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Wanderung durch Deutschland in London

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Textdaten
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Titel: Wanderung durch Deutschland in London
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aus: Die Gartenlaube, Heft 34, S. 449–451
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Wanderung durch Deutschland in London.

Die deutsche Fremdenlegion, Napoleon und das jetzige England. – Die Engländer, ein Gemisch aller Nationen mit dem bedeutenden Elemente in den Deutschen. – Der englische Typus und dessen Abschleifung in deutscher und französischer Kultur. – Die deutsch-englischen Affen. – Der deutsche Klub. – Hervorragende deutsche Gewerbe und Künste. – Deutsch-englische Sprache. – Metamorphose der Deutschen in London. – Englische Arbeiter aus Deutschland. – Deutsche Erfinder. – Die deutscheste Gegend in Westend. – Der deutshe Arbeiterverein, Kinkel’s Vorträge und ein deutsches Volksfest in London. – Charakter und Schattenseiten der Deutschen in London. – Frederik Brandt und ein Friseur als Abonnenten der Gartenlaube. – Revue der deutschen Kaffee- und Bierhäuser. – Katalog der übrigen deutschen Elemente. – Uebersicht der deutschen Journal-Blamage in London, zuletzt mit dem „Londoner deutschen Journal.“


„Es wäre so weit ganz hübsch in London, wenn sich nur nicht immer noch zu viel Engländer unter uns herumtrieben," sagte einmal ein berliner Witzbold in einer londoner deutschen Kneipe, und zu mir ein ander Mal die Frau eines alten, pensionirten Policeman, die sich der „rein englischen Zeit“ noch erinnern konnte: „in hundert Jahren giebt’s keine Engländer mehr in England.“ Das scheint auch wirklich so. Die eigentlichen Engländer haben schon seit 780 Jahren nichts mehr zu sagen in England. Nachdem der normännische Wilhelm der Eroberer das Land den Angeln, Sachsen, Dänen u. s. w., die nach einander erobert und geherrscht, abgenommen und unter seine Ritter vertheilt hatte, herrschten diese bis heute, und wenn sie neuerdings von ihrer Herrlichkeit viel verloren haben und vielleicht noch mehr verlieren, gewinnen’s nicht die alten Anglo-Sachen oder eigentlichen Engländer, sondern die neuen Normannen oder Franzosen und die Deutschen. Wie leicht können die Franzosen einmal über Nacht herüberkommen, wieder bei Hastings, wie Wilhelm der Eroberer, landen, sich mit den dort in der Nähe lagernden 3000 Mann deutscher Fremdenlegion verbinden und die französisch-englische Alliance dadurch bekräftigen, daß sie England ganz in Frankreich aufgehen lassen! Soldaten mit Patriotismus, das Land zu vertheidigen, giebt’s ja nicht mehr, und die Engländer im Civil bewiesen dem Kaiser Napoleon im April so brennende, illuminirte Liebe und Verehrung, daß er vielleicht schon damals außer den Leuten auch das Land erobert hätte, ohne einen Schuß Pulver daran zu wenden, wenn er nur den Wunsch geäußert haben würde: „Gebt mir das Land. Herren, die regieren können, habt ihr ja doch nicht mehr! Ich will euch den alten constitutionellen Schwindel mit Lappen aufflicken, die nicht mehr halten, abnehmen und eine ganz neue Staatsmaschine geben!“

