getroffen, wir sind beim Heuen –“
„Red’ nur nicht so viel!“ unterbrach er sie fast rauh. „Mein Freund bleibt über Nacht hier. Nun zeig’, was Du kannst und zu allererst gieb uns einen Tropfen zu trinken!“
„Was denn? Bier haben wir nicht mehr –“
„Bring’, was Du hast!“ rief er, „wir gehen in die Laube, wenn Karl kommt, soll er mit Else allein abladen.“
Sie wandte sich ohne ein Wort. Immer lag die müde Duldermiene auf ihrem Gesicht.
„Komm’!“ sagte Werner kurz. „Wart’ einen Augenblick, ich will nur meinen Rock anziehen.“
Da stand ich allein – und wünschte mich hundert Meilen weit weg. Wie anders war das, als ich gedacht hatte!
Dann saßen wir in einer verwilderten Jasminlaube in einem verwilderten Garten. Ich verschmachtete fast. „Hast Du nicht ein Glas Wasser?“ bat ich.
Da kam Frau Elsbeth den Gartensteig einher. Sie hatte eine frische Schürze umgethan und das Haar glatt gestrichen. In den Händen hielt sie ein Theebrett mit Kanne und Tassen. Geschäftig stellte sie es nieder. „Was soll das?“ fragte er erstaunt.
„Ich habe schnell Kaffee gemacht,“ antwortete sie wie erfreut über ihre Findigkeit. „Ich hatte gerade kochendes Wasser.“
„Aber Liese, der Mann verdurstet hier, und Du willst ihm Kaffee vorsetzen?“ brach er los. „Fort mit dem Zeug!“
Sie sah kopfschüttelnd wie fragend gen Himmel und lief aufs Haus zu. „Hier sind die Schlüssel!“ rief er ihr nach. „Wo willst Du denn hin? Da rennt sie los – entschuldige!“ bat er, und aufspringend eilte er hinterdrein. Dann hörte ich einen kurzen lauten Stimmenwechsel, und dann war’s wieder still, still wie im Grabe. Einmal flog eine Biene summend durch das Gerank der Laube, das war alles. „Das ist deine Welt, armer Freund,“ dachte ich und stützte den Kopf schwer auf. „Lieber tot!“
Da störte mich das Rollen eines Wagens, der auf den Hof fuhr. Ich sah über das Gebüsch des Gartens weg den Gipfel eines hohen Fuders Heu und gleich darauf hörte ich ein vielstimmiges markdurchdringendes Geschrei – das Fuder war verschwunden. Jedenfalls war es im Vorfahren umgeworfen worden. Ich sprang auf und rannte den Steig hinunter. Richtig, ein ungeheurer Haufen Heu und ein umgestürzter Wagen und dazwischen und daneben lag und kroch es heulend und weinend – eine Anzahl von Kindern, die offenbar oben auf dem Heu gesessen hatten. Werner hielt wetternd die unruhigen Pferde am Gebiß, und Frau Elsbeth stand mit gerungenen Händen und verzweifeltem Blick rat- und hilflos vor dem Kinderhaufen. „So greif’ doch zu!“ schrie er sie an.
Ich sprang vor und hob von den Kleinen eins nach dem andern auf. Es waren, wie ich jetzt sah, vier Jungen, von etwa [610] fünf bis zwölf Jahren, alle mit blutenden Nasen, der älteste mit einer tüchtigen Beule vor der Stirn, aber alle wie die Besessenen schreiend.
„Wo ist Else?“ rief Werner und hielt die abgesträngten Pferde noch fest.
„Fräulein kommt zu Fuß nach!“ stöhnte der Knecht der jetzt angehinkt kam. „Ich glaube, ich habe mir das Bein gebrochen –“
„Hummel,“ schnaubte Werner ihn an, „zum ersten Oktober zieht Er! Einen Esel, der nicht fahren kann, den kann ich nicht gebrauchen. Versteht Er? Mir ist das nie passiert!“
Der Knecht sah ihn giftig an. „Na, gottlob, wenn Sie kündigen, brauch’ ich nicht wegzulaufen. Ich hab’s lang’ satt –“
Da klang eine helle erstaunte Stimme durch all den unerfreulichen Lärm. „Aber mein Gott, was ist denn das?“
In der Einfahrt stand ein junges Mädchen, die Heuharke über der Schulter, den großen Strohhut zurückgeschoben, und sah aus klaren Augen auf den Wirrwarr. Eine schöne stattliche Gestalt und ein Gesicht dazu, daß man’s sobald nicht vergaß.
„Schnell, Else, es hat ein Unglück gegeben, aber, gottlob, kein großes; hilf den Jungen!“ rief Werner dem Mädchen zu.
Das mußte die älteste Tochter sein, kein Zweifel, es war Haltung und Gesicht des Vaters in seinen Studentenjahren, nur ins Zartere, Jungfräuliche übersetzt. Mit herzlicher Teilnahme lag mein Blick auf ihr. Jetzt sah sie auch mich. Aus großen erstaunten Augen schaute sie mich an – anders als vor kurzem die Mutter, nur eine Sekunde; dann war sie bei der Arbeit, tröstend, aufrichtend, ermahnend, tadelnd. Es war ein überaus reizvolles Bild, wie das junge schöne Mädchen auf dem Brunnenrand saß in ihrer einfach ländlichen Tracht, um sich her die weinende Schar, wie sie hier das Blut abwusch, dort die wunde Stirn kühlte und dazwischen mit klarer Stimme dem wieder erschienenen Knecht Befehle gab. Der Vater hatte die Pferde in den Stall gezogen, die Mutter war nicht mehr zu sehen. Ich stand neben Else und half, dem Aeltesten den arg zerschlagenen Kopf zu verbinden. Unsere Hände berührten sich und wir sahen einander in die Augen. Fragend ruhte ihr Blick in meinem.
„Ich bin ein Freund Ihres Vaters von seiner Studentenzeit her und heiße Willmann,“ stellte ich mich vor. „Ich bin gekommen, um ihn zu besuchen – aber ich habe Unglück ins Haus gebracht.“
„Hat mein Vater sich nicht schrecklich gefreut?“ fragte sie leise.
„Ich kam ihm zu unerwartet.“
Sie schlug die Augen voll auf. Was lag alles in dem einen Blick! „Es wird Ihnen bei uns nicht gefallen,“ sagte sie fast flüsternden Tones. „Aber ich bitte Sie – bleiben Sie einige Tage!“
„Aber Sie kennen mich gar nicht, Fräulein Else!“ antwortete ich, und wieder hob sie das Auge, in dem ein köstlicher Ausdruck von Vertrauen lag. „Ich kenne Sie doch,“ sagte sie einfach, „und ich kenne meinen Vater.“ Ich nickte ihr zu. Wir waren Freunde von Stund’ an, wir zwei, Else und ich. Sie neunzehn Jahre, ich dreiundvierzig. Ganz ungefährlich!
Da trat Werner zu uns. Es lag ein anderer Ausdruck auf seinem Gesicht, etwas wie Stolz und Freude. „Mein ältestes Mädel, meine liebe Else!“ sagte er und fuhr ihr mit der Hand über den dunklen Scheitel. „Ihr kennt Euch schon durch Euer Samariterwerk?“ Wir bejahten beide.
Nun waren Adolf und Christian und Johannes und Erich gewaschen und überall, wo’s notthat, ausgebessert und trollten sich mit Else.
