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Wahlrecht

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Textdaten
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Autor: Hermann Rehm
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Titel: Wahlrecht
Untertitel:
aus: Handbuch der Politik Erster Band: Die Grundlagen der Politik, Sechstes Hauptstück: Der Parlamentarismus, 30. Abschnitt , S. 432−438
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
Auflage:
Entstehungsdatum: {{{ENTSTEHUNGSJAHR}}}
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
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Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
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[432]
30. Abschnitt.


a) Wahlrecht.
Von
Dr. Hermann Rehm,
o. Professor der Rechte an der Universität Strassburg.


Literatur:

[Bearbeiten]
Rehm, Deutschlands politische Parteien. Ein Grundriss der Parteienlehre und der Wahlsysteme 1912. –
Curti, Das Wahlrecht, Geschichte und Kritik 1908. –
Gg. Meyer, Das parlamentarische Wahlrecht 1901. –
O. Poensgen, Das Wahlrecht 1909 (mit Literaturangaben.) –
v. Below, Das parlamentarische Wahlrecht in Deutschland 1909. –
Jellinek, Ausgewählte Schriften und Reden Bd. 2 (1911) S. 196 ff.: Das Wahlrecht. –
Tecklenburg, Entwicklung des Wahlrechts in Frankreich seit 1789. 1911. –
Über Wahlreformen berichten jeweils die Zeitschrift für Politik und das Jahrbuch des öffentlichen Rechts. Das geltende Wahlrecht jedes Staates schildert die „Bibliothek des öffentlichen Rechts“.

I. Arten des Wahlrechts. Das staatliche Wahlrecht hat zum Gegensatze das kirchliche und das private Wahlrecht, welch letzteres in den Vereinen, Gesellschaften und Versammlungen des bürgerlichen Lebens betätigt wird. Das staatliche Wahlrecht ist ein administratives oder ein politisches. Das Verwaltungswahlrecht umfasst die Wahlen zu den öffentlichen Verwaltungskörpern, seien diese Staatsorgane oder Organisationen mit selbständigem Wirkungskreise. Seine Hauptgruppen bilden das Gemeindewahlrecht und das sog. soziale Wahlrecht (Kaufmannsgerichte, Organe der Arbeiterversicherung u. s. w.).

Das politische oder parlamentarische Wahlrecht ist das Recht, durch Stimmabgabe bei der Zusammensetzung der gesetzgebenden Volksrepräsentation mitzuwirken.


II. Natur des Wahlrechts. Seiner rechtlichen Natur nach ist das parlamentarische Wahlrecht individuelles Recht, nicht öffentliche Funktion (Wahlamt). Wenn der Wähler wählt, handelt er im eigenen Namen, als Bürger, nicht im Namen des Staates, als Staatsorgan. Als Staatsorgan stimmt der Abgeordnete.

Würde der Wähler juristisch im Namen des Staates tätig sein, so wäre zu erwarten, dass allgemein Wahlpflicht gälte und ein Verzicht auf Teilnahme an der Wahl verboten wäre, denn bei der Wahl handelte es sich dann um eine von vielen zu vollziehende Staatstätigkeit und daher läge nahe, dass ihr Vollzug durch Wahlzwang sichergestellt würde.

Die Staatslehre und die Parteidoktrin der parlamentarisch regierten Staaten vertritt mit grosser Einmütigkeit die Anschauung, das Wahlrecht sei in Wahrheit Wahlamt. Es geschieht dies aus zwei Gründen. Der eine ist juristisch. Nur so lässt sich die Rechtsnotwendigkeit des allgemeinen Wahlrechts, das dem Bestande der demokratischen Regierungsform sehr gefährlich werden kann, mit Erfolg verneinen. Denn ist das Wahlrecht Untertanentätigkeit, dann folgt aus dem Prinzipe der Gleichberechtigung aller Untertanen, in dem die Erklärung der Menschenrechte sogar ein angeborenes Recht erblickt, mit logischem Zwange ein Wahlrecht aller ehrbaren erwachsenen Staatsangehörigen, demgemäss z. B. auch Frauenwahlrecht. Der zweite Grund ist politisch. Volkssouveränität bedeutet politisch: jeder Volksgenosse ist Mitbesitzer, Teilhaber der obersten Staatsgewalt. Diese Bedeutung kann nicht mit Hinweis auf die gesetzliche Unteilbarkeit der Souveränität abgelehnt werden. Denn dieser Satz bedeutet nur: das Volk kann die Souveränität nicht mit jemand teilen, der nicht zu ihm gehört. Es liessen sich also nur Opportunitätsgründe anführen, das praktische Bedürfnis, die mit dem allgemeinen Wahlrechte verbundenen Gefahren verböten, die Konsequenz des allgemeinen Wahlrechts aus dem Volkssouveränitätsbegriffe zu ziehen. [433] Um gegen die logische Folgerung nicht nur mit Nützlichkeitserwägungen ankämpfen zu müssen, wird die Behauptung aufgestellt, das Wählen sei nicht Volks-, sondern Amtstätigkeit.

