Von unseren Landsleuten in Rio Grande do Sul
Wer die Wasserwüste des Atlantischen Oceans durchschifft hat und endlich in das große Binnenmeer der brasilianischen Provinz Rio Grande do Sul, die Lagôa dos Patos (das heißt Entensee), eingelaufen ist, der fühlt sich zunächst von dem Lande seiner Sehnsucht, Brasilien, das ihm in der Heimath als schön und paradiesisch geschildert wurde, bitter enttäuscht; die Ufer tragen kein freundliches Grün, sondern flach und kahl liegen sie da. Sand und immer wieder Sand – soweit das Auge reicht – ein öder trauriger Anblick!
Kaum aber hat man das nördliche Ende dieses salzigen Binnenmeeres erreicht, so verändert sich die Scenerie: bewaldete Felsenkuppen ragen steil aus dem Wasser empor, und oben wiegt sich die Königin des Südens, die Palme, im Morgenwind, als wollte sie den Fremdling an diesem Gestade willkommen heißen.
Man fühlt, daß man hier in eine neue, fremde Welt eintritt. Das Dampfschiff nähert sich immer mehr und mehr dem waldigen Gestade, und endlich unterscheidet man die einzelnen Bäume, welche durch schlanke Lianen mit einander verbunden sind und auf ihren Zweigen eine üppige Vegetation blühender Orchideen tragen. Tukane mit weit schimmerndem Gefieder und Papageien mancherlei Art fliegen erschreckt und lärmend davon, selbst das Kapuzineräffchen in den Zweigen scheint sich zu fürchten und versteckt sich im dichteren Grün.
Der bewaldete Berg ist bald umschifft. An seiner äußersten Spitze ragt der Leuchtturm von Itapuam; der Thürmer steht oben und grüßt mit der Flagge des Landes, und an der Bewegung des Schiffes fühlt man, daß der Kiel ein ruhigeres Gewässer durchschneidet, als da draußen auf der Lagôa dos Patos. Man befindet sich hier in dem Becken des [71] Guahyba, dessen Gewässer aus der Vereinigung des Jacuhy, Taquary, Cahy, Gravatahy und Rio dos Sinos gebildet werden und einem großen, von romantischen Ufern eingefaßten Landsee gleichen.
In der Ferne nach Norden und Osten zu sieht man die bewaldete Serra Geral, in deren Thälern die blühenden deutschen Colonien liegen. Vor fünfzig Jahren erdröhnten dort die Axtschläge der ersten deutschen Einwanderer, welche unter Mühen und Entbehrungen aller Art und umgeben von den Schrecken der Wildniß sich dort ein neues Heim gründen wollten und sich in ihrem Streben nicht entmuthigen ließen, das Höchste, was einem fleißigen Arbeiter beschieden sein kann, zu erreichen, nämlich als freie Männer auf freiem Grund und Boden zu leben. Heute umschließt der Gürtel der deutschen Ansiedelungen fast alle Thäler und Abhänge jenes fruchtbaren Gebirges, das die ganze große Provinz von Osten nach Westen durchschneidet. Die Wildniß, welche sie einst bedeckte, hat sich unter der rastlosen Arbeit unserer Landsleute in fruchtbare Saatenfelder umgewandelt; die elenden Hütten der ersten Ansiedler sind lange schon schönen freundlichen Häusern gewichen; Kirchen und Schulen, wie wir sie häufig nicht einmal in den größeren Dörfern unserer Heimath gleich stattlich zu sehen gewohnt sind, sind dort entstanden, und zwar ohne daß man die Hülfe der Regierung dabei in Anspruch genommen hätte, und die Nachkommen Derer, welche mit der Wucht ihres Armes vor fünfzig Jahren die Wildniß zuerst durchbrachen, diese schönen blonden Reckengestalten, welche in Sprache und Sitten durchaus deutsch geblieben sind, sie wissen das Werk der Väter zu erhalten und weiter zu fördern.
Wer es nicht weiß, was unser Volk aus eigener Kraft zu leisten vermag, dort kann er es lernen. Nicht allein reiche und schöne Ansiedelungen haben die, welche einst arm und elend den heimathlichen Strand verließen, aus der Wildniß hervorzuzaubern vermocht, sondern ganze Städte sind unter ihren fleißigen Händen entstanden, und ihr Einfluß ist selbst in den Ortschaften von vorwiegend brasilianischer Bevölkerung, ja selbst der Provinzialhauptstadt, unverkennbar, obgleich dort nur etwa 1500 Deutsche und Abkömmlinge von Deutschen leben. Ihnen gehören die stattlichsten Magazine, Läden und Wohnhäuser; im Großhandel und im Gewerbe nehmen sie die erste Stelle ein, und auch in geistiger Beziehung entwickeln sie eine beachtenswerte Rührigkeit, wovon das Erscheinen der dortigen deutschen Zeitung, des Volkskalenders für Rio Grande do Sul, verschiedener Lehrbücher und zahlreicher gelegentlicher Publicationen Zeugniß ablegt.