„Nun, das ging noch gut ab!“ meinte Werner tief aufatmend. „Aber mein armer Siegfried, noch hast Du mit keinem Tropfen Deine Kehle genetzt. Else soll Dir einen Topf voll Buttermilch aus dem Keller holen, das wird Dir gut thun, besser als der verrückte Kaffee meiner Frau. Kaffee – der ist für sie immer das höchste der Gefühle.“ Wieder lag der bittere Zug um seinen Mund. „Und dann soll Else Dir Dein Zimmer zurechtmachen. Hast Du Deine Sacheu bei Dir? Und wie lange bleibst Du?“
„Ich weiß noch nicht. Es kommt auf den Wald an, wie er sich zur Sommerfrische eignet. Thut er das, dann geb’ ich mich in Pension bei Euch.“ Ich dachte an Else. „Das Notwendigste habe ich bei mir, mein Koffer steht auf der Station.“
„Soll morgen geholt werden. Nun komm’!“ –
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Wir hatten in der Jasminlaube zu Abend gegessen. Frau
Elsbeth war im anständigen Hauskleid erschienen, und Else in ihrem
lichtblauen Kattunkleidchen, das schöne reiche Haar im Nacken zum
Knoten gesammelt, sah reizend aus; ihr Lachen klang wie Lerchenschlag
durch die Stille des Abends. Werner war allmählich aufgetaut,
und hin und wieder brach ein Strahl des alten Geistes bei
ihm durch. Er hatte nur verlernt, wie’s einstmals war. Aber
wie konnte das sein? Ich sollte es erfahren.
Es war ein prächtiger Abend geworden nach der Schwüle des Arbeits- und Wandertages. Frau Elsbeth, die während des guten ländlichen Mahles wenig geredet, hatte sich zurückgezogen. Else war ihr gefolgt. Warm hatte ihre Hand noch in der meinen gelegen. „Morgen gehen wir zusammen in den Wald,“ hatte sie fröhlich gesagt, „ich will Ihnen schon Thäler und Quellen zeigen, an denen Sie Ihre Freude haben sollen!“ Dahin ging sie im letzten Abendschein, schlank und jung und frisch.
Werner legte seine Hand auf meine, wie ich ihr so in Gedanken nachsah. „Nicht wahr, Siegfried, es ist schade um das Mädchen hier?“ Fast brutal kam diese Frage heraus.
„Ist es schade um den Sonnenschein. –“
„Wenn er in ein dunkles Kellerloch fällt?“ unterbrach er mich mit kurzem harten Lachen. „Derartiges wolltest Du doch wohl sagen? Und da stimm’ ich Dir allerdings bei, daß er da eigentlich erst recht seinen Beruf erfüllt. Aber komm’, lassen wir die trüben Gedanken! Wollen noch ’mal wieder jung werden. Du bist es noch, ich möcht’s noch sein. Denkst Du daran, daß heute, am 13. Juli, unser Stiftungsfest ist, und wie wir da immer beim Ausritt voransprengten? Wollen heut’ noch ’mal unter uns kommersieren. Komm’ mit mir in den Keller – hab’ da aus alten Tagen noch einen Tropfen liegen, den holen wir heraus! Es ist mir so, als sollten wir miteinander fröhlich sein!“
Mild und weich war die Luft. Von den Wiesen her wehte mit dem leisen Nachthauch der würzige Duft von frischem Heu zu uns herüber. Droben am Himmel stand scharf und klar die Mondsichel, und auf dem Tisch vor uns stand im matten Schein eines Windlichtes der goldige Wein. Werner hob das Glas. „Prosit, Bruder! Was kann das schlechte Leben helfen! Man muß die Feste feiern, wie sie fallen!“ Es kam ihm nicht aus dem Herzen, das Lustigsein. Mit einem Zuge goß er den Wein hinunter. Plötzlich schlug er sich vor die Stirn. „Mensch, ich kann Dir nicht ’mal eine Cigarre anbieten. In meiner apostolischen Armut bin ich auf Havannas nicht mehr eingerichtet, und die Feld- und Wiesencigarre, die ich Dir bieten könnte, die rauchst Du jedenfalls nicht.“
Ich griff in die Tasche. „Hier! Wir haben so oft geteilt, thun wir’s weiter!“
„Vergelt’s Gott!“ sagte er mit einem Lächeln, das mir wehthat. Dann brannte er mit Behagen eine der Cigarren an und blies den duftenden Rauch in die Nachtluft. So saß er da, hintenübergelehnt, und blickte in den Mond. Da kam durch die Nacht her ein helles süßes Klingen, der Ton einer Menschenstimme in dieser tiefen Einsamkeit, weich und klangvoll schallte es zu uns herüber:
„Der Mond ist aufgegangen,
Die güldnen Sterne prangen
Am blauen Himmelssaal,
Der Wald steht schwarz und schweiget,
Und aus den Wiesen steiget
Der weiße Nebel wunderbar.“
Das Lied war verhallt. Else hatte es im Fenster ihres Kämmerleins gesungen. Werner richtete sich auf und fuhr mit der Hand über die Augen. „Wenn ich das Mädel nicht hätte!“ sagte er leise. „Aber komm’ – wir wollten ja lustig sein! Laß uns auch ein Lied singen! Vom Dorfe hört uns keiner, die schlafen alle. Stimm’ an:
„Es hatten drei Gesellen
Ein fein Kollegium ...“
Es war der Zauber der Sommernacht, der über uns kam. Wie oft hatten wir zusammen gesungen, er zweite, ich erste Stimme. Und ich stimmte an. Eine Stimme trug die andere, und leise ließ sich der Geist aus alten Tagen auf uns nieder.
„Der trank keinen Tropfen mehr!“
verhallte wehmütig der letzte Ton. Werner schwang die Flasche. „Doch! Es reicht noch für manchen Tropfen heute nacht! Siegfried, gieb Dein Glas her – so! Und nun laß uns noch einmal wie einst im Mai Brüderschaft trinken! Schling’ Deinen Arm in meinen – komm’, liebes und getreues Bruderherz!“
„Ja, Werner, komm’!“ Der Mondstrahl fiel in den goldenen Wein, als wir tranken; wir schüttelten uns die Hände. „Nun bleibt’s auch zeitlebens dabei, nicht wahr, Werner?“
„Ja, das soll’s. Ich laß Dich nicht wieder los. Und nun [611] hör’ eine Bitte!“ Er hob das Gesicht und sah mir gerade in die Augen. „In meiner Seele hat sich’s durch manche Jahre angestaut wie ein See. Ich bin allein gewesen, ganz allein. Nun möcht’ ich einmal die Schleusen aufthun; ich glaube, es wäre gut für mich, und der Augenblick kommt nimmer wieder. Willst Du mir zuhören?“ Er faßte meine Hand mit hartem Druck.
