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Vor hundert Jahren

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Textdaten
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Autor: Paul Lindenberg
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Titel: Vor hundert Jahren
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aus: Die Gartenlaube, Heft 11, S. 172–175
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Vor hundert Jahren.
Von Paul Lindenberg. Mit Illustrationen von Adolf Hering.

Ein prächtiger kleiner Prinz, so hatte am 22. März 1797 die Oberhofmeisterin der Kronprinzessin Luise, die brave Gräfin Voß, in ihr Tagebuch eingeschrieben und hinzugefügt. „Ueberall war große, große Freude. Gerade jenes neue Jahr hatte dem preußischen Königshofe sonst viel Trauer und Ungemach gebracht. Kurz vordem war der Bruder des Kronprinzen, der mit einer Schwester der Kronprinzessin Luise verheiratet war, gestorben, der Kronprinz selbst war ernstlich krank gewesen, so daß alle um ihn in großer Besorgnis schwebten, und mit der Gesundheit des Königs ging es immer schlechter, man konnte fast täglich auf einen Thronwechsel gefaßt sein. Aber auch politisch sah es trübe genug aus; der Staat des großen Friedrich war vielfach zerrüttet und zersetzt, die öffentlichen Kassen waren teilweise leer, die Günstlingswirtschaft in der nächsten Umgebung des Königs hatte schlimme Früchte gezeitigt, und von Westen her leuchtete gefahrdrohend das neue Meteor herüber – unaufhaltsam war Napoleon aus seiner Siegeslaufbahn vorgedrungen und hatte vor kurzem, geschickt und erfolgreich, seinen kühnen Vorstoß gegen Oesterreich unternommen.

Je drohender allerhand Wolken heraufzogen, desto hoffnungsvoller und zuversichtlicher blickte man auf die kronprinzliche Familie, die in ihrem ganzem Wesen und Auftreten der Wahl ihres Umgangs und der Einfachheit ihrer Lebensführung einen starken Gegensatz zu dem lockeren höfischen Getriebe bildete und die sich der tiefsten Sympathien aller besseren Kreise der Bevölkerung erfreute. So weckten denn auch die zweiundsiebzig Kanonenschüsse, welche vom Lustgarten her am 22. März die Geburt des zweiten Sohnes des kronprinzlichen Paares der Einwohnerschaft Berlins verkündeten, ein frohes Echo in den Herzen der Berliner und Berlinerinnen. Zwölf Tage später, am 3. April, fand in dem kronprinzlichen Palais „unter den Linden“ die Taufhandlung statt, da sammelte sich alt und jung in hellen Scharen vor dem schlichten Gebäude und brach in jubelnde Hochrufe aus, als sich der glückstrahlende Vater wiederholt an dem Fenster des im ersten Stockwerke gelegenen Audienzsaales zeigte. In letzterem hatte man unter dem Thronhimmel den Taufaltar errichtet, Hofprediger Sack, der schon den Vater des Täuflings konfirmiert, vollzog die Taufe, in welcher der kleine Prinz die Namen Friedrich Wilhelm Ludwig, mit dem Rufnamen Wilhelm, erhielt und bei welchem als Paten neben dem Königspaare die beiden greisen Brüder Friedrichs des Großen, die Prinzen Heinrich und Ferdinand, zugegen waren. Der König und die übrigen vornehmen Gäste verließen gleich nach der Feierlichkeit das Palais, der Kronprinz begab sich zu seiner Gemahlin und verbrachte den Abend bei ihr.

In ihrer Nähe war ihm ja am wohlsten, er redete sie zum Entsetzen der schon erwähnten Oberhofmeisterin mit dem traulichen

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Kaiser Wilhelm I. vor seiner Wiege im Hohenzollern-Museum.
Nach einer Originalzeichnung von Adolf Hering.