Porto Alegre, zu deutsch: heiterer Hafen, nennt sich diese Provinzialhauptstadt, und wahrlich, sie trägt ihren Namen mit Recht. Wenn man die Gewässer des Guahyba durchschifft und reichen Genuß in den Fernsichten findet, die sich nach allen Richtungen hin vom Bord des Schiffes aus den Blicken des Reisenden darbieten, so kann man doch den Ausdruck der höchsten Bewunderung nicht unterdrücken, wenn endlich die Stadt des heiteren Hafens am Horizonte auftaucht – die Königin des Guahyba, wie sie der liederreiche Mund der Rio Grandenser Poeten zu nennen pflegt. Amphitheatralisch aufgebaut zieht sie sich am Ufer des Guahyba entlang; auf ihren höchsten Punkten liegen die stattlichen Regierungsgebäude, die Kathedrale, das Theater und die Municipalkammer; auf einem Felsenvorsprung, rings von den Fluthen des Guahyba umrauscht, erhebt sich das Gefängniß, auch ein stattlicher Bau, und weiter hinaus an einer Bucht sieht man das freundliche Kloster St. Tereza, die Ortschaft Menino Deos und eine Menge schmucker Landhäuser inmitten schattiger Gärten. Der Hafen ist von zahlreichen Schiffen und kleineren Fahrzeugen belebt, und die mit Urwald bedeckten Inseln, welche der Stadt gegenüber liegen, in der Ferne überragt von den romantischen Gebirgszügen der Serra Geral, verleihen dem Ganzen in der That einen überaus heiteren Charakter.
Ja schön und lieblich ist Porto Alegre zu jeder Zeit, aber niemals hat diese Stadt wohl in solchem Festesglanze gestrahlt, niemals eine so frohbewegte und festlich gestimmte Bevölkerung gesehen, wie am 14. September des Jahres 1878. Palmen und Guirlanden zogen sich vom Ausschiffungsplatze die Straße entlang, welche in die oberen Theile der Stadt führt; in Flaggen- und Blumenschmuck prangten die Häuser, und an den Ehrenpforten versammelte sich eine festlich gekleidete Menge.
Wir haben die Deutschen von Porto Alegre in ihrer treuen Anhänglichkeit an ihr Vaterland oft genug nationale Feste, besonders aber die Wiedererstehung des Reiches, durch prunkvolle Umzüge feiern sehen, aber die eingeborene Bevölkerung verhielt sich dabei ganz passiv, zeigte sich sogar eher feindselig solchen Kundgebungen gegenüber. Dieses Mal aber hatten sich Brasilianer und Deutsche zu gemeinsamem Festzuge vereinigt – einem verdienstvollen Bürger des Landes und der Stadt zu Ehren, der bis vor Kurzem den hohen Rang eines Finanzministers bekleidete und freiwillig davon zurückgetreten war, um seinen früheren Platz auf den Bänken der Opposition im brasilianischen Parlament wieder einzunehmen; der Gefeierte war der Exminister Silveira Martins, der Volkstribun von Rio Grande do Sul.
Es ist wohl das erste Mal, daß einem brasilianischen Bürger von Einheimischen und Fremden zugleich, besonders von Deutschen, so königliche Ehren erzeigt worden sind, aber er hat sie verdient, der wackere Streiter für die politische Gleichstellung seiner protestantischen Mitbürger.
Großes und Werthvolles haben die Deutschen für Brasilien geleistet, aber dennoch hat es die Regierung des Kaiserreichs bisher nicht für nöthig gehalten, dem protestantischem Theile derselben – und er ist der bei weitem zahlreichste – dieselben Rechte zu geben, wie sie jeder brasilianische Bürger besitzt, während man ihnen doch dieselben Pflichten wie jenen auferlegt. Sie und ihre in Brasilien geborenen Kinder, die dem Gesetz zufolge als brasilianische Bürger betrachtet werden, sind vom passiven Wahlrecht ausgeschlossen, und ihre confessionellen Angelegenheiten sind also vollständig in die Hände der Katholiken gelegt.