„Ich wollte Dich ja schon darum bitten, Werner!“
„Trink’ aus, ich schenk’ uns ein. Bis das Morgenrot am Himmel steht, feiern wir die Nacht! Sind ja so oft im ersten Morgenlicht singend nach Haus gezogen in seliger Jugendzeit. Aber das Leben hält nicht allen, was es verspricht.“
Eine Fledermaus flatterte geräuschlos um die Laube; da hub er an: „Du bist plötzlich, einem unerwarteten Glück und einem guten Geiste gleich, in mein Leben eingebrochen. Und das war schön, so sehr mich der Schreck auch packte, als Du plötzlich vor mir standest und in Hof und Haus hereinschautest. Hättest Du mir vorher geschrieben, dann hätte ich auf Ausflüchte gesonnen, Dich abzuwehren. Es war gut, daß Du es nicht thatest. Du bist mir doch von Gott gesandt. Ich weiß es ja, diese Stunde wird ein Pflaster auf vieles Leid sein. Nun hör’ die Geschichte eines jungen Knaben, den wir beide gekannt … Er war ein flotter Gesell, nach dem die Frauen und Mädchen gern schauten, und er hatte sich daran gewöhnt – er konnte ohne Frauengunst nicht leben. So kam er als Hauslehrer in eine adelige Familie. Es waren hochmütige Menschen, unter denen er lebte, und sein warmes Herz empörte sich. Er trug den Nacken steif und hoch. So war’s fast Weihnachten geworden. Da kam eine junge Schwester der Frau Baronin ins Haus zu Besuch. Ein reizendes Mädchen, lieblich und frisch und freundlich auch gegen den Hauslehrer – Irmgart von Friesen konnte es einem heißblütigen Manne schon anthun. Es wurde jetzt ein großes Freuen im Hause, und nachmittags tobte die wilde Jagd der Kinder durch die langen Gänge oben im Schloß, in Versteckspielen und Haschen und Finden, und Irmgart und der Hauslehrer immer rastlos dabei in jugendlicher Lust. Nach wenig Tagen schon wußten sie’s, warum sie so gern mitspielten: sie hatten einander gern. So verging die Zeit. Es war am Tage vor Heiligabend. Er war „Blindekuh“ und tappte den schmalen Gang hinunter, der zu seinem Zimmer führte, und um ihn her und vor ihm tobte und lachte die wilde Jagd und lachte mit heller süßer Stimme Irmgart. Sie wollte er fassen. Zum Schein nur griff er nach den anderen. Da ging eine Thür auf. Seinem Zimmer gegenüber war das der Wirtschafterin, eines jungen erst kürzlich zugezogenen Mädchens. Eine blühende schön gewachsene Dirne, die freundlich grüßte, wenn sie einander begegneten. Es war die Thür dieser Nachbarin, die aufgegangen war, und im selbigen Augenblick hielt er das stattliche Mädchen fest umschlungen ,Achtung! Lassen Sie!' schallte fast heftig eine klare Stimme durch den Trubel, es war die Irmgarts dicht neben mir. Ich riß die Binde ab; da stand das Edelfräulein mit dunkelrotem Gesicht, die Hand erhoben als hätte sie nach meinem Arm greifen wollen. Die Wirtschafterin hatte sich ängstlich, mit glühenden Wangen, an die Wand gedrückt und eilte jetzt mit einem gestammelten Wort der Entschuldigung den Gang hinunter.
‚Was hat die Person hier zu suchen?‘ rief Irmgart.
‚Sie wohnt hier!‘
,Was! Ihnen gegenüber?‘ Sie sah mir gerade in die Augen.
,Ich kann’s nicht ändern, gnädiges Fräulein.‘
Sie sagte nichts und nahm mir das Tuch aus der Hand. ,Bücken Sie sich, ich kann so hoch nicht hinaufreichen!‘ Sie schnürte es zusammen, daß mir die Augen schmerzten, und dann mußte ich suchen bis auf den obersten Boden. Hier und dort hörte ich leises Kichern aus den dunklen Winkeln. Ich griff hinein in den allerengsten, faßte eine kleine warme weiche Hand; ich riß die Binde von den Augen – erglühend und zitternd stand Irmgart vor mir. Ein heißer banger Blick und sie lag an meinem Herzen und meine Lippen brannten auf den ihren und ihre auf den meinen – eine flüchtige selige Sekunde. ,Um Gotteswillen, geh’!‘ flüsterte sie und ihre Fingerchen umkrampften meine Hand. Ich ging und eilte auf mein Zimmer. Halb taumelnd fiel ich aufs Sofa und schlug die Hände vors Gesicht. So hatte mein Herz noch nicht geschlagen in heißer Leidenschaft.
Und wir spielten weiter – ein süßes furchtbares Spiel. Aber sie war die Verständigere. Am Tag ehe sie reiste, acht Tage nach Neujahr, hatte sie mich in das kleine Tannendickicht bestellt, das draußen mitten im Felde lag. Als ich kam, war sie schon da. Reizend, bethörend sah sie aus in der weißen Pelzkappe. Sie reichte mir beide Hände, legte sich an meine Brust und schlang die schlanken Arme um meinen Hals. ‚Werner, nun küss’ mich zum letztenmal!‘
‚Zum letztenmal, Irmgart? Ich denke, die Zahl unserer Liebestage –‘
‚Ist abgeschlossen!‘ sagte sie bestimmt. ‚Es war ein holder köstlicher unvergeßlicher Traum, Du lieber, mir immer unvergeßlicher Mann. Aber jeder Traum muß einmal ein Ende haben. Es ist besser so, Werner.‘ Noch lag sie in meinem Arm. Ich ließ sie los. In meinem Herzen war irgend etwas entzweigegangen unter ihrer Rede. ‚Nun, dann war’s eben ein hübscher Zeitvertreib!‘ sagte ich ruhig und wandte mich zum Gehen.
‚Werner!‘ klang es klagend hinter mir her. Ich wandte mich nicht. Ich habe den Klang ihrer Stimme nicht wieder gehört.
Bis Mitternacht irrte ich durch den Schnee. Als ich an meine Kammerthür kam, brach ich zusammen. So lange hatte meine Kraft vorgehalten, nicht länger. Da ging die Thür der Wirtschafterin auf. ‚Herr Kandidat, soll ich Ihnen helfen?‘ flüsterte sie. Sie hielt mich wohl für betrunken. Sie, die Mamsell, mir helfen? Ich raffte mich mühsam auf. ‚Ja, machen Sie mir eine Tasse Thee!‘ stöhnte ich.
Ich saß im Dunkeln in meiner kalten Stube und meine Zähne schlugen zusammem. Ich dachte an nichts – vielleicht ans Sterben. Da ging die Thür leise auf, und unhörbar trat die Wirtschafterin ein, das Licht in der einen, die Theekanne in der andern Hand. Sie war ein hübsches Mädchen, wie der gelbe Schein der Kerze so ihr Gesicht überflutete. Und sie war ein gutes Mädchen. Sie wagte ihren Ruf und ihre Stellung, um mir Gutes zu thun. Ich trank den Thee, den sie mir einschenkte; meine bebende Hand konnte die Kanne nicht halten. Sie that etwas Rum hinein.
‚Viel, viel mehr!‘ sagte ich. Meine Stimme war rauh und heiser. ‚Und nun gehen Sie!‘ Sie ging, aber noch von der Thür aus warf sie einen bangen besorgten Blick auf mich.
Am Morgen hörte ich den Wagen vorfahren und bald darauf rollte er die Rampe hinab. Er brachte Irmgart zur Bahn. Ich verschlang die Hände im Nacken und biß die Zähne zusammen.
‚Meiune Schwester läßt Sie grüßen,‘ sagte die Baronin beim Mittagessen. ‚Sie hatte Sie beim Morgenkaffee erwartet. Sie sind wohl spät nach Hause gekommen?‘
‚Jawohl, gnädige Frau, sehr spät!‘
Sie rümpfte die Nase, aber sagte nichts.“
[623] Ein Vierteljahr nach Irmgarts Abreise verging,“ fuhr Werner tief aufatmend in seiner Erzählung fort. „Eine traurige Zeit. Abends saß ich unten beim Inspektor und rauchte eine Pfeife nach der andern. Mitunter schaute auch die Wirtschafterin herein und saß ein Weilchen bei uns. Eines Abends kam sie mit rot verweinten Augen. Sie wollte nicht sagen, was ihr sei. Wir gingen zusammen den Gang hinunter, der zu unseren Stuben führte; sie schritt still und gedrückt neben mir her. Vor ihrer Thür faßte ich ihre Hand. ‚Sie haben mir damals Gutes gethan, ich möcht es Ihnen vergelten. Was haben Sie für Kummer?‘
Sie fing an zu weinen. ‚Das kann ich Ihnen nicht sagen!‘
‚Sie sollen’s aber; vielleicht kann ich helfen.‘
Da erzählte sie mir nach vielem Quälen, ihr Vater, ein armer Förster mit vielen Kindern, habe ihr in großer Not geschrieben um fünfzig Thaler, deretwegen ihn einer verklagen wolle, und die hätte sie nicht. Ich zog sie in mein Zimmer, machte Licht, lief zum Schreibtisch, holte das Geld heraus und gab’s ihr in die Hand. Blaß stand sie vor mir; aber mit einem Mal griff sie nach meinen Händen und wollte sie küssen.