In England bedarf es der Konstruktion als Staatsfunktion nicht, um die Gefahren des allgemeinen Wahlrechtes abzuwenden. Hier wird das Wahlrecht wohl als Recht, aber immer noch als Privatrecht das an Grund und Boden haftet, als Realgerechtsame aufgefasst. Dass jedermann Eigentümer, Besitzer, Pächter, Mieter ist, also jeder ein Recht an Grund und Boden hat, erwartet niemand.


III. Zweck des Wahlrechts. Die Teilnahme an der Wahl ist ein Recht des Individuums. Hieraus folgt, dass die Teilnahme Interessen von einzelnen und von Gruppen (Ständen, Bezirken) solcher dienen darf. Und weil das durch die Wahl zu schaffende Organ das Volk, also alle Staatsangehörigen vorzustellen hat, folgt hieraus, dass möglichst allen vollgeschäftsfähig gewordenen die Befugnis einzuräumen wäre, ihre privaten Interessen (einschliesslich der ihrer Umwelt) durch Teilnahme an der Wahl zur Geltung zu bringen. Das Leben im Kulturstaate erfordert diese Befugnis um so mehr, als der Kulturstaat einen immer höheren Teil des Lebensinhalts des Individuums in Anspruch nimmt. Die Eigenschaft des Wählens als subjektives Recht führt somit zum Prinzipe des allgemeinen Wahlrechts. Allein das Wahlrecht ist kein Privat-, sondern ein öffentliches Recht des Individuums. Es wurde ihm verliehen, um das Staatsorgan zustande zu bringen, das zur Mitwirkung bei den bedeutendsten Staatsgeschäften und zur Kontrolle der ganzen Staatsverwaltung berufen ist. Dies ist der wichtigere Zweck, denn das zu schaffende Organ soll der Gesamtheit dienen. Also geht dieser Zweck des Wählens vor. In erster Linie muss daher das Wahlrecht so gestaltet werden, wie es das öffentliche Interesse fordert. Auch das Wahlrecht wird deshalb von dem Satze beherrscht, ohne den ein Staat überhaupt nicht möglich ist: zuerst die Ordnung, dann die Freiheit. Das Wahlrecht kann nur so geformt werden, wie es dem Interesse des Staates entspricht. Salus publica suprema lex esto, gilt auch für die Wahlrechtsordnung.

Die Doppelaufgabe des Wahlrechts tritt in den positiven Wahlgesetzen deutlich hervor. Ausschliesslich oder vorwiegend dem Macht- oder Ordnungsinteresse dienen das beschränkte und das ungleiche Wahlrecht, der Ausschluss der juristischen Personen vom Wahlrecht und die sog. Wahlkautelen, die Wahlpflicht, der Verlust des Wahlrechtes wegen Unfähigkeit (Pflegschaft, Konkurs usw.) und Unwürdigkeit, Ruhen des Wahlrechts für Soldaten, Erlass des Wahlgesetzes als Verfassungsgesetz. Freiheitseinrichtungen im Wahlrecht bilden dagegen ganz allgemeines und gleiches Wahlrecht und Wahlrecht der juristischen Personen, Ausschluss der Wählbarkeit von Beamten, Ausschluss des Wahlzwanges, Ordnung des Wahlrechts durch einfaches Gesetz.