Dank der Toleranz der Brasilianer, hat in Brasilien niemals eine Verfolgung der Protestanten stattgefunden, wie in anderen katholischen Ländern, wenn man ihnen auch verbot, ihre Kirchen mit Thürmen zu schmücken, und bis zum Jahre 1864 sogar ihren Ehen die staatliche Anerkennung versagte, aber ist es nicht schlimm genug, wenn heutigen Tages noch einem Bürger das Recht der Wählbarkeit vorenthalten wird, nur weil er seinem Gott in anderer Weise dient als sein katholischer Mitbürger?
Vergebens hat die preußische Regierung durch ihre bekannten Auswanderungsverbote auf Brasilien einen Druck auszuüben versucht; vergebens ist sie, unterstützt von der deutschen Presse, hüben und drüben für die Gleichberechtigung der Confessionen und ihre staatlichen Rechte eingetreten; vergebens wurde die Regierung mit Petitionen der protestantischen Bürger bestürmt, ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen – da, im November 1878, schien es, als wollte die Regierung einlenken.
Ein liberales Ministerium war an das Ruder gelangt, darunter auch der frühere Oppositionsmann Silveira Martins, der sich oft genug in seiner heimathlichen Provinz für die politische Gleichberechtigung der Protestanten ausgesprochen hatte. Jetzt hatte er Gelegenheit, dieser Anschauung Geltung zu verschaffen, denn die Berathungen über den geplanten Uebergang von der indirecten zu der directen Wahlverfassung mußten nothwendiger Weise diesen Punkt berühren.
Hoffnungsvoll harrten die Bürger deutscher Abkunft, aus dem Munde ihres Kaisers, für den sie oft genug ihr Leben in die Schanze geschlagen, das langersehnte Wort der Gerechtigkeit zu vernehmen, welches dem von ihnen erduldeten Unrecht ein Ende machen sollte. Sie hatten ja auch alle Ursache, auf ihn zu hoffen, wurde er doch von der ganzen Welt, und nicht zum Mindesten von der Presse des deutschen Stammlandes, während seines Verweilens auf dem europäischen Continent als ein weiser, gütiger und überaus liberaler Fürst gepriesen, dem allein die Befreiung der Sclaven und überhaupt alle Fortschritte seines Landes zu danken seien.
Irrthum! In dem Ministerrath, welcher sich unter persönlichem Vorsitze des Kaisers mit dieser wichtigen Frage beschäftigte, wurde zu Ungunsten der Protestanten entschieden; nur Silveira Martins trat freimüthig für das verletzte Recht in die Schranken und sagte: „Ich will nicht, daß meine protestantischen Landsleute deutscher Abkunft zurückstehen in ihren politischen Rechten vor den Kindern von Sclaven.“ Was half es? Der Kaiser widersetzte sich der Idee; der Rest des sogenannten liberalen Ministeriums beugte sich dem kaiserlichen Willen, und eine servile Majorität der Kammern, die mit allerlei in anderen parlamentarischen Staaten nicht üblichen Hülfsmitteln geschaffen wurde, brachte die ganze Reform zu Fall.
Das war ein harter Schlag für die Protestanten, aber auch für Silveira Martins, der nun als ehrlicher Mann es vorzog, seiner Machtstellung, für die er ja durch seine außerordentlichen Talente so sehr befähigt war, zu entsagen und den Kampf inmitten der Oppositionsmänner fortzuführen, um, wie er sich ausdrückte, die liberale Idee nicht zu verrathen.
Ein Wort des Kaisers hätte genügt, die Frage zu Gunsten der Protestanten zu erledigen; er würde sich damit im Herzen dieser seiner Unterthanen einen Altar der Liebe und Hingebung errichtet und damit zugleich den freien Strom einer intelligenten Einwanderung, ohne welche für Brasilien ja kein Fortschritt möglich ist, in sein schönes Reich gelenkt haben, aber dieses Wort wurde leider nicht gesprochen.
Was Wunder also, daß man mit bitterem Groll gegen die Krone erfüllt wurde und, um aller Welt zu zeigen, wie hoch das deutsche Volk Freiheit und Recht veranschlägt, dem Manne, der seinen hohen Rang dafür geopfert, königliche Ehren bereitete?