‚Lassen Sie das, Elsbeth!‘ bat ich, aber sie ließ es nicht, bis ich den Arm um sie legte und sie mit sanfter Gewalt hinausführte. Sie ging schweigend, gesenkten Hauptes auf ihr Zimmer.
Sie mied mich von jetzt an. Scheu huschte sie an mir vorüber, mit befangenem Gruß, und in die Inspektorstube kam sie auch nicht mehr. Aber auf meinem Tisch oder Pult stand, sobald der alte welk wurde, immer ein Strauß frischer Feldblumen. Nur eines Tages klopfte sie bei mir an und blieb, ein Päckchen in den Händen, dunkelrot und scheu in der Thür stehen.
‚Nun, Fräulein Elsbeth?‘
‚Mein Vater,‘ begann sie zaghaft und hob die Augen – und mit einem Ruck riß sie das Papier ab und legte einen Marderjagdmuff vor mich auf den Tisch. ‚Mein Vater möchte Ihnen danken –‘ Sie atmete tief und schwer. Ich faßte nach ihren herabhängenden Händen, sie gab sie mir und trat einen Schritt näher; aber plötzlich schlug sie die Augen auf und sah mich an – ein wunderbarer Blick – und riß ihre Hände los und stürzte hinaus. Und ich legte das Gesicht auf das weiche Marderfell und seufzte tief auf: ‚Irmgart!‘
Und wieder wich Elsbeth mir aus. Da kam nach Wochen der Inspektor zu mir und brachte eine Einladung von einem Nachbar, einem Landsmann von mir, zu dessen Geburtstag. Es war zufällig auch meiner. Nach drei Tagen sollte die Feier sein. Der Baron und seine Frau waren verreist, ich also mein eigener Herr. So sagte ich zu. Es war mir lieb, der Einsamkeit einmal zu entrinnen. Außer mir hatte man noch jemand eingeladen – meine Nachbarin, Fräulein Elsbeth. Sie war mit der Schwester des Geburtstagskindes drüben befreundet. Ich hatte, wie ich die neue Kunde vernahm – sie erzählte es mir freudestrahlend, als wir uns auf der Treppe trafen – ich hatte das Gefühl, die Sache sei eigentlich nicht ganz standesgemäß. Aber jetzt ablehnen, hätte hochmütig und dumm ausgesehen. Doch zog ich es vor, nicht mit dem Inspektor und ihr zu fahren, als der Tag herangekommen war. Es wäre mir auch sonst nicht möglich gewesen. Ich sehnte mich stürmisch nach einigen Stunden einsamen Gehens. Ohne eine begleitende Zeile war am Morgen meines Geburtstages ein kleines Paket angekommen, aus dem ich ein Lesezeichen herausschälte, auf dessen helle Seide ein Epheuzweig zierlich gestickt war. Ich wußte, von wem allein das kommen konnte, und mit meiner kaum oberflächlich erkämpften Ruhe war’s wieder vorbei. Was hatte das kleine Seidenband wieder an- und aufgeregt! Sie hatte mich nicht vergessen, dachte vielleicht mit derselben Leidenschaft der Stunden, die wir zusammen verlebt, der unendlich seligen Augenblicke, die wir dem Leben abgestohlen hatten und doch blieb sie mir unerreichbar für alle Zeit! Berauscht von Erinnerungen, aufgerührt bis in die Tiefen meines Seins, trat ich nach einem stundenlangen Gang durch den Wald in die lärmende Gesellschaft ein. Lauter brave wetterharte Inspektoren, sattel- und trinkfeste Leute. Mit großem Jubel und Hallo ward ich empfangen. Sie hatten mich alle gern, denn ich konnte ein guter fröhlicher Kamerad sein und lief vor einem Scherz nicht weg. Das gab ein Gratulieren und Händeschütteln und Zutrinken. Mir that das stürmische Wesen wohl; ich mußte aus mir heraus. Ich nahm den Humpen, den man mir reichte, und schwang ihn hoch. ‚Komme den Herren nach!‘ rief ich und setzte ihn an und trank ihn aus in einem langen durstigen Zuge – aber ich trank hinüber in die Ferne. ‚Irmgart, Irmgart – Dir bring’ ich’s,’ zog es mir durch den Sinn. Ich setzte den Krug ab. Da traf mein Blick auf Fräulein Elsbeth, deren Auge mit verschleiertem Ausdruck auf mir lag. Sie sah gut aus: blühend, frisch, und das schwarze Wollkleid umschloß knapp ihre Gestalt.“
Er hielt inne.
„Siegfried –“ und er neigte sich zu mir – „nun kommt meine Beichte. Willst Du sie hören?“
„Ja, Werner!“ sagte ich leise und nahm seine Hand. Um uns war tiefe Nacht; die Mondsichel war schon weit hinabgesunken; der Tisch, auf dem meine Hand in seiner lag, war feucht vom Tau.
„Gut, Du weißt, wie solche Feste verlaufen. Die Braten dampften, die Champagnerpfropfen knallten, die Stimmen schwirrten und polterten durcheinander. Es wurde scharf getrunken, wiehernd gelacht: es wurden Reden gehalten und schallender Handschlag ausgetauscht, und die Geister der rauschenden Lust übermannten die Trauergedanken meiner Seele. Mir gegenüber saß Elsbeth. Die Lebenden haben Recht! – ‚Ihr Wohl, Fräulein Elsbeth!‘ Sie hob ihr Glas und stieß stark mit mir an und sah mich an – und lachte; ein eigentümliches Lachen, es lag etwas Wehrloses darin, und ihr Blick war der einer Sklavin, die die Hände über der Brust faltet. Und Blick um Blick flog herüber und hinüber aus Augen, die der Wein glänzen machte. Da stürzte in die tobende Fröhlichkeit ein Unglücksbote. Unser Inspektor wurde abgerufen; mit dem Reitpferd des Barons war der Stallknecht hergejagt der hochedle englische Hengst, der ein Kapital wert war, der Neid aller Zuchtställe, habe Kolik bekommen.
Mit einem derben Fluch sprang der Inspektor auf. ‚Herr Kandidat, dann müssen Sie auf dem Rückweg kutschieren; Sie können’s ja. Geben Sie nur auf das Sattelpferd acht. Adieu allesamt!‘ Und draußen verhallten die Hufschläge des davon sprengenden Reiters in der Mainacht.
Ja – eine dunkle linde Mainacht war’s, in der ich mit Elsbeth nach Hause fuhr. Wir mußten auf dem Waldweg langsam fahren. Meine Stirn glühte. Still saß das Mädchen neben mir. Ueber uns rauschte der Nachthauch in den Kronen der Fichtenbäume.