[174] „Du“ an und suchte sie fast täglich durch kleine Gaben der Liebe und Verehrung zu erfreuen; seine Pflichten als Thronfolger führten ihn oft nach Potsdam, wo der König residierte, und mit stets erneuter Sehnsucht kehrte er nach Berlin zurück, sein höchstes Glück bei seiner Gemahlin und seinen Kindern findend. Unvermutet betrat er oft das Zimmer der Kronprinzessin, die mit zarten Weisen den jüngstgeborenen Prinzen in den Schlaf sang, der lag in einer schlichten, von grünem Seidenstoff überzogenen Wiege aus Mahagoniholz, über welche sich dann der Vater voll tiefer Bewegung beugte, um die junge Menschenknospe zärtlich zu betrachten. Ungern nur verließ das kronprinzliche Paar sein einfaches Heim und froh war es, wenn es dasselbe nach größeren Festlichkeiten wieder betreten konnte. „Gott sei Dank, daß du nun wieder meine Frau bist,“ sagte nach der Rückkehr von einem Balle einst zärtlich der Kronprinz zu seiner schönen jungen Gemahlin. „Wie,“ frug jene lächelnd, „bin ich denn das nicht immer?“ „Ach, nein, Liebste, lautete in scherzhaft kläglichem Tone die Antwort, „du mußt ja zu oft Kronprinzeß sein!“

Aus der Kronprinzeß wurde aber noch im selben Jahre, in welchem Prinz Wilhelm geboren ward, eine Königin. Am 16. November war im Marmorpalais bei Potsdam Friedrich Wilhelm II. verschieden, und neue und ernste Pflichten traten an das junge Paar heran, auf das voll Vertrauen ein ganzes Volk sah. Ihre Schlichtheit aber behielten der König und die Königin bei, in ihrem Palais zu Berlin wurde nichts geändert, und als ein Diener vor dem König beide Flügelthüren aufriß, während er vordem nur eine derselben geöffnet, fragte der König verwundert. „Bin ich denn plötzlich um soviel stärker geworden?“

Groß war die Schuldenlast, die der Herrscher vorgefunden, und alle Ausgaben schränkte er aufs möglichste ein, aber trotzdem legte er seiner Gemahlin monatlich tausend Thaler in die Privatschatulle, hierdurch ihr die größte Freude, Wohlthaten zu üben, gewährend. „Ich bin Königin, und was mich am meisten freut, ist die Hoffnung, daß ich nun meine Wohlthaten nicht mehr werde so ängstlich zu zählen brauchen, hatte die Königin nach dem Huldigungsfeste an ihre Großmutter geschrieben. Auch die Etikette durfte nicht die Schwelle der Privatzimmer des Königspaares überschreiten; häufig kann der König von seinem Arbeitsgemach zu den Familienräumen herüber, um mit der Gattin zu plaudern und mit den Kindern zu scherzen, und kein Abend verging, an welchem nicht die Eltern behutsam das Schlafgemach der Kleinen betraten und den blondgelockten Lieblingen den Gutenachtkuß auf die weißen Stirnen drückten.

Friedrich Wilhelm III. an der Wiege des Prinzen Wilhelm.

Sonnig und heiter, von zärtlicher Elternliebe bewacht, verliefen die Kinderjahre der beiden ältesten Prinzen, die mit dem Beginn des neuen Jahrhunderts in dem einunddreißigjährigen Rektor der Klosterschule in Magdeburg, Friedrich Delbrück, einen Lehrer erhielten, der sich mit liebevollster Hingebung und Sorgfalt seiner verantwortlichen Aufgabe widmete und schnell das Zutrauen seiner jungen Zöglinge gewann. „Königskinder sollen wenigstens nicht schlechter erzogen werden, als es mit Bürgerskindern geschieht“, so hatte der treffliche Pädagoge Niemeyer, Direktor der Franckeschen Anstalten in Halle, auf die Anfrage der Königin nach der geeignetsten Erziehung ihrer Söhne geantwortet, und der königlichen Mutter eifrigstes Bemühen war es, ihre Kinder zu edlen und wohlwollenden Menschen zu erziehen; schon früh nahm sie ihre ältesten Söhne mit in die Wohnungen der Armen und Bedrängten, und am Weihnachtsabend des Jahres 1800 besuchte sie mit ihnen das Friedrichs-Waisenhaus in Berlin und ließ sie die Gaben an die verwaisten Kinder verteilen. Nach der Rückkehr in das Palais fand dann erst die eigene Bescherung statt, und wie groß war der Jubel, als die kleinen Prinzen unter den Gaben auch die ersten Säbel, zierlichen Musketen und Helme erblickten. Drei Jahre später folgten zum Weihnachtsfeste die ersten Uniformen, der Kronprinz erhielt diejenige eines Garde du Corps, Prinz Wilhelm jene eines Husaren vom früher Zietenschen Husarenregiment, und als jüngste Rekruten seiner Armee stellte der König sie seiner Gattin vor; wie stramm stand der kleine Husar da, seine Meldung abstattend, und wie hochfliegende kindliche Pläne von Soldatenruhm und Kriegserfolgen mochten sich mit dieser bunten militärische Tracht verknüpfen! Aber es blieb nicht bei der Soldatenspielerei; im Laufe des Jahres wählte der König zwei Unteroffiziere von der Garde als Exerziermeister seiner Söhne aus und überzeugte sich gelegentlich selbst, ob die Uebungen mit der nötigen „Strammheit“ ausgeführt würde, in Paretz leitete er den Unterricht auch persönlich.