IV. Die Verschiedenheit des Wahlrechts. Jedes Wahlrecht und demgemäss auch jede Wahlreform besteht aus einem Ausgleiche zwischen den Folgerungen des Individual- und des Sozialprinzips. Freiheits- und Ordnungsbedürfnis sind aber nach Ort und Zeit verschieden; ein anderes im Gross- und im Klein-, im sozial homogenen und im gemischten, im Agrar- und im Industrie-, im evangelischen und katholischen Staate usw. Ein anderes Bedürfnis besteht ferner in einer Zeit, wo Kampf um ideelle Güter (geistige, religiöse, nationale: Press-, Gewissensfreiheit, Öffentlichkeit, Mündlichkeit, Konstitution) und in einer Zeit, wo Kampf um wirtschaftliche Interessen im Vordergrande steht. Daher ist das Wahlrecht nach Raum und Zeit verschieden. Es gibt kein absolut bestes und kein starres Wahlrechtssystem. Das Wahlrecht muss sich an Ort und Zeit anpassen und daher auch organisch fortentwickeln. Aus der Verschiedenheit an Ort und Zeit ergibt sich z. B., dass es realpolitisch etwas anderes ist, ein bestimmtes Wahlsystem einzuführen und ein anderes, es abzuschaffen. Es bereitet mehr Schwierigkeiten ein unzweckmässiges Wahlsystem zu beseitigen, als seine Einführung zu verhindern. Daraus, dass das Wahlrecht der Wirkung nach teils dem Individual-, teils dem Sozial- d. h. Gesamtinteresse dient, darf nicht abgeleitet werden, dass auch bei der Herstellung des Wahlrechts in erster Linie diese Gesichtspunkte massgebend [434] sind. Namentlich seit die Parteien an der Gestaltung des Wahlrechts mitarbeiten, wird nicht sowohl gefragt: was fordert das Freiheits-, was das Ordnungsinteresse? als vielmehr, was fordert das Machtinteresse der Beteiligten? Die nicht im Besitze der Macht Befindlichen (Parlament, Minderheitsparteien) vertreten wohl das Freiheitsprinzip, aber nicht um seiner selbst willen, sondern um dadurch (d. i. durch Ausdehnung des Wahlrechts) zu Macht zu gelangen. Das andere Prinzip verteidigen die in der Macht Sitzenden (die Regierung, die Mehrheitsparteien), um sich in der Macht zu erhalten. Befinden sich Linksliberale im Genusse der Macht, dann erklären sie sich gegen, befinden sich Konservative in der Minderheit, so erklären sie sich für Erweiterung des Wahlrechts. Ein Wahlrecht kann aus ganz anderem Grunde eingeführt sein, als dem, der seiner Natur entspricht, aber trotzdem die seiner Natur entsprechende Wirkung haben. Jedermann weiss, dass das allgemeine und gleiche Wahlrecht für den deutschen Reichstag eingeführt wurde, um durch Beteiligung aller Volksklassen an den Wahlen den nationalen Geist zu stärken und so die Einheit Deutschlands gegen innere und äussere Feinde zu sichern. Aber das Wahlrecht hat zu Gunsten des Individualismus, des Parteiegoismus gewirkt.


V. Das theoretisch beste Wahlrecht. Wenn es auch kein absolut bestes Wahlrecht gibt, so lässt sich doch aus der Erfahrung heraus bestimmen, welches Wahlrecht im allgemeinen d. h. von den besonderen Bedürfnissen des Ortes und der Zeit abgesehen für den Kulturstaat das zweckmässigste, das Kulturwahlrecht ist. Das beste ist eine Verbindung von allgemeinem Wahlrecht mit Mehrstimmrecht und Wahlzwang. Das allgemeine Wahlrecht wird vom Individualprinzip gefordert. Alle Individuen, alle Parteien und Bestrebungen sollen die rechtliche Möglichkeit haben, am Wahlkampfe teilzunehmen. Mehrstimmrecht für Bildung und Vermögen in einer Stärke, dass die mehrstimmigen Gruppen über die einstimmigen das Uebergewicht erhalten, also ungleiches Wahlrecht verlangt das Gesamtinteresse. Die Erfahrung zeigt, dass gleiches Wahlrecht die Parteien zwingt, die Massen zu gewinnen und sich zu erhalten. Das bewirkt, dass populäre, aber staatsschädliche Massnahmen ergriffen und unpopuläre, aber staatsnotwendige Massnahmen unterlassen werden. Schädlich z. B. ist Sozialpolitik auf Kosten gesunder Finanzpolitik. Das Parlament muss so gestaltet sein, dass nicht das populäre, sondern das dem Vaterlande nützliche beschlossen wird. Dazu gehört abgestuftes Wahlrecht. Dadurch ist nicht ausgeschlossen, dass eine Kammer nach gleichem Wahlrecht gewählt wird, wenn dann nur noch eine zweite mit ganz gleichen Rechten vorhanden ist, die ebenfalls aus Wahlen und zwar aus ungleichen hervorgeht. Die Menschen sind für den Staat nicht gleich viel wert, daher ist ungleiches Wahlrecht auch gerecht. Selbst die Sozialdemokratie kennt ungleiches Stimmrecht; auf ihren Delegiertentagen wird nach der Beitragshöhe abgestimmt. Das Gesamtinteresse heischt endlich tunlichst allgemeine Teilnahme der Wählerschaft als Gegengewicht gegen den terroristischen Einfluss mancher Parteien auf die Bevölkerung. Das Wahlergebnis darf nicht von zufälligen, durch Parteidruck herbeigeführten Mehrheiten abhängig sein.

