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Vorrede zur dritten Auflage der Neuen Gedichte

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
Autor: Heinrich Heine
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Titel: Vorrede zur dritten Auflage
Untertitel:
aus: Neue Gedichte, S. V–VIII
Herausgeber:
Auflage: Dritte, veränderte Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1852
Verlag: Hoffmann und Campe
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Erscheinungsort: Hamburg
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Google und Scans auf Commons
Kurzbeschreibung:
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Bearbeitungsstand
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[V]
Vorrede
zur dritten Auflage.




     Das Wintermährchen, welches „Deutschland“ betitelt und in den frühern Ausgaben dieses Bandes enthalten, habe ich der gegenwärtigen Ausgabe entzogen, sintemalen dasselbe seitdem vielfach im Einzeldruck erschienen ist, und ich ihm überdies in der Sammlung meiner poetischen Werke eine andere Stelle zugedacht. Die entstandene Lücke benutze ich, um hier die kleine Tragödie William Ratcliff mitzutheilen, die vor etwa neunundzwanzig Jahren unter dem Titel: „Tragödie, nebst einem lyrischen Intermezzo“, zu Berlin bei Dümmler herauskam. [VI] Das lyrische Intermezzo wurde seitdem in einer größern Sammlung meiner Gedichte aufgenommen und gelangte zur außerordentlichsten Popularität. Der William Ratcliff wurde jedoch nur wenig bekannt; in der That, der Name seines Verlegers war Dümmler. Dieser Tragödie oder dramatisirten Ballade gewähre ich mit gutem Fug jetzt einen Platz in der Sammlung meiner Gedichte, weil sie als eine bedeutsame Urkunde zu den Prozeß-Akten meines Dichterlebens gehört. Sie resümirt nämlich meine poetische Sturm- und Drangperiode, die sich in den „jungen Leiden“ des Buchs der Lieder sehr unvollständig und dunkel kund giebt. Der junge Autor, der hier mit schwerer, unbeholfener Zunge nur träumerische Naturlaute lallt, spricht dort, im Ratcliff, eine wache, mündige Sprache und sagt unverhohlen sein letztes Wort. Dieses Wort wurde seitdem ein Losungswort, bei dessen Ruf die fahlen Gesichter des Elends wie Purpur aufflammen und die rothbäckigen Söhne des Glücks zu Kalk erbleichen. Am Herde des ehrlichen Tom im Ratcliff brodelt schon [VII] die große Suppenfrage, worin jetzt tausend verdorbene Köche herumlöffeln, und die täglich schäumender überkocht. Ein wunderliches Sonntagskind ist der Poet; er sieht die Eichenwälder, welche noch in der Eichel schlummern, und er hält Zwiesprache mit den Geschlechtern, die noch nicht geboren sind. Sie wispern ihm ihre Geheimnisse, und er plaudert sie aus auf öffentlichem Markt. Aber seine Stimme verhallt im lauten Getöse der Tagesleidenschaften; wenige hören ihn, keiner versteht ihn. Friedrich Schlegel nannte den Geschichtschreiber einen Propheten, der rückwärts schaue in die Vergangenheit; – man könnte mit größerem Fug von dem Dichter sagen, daß er ein Geschichtschreiber sei, dessen Auge hinausblicke in die Zukunft.

     Ich schrieb den William Ratcliff zu Berlin unter den Linden, in den letzten drei Tagen des Januars 1821, als das Sonnenlicht mit einem gewissen lauwarmen Wohlwollen die schneebedeckten Dächer und die traurig entlaubten Bäume beglänzte. Ich schrieb in [VIII] einem Zuge und ohne Brouillon. Während dem Schreiben war es mir, als hörte ich über meinem Haupte ein Rauschen, wie der Flügelschlag eines Vogels. Als ich meinen Freunden, den jungen Berliner Dichtern, davon erzählte, sahen sie sich einander an mit einer sonderbaren Miene, und versicherten mir einstimmig, daß ihnen nie dergleichen beim Dichten passirt sei.


     Paris, 24. November 1851.


Heinrich Heine.