O, die schönen, frohsinnigen Tage auf dem Paretzer Herrensitze, zwei Stunden von Potsdam gelegen! Hier in der tiefen ländlichen Einsamkeit weilte die königliche Familie doch am liebsten, hierher drang nichts von Unfrieden und Haß, Unruhe und Lärm, hier konnten sich Eltern und Kinder ganz angehören, in den kleinen anheimelnden Räumen des einstöckigen, weißgetünchte Wohngebäudes und in dem lauschigen Teile des schönen Parkes, der sich dicht hinter dem Hause erstreckte. „Ich bin glücklich als gnädige Frau von Paretz, so hatte Königin Luise einer fremden Fürstin geantwortet, die verwundert gefragt, wie die Herrscherin sich in dieser bäuerlich einfachen Umgebung wohl fühlen könnte. Selbst der etwas zurückhaltende König betrachtete sich gern als „Dorfschulze von Paretz, und wenn Erntefest war, dann kamen die Schnitter und Schnitterinnen mit Musik und Gesang vor das Herrenhaus gezogen, die Großmagd hielt eine Ansprache und der Großknecht lud die gekrönten Gutsbesitzer zur Teilnahme am Tanze ein, der unter freiem Himmel stattfand, der König und die Königin beteiligten sich daran, auch wohl auf deren schalkhaftes Ersuchen; der bejahrte General von Köckeritz und die noch bejahrtere Gräfin Voß. Die königlichen Kinder tollte indessen mit der Dorfjugend umher, welche sie mit Hilfe ihrer kleinen Ersparnisse mit Zuckerzeug und Spielsachen beschenkt hatten, die in den neben dem Tanzplatze aufgeschlagenen Buden zu kaufen waren. Diese Dorfjugend stellte sich auch ungezwungen nach der Mittagstafel ein und erhielt dann vom Königspaare Obst und Kuchen; abends unternahm der König gern am Arm seiner Gemahlin in Begleitung der Kinder einen Spaziergang durch das Dorf, er in der schlichten blauen Interimsuniform, die Königin im leichten Musselingewande, einen einfachen Strohhut auf dem blondgelockten Haupte, die blauen Augen schimmernd von dem Wiederschein reinsten Glückes.

Aber bald sollte es mit diesem ungetrübten Glück für immer vorüber sein! Bis tief in den Herbst des Jahres 1805 verweilte die königliche Familie in Paretz, denn immer wieder wußte durch ihre Bitten die Königin den König zu bewegen, die Abreise nach Berlin aufzuschieben, als ahnte sie, daß sie den ländlichen Frieden nie mehr so rein genießen würde. Aber nun mußte die Uebersiedlung [175] nach Berlin erfolgen. Drohender war ja in letzter Zeit die Kriegsgefahr an des Vaterlands Grenzen herangerückt, eine starke Kriegspartei drängte zur Entscheidung, Preußens Ehre und Selbständigkeit standen auf dem Spiel, selbst die friedliebende Königin hatte sich allmählich davon überzeugt, daß nur der Waffen Gewalt die Entscheidung bringen könnte. In Zagen und Zweifeln verging der Winter, in unentschlossenem Harren der Frühling und in bald freudiger, bald banger Erregung der Sommer des Jahres 1806. Für die jungen Prinzen war es eine interessante, buntbelebte Zeit, es gab viel zu hören und zu schauen, in Berlin herrschte ein reges, militärisches Leben, vermehrt durch die durchziehenden Regimenter, die sich an die Grenzen begaben. In freudig begeisterter Wallung befand sich die Bevölkerung der Hauptstadt und brachte dem Königspaare stürmische Huldigungen dar, so anläßlich seines im Verein mit den Kindern unternommenen Besuches des Stralauer Fischzuges, bei welcher Gelegenheit der König froh erstaunt über die Begeisterung der Menge zu seiner Gemahlin äußerte. „Es scheint ja so, als ob sie dich heute zum erstenmal sähen!“