Nur wer das Wahlrecht lediglich vom Individualinteresse aus betrachtet, kann die Behauptung aufstellen: gleicher Wehr-, Steuer- und Schulpflicht entspricht auch gleiches Wahlrecht. Das Gesamtinteresse verlangt gleiche Wehr-, Steuer-, und Schulpflicht, aber verbietet gleiches Wahlrecht. Massenheere z. B. sind dem Staate nützlich, Massenwähler dagegen nicht. Dem Individualinteresse entspricht Wahlfreiheit, dem Gesamtinteresse aber Wahlpflicht.[1]


VI. Frauenstimmrecht. Wer das Wahlrecht nur vom Standpunkte des Individualinteresses aus ansieht, muss den Frauen und zwar allen, nicht nur den erwerbstätigen oder verheirateten, Stimmrecht und zwar gleiches wie den Männern gewähren, gerade so wie dann ein Wahlrecht der juristischen Personen anzuerkennen ist. Bei Beachtung des Gesamtinteresses [435] kann sich anderes ergeben. Allgemeines Frauenstimmrecht bedeutet Schwächung des Ordnungsgedankens, denn die Zahl der Massenwähler steigt dadurch. In Ländern und in Zeiten, in denen beim katholischen Klerus die kurialistische Richtung überwiegt, bedeutet allgemeines Frauenwahlrecht mehr als Verdoppelung der die Kirche über den Staat stellenden Stimmen. Sozialethische Gründe (Hausfrauenpflicht, Familienfriede) verbieten das Stimmrecht verheirateter Frauen. Jedenfalls muss das Frauenstimmrecht beschränkt oder, wenn allgemein, ungleich sein, soll das Sozialprinzip nicht zu sehr leiden. Das Gesamtinteresse ist gar nicht beachtet, wenn man sagt: Die Frau ist fähig genug auf dem Throne zu sitzen; dann muss sie auch fähig sein, das Wahlrecht zu haben. Dort handelt es sich um eine, hier um viele Frauen; das Staatsinteresse (die Sicherheit der Thronfolge) lässt dort Zulassung, hier Fernhaltung der Frauen als angemessen erscheinen. Keinen genügenden Gegengrund gegen das Frauenwahlrecht bildet, dass das Wahlrecht der Frau und der Töchter in vielen Fällen eine Kräftigung des politischen Einflusses von Mann und Vater bedeuten wird. Mehr als die Hälfte der Frauen ist unverheiratet, viele Töchter erwerbstätig und dadurch selbständig. Andrerseits liegt kein Hinderungsgrund für das Frauenwahlrecht in der mangelnden militärischen Dienstpflicht. Nicht geeignet zum Dienste bedeutet nicht auch ungeeignet zum Wählen.

Politisches Frauenstimmrecht gilt in den Unionsstaaten Wyoming (schon seit 1869), Colorado, Utah (1895), Idaho (1896), Süddakota (1909), Washington (1910), Arizona, Kansas, Michigan, Oregon (1911), Californien (1912), ferner in Südaustralien, das der Haupt-Frauenstimmrechts-Staat ist, und in Neuseeland (1895). In Finnland wurde es 1906 eingeführt. 1911 haben es Island, der dänische Reichstag, Viktoria und Portugal beschlossen. In Norwegen besteht es seit 1907 überhaupt, seit 1913 in gleichem Umfange wie für Männer. 1915 werden mit 230 000 stimmberechtigten Männern 250 000 stimmberechtige Frauen zur Wahlurne gehen. Am 17. März 1911 zog die erste Frau in das Storthing ein. In Finnland sind von 132 Abgeordneten zurzeit 16 weiblichen Geschlechts. Kommunalwahlrecht besitzen die Frauen in Schweden seit 1910, in Norwegen seit 1907. Bis 1910 waren sie dabei in Norwegen durch den Steuerzensus schlechter gestellt als die Männer.

In allen Ländern, wo das Frauenwahlrecht eingeführt wurde, handelt es sich um dünn bevölkerte Gebiete. Die Gefahren des Massenwahlrechts sind da geringer. In Finnland war man bereit, um auch die Familie zum Kampfe gegen die Unterdrücker zu gewinnen ; in Portugal, um die Frauen womöglich dem Einflusse des antirepublikanisch gesinnten Klerus zu entwinden.