[624] ‚Ist’s Ihnen kalt, Fräulein Elsbeth?‘
‚Nein.‘
‚Nehmen Sie das Tuch fester um sich.‘ Ich half ihr mit der linken Hand. ‚Danke!‘ kam es klanglos von ihren Lippen. Da sprang das Sattelpferd an, bäumte sich hoch auf und wollte durchgehen. Ein Fuchs oder Hase mochte es erschreckt haben. Mit aller Macht packte ich die Zügel. Meinen linken Arm hielten zwei Hände umklammert, ein Gesicht lag angstvoll nahe an meiner Schulter. Aber sie sagte nichts. Nun beruhigte sich das Pferd, noch eine Weile galoppierend. Der Griff der Hände um meinen Arm lockerte sich – nur ein tiefer Seufzer. In meinen Schläfen hämmerte das Blut. Ich nahm die Zügel in die Rechte; wieder zog ich das Tuch um ihre Schultern, aber meine linke Hand blieb liegen um ihren Hals. ‚Elsbeth!‘ Zog ich sie, sank sie hin? Ihr Gesicht lag nun ganz an meiner Schulter. Irmgart, wo warst Du? Ich neigte mich und küßte sie. Die Pferde hielten still. Da schlangen sich zwei Arme um meinen Hals, zwei warme volle Lippen brannten auf meinem Mund. ‚O, Herr Kandidat!‘ klang es wie klagend in heißer Leidenschaft an mein Ohr.
‚Hast Du mich denn so sehr lieb?‘
‚Ja, unmenschlich. Von dem Augenblick an, wo Sie meinen Vater retteten … nein, schon früher – als Sie mich aus Versehen umfaßten, da fing es an.‘
Die Pferde mögen lange gestanden haben. Stumm fuhren wir weiter, draußen, wo’s lichter wurde, in scharfem Trab. Still kam uns der Inspektor auf dem Hofe entgegen; er war bleich im Morgengrauen. ‚Der Hengst ist tot. Das kann mir meine Stelle kosten.‘
‚Wir haben uns unterwegs verlobt,‘ antwortete ich ihm. ,Dann können wir drei ja zusammen gehen.‘ Er drückte mir schweigend die Hand, grüßte Elsbeth und ging.
Ich hob meine Braut vom Wagen. Stumm gingen wir die Treppe hinauf und den Gang entlang. Vor ihrer Thür blieb sie stehen und sah mich mit gebrochenem Blick an. ‚Sie werden mich doch nie recht lieb haben,‘ sagte sie leise.
‚Man sagt Du zu seinem Bräutigam, Elsbeth! Werde mir nur eine gute Frau!‘ entgegnete ich und küßte sie auf die tief gesenkte Stirn. Dann ging ich in mein Zimmer.
Ich hörte ihre Thür gehen und gleich darauf einen sonderbaren Ton als wenn jemand plötzlich laut und wie verzweifelnd aufweinte. Langsam trat ich an meinen Tisch, stützte die Hände auf und starrte auf das Lesezeichen, das da lag. Ich nahm’s und küßte es – und riß es in Stücke.“
Er machte eine Pause und sah vor sich hin in die Nacht.
„Trink’ aus!“ sagte er dann, scheinbar gleichgültigen Tones. „Meine Erzählung ist noch nicht fertig, und wir haben noch eine Flasche oder zwei zugut. Vergiß über meinen Historien nicht, daß wir Stiftungsfest feiern! Aber was hältst Du von meiner Geschichte?“ fragte er ablenkend und hielt mir das Glas hin.
„Ich hab’ sie Wort für Wort vorher gewußt, Werner, und nun will ich sie zu Ende erzählen; soll ich?“
„Jawohl,“ nickte er, „ich will zuhören.“
„Also und nun spricht Dein Beichtiger zu Dir und ein alter Freund: Du gabst Deinen Hauslehrerposten auf und arbeitetest danach, angestellt zu werden. Du zerfielst mit Deiner Familie, die Himmel und Erde aufbot, Deine Verlobung rückgängig zu machen, aber Du bliebst fest, weil Dir Dein Wort heilig war, weil Du dies Leben unauflöslich an Dich gekettet hattest und weil Du wußtest, daß sie sich das Leben genommen hätte, wärst Du von ihr gegangen.“
„Stimmt!“ sagte er ruhig.
„Du nahmst die erste beste schlechteste Stelle an, die sich Dir bot, und heiratetest vom Fleck weg. Deine junge Frau sagte unter tausend Aengsten und in heißer Liebe ihr Ja am Altar, und Dein Ja war ein Nein vor Gott; Du dachtest noch am Altar an Irmgart.“
„Stimmt!“ sagte er wieder eintönig.
„Dann versuchtest Du, Deine Frau zu bilden, aber es war vergebens. Sie verstand nichts von Goethe, Schiller und Shakespeare, mit denen Du sie quältest, und Deine hochfliegende Natur blieb ihr ein Rätsel. Du wurdest hart und bitter gegen sie, weil sie Dir nichts geben konnte und auch nichts nehmen konnte von Dir, um es sich anzueignen. Du standest allein, allein auch in Deiner Gemeinde, in der Du keine Anregung, keine Hilfe fandest, allein unter den Amtsgenossen, deren Frauen mit Deiner nicht verkehren zu können meinten, weil sie manchmal ,mir‘ statt ,mich‘ sagte. Und Du gabst Deiner Frau alle Schuld, Du wurdest immer rauher, unbarmherziger – und weil Du innerlich so großen Schaden littest durch eigene Schuld und nicht mit der Kraft überwindender Liebe Dein Schicksal trugst, darum verkamst Du allmählich. Nicht Deine Frau ist Dein Unglück gewesen, Werner, Deine Eitelkeit war’s. Der Geist der Liebe hat in Deinem Hause gefehlt, und es bleibt doch wahr: Liebe vermag alles!“
„Stimmt!“ sagte er noch einmal und stützte den Kopf in die Hände.
„Und dann, Werner, kamen die Kinder und mit ihnen die Sorgen. Viele Kinder und immer mehr Sorgen und – Schulden. Und alles zusammen hat Dich grau und alt gemacht, hat Deine schöne große Kraft gebrochen. Hab’ ich recht?“
„Ja!“ antwortete er mit einem tiefen Seufzer.
„So, das wäre das zweite Kapitel, bis zur Gegenwart fortgeführt. Aber nun brich erst mal die neue Flasche an, Werner; nachher, und wenn wir uns eine andere Cigarre angesteckt haben, wollen wir auf das dritte Kapitel übergehen.“
„Weißt Du noch ein drittes?“ fragte er, den Korkzieher einbohrend.
„Ja, die Zukunft.“
Er sah mich an. „Lieber Junge, lassen wir die!“
„Keineswegs! Lieber Werner, der alte Herrgott lebt noch, und so lange der regiert, hat’s keine Not um ein Menschenkind. Das brauch’ ich Dir, dem Pfarrer, nicht zu predigen.“
„Ach nein!“ seufzte er. „Gottlob, daß Du recht hast. Aber das Herz wird einem doch manchmal schwer.“
Er schenkte die Gläser voll. Wir stießen an. Ich legte ihm leise die Hand auf die Schulter. „Also Du hast Schulden, Werner?“
„Ja,“ sagte er, und in dem Licht des Streichholzes, an dem er seine Cigarre anzündete, sah ich eine tiefe Röte auf seinem Gesicht. „Du hast mir vieles erzählt; nun vertrau’ mir auch das noch – wie hoch ist die Summe ungefähr?“
„Es sind an viertausend Mark!“ erwiderte er und blies den Rauch weit von sich. Mit einem Mal fuhr er mit der Hand durch das Haar und sprang auf. „Die ewige Angst, die bringt mich noch um! Ich hab’ alles versucht und ich geh’ doch zu Grunde!“ Es klang wie der Aufschrei eines Gemarterten.