Doch das ist ausschweifende Phantasie. Eigentlich wollte ich blos auf das historische Faktum, das man bei Beurtheilung Englands in der Regel übersieht, aufmerksam machen, daß die Engländer kein Volk, keine Nation sind, sondern das bunteste Gemisch der verschiedenen Völker und feindlichsten Racen: Picten, Scoten, Dänen, Angeln, Sachsen, Caledonier, celtische Hochländer, Polen, Juden, Franzosen, Griechen, Italiener, Ostindier, Waliser und die schlimmsten und mißhandeltsten von Allen, die Ireländer, endlich die überlegendsten und gefährlichsten von Allen, 39 Sorten Deutsche. Allerdings hatte sich ein isolirter englischer Charakter und Typus ausgebildet: kaltes, sorgfältig rasirtes Gesicht zwischen steifen Vatermördern und rothblondem Backenbart, kostbare Weste, kein Hinterkopf, Rock und Hosen, die sehr viel kosten und niemals passen, lange Beine, schiebender Gang mit den Knieen, innen sehr weit vor, Hut hinten über hängend wegen Mangel an Hinterkopf, wodurch die kalte, herzlose, steife Physiognomie mit einer starken Färbung von Dummheit überhaucht wird, kurz, der englische „Mylord“, der in ältern, deutschen Lustspielen so lange abgehetzt ward; aber „Mylord“ hat bedeutend aufzuhören angefangen seit den großen Ueberschwemmungen von 1848 vom Continente her, besonders seit der großen Ausstellung von 1851. Er verschwindet zusehends in französischen Moden, deutschen Meistern, Meubles und Materien, deutschen Stubenmalern und Mechanikern, deutschen Lehrern und Schneidern. Im Allgemeinen erkennen freilich die [450] Deutschen ihre Macht und Menge in England am Wenigsten. Die älteren Ansiedler und viele Kaufleute denken immer noch, es sei ihre Pflicht, ihre Abkunft und Muttersprache zu verleugnen, und der „deutsche Klub“ im Westende hat eine aus Gevatter Schneider und Handschuhmacher bestehende Obrigkeit, welche das Wohl ihres vereinigten Deutschlands nur in einem schauderhaften Englisch berathet, und nur zuweilen verschämt und stotternd ohne alle Rücksicht auf Construction, auf Mir und Mich ihre Muttersprache mißhandelt. Es giebt eine Menge Deutsche, welche ihre Muttersprache ver-, und die Englische nicht gelernt haben, so daß sie sprechen, als wären sie vom lieben Gott eben direkt vom Turmbau zu Babel weggejagt worden.

Im Allgemeinen erkennt der Deutsche seine intellectuelle und praktische Ueberlegenheit über den Engländer, die er beweist und bewährt. Früher schämte er sich politisch, ein Deutscher zu sein. Nun das hat den jetzigen politischen Leistungen Englands gegenüber auch aufgehört. Sind wir politische Nullen, schmeicheln wir uns auch der Unschuld, die in jeder Null sich rein und rund darstellt, während die politisch freien Engländer sich von Politik und Polizei lauter negative Decimalbrüche treten lassen. Früher schämte sich der Deutsche auch social, ein Deutscher zu sein. Wenn der Engländer einen Ausländer, besonders einen Deutschen beschreiben wollte, schilderte er immer zuerst schmutzige Wäsche. Aber wir wissen und die Engländer sehen’s auch schon, daß in keinem Lande der Erde sich so viel schmutziges, gemißhandeltes, ausgebeutetes, zerlumptes Volk herumtreibt als in England, daß unter der reinsten Wäsche, unter dem dicksten Gold, unter der brillantesten Herrlichkeit sich schmutziger Humbug und betrügerische Heuchelei blähen und brüsten. Außerdem haben sich die Deutschen in London mit schief getretenen Stiefeln, zugeknöpftem Rock ohne Knöpfe (aus Mangel an westlicher Civilisation), mit ungewaschenen Gesichtern und Hemdenkragen so ziemlich verkrümelt; sie sind verdorben und gestorben oder englische Arbeiter, Lehrer, Commis, patentirte Erfinder, Eigenthümer oder wenigstens Soldaten geworden, ohne welche nach der Erklärung des damaligen Ministeriums die westliche Civilisation sich hätte für bankerott erklären müssen.

Englische Arbeiter aus Deutschland! Das ist ein gewaltiges, freudiges Wort, obwohl mit trauriger Färbung für das Mutterland. Jahr aus, Jahr ein kommen sie herüber, weil ihnen der Wirkungskreis daheim zu eng ward, nicht selten mit nichts, als einer Erfindung in der Tasche, an der sie zu Hause halb verhungerten, um hier erst noch einmal halb zu verhungern, bis sich der Capitalist oder die Compagnie findet, ihm die Erfindung abzukaufen, sich patentiren zu lassen und Tausende von Pfund daraus zu schlagen, während der Erfinder, abgespeis’t mit einem Taschengelde, „unschuldig, flachshaarig und mit blauen Augen,“ ohne Namen, aber solid seinen Lebensweg weiter verfolgt und nicht selten wieder etwas erfindet. Der bloße Zufall hat mich mit vielen Dutzenden solcher deutschen Erfinder bekannt gemacht, die erst lange umher hungerten und nun tüchtige Mechaniker und Geschäftsleute geworden sind. Einige waren schon so klug, die Erfindung nicht aus der Hand zu geben, so daß ihnen die Engländer Haus und Herd halten und Geld geben, so viel sie haben wollen. Ein Erfinder mit Familie aus den höhern Ständen war so weit gekommen, daß er, nachdem Alles in’s Leihhaus gewandert und die Pfandzettel verkauft worden waren, das schöne Haar seiner Frau (auf deren Bitten) abschnitt und verkaufte, um einen seit drei Tagen und drei Nächten eingedrungenen Besuch, den nackten, physischen Hunger, los zu werden. Jetzt lebt er in einem glänzenden Hause als Chef eines großen Geschäfts, durch welches seine Erfindung mit großem englischen Capitale ausgeführt wird.