VII. Allgemeines und beschränktes Wahlrecht. Von allgemeinem Wahlrecht wird in der Praxis des Rechts und der Politik nicht erst gesprochen, wenn alle erwachsenen Staatsangehörigen zur Wahl zugelassen sind, sondern schon, wenn die Wahlfähigkeit von weiteren Voraussetzungen abhängig ist, aber nur solchen, in deren Besitz der erwachsene Mann ohne besondere Schwierigkeit gelangen kann. Ist das Wahlrecht von ganz geringer direkter Steuer (50 Pfg.), mehrjähriger Staatsangehörigkeit und Ansässigkeit in Staat oder Wahlkreis abhängig, so spricht man trotz dieser Wahlkautelen doch noch von allgemeinem Wahlrecht. Dieses zerfällt daher in ganz (kautelenfreies) und gemässigt allgemeines. Beschränktes Wahlrecht liegt vor, sobald das Wahlrecht an Voraussetzungen gebunden ist, die nicht bei jedem Erwachsenen leicht eintreten: nicht zu geringe direkte Steuer (Zensuswahlrecht), Bildung (Lesen und Schreiben), Haushalt.


VIII. Gleiches und ungleiches Wahlrecht. Die gesetzliche und politische Praxis nennt gleich bereits ein Wahlrecht, bei dem für alle oder die allermeisten Wahlfähigen die Wahlbefugnis von denselben Voraussetzungen abhängig ist. Richtiger Ansicht nach ist ein Wahlrecht schon ungleich, wenn für das Stimmgewicht zwischen den Wahlkreisen mehr Unterschiede als Gleichheiten bestehen. Erst wenn auch die Wahlkreise in der Hauptsache gleich sind, ist auch das Wahlrecht gleich. Ungleiches Wahlrecht muss nicht parteiisch sein. Ungerecht, parteiisch ist es erst, wenn die Ungleichheit aus Sonder-(Partei-), nicht im Staatsinteresse besteht.

[436] Die Abstufungen des ungleichen Wahlrechts werden entweder durch Einteilung der Bevölkerung in Wählergruppen (Abteilungen, Kurien, Klassen: Klassenwahlrecht) oder durch Übertragung mehrerer Stimmen an einen Wähler (Plural-Wahl = Mehrstimm-Recht) oder durch ungleiche Wahlkreiseinteilung herbeigeführt. – Eine Wählerklasse kann allgemeine heissen. Trotzdem ist das Wahlrecht ungleich, wenn die Sonderklassen nicht nur ein verschwindendes Stimmgewicht besitzen.


IX. Wahlrechtssysteme. Es gibt deren vier: 1. zuerst beschränktes und ungleiches Wahlrecht; noch gilt es in Grossbritannien, Russland, beiden Reuss, Altenburg, Lübeck, Hamburg; dann allmählich entweder 2. beschränktes, aber gleiches Wahlrecht: in Deutschland nicht mehr vorhanden, aber in Ungarn-Kroatien, Luxemburg, Serbien, Italien (Analphabeten, d. h. wer nicht lesen und schreiben kann, wahlberechtigt erst mit 30 Jahren, vorher nur, wenn die Dienstpflicht erfüllt), oder 3. allgemeines, aber ungleiches Wahlrecht. Das System findet sich in Belgien und Österreich, für Deutschland gesetzlich in Preussen, Bayern, Sachsen, Baden, Hessen, Schwarzburg, Schaumburg-Lippe, Weimar, Meiningen, Lippe, Anhalt, Bremen, Braunschweig, Oldenburg, Koburg-Gotha; tatsächlich im Reiche, weil die Wahlkreise der Bevölkerungsziffer nach zu ungleich geworden sind. Die Ungleichheit besteht gewöhnlich in Klassenwahl; im Reich, in Österreich, Bayern und Baden in der Wahlkreiseinteilung (im Reich und Bayern das Land, in Baden die Städte bevorzugt); in Preussen in Klassenwahl und Wahlkreisziffer, in Sachsen und Oldenburg in Pluralwahl und Wahlkreiseinteilung, in Hessen nur in Mehrstimmrecht. In Oldenburg hat der 40 Jahre alte Wähler eine Alterszusatzstimme und 28 Abgeordnete werden in zwei-, 14 in einmännigen, 3 in einem dreimännigen Wahlkreise gewählt. 4. Allgemeines und gleiches Wahlrecht. Dem Buchstaben nach gilt es im Reiche, in Frankreich, Spanien, Norwegen, Dänemark, Schweiz, Griechenland. In Frankreich und im Reiche ist es durch die stark verschiedene numerische Entwickelung der Wahlkreise ungleich geworden. Württemberg und Elsass-Lothringen sind die einzigen Länder, wo Gleichheit auch für die Wahlkreise tatsächlich herrscht.