Friedrich Wilhelm III. stellt der Königin Luise den Kronprinzen
und den Prinzen Wilhelm in ihren ersten Uniformen vor.

Dann kamen im folgenden Monat die bitteren Stunden des Abschieds. Der König reiste ins Feld, die Königin begleitete ihn, ehe die Feindseligkeiten wirklich begannen, bis Thüringen, während die Kinder in Berlin blieben, aber schneller als man es je vermutet, entluden sich die schweren Gewitterschläge. Das preußische Heer wurde bei Jena und Auerstädt geschlagen und die königliche Familie sah sich genötigt, nach dem Osten zu fliehen. Im Schlosse zu Schwedt, wohin man aus jäher Furcht vor den Franzosen die königlichen Kinder gebracht, kannte die Königin erschüttert ihre Lieblinge in die Arme schließen. „Ach, meine Söhne,“ rief sie weinend aus, „ihr seid in dem Alter, wo euer Verstand die großen Ereignisse, welche uns jetzt heimsuchen fassen und fühlen kann. Ruft künftig, wenn eure Mutter nicht mehr lebt, diese unglückliche Stunde in euer Gedächtnis zurück, weinet meinem Andenken Thränen, wie ich sie jetzt in diesem schrecklichen Augenblicke dem Umsturze des Vaterlandes weine. Aber begnügt euch nicht mit den Thränen; handelt, entwickelt eure Kräfte, vielleicht läßt Preußens Schutzgeist sich auf euch nieder – befreit dann euer Volk von der Schande, dem Vorwurfe und der Erniedrigung, worin es schmachtet, suchet den verdunkelten Ruhm eurer Vorfahren von Frankreich zurückzuerobern, wie euer Urgroßvater, der Große Kurfürst, einst bei Fehrbellin die Niederlage und Schmach an den Schweden rächte!“ …

Er dachte gewiß der flammenden und malmenden mütterlichen Worte, der greise kaiserliche Held, als er an einem Sommertage das Jahres 1878 die Räume des in kurzem zu eröffnenden Hohenzollernmuseums im erinnerungsreichen Schlosse Monbijou zu Berlin durchschritt und in tiefen Gedanken im Luisengemache vor der kleinen Wiege stehen blieb, in welcher er einst geruht, von der Sorge der zärtlichsten Mutter bewacht. Und der schweren, dem Wiedertreffen in Schwedt folgenden Zeit mochte er gedenken, der Flucht nach Königsberg und Memel in schneidender Winterkälte, die teure Mutter krank, all ihrer Hoffnungen auf eine nahe bessere Zukunft Preußens beraubt und doch mit freudiger Zuversicht darauf bauend, daß ihre Söhne einst den Staat Friedrichs des Zweiten zu neuer Blüte, neuem Ruhme führen würden!

Ueberreich ist ihre Erwartung in Erfüllung gegangen. Ihrem zweiten Sohne war es vorbehalten das große, so lange zersplittert gewesene deutsche Vaterland zu einen und immerwährenden Ruhm an die Fahnen seiner siegreichen Heere zu knüpfen, um dann nach blutigem Kampfe in langem ersprießlichen Frieden den stolzen Bau noch fester zu fügen, damit er selbst den schwersten Stürmen zu trotzen und sie zu überdauern vermöge! Und so lange es besteht, dieses deutsche Kaiserreich – seines Wiedererweckers und Begründers wird man mit steter heißer Liebe und Verehrung gedenken und ihm aus deutschen Herzens tiefstem Borne immerdar die freudigste Dankbarkeit zollen, ihm, dem ersten Kaiser des neugeeinten Deutschen Reiches, ihm, dem unvergeßlichen Kriegs- und Friedenshelden!