Ich war neben ihn getreten. „Na, alter Junge, nimm die Sache nicht zu tragisch. Die viertausend Mark werde ich Dir geben. Ich bin Junggesell und hab’ für niemand zu sorgen, und etwas erspart hab’ ich mir auch zu meinem bißchen Vermögen. Kurz, willst Du sie haben, dann schlag’ ein! Dann stell’ ich Dir morgen die Anweisung aus.“
Er sah mich ungewiß an, ein Zittern überlief seine Gestalt. Dann warf er plötzlich die Arme um mich, legte das Gesicht auf meine Schulter und weinte laut. „Ja, Du hast recht, der alte Gott lebt noch!“
„So, Werner, nun laß es gut sein; setz’ Dich hin – hier liegt Deine Cigarre, die rauche gefälligst zu Ende! Und mach’ kein Aufheben von der Geschichte und vor allen Dingen erzähl’ Deiner Frau und Tochter nichts davon, wenigstens nicht, so lange ich hier bin! Später können sie mir ja, wenn sie sich durchaus revanchieren wollen, eine Nachtmütze und ein Paar Pantoffeln machen. – So, das war Abschnitt eins aus dem dritten Kapitel! Der zweite aber beginnt: sei gegen Deine Frau ein barmherziger und gnädiger Herr, wie Du auch einmal einen gnädigen und barmherzigen Gott haben willst, versprichst Du mir das? Wenn ich übers Jahr wiederkomme, zum Stiftungsfest, dann soll sie mit uns hier sitzen. Hand her, Werner!“
„Nun ja – so wahr mir Gott helfe; noch ist’s ja Zeit,“ sprach er, und die ganze Reue von zwanzig Jahren lag in seinem Blick.
„Und nun, Werner, wollen wir zu Bett gehen; es fängt an, kühl und neblig zu werden, und gegen Rheumatismus habe ich eine Art Abneigung. Aber wenn Du in Deiner Speisekammer noch ein Butterbrot flüssig machen kannst, dann soll’s mir lieb sein, und wenn Du einen sogenannten Schnaps dazu hast, dann darfst Du ihn mir ruhig anbieten. So, gieb mir Deinen Arm, und nun mit Marschmusik nach Haus!“ Und ich hub an in dem stillen Pfarrgarten, daß die Bäume verwundert aufrauschten, und er stimmte ein es war der alte Klang aus Studententagen, und er sang es im alten seligen Ton:
„Das Käuzlein laß ich trauern
Auf Zweigen Tag und Nacht,
Ich renn’ aus Schanz und Mauern
Ins offne Feld zur Schlacht.“
[626] Wir standen vor der Hausthür. Da zog er seinen Arm aus dem meinen und legte mir die Hände auf die Schultern. Von seinem Gesicht sah ich nicht viel bei der Dunkelheit, aber ich hörte es an dem Klang seiner Worte, wie’s darauf aussah. „Siegfried, Frieden hast Du gebracht und Sieg hast Du erfochten und ich hab’ keine Schulden mehr! Nur eine grosse noch, und die mag unser Herrgott Dir bezahlen – reichlich!“
So zogen die beiden Pfarrherren heim von ihrem Stiftungstag. Der eine, der Hausherr, hat vielleicht wenig in dieser Nacht geschlafen und seine Frau geweckt und die Verwunderte geküßt, zwei-, dreimal, wie einst im Wagen unter den Tannen, und ihr trotz allen Verbots eine Geschichte erzählt von überwundenem Leid, die auch ihr den Schlaf vertrieb. Der andere aber schlief wie ein Murmeltier.
Als ich am Morgen, nicht ganz früh, die Treppe herunterkam, stand da auf dem Flur ein junges Mädchen, ganz Glück und Sonnenschein, reichte mir beide Hände und sagte schnell: „Was Sie meinen Eltern Gutes gethan, das weiß ich nicht, ich weiß nur, daß alles anders ist.“
„Freut mich, Else,“ antwortete ich, „konnte wohl auch nichts schaden. Führen Sie mich nachher in den Wald zu Ihren Quellen und Thälern?“
„O, wie gern! Vater ist zu einem Schwerkranken aufs Filial geholt worden –“ Da kam die Mutter. Was doch aus Menschenaugen werden kann von gestern auf heute! Sie sagte gar nichts, nicht einmal Guten Morgen, und drückte meine Hand nicht besonders fest; und doch hat kein Dank im Leben mich so gefreut.
Ich ging neben Else her. Ein klarer Morgen, heller Sonnenschein, Licht über der ganzen Welt. Da unten im Waldthal, tief verborgen, rauschte eine Quelle. Dort setzten wir uns auf zwei Steine, die dicht nebeneinander lagen. Fröhlich ließ sie die braunen Augen umgehen. „Ist’s hier nicht schön?“
Ich nickte und zündete mir in stillem Behagen eine Cigarre an. „Also gehört hatten Sie schon von mir, Else?“
„Freilich,“ sagte sie lachend, „und Ihr Bild im Album kannte ich schon als ganz kleines Kind. Aber jetzt hätt’ ich Sie mir anders vorgestellt, mit weißer Binde und ohne Vollbart und ein bißchen grau wie der Vater. Sind Sie denn soviel jünger, da Sie doch zusammen studiert haben?“
„Ich bin drei Jahre jünger.“
„Ich hätte mindestens zehn gesagt,“ entgegnete sie munter. „Aber Sie haben’s auch besser gehabt als er,“ setzte sie leise hinzu – mit einem Mal griff sie schnell nach meiner herabhängenden Hand. „Bitte, bitte, sagen Sie mir, wie haben Sie’s angefangen, soviel Sonnenschein in unser Haus zu bringen? Ich hörte den Vater singen, als er aufstand, und als die Mutter hereinkam, riß er sie in die Arme und küßte sie, und sie sahen wie zwei Brautleute nebeneinander aus. Sehen Sie“ – fuhr sie fort und schaute mir dabei mit so köstlichem Ausdruck in die Augen – „ich kenne Sie ja gar nicht und hab’ doch gleich gestern am Brunnen solch inniges Vertrauen zu Ihnen gehabt. Und darum will ich Ihnen auch sagen, was mir jedem andern gegenüber eine Unmöglichkeit wäre: wir haben viel Unfrieden im Hause gehabt und ich hab’ oft geweint, wenn ich die Mutter still die Hände ringen sah. Und nun wird alles gut und ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.“ Ein süßes Freudenlicht leuchtete in ihren Augen.
Ich nahm ihre Hände. „Ich verspreche Ihnen, Else, daß ich mir meinen Lohn als Wolkenschieber gelegentlich schon berechnen will. Wer weiß, ob ich Ihnen nicht zu teuer werde!“
Sie schüttelte den schönen Kopf und sah mich still an. Es war eine köstliche Stunde hier in der Waldstille beim Murmeln und Rauschen der Quelle. Kühl und duftig um uns her die Luft, die Welt weit, weit weg. Es war wie im Märchen.
„Else, ich kannte Sie schon, ehe ich Sie gestern erblickte, durch meinen Neffen, Hermann Winkler –“
„Ach so, der!“ lachte sie unbefangen, „ein netter junger Mensch, aber etwas sehr galant!“
„Else, wissen Sie, wie Sie mir jetzt vorkommen?“
„Nun?“ fragte sie lächelnd.
„Wie die Nixe dieses Wassers, und ich wie der fahrende Mann, der sie überrascht und gefangen hat. Sehen Sie, Sie können nicht los –“
„Ich will ja auch gar nicht,“ sagte sie freundlich. – –
Ich blieb noch drei Tage bei meinem Freund, Tage voll stillen großen Glücks. Am letzten Morgen kam ich Else entgegen, als sie gerade auf ihr Zimmer wollte. Es lag dem Fremdenzimmer gegenüber. Wir verkehrten als herzliche Freunde miteinander. „Darf ich einen Blick in Ihr Mädchenstübchen werfen?“ fragte ich, ihre Hand fassend.