X. Deutsches Reich. Wie bei jedem Wahlrechte, gilt auch beim Reichswahlrechte, dass es ausser von positiven von gewissen negativen Voraussetzungen (Disqualifikationen) abhängt. Wähler zum deutschen Reichstage ist wohl jeder 25 Jahre alte Deutsche, der in einem Bundesstaate wohnt, in diesem Bundesstaate, aber nur, wenn er nicht unter Vormundschaft steht, nicht im Konkurse sich befindet, im letzten der Wahl vorangegangenen Jahre keine öffentliche Armenunterstützung erhielt, und die bürgerlichen Ehrenrechte nicht verlor. (Reichswahlgesetz v. 31. Mai 1869.) Als öffentliche Armenunterstützung gelten seit Reichsgesetz v. 15. März 1909 nicht Krankenunterstützung, Anstaltspflege Angehöriger, Erziehungsbeihilfen, Unterstützung in augenblicklicher Notlage, zurückgezahlte Unterstützungen. Wählbar ist im Reiche 1. jeder Wahlberechtigte, der einem Bundesstaate seit einem Jahre angehört, 2. Ausländer und Eingeborene in den Schutzgebieten, die dort die Reichsangehörigkeit durch Naturalisation erwarben. Der Wahlkreiseinteilung liegt der Rechtssatz zugrunde: „jeder Wahlkreis muss 1864 durchschnittlich 100 000 Seelen gehabt haben.“ Der Satz gilt noch, aber schon seit mehr als zwei Jahrzehnten bilden 100 000 Seelen nicht mehr die Durchschnittsziffer. Augenblicklich ist der Durchschnitt 180 000.


XI. Preussen. Wahlberechtigt zur zweiten Kammer ist bereits nach der Wahlordnung vom 30. Mai 1849 jeder 24 Jahre alte Preusse in der Gemeinde, in der er seit 6 Monaten wohnt oder sich aufhält. Von Anfang an war die Zahlung einer direkten Steuer keine Voraussetzung. Trotzdem sind die Klassen, nach denen sich das Wahlrecht abstuft, nicht Berufs-, Bildungs-, Alters-, Stadt-, Land-, sondern Steuerklassen und zwar reine. Das ist nur dadurch möglich, dass diejenigen, die keine direkten Steuern zahlen, wählen dürfen. Sie wählen in der dritten Klasse. Die Einteilung in drei Steuerklassen bedeutet nicht von selbst: auf jede Klasse entfällt dieselbe Steuersumme. Die Einteilung in Klassen ist Einteilung der Wähler. Die Einteilung besagt daher nicht notwendig: die Klassen haben gleiche Steuer-, bei Bildungsklassen gleiche Bildungskraft; sondern die Einteilung besagt notwendig [437] nur: die Klassen besitzen gleiche Wahlkraft (jede ein Drittel Wahlkraft). Die Klassen sind Wahlklassen. Die gleiche Wahlkraft kann daher auch Klassen mit verschiedenem Steuergewichte verliehen werden. In Preussen ist es allerdings nicht der Fall. Es gilt Steuerdrittelung und zwar reine. Nur gleiche Steuerkraft besitzt gleiche Wahlkraft. Die auf den Abstimmungsbezirk (Urwahlbezirk) entfallende Gesamtsteuersumme wird auf die drei Klassen gleichmässig verteilt. Die Regierung wollte 1891 zwölfteln (5/12 erste, 4/12 zweite, 3/12 dritte Klasse), um zu verhindern, dass durch die damals eingeführte Progressivbesteuerung Wähler aus höheren in niedrigere Klassen herabgedrückt werden. Das Abgeordnetenhaus schlug zu dem gleichen Zwecke für die erste Klasse eine sog. Maximierung auf 2000 Mk. Steuer vor. D. h. es sollte eine Steigerung des Übergewichts des Reichtums dadurch gemindert werden, dass über eine bestimmte Summe hinaus die Steuerleistung ausser Anrechnung bleibt. Das Herrenhaus lehnte beide Vorschläge ab. Man einigte sich in der Wahlgesetznovelle vom 29. Juni 1893 dahin, die Steigerung jenes Übergewichtes in der Weise abzuschwächen, dass nicht nur wie bisher die Gesamtsumme der direkten Staats-, sondern auch aller direkten Kommunalsteuern (an Gemeinde, Kreis, Provinz, Bezirk) der Drittelung zugrunde gelegt wurde.