Ein Anderer, der vorigen Sommer halb verhungert durch den James-Park wankte, fand dort ein vor Hunger fieberndes Mädchen und nahm sie mit nach Hause, in der Hoffnung, unterwegs etwas zu erfinden, womit Beider Hunger gestillt werden möchte. Wenn er auch nicht gleich etwas erfand, entdeckte er doch noch ein altes Faß, das er verkaufte, um es in Brot zu verwandeln. Jetzt umkreisen ihn Engländer, Amerikaner und Franzosen, um ihm ein halb Dutzend, zum Theil wichtigste Erfindungen abzuschwindeln. Aber er ist pfiffiger wie sie, und wußte sich sogar aus den Klauen eines Kapitalisten, dem er sich mit Leib und Seele hatte verschreiben müssen, wieder heraus zu winden, um Meister seiner Schöpfungen zu bleiben. Darüber später, wenn die betreffenden Erfindungen reif sind.

Von den deutschen Arbeitern und Gewerbtreibenden in London herrschen Mechaniker, Stubenmaler, Uhrmacher, Kunsttischler, Bäcker, Schneider, und in Whitechapel (Klein-Deutschland) die Zuckersieder ganz entschieden vor und werden durchweg den Engländern vorgezogen, welche in keiner Sphäre so solid, so geschickt, so genau und geschmackvoll arbeiten.

In Kunst- und Geschmacksachen theilen die Deutschen ihre Lorbeeren hauptsächlich mit den Franzosen, aber auf dem Gebiete physikalischer Instrumente, der Zimmerdecorationen, Meubles und Kleider haben unsere Landsleute bereits entschiedenes Uebergewicht. Man sagt wohl, die pariser Meubles seien geschmackvoller, vergißt aber dabei, daß in Paris fast alle deutschen Arbeiter auch sehr reich vertreten sind und in den Tischlereien auch der Zahl nach überwiegen.

Am Dichtesten vertheilen sich deutsche Arbeiter (besonders Tischler, Mechaniker und Schneider) in dem Theile des Westendes, der sich zwischen Regentsstreet und Tottenham Court Road in dichte Straßen zusammendrängt. Hier ist es wieder besonders Charlottestreet und deren nächste Nachbarschaft, wo jeden Sonnabend die meisten Exemplare der Gartenlaube gute Leser finden, da sie sich der deutschen Sprache nicht schämen und gebildeter und gesunder sind, als die englisch-deutschen Doppel-Karricaturen in der City und dem deutschen Philister-Klub. Sie haben ihren heitern, gesunden Verein für sich, in welchem jetzt Gottfried Kinkel (auf besondere Einladung des Vereins) wissenschaftliche Vorträge hält (Geographie, Geschichte u. s. w. im Zusammenhange mit andern Kulturelementen der Menschheit). Der Verein wurde früher von Communisten, Karl Marx, Willich[WS 1] u. s. w. gehumbugt und tyrannisirt, hat aber diese Herren alle nach einander ausgestoßen (Karl Marx hatte sich geweigert, von 86 Pfund Sterling – etwa 600 Thalern – Rechnung abzulegen). Das schmutzige Gezänk ist verschwunden; gebildete, stattlich gekleidete, frische Jünglinge und Männer kommen jetzt zusammen, um ihres deutschen Charakters, ihres deutschen Kulturtriebes froh zu werden und sich immer weiter zu bilden, da sie gebildet sind. Nur der englisirende Sclave des Geldmachens verachtet Vernunft und Wissenschaft, radebrecht Abends Englisch und spielt ächt deutsch Schafskopf dazu. Diese Arbeiter haben, statt sich englischer Bornirtheit zu fügen, nicht nur ganze Häuser und Werkstätten erobert, sondern auch einen englischen Bierwirth in der Charlottenstraße gezwungen, ihnen die Belletage einzuräumen und deutsche Blätter anzuschaffen.