„Gewiß, aber erwarten Sie kein Boudoir!“ sagte sie einfach. „Hier!“ Sie öffnete die Thür. Glänzend weiß alles, Wände und Vorhänge und Bett, nur die Weinranken, die vors Fenster gezogen waren, und die blühenden Geranien und Fuchsien brachten Farbe hinein. An der Wand hing ein Brett mit Büchern. Darunter das kleine, mit buntem Kattun bezogene Sofa. Ich setzte mich drauf, es war sehr hart. Sie lachte in ihrer reizenden Art. „Im Grunde nur eine große Kiste, die Polsterung von Moos aus dem Walde.“
Ich sah sie an und sagte mir mit stillem Bangen: „Siegfried, Du hast das Mädchen sehr lieb, lieber, als Du je eine gehabt hast.“
„Sie schauen mich so ernst an, woran denken Sie?“ fragte sie und neigte sich über ihre Blumen.
„Daran, daß ich fort muß und wir nicht mehr durch den Wald streifen werden.“
„Ach, es war so wunderschön,“ gab sie leise zur Antwort; „Sie sind mir so viel gewesen!“
„Else, geben Sie mir noch einmal die Hände –“
Sie stand vor mir, jung und schlank, und legte ihre Finger in meine ausgestreckten Hände. Ich sah lange zu ihr auf, sie zu mir nieder.
„Else!“ rief unten die Mutter.
„Ich muß gehen!“ flüsterte sie.
„Leben Sie wohl und grüßen Sie die Quelle!“
„Das will ich thun und an alles denken, was Sie da zu einem jungen thörichten Ding gesprochen –“
„Else!“ klang es wieder von unten.
Sie machte ihre Hände los.
„Else, wenn Sie einmal einen Menschen gebrauchen, dann denken Sie an den alten Freund Ihres Vaters!“
„Tausend, tausend Dank!“ sagte eine süße Stimme. Und ehe ich es ahnte, hatte sie sich über meine Hand gebückt und hatte sie geküßt mit weichen warmen Lippen. Und dann war ich allein. Ich lehnte gegen die Wand und sah durch die Geranien hinaus in den blauen Himmel, von dem die Sonne so hell und heiß herabschien. So schien sie jetzt herab auch auf ein einsames großes Haus nah’ der Kirche in meinem Dorf – –
Es war ein fröhlicher Abschied, als ich von dannen fuhr. Auch mit den Kindern allen war ich gut Freund geworden. „Behüt’ Gott – und auf Wiedersehen!“ klang es herzlich. Frau Elsbeth hatte Thränen in den Augen. Und als ich zurückblickte, sah ich aus Elses Giebelfenster ein weißes Tuch wehen. Ein Geraniensträußchen hatte ich im Knopfloch.
Werner kutschierte selbst. Er war ein anderer als am Tage, da ich kam. Auf dem Bahnhof tranken wir den letzten Schoppen. „Sagen thu’ ich Dir nichts, Siegfried,“ war sein letztes Wort, „aber Du weißt, wie es im Herzen eines Menschen aussieht, wie ich einer bin durch Dich, auch wenn er schweigt. Aber, nun gesteh’ mir auch,“ unterhrach er sich und legte die Hand auf meinen Arm, „wie kamst Du dazu – man findet solche Wunderkraft der Liebe nicht oft in der Welt – wie kamst Du dazu, den Gedanken zu fassen, daß Du mir so helfen wolltest aus der Not?“
„Wie ich dazu kam, Werner? Als Du mir erzähltest, daß Du dem weinenden Mädchen die fünfzig Thaler gegeben, ihren Vater zu retten. Nun weißt Du’s! Behüt’ Dich Gott!“ Wir drückten einander die Hände. So fuhr ich dahin.
Im Frühherbst.
Da sitze ich denn wieder daheim in meiner stillen, ach so
stillen Klause. Vor mir liegt ein Brief Werners. „Welche Wandlungen
sind in meinem Hause vorgegangen,“ schreibt er mir, „seit
Deinem gesegneten Hiersein. Du hast recht: Liebe vermag alles.
Es ist Friede bei uns. Meine Frau ist wie erwacht zu einem neuen
Leben, seitdem ich ein Anderer, Besserer geworden bin, und meine
Else, auf deren junger Stirn sonst der Ernst oft so schwer lag,
singt jetzt den ganzen Tag durchs Haus –“
So, Werner, also bei Dir hat sich’s gewandelt? Bei mir auch! Wo ist mein stilles Behagen und Genügen geblieben? Meine Freude an dem Winkel Erde hier, mein Gefallen an den einsamen Wegen, auf denen ich ging? Es ist alles anders [627] geworden. Mich hat’s gefaßt mit täglich wachsender Gewalt. Es ist ein Gast bei mir eingekehrt, ein holder Gast, auf den ich nimmer gerechnet – Frau Minne ist über Land gefahren und hat an meine Thür geklopft, und ich einsamer Gesell hab’ ihr aufmachen müssen. Viel Licht und Glanz kam mit ihr ins Haus, aber auch viel Unruh’ und Qual in ihrem Gefolge. Else, wie ist’s denn möglich? Das junge Kind und ich alter Mann! Nein, alt nicht. Ich recke die Arme, stark und frisch, wie der jüngste! Mein Herz geht in mächtigen Schlägen! Es hat lange Ruh’ gehabt, nun ist’s erwacht. An dies Herz möcht’ ich Dich ziehen, auf diese Arme möchte ich Dich heben und Dich über meine Schwelle tragen, ein stolzer Mann, stolz auf seine Bürde. Ich kann jung denken wie Du, ich kann mich freuen wie Du im hellen Lachen Deiner Fröhlichkeit. Dreiundzwanzig Jahr’ älter! Und dreiundzwanzigmal ist meine Liebe inniger, fester als die der andern, die um Dich werben mögen! – Else, es ist lange lange her, daß ich gedichtet hab’. Als ich von Dir ging, da hat der Quell wieder geströmt, und daran hab’ ich’s gemerkt, wie lieb ich Dich hab’.
Und soll’s denn auseinandergeh’n
Und soll’s geschieden sein,
Ich denke immer doch zurück
An Deiner Augen Schein,
So wie ich einsam Dich geseh’n
In Deiner Schönheit Glanz,
Wie Du des Freundes Seele hieltst
Im Zauberbanne ganz,
Wie ich mit Dir, Du holde Frau,
Beglückt hinging durch Berg und Au,
So ruf’ ich Dir’s beim Scheiden zu:
Mein Denken und mein Glück bist Du!
So greif’ denn zu, Siegfried, und hol’ Dir Dein junges Glück! Doch nein – ich bin kein Knabe mehr.
Ich will hinaus in die Luft, in den Wald. Frische, freie Luft!
Am Jahresschluß.
Es ist Weihnachten gewesen. War früher ja auch einsame
Zeit, jetzt nicht zum Ertragen. War ein köstlicher Winterabend, der
Heilige Abend. Vollmond, alles auf Meilen hin bereift. Der Waldsee
lag wie ein glänzender starrer Krystallspiegel da, und das Mondlicht,
das bleiche, schien aus ihm zurück. Ich saß auf dem Stein
unter der Eiche. Waldfrieden, Grabesruhe und ich ganz allein in
der Welt unter den glitzernden Sternen. Es war nicht zum Aushalten.
Und statt dessen – wie hätte es statt dessen sein können!