Die gescheiterte Wahlreform von 1910 stellte sich zur Aufgabe, das preussische Wahlrecht aus einem Reichtums- und teilweise auch Proletarier-Wahlrecht in ein Mittelstands-Wahlrecht umzuwandeln. Was die proletarische Seite angeht, so hat das preussische Wahlrecht seit 1891 in den Grossstädten demokratische Begleiterscheinungen gezeitigt. Bis 1891 erfolgte die Drittelung gemeindeweise. Zur Erleichterung der Wähler (Abkürzung des Weges) wurde 1891 die bezirksweise Drittelung, d. h. Bildung dreier Abteilungen schon für jeden Urwahlbezirk eingeführt. Das bewirkte, dass in den Aussenbezirken der Grossstädte Leute mit ganz geringer Steuerleistung auch in höheren Klassen die Mehrheit erlangten und so den Mittelstand im Wahlkreise überwanden. Die Reform von 1910 wollte dem entgegenwirken durch Rückkehr zu grösseren Drittelungsgebieten. Das Übergewicht der Reichen sollte beseitigt werden: 1. durch Maximierung: bei jedem Wähler werden seine Steuern über eine Höchstgrenze (5000 Mk.) hinaus nicht mehr in Ansatz gebracht; 2. durch Umbildung der Wahlklassen aus reinen Steuerklassen in Steuer- und Bildungsklassen (Verbindung mit Kulturträgerwahlrecht.) Leute mit höherer Bildung, grösserer politischer Erfahrung und durch längeren öffentlichen Dienst erprobter Staatsgesinnung (sog. Kulturträger) sollten in eine höhere Wahlklasse eingereiht werden als die, in welche sie nach ihrer Steuersumme einzustellen wären.

Andere Mittel zur Abschwächung des plutokratischen Charakters des Steuerklassen-Wahlrechts sind: 1. Modifikation der Einteilung durch das Wählerzahl-Moment: die erste und zweite Klasse muss nicht bloss eine bestimmte Steuersumme, sondern auch eine bestimmte Wählerzahl umfassen. Machen die, auf welche das erste Drittel der Steuersumme entfällt, nicht zugleich 1/6 (1/9, 1/12) der Wahlbürgerschaft des Einteilungssprengels aus, so werden von den Nächstbesteuerten zur ersten Klasse so viele gezogen, bis diese 1/6 (1/9, 1/12) der Wahlberechtigten umfasst. Die nächsten, die die Hälfte der verbleibenden Steuersumme aufbringen, bilden die zweite Klasse, aber nur, wenn sie zugleich 2/6 (3/9, 4/12) der Wahlberechtigten umfassen; erreichen sie die Zahl nicht, so rücken entsprechend Niedrigstbesteuerte auf. Das System gilt für Gemeindewahlen in Baden und zwar seit der Gemeindeordnung vom 18. Okt. 1910 in Form der Sechstelung (1/6, 2/6, 3/6). Selbstverständlich ist, dass bei Sechstelung die erste Klasse mehr Wähler umfassen muss, als bei Neuntelung oder Zwölftelung. Sechstelung schwächt also die Wahlkraft der Höchstbesteuerten stärker. In Preussen zeigt sich ein Ansatz dieser Modifikation insoferne, als seit 1891 jede nicht zur Staatseinkommensteuer veranlagte Person als Dreimark-Wähler fingiert wird. Dadurch wurde die in der Progressivbesteuerung liegende Wahlbevorzugung der Reichen in etwas gedämpft, denn die Steuerfreien zählten jetzt bei der Berechnung des Steuerdrittels mit. 2. Die Minimierung. Sie bedeutet: für das Aufrücken in die höhere Wählerklasse ist ein Mindesteinkommen vorgeschrieben.

[438] Wichtig ist bei der Klassenwahl noch, ob die Klassen den oder die Abgeordneten des Wahlkreises gemeinschaftlich wählen, so dass zwei Wahlklassen, weil sie zwei Drittel Wahlkraft besitzen, die dritte überstimmen können, oder ob jede Klasse für sich einen Abgeordneten bestimmt. Im ersten Falle können die Wahlkreise einmännig, im letzteren Falle müssen sie dreimännig sein. Das erste System begünstigt die Höchstbesteuerten. Es gilt in Preussen einmännige Wahlkreise. Das andere System mildert die plutokratische Natur des Steuerklassen-Wahlrechts. Es gilt in Braunschweig und Schwarzburg.