Wollen sie sich einmal ganz besonders amüsiren, geschieht es durch ächt deutsche Excursionen, wie neulich nach dem Eppingwalde in fünf lustigen Vergnügungs-Omnibus (à 10 Thaler jeder) mit eigenen Tonnen Bier, deutschen Musikanten, deutschem Jugendhumor, lauter deutschen Tugenden und Schönheiten, mit Ausnahme der Damen. Diese wurden aus betrübendem Mangel des Originalartikels von Englands schönen Töchtern rekrutirt. Jeder hat natürlich etwas Liebes (wenn nicht schon eine Frau), denn die Wirths- und Meistertöchter sind ganz leidenschaftlich hinter den Deutschen her. Und wie waren sie im grünen, duftigen Walde unter Tanz und Musik und geselliger Abzapfung großer Bierfässer (Einige hatten sich ein Faß unter eine Brücke gekollert, im trinkend die deutsche Absonderung zu vertreten), beim Pferde- und Eselreiten und Herunterfallen, unter Lust, Gelächter und Jugendübermuth begeistert für deutsches Wesen mit den rothen, jugendlichen Backen, den blauen Augen und den blonden, braunen, brünetten und schwarzen Backen-, Schnurr- und Knebelbärten!

Freilich will und kann ich den Deutschen in London nicht idealisiren. So schimpft fast Jeder auf seine Mitbrüder wegen Unverträglichkeit, Wortklauberei, Streitsucht und giebt dadurch selbst in der Regel das schlagendste Beispiel seiner Behauptung. Niemand weiß, wie viel Deutsche es in London giebt, die Angaben schwanken zwischen 80 und 150, ja 200,000 Seelen. Aber nirgends haben sie einen entsprechenden Mittelpunkt. Die neununddreißig Vaterländer und Parteien finden sich hier alle in separirten Vereinen und Kliken wieder, ein Beweis, daß Politik und Polizei nicht eigentlich an der deutschen Uneinigkeit Schuld sind, sondern diese selbst; denn hier hindert und constabelt sie keine „hohe Behörde.“ Manche deutsche Gegend Londons ist wie eine kleine Stadt mit allem Klatsch, aller Topfgukerei und allem Scandal, wie man ihn nur in Deutschland unter dem Namen „Kleinstädterei“ produciren und kultiviren kann. Auch findet man unter den deutschen Kaufleuten und Shopkeepers viel schamlose Schwindler und corrumpirte [451] Subjekte; aber diese Art Deutsche sind in der Regel schon vom Hause aus als Juden und Polen und Deutsche zugleich verwahrlost worden, und können das deutsche Wesen weder im Aus- noch im Inlande beschmutzen. Gerade im Gegensatze zu diesem Repräsentanten deutschen Deckblattes in Fleetstreet muß ich die Erfahrung Ihres Gartenlauben-Agenten hier hervorheben, daß unter den Hunderten von Abonnenten gerade die Arbeiter wahrhaft ängstlich sind, um ihre Abonnements immer rechtzeitig zu bringen, wenn nicht danach geschickt wird.

Zwar können wir auch in London nicht mehr in das „Kaffeehaus zur deutschen Einigkeit“ in Greekstreet gehen, denn es ist nichts dahinter und wegen Zerwürfnissen zwischen „Soll“ und „Haben“ geschlossen; aber gleich nicht weit davon in zwei Old Comptonstreet finden wir hinter einem kleinen Cigarrenladen den kleinen blonden Schütz mit Kaffee, Restauration, Billard und Gemüthlichkeit nebst einer guten Zahl deutscher Zeitungen und Journale. Wollen wir Literatur, Kaffee und Cigarren für einen Penny großartig genießen, gehen wir ein paar Schritte weiter in das große Lesecabinet am Leicestersquare, das ein Engländer ganz im deutschen Stile eingerichtet hat, d. h. ohne die englischen, kirchstuhlartigen Breterkasten, hinter denen sich schweigend und menschenfeindlich die Stockengländer gegenseitig abkasten.

In dem neuen Lesecabinet rauchen, lesen und sprechen die verschiedenen Nationen ganz ungenirt durch einander, und den Engländern gefällt das auch, wenn sie’s erst einmal probirt haben.

Weiter oben, nicht weit von Regents-Quadrant finden wir in Queenstreet den großen deutschen Biersaal des ehemaligen famosen Hanauers Göhringer, jetzt im Besitz eines von Australien zurückeingewanderten Deutschen, Perl, der 1848 mit dem berliner Auswanderungszuge ging, zwei Häuser davon (Nr. 12) ein deutsches Speisehaus, wo man mit bescheidenen Mitteln gut ißt. Der andere Hanauer, Schurtner, behauptet sein Bierhaus in Langacre mit zunehmendem Emponpoint und mit Musik und deutschen Liedern jeden Sonnabend. Dazwischen hat ein österreichischer Adeliger von Australien, Herr von Bibra, ein großes Cigarren-, Speise- und Billardgeschäft mit Erfolg eröffnet. Kleine deutsche Kaffeehäuser und mehrere große deutsche Hotels und Logirhäuser verstecken sich hier in Nebenstraßen. Einige größere bilden eine Ecke in Finsburg-Square (City) und eine unzählige Menge Bierlokale und kleine Kaffeehausräuberhöhlen zerstreuen sich in Whitechapel, besonders in der Nähe der Katharinen-Docks, wo die Dampfschiffe anlegen und die von Seekrankheit angegriffenen deutschen Brüder beim Aussteigen eingefangen werden.