Dein junges Leben neben mir in meinem Hause, Else, Deine Hände
um meinen Hals, Dein Haupt an meiner Schulter, das Licht des
Tannenbaums in Deinen leuchtenden Augen sich spiegelnd – – –
Im November.
„Vater verunglückt! Kommen Sie schnell!“ Das Telegramm
lag auf meinem Tisch, als ich heimkam. Acht Tage vorher war
Werner bei mir gewesen. Wie hatte ich ihn willkommen geheißen!
Aber von dem, was in meinem Herzen lebte, hatte ich ihm nichts
vertraut, das war mein heiliges Geheimnis, an das durfte auch des
Freundes Hand nicht rühren. „Wir fangen jetzt mit der Heuernte
an,“ hatte er beim Wegfahren gesagt, „und leider werde ich selbst
viel mitarbeiten müssen. Mein Knecht – Du kennst ihn ja –
ist vor kurzem endgültig aus dem Dienst gegangen, und ich habe
noch keinen neuen. Wenn aber die Heuernte vorüber ist, und ich
wieder Zeit habe, dann komm’! Und Dein Eingang sei gesegnet!“
Er drückte mir die Hand zum letztenmal in dieser Welt.
„Vater verunglückt! Kommen Sie schnell!“ Das war recht, Else, daß Du mein Wort behieltest und in der schrecklichen Not an meine Hilfe dachtest. Meine Pferde kamen gerade vom Felde – mit dem Ackergeschirr ließ ich sie vor den Wagen legen; wenn ich sehr eilte, konnte ich noch zum Mittagszug auf der Station sein. Wir fuhren Galopp, der Knecht murrte laut über Schinderei; vorm Bahnhof hielten die Pferde zitternd an, der Zug stand schon da. Ohne Gruß wandte der Kutscher. Ich sprang hinein in den Waggon. Vorwärts! Vorwärts! Mir war, als ob nun auch mein Geschick in Erfüllung gehen müßte.
Als ich vor Werners Haus aus dem Wagen sprang, kam mir Else entgegen; verzweifelnd, kaum sich haltend. Sie lehnte das Haupt an meine Schulter und weinte, wie man um einen gestorbenen Vater weint. Dann richtete sie sich auf. „Gut, daß Sie gekommen sind! Helfen Sie mir! Mutter liegt halb bewußtlos.“ Mit gläubigem Vertrauen sah sie zu mir auf.
„Else, führen Sie mich zu ihm!“
Sie zitterte wie Espenlaub in meinem Arm, als sie mit mir vor der Leiche stand und meine Thränen auf sein zerschmettertes Angesicht fielen. Das war dein Ende, du schöner stolzer Bursche: nach einem verfehlten Leben vom Wagen geschleudert und am Brunnenrand die Stirn zerschmettert, hinter der so tiefe Gedanken gearbeitet, die du so hoch getragen und so frei in den Tagen der Jugend!
Stille heilige Tage des Schmerzes kamen und gingen. Wir hatten ihn zur Ruh’ gebettet und die letzten Kränze auf sein Grab gelegt. Die Mutter lag im Fieber: die einzige Stütze ihres Lebens, der Mann, den sie in ihrer Art so grenzenlos geliebt, der war dahin. Sie hatte nicht die Kraft zu sehen, was ihr geblieben war.
Ich ging neben Else dem Hause zu. „Ich muß morgen früh reisen, darf ich nachher auf Ihr Zimmer kommen, daß wir noch alles bereden und ordnen und –“
„Kommen Sie!“ bat sie mit leiser Stimme.
Ich klopfte an ihre Thür. Sie selbst that mir auf, das süße Geschöpf im dunklen Trauergewand. Sie reichte mir beide Hände. „Hier, nehmen Sie, was wir an Dank haben für Sie!“
Ich hielt die Hände fest und zog sie an mich und sah ihr in die Augen. „Else, ich möchte diese Hände halten, immer halten, mein Leben lang –“
Sie zitterte. Hochatmend sah sie vor sich nieder, dann hob sie den Blick, einen Blick, den ich nicht vergessen, der in den tiefsten Tiefen meiner Seele zu forschen schien. Ihre Finger umspannten die meinen fest. „Ich habe gewußt,“ begann sie mit verschleierter Stimme, „zu meinem Leid und meinem unendlichen Glück hab’ ich gewußt, ich wollte es nur nicht sagen, daß und wie Sie meinen Vater gerettet. Ich hab’ es auch gewußt, daß ich Ihnen lieb war, zu meiner Wonne, denn geliebt sein von Ihnen war für mich ein unfaßbares mächtiges Glück, zu meinem Leid, denn ich sagte mir in Thränen. was kannst du Kind dem Manne sein? Wird er nicht mit dir spielen und dann das Spielzeug in den Winkel stellen? Ich habe so Trauriges gesehen und wie schwer es einer Frau wird, im Winkel zu stehen. Da hab’ ich mir gelobt, in solchen Stunden, Nein zu sagen, wenn der Mann, an den ich bei Tag und bei Nacht denken mußte, zu mir käme. Und ich kann auch jetzt nicht Ja sagen, ehe ich eine Antwort von ihm habe, und die verlange ich jetzt. Haben Sie an mich gedacht, als Sie meinem Vater das Geld schenkten?“ Sie stand hoch aufgerichtet, das Haupt zurückgeworfen vor mir.
„Bei Gott, nein,“ sagte ich, „ich hab’ an anderes gedacht. Dein Vater weiß, woran!“ Da faßte sie, ehe ich’s hindern konnte, demütig meine Hände und legte ihr heißes Gesicht darauf. „So nimm mich hin!“ Und sie hob das Gesicht und streckte die Hände nach mir aus. „Siegfried!“
Zum erstenmal hörte ich meinen Namen aus ihrem Munde. Ich zog sie an mich und bettete ihr Haupt an meinem Herzen. Sie blickte auf aus glänzenden verweinten Augen.
„Ich weiß wohl,“ sagte sie, „ich hätt’s doch nicht thun sollen, aber ich konnte nicht anders. So nimm das arme junge Ding hin – Du hast’s ja nicht anders gewollt!“
Am ersten November war ihr einundzwanzigster Geburtstag. Da sind wir getraut worden in der Kirche ihres Heimatdorfes. Und dann fuhren wir fort in ihr neues Heim, das ihr Fuß noch nicht betreten, ihr Auge noch nicht gesehen. Sie hatte es nicht gewollt. Fest lehnte sie auf meinem Arm, als die Thür sich uns aufthat; strahlenden Auges sah sie um sich und hinein in die Reihe der hellerleuchteten Zimmer. Da fiel mein Blick in den großen Spiegel uns gegenüber: ihre ganze Gestalt stand da vor mir – an der Seite des Einsamen ein junges glückliches Weib.
Draußen pfiff und brauste der Novembersturm ums Haus, und die ersten Schneeflocken fielen. Wir saßen einander gegenüber, erhoben die Gläser und ließen sie hell zusammenklingen. Und wie sie trank, schaute sie übers Glas weg mit liebenden Augen auf mich, und es niedersetzend, reichte sie mir die Hand, mit Lächeln fragend: „Hast Du mich lieb?“
„Ja, ohne Wandel!“
„Und ich Dich!“
Und des Sturmes wilde Jagd ging heulend weg über das Haus. Das Feuer auf dem Herd sprühte auf und sank zusammen, und der Hofhund verbarg sich in seiner Hütte, mit der Kette rasselnd. Um Elses Schultern wallte ihr langes dunkles Haar. „Siegfried, küsse mich!“
Und der Sturm heulte weiter, hinausrasend über den Wald, die Sterne verhüllend. Brause nur zu – meine Sterne, die verlöschest du nicht!