Am augenfälligsten tritt die Ungleichheit des Steuerklassensystems hervor, wenn man sich vergegenwärtigt, wie der Zufall des Wohnsitzes und der Wohnung darüber entscheidet, in welcher Abteilung einer wählt. In armen Bezirken ist Wähler erster Klasse, wer in anderen in dritter Klasse stimmt.


XII. Mittelstaaten. In Bayern ist Wähler jeder 25 Jahre alte Bayer, der seit mindestens einem Jahre a) die Staatsangehörigkeit besitzt, b) irgendwelche direkte Staatssteuer (Minimum 50 Pfg) zahlt (Wahl-G. 1906 u. Einkommensteuer-G. 1910). Die Wahlkreise sind mehr ungleich als gleich. Nahezu drei Achtel der Abgeordneten (60 von 163) werden nicht in ein-, sondern in zweimännigen Wahlkreisen (30 solche gegen 103 andere) gewählt und die grossen Städte haben grundsätzlich weniger Mandate als das Landgebiet. Im Königreich Sachsen (Wahl G. 1909) setzt das Stimmrecht voraus: Staatsangehörigkeit seit mindestens zwei Jahren, direkte Staatssteuer, 25. Lebensjahr und männliches Geschlecht. Möglich ist Steigerung des Stimmrechts bis zu vier Stimmen. Eine Ergänzungsstimme erhält, wer 50 Jahre alt ist (Alterspluralität), soferne er nicht schon aus anderen Gründen drei Zusatzstimmen hat. Die anderen Gründe sind Bildung (Einjährigen-Examen), Einkommen und Grundbesitz je nach der Grösse eine oder zwei Ergänzungsstimmen. Baden verlangt: a) männliches Geschlecht, b) Staatsangehörigkeit seit mindestens zwei Jahren und Wohnsitz im Lande im Zeitpunkt der Wahl, oder Wohnsitz und Staatsangehörigkeit seit einem Jahre (Verfassung 1904, § 34). Württemberg begnügt sich mit männlichem Geschlecht, 25 Lebensjahren und Besitz der Staatsangehörigkeit überhaupt (Verfassung G. 1906). Dagegen haben Elsass-Lothringen (Wahlgesetz 1911) und Hessen (Landstände-Gesetz 1911) die Einräumung des direkten Wahlrechts mit starken Wahlkautelen, in Hessen auch mit Mehrstimmrecht belastet. In Hessen war das Wahlrecht bisher allgemein und gleich, jetzt ist es weniger allgemein und ungleich. In Elsass-Lothringen galt bisher schon allgemeines und gleiches Wahlrecht, aber kautelenfreies, jetzt kautelenbelastetes. Im Reichslande sind wahlberechtigt die männlichen Einwohner des Landes, die 1. reichsangehörig, 2. 25 Jahre alt, 3. seit 3 (bei öffentlichem Amt 1) Jahren im Lande, 4. seit 1 Jahre in der Gemeinde wohnhaft sind. Hessen verlangt männliches Geschlecht, 25 Jahre, Wohnsitz im Lande seit drei, Staatsangehörigkeit seit einem Jahre, geringe direkte Staats- oder Gemeindesteuer seit Anfang des Rechnungsjahres; 50 Jahre gewähren eine Altersstimme.


XIII. Hamburg. Diese Hansestadt hat von Einkommensteuer abhängiges und in viele Klassen gespaltenes Wahlrecht. Zunächst bestehen drei Hauptklassen, zwei Standesklassen, die Grundeigentümer- und die Bildungsklasse, von denen jede 40 Bürgerschaftsmitglieder wählt, dann die allgemeine Wählerklasse. Sie zerfällt in eine Landabteilung, die 8, und eine Stadtabteilung, die 72 Bürgerschaftsmitglieder kreiert. Letztere gliedert sich wieder in die Wähler mit mehr als und in die Wähler bis zu 2500 Mk. Einkommen. Die erste der beiden Steuergruppen wählt doppelt soviel Abgeordnete als die zweite, von den 72 also 48 (Wahlgesetz v. 5. III. 1906). Reuß j. L. hat seit 1913 dasselbe Mehrstimmrecht wie Sachsen.





  1. Hauptgegner des Stimmzwanges in Deutschland Triepel, Zeitschr. f. Politik 4, 597. Lit.: Spira, Die Wahlpflicht 1909.