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Vor Tag

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: Hugo von Hofmannsthal
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Titel: Vor Tag
Untertitel:
aus: Gedichte, S. 11–12
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum: 1907
Erscheinungsdatum: 1922
Verlag: Insel Verlag
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: UB Bielefeld und Commons
Kurzbeschreibung:
Erstdruck in: Morgen. Wochenschrift für deutsche Kultur (Berlin), 1. Jg. Nr. 21, 1.11.1907
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VOR TAG


Nun liegt und zuckt am fahlen Himmelsrand
In sich zusammgesunken das Gewitter.
Nun denkt der Kranke: »Tag! jetzt werd ich schlafen!«
Und drückt die heißen Lider zu. Nun streckt

5
Die junge Kuh im Stall die starken Nüstern

Nach kühlem Frühduft. Nun im stummen Wald
Hebt der Landstreicher ungewaschen sich
Aus weichem Bett vorjährigen Laubes auf
Und wirft mit frecher Hand den nächsten Stein

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Nach einer Taube, die schlaftrunken fliegt,

Und graust sich selber, wie der Stein so dumpf
Und schwer zur Erde fällt. Nun rennt das Wasser,
Als wollte es der Nacht, der fortgeschlichnen, nach
Ins Dunkel stürzen, unteilnehmend, wild

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Und kalten Hauches hin, indessen droben

Der Heiland und die Mutter leise, leise
Sich unterreden auf dem Brücklein: leise,
Und doch ist ihre kleine Rede ewig
Und unzerstörbar wie die Sterne droben.

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Er trägt sein Kreuz und sagt nur: »Meine Mutter!«

Und sieht sie an, und: »Ach, mein lieber Sohn!«
Sagt sie. – Nun hat der Himmel mit der Erde
Ein stumm beklemmend Zwiegespräch. Dann geht
Ein Schauer durch den schweren, alten Leib:

25
Sie rüstet sich, den neuen Tag zu leben.

Nun steigt das geisterhafte Frühlicht. Nun
Schleicht einer ohne Schuh von einem Frauenbett,
Läuft wie ein Schatten, klettert wie ein Dieb
Durchs Fenster in sein eigenes Zimmer, sieht

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[12]
Sich im Wandspiegel und hat plötzlich Angst

Vor diesem blassen, übernächtigen Fremden,
Als hätte dieser selbe heute nacht
Den guten Knaben, der er war, ermordet
Und käme jetzt, die Hände sich zu waschen

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Im Krüglein seines Opfers wie zum Hohn,

Und darum sei der Himmel so beklommen
Und alles in der Luft so sonderbar.
Nun geht die Stalltür. Und nun ist auch Tag.