Als Silveira Martins am 14. September in die Hauptstadt seiner heimathlichen Provinz zurückkehrte, strömten ihm Tausende und Abertausende von Deutschen, die ihm als Söhne eines fremden Stammes sonst nicht nahe standen, entgegen, blondlockige Mädchen in weißen Kleidern streuten ihm Blumen auf den Weg und Jung und Alt gab ihm jauchzend das Geleit nach seiner Wohnung. An den Ehrenpforten vernahm er aus dem Munde deutscher Jungfrauen, wie hoch seine Landsleute deutscher Abkunft das von ihm gebrachte Opfer zu schätzen wissen und wie die gesammte deutsche Bevölkerung sich ihm zu ewigem Danke verpflichtet fühlt. Das aber gab diesem Willkommenfeste die höchste Weihe, daß selbst die katholischen Deutschen sich den Reihen ihrer protestantischen Brüder angeschlossen hatten; die Kränkung der Einen war auch von den Anderen empfunden worden, und es zeigte sich wieder glänzend, daß trotz aller Aufhetzungen des jesuitischen Clerus das deutsche Gerechtigkeitsgefühl im entscheidenden Augenblicke die Männer beider Confessionen nicht von einander trennen läßt.
Die Wirkung dieses Festzuges soll eine hinreißende gewesen sein, um so mehr, als auch die Brasilianer, in festem Bunde mit ihren deutschen Mitbürgern, dem Rio Grandenser Volkstribunen, dem edelsten Sohne ihrer schönen Provinz, ihre Liebe und Hingebung bezeigten.
Ein brillanter Fackelzug, wie er in Porto Alegre noch nie gesehen worden, beschloß die Ovation. Glühende Reden wurden gehalten, und Silveira Martins war durch den ihm bereiteten Empfang so gerührt, daß er kaum Worte des Dankes finden konnte. Was er aber endlich zu der festlich versammelten Menge vor seinem Hause sprach, das war das Wort eines Mannes, der fest entschlossen ist, seine ganze Kraft – und sie ist eine eminente – dafür einzusetzen, den Kampf für die politische Gleichstellung der Protestanten, den er so ruhmreich begonnen, zum glücklichen Ende zu führen.
Er ließ bei dieser Gelegenheit unter dem Rückblick auf die Zeit der Reformation dem deutschen Geiste und der deutschen Civilisation glänzende Gerechtigkeit widerfahren, ermahnte aber auch zugleich die Deutschen, den Weg der Selbsthülfe zu betreten, sich mehr, als bisher, am politischen Leben der Nation zu betheiligen, ihre Kinder auf die Hochschulen des Reiches zu senden und für den Staatsdienst und das Parlament vorzubereiten.
Möchte diese Mahnung von unseren Landsleuten beherzigt werden, denn so lange sie nicht selbst Hand anlegen an den politischen Ausbau ihres schönen Adoptivvaterlandes, so lange ihre in Brasilien geborenen Kinder weiter nichts als Wahlinstrumente in der Hand ihrer Mitbürger
[72] lusitanischer Abkunft sind, können sie keine ihrer altgermanischen Tüchtigkeit entsprechende Stellung in Brasilien einnehmen. Von außen kann die Hülfe nicht kommen. Eine Gefahr des Verlustes ihrer germanischen Eigenart, ein Aufgehen im fremden Elemente, wie es unter den Deutschen in anglosächsischen Ländern zu Tage tritt, ist bei der großen Verschiedenheit des lusitanischen und germanischen Volkscharakters nicht zu befürchten, im Gegentheil, die Deutschen werden – wie Silveira Martins dies auch in einer seiner Reden in Porto Alegre deutlich aussprach – befruchtend auf das Geistesleben des jetzt in Brasilien herrschenden Elementes einwirken und demselben im Kampfe um die höchsten Güter der Menschheit voranschreiten, und auf diesem Wege werden sie der Liebe und der Sympathien ihres deutschen Stammlandes stets theilhaftig sein.
Obgleich sich die deutschen Colonisten oben im Gebirge in großen Schaaren auf den Weg gemacht hatten, um Silveira Martins in Porto Alegre ihre Huldigungen darzubringen, waren doch mehrere von Deutschen bewohnte Städte und Ortschaften nicht vertreten – sie wollten den großen Bürger in ihren eigenen Mauern empfangen und hatten zu diesem Zwecke gleich Porto Alegre ein glänzendes Festgewand angethan.
So gestaltete sich die Reise des Volkstribunen zu einem wahren Triumphzuge, den natürlich die nativistische und jesuitische Presse auf alle Weise lächerlich und sogar verdächtig zu machen sucht, der aber für die Zukunft der Deutschen in Südbrasilien von hoher Bedeutung werden wird, denn er hat den brasilianischen Staatsmännern gezeigt, daß es durchaus nicht in der Absicht der Deutschen und Deutsch-Brasilianer liegt, einen Staat im Staate bilden zu wollen und dadurch die allgemeine Ordnung zu gefährden, sondern daß sie sich voll und ganz an ihr schönes Vaterland anschließen werden, sobald man ihnen nur Gerechtigkeit widerfahren läßt.