Uebrigens bin ich im fernen barbarischen Osten Londons mit Whitechapel und Klein-Deutschland wenig bekannt. Ich höre nur, daß die Zuckersieder sich ihr saures Leben durch häufige Tanzmusik versüßen, durch Bälle, welche die Engländer so begeisterten, daß sie die deutsche populäre Art, sich auf dem „Tanzboden“ zu amüsiren, nach Kräften copiren.

Zwischen Osten und Westen in der Mitte verbirgt sich in Cliffordsinn-Fleetstreet, das große Publik- und Speisehaus eines Kölners, wo kaufmännische Deutsche und Engländer mit einander rauchen, discuriren und sich restauriren. Und was verbirgt sich noch Alles aus Deutschland hier in diesem unermeßlichen Wirrwar von beinahe drei Millionen Menschen? Noch müßte ich wenigstens von den deutschen Buchhandlungen (Nutt, Trübner, Quaritch, Thimm u. s. f.) Musikalienhandlungen (Schott, Regentstreet), deutschen Leihbibliotheken (Timm, Bender u. s. w.), deutschen Künstlern, besonders den Malern (unter denen Karl Haag es bis zur Spitze der Wasserfarbenmalergesellschaft und bis zur Königin gebracht hat), deutschen Aerzten (Dr. Heß, <tt<Dr. Gerber u. s. w.), deutschen Kirchen, Schulen und Missionären, vom deutschen Hospitale, von deutschen Lehrern und Gelehrten, von deutschen Literaten und Correspondenten, Musik-, Gesang- und Sprachlehrern, ohne die es keine einzige respektable Schulanstalt in ganz England mehr giebt, von deutschen Straßenmusikanten, die Tag und Nacht in allen Gegenden Londons aus schmutzigen Blechinstrumenten himmelschreiende Mißtöne pusten, deutschen Bummlern, Bettlern und Betrügern, vom deutschen „Gentlemans“-Verein in der City, von deutschen Engrosgeschäften in der City, von deutschen Crösus’ in Manchester, Liverpool, Hull, Bradford, Dover u. s. w. reden, um eine Vorstellung von dem Umfange und der rasch zunehmenden Bedeutung der Deutschen in London und ganz England zu geben; aber wer kann ein so reiches, noch werdendes, zerfahrenes und zerstreutes Material in einer einzigen Wanderung besuchen und schildern? Diese in London zerstreuten deutschen Fremdenlegionen sind noch etwas Werdendes, wie die in der neuen deutschen Lagerstadt bei Shorncliffe. Sobald etwas daraus geworden ist, schreib’ ich wieder, wenn ich bis dahin noch existire.

Doch kann ich nicht schließen, ohne mit einiger Heiterkeit auf das neue „Londoner deutsche Journal für Kunst, Musik, Gewerbe und öffentliches Leben“ aufmerksam zu machen. Die erste Nummer fängt mit dem Ausrufe des sterbenden Herder an. „Gebt mir einen großen Gedanken!“ und sie findet ihn in der „russischen Buchdruckerei“ und den Ronge’schen Kindergärten zu London. Als Literatur und Journalistik hat sich Deutschland bisher immer in London blamirt, erst mit der londoner Zeitung des Herzogs von Braunschweig, dann mit der deutschen Ausgabe der „Illustrated London News“ unter Redaktion eines davongelaufenen wiener Ladendieners, Pokorny, ferner mit dem Louis Drucker’schen „How do you do?“ dann mit dem „Telegraphen“ eines Schwindlers aus Leipzig, Dresden, Berlin und Petersburg, Bertholdi (der sich Professor nannte), eine zeitlang mit der Marx’schen Fortsetzung der „Neuen Rheinischen Zeitung“ in Vierteljahrsheften, zuletzt durch das Ronge’sche deutsch-englische Löschpapier: „The Confederate“ und zu guter Letzt durch das „Londoner deutsche Journal.“ Es fehlt für ein deutsches Organ in London nicht an Capacitäten, wohl aber an Kapital, da die meisten deutschen Kapitalisten hier mit Deutschverächterei renommiren und Vatermörder und Bart wie Rothschild krämpeln.

Anmerkungen (Wikisource)