Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen/Die Umgebung von Wan
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Die Umgebung von Wan.
Aghtaniar. Lesk. Yedi-Kilissa (Warak); ein kleines Kapitel zeitgenössischer Geschichte. Schuschantz. Surp-Kirkor. Artamied. Der Kanal der Semiramis.
Während unseres langen Aufenthaltes in Wan machten wir verhältnismäßig wenig Ausflüge. Da wir der Regierung sehr verdächtig waren, konnte jeder Spaziergang Veranlassung zu unangenehmen, ja sogar gefährlichen Zwischenfällen werden. Wir wagten nicht einmal, die Insel Aghtamar mit ihrem ehemals so berühmten Kloster zu besuchen. Es ist dies einer der nationalen Mittelpunkte der Armenier, und dieser Besuch hätte uns schon deshalb gefährlich werden können.
Nachdem wir später von allem Verdachte gereinigt waren, war die Jahreszeit so weit vorgeschritten, daß wir uns beeilen mußten, das Becken von Wan zu verlassen, ehe wir vom Schnee zu sehr belästigt wurden.
Zu unserm Bedauern mußte Aghtamar vollständig von unserm Programm gestrichen werden.
Es werden hier noch einige Ausflüge erzählt, die in den vorigen Kapiteln keine Stelle gefunden haben.
Nachmittagsausflug nach Lesk.
Lesk ist ein kleines armenisches Dorf, das anderthalb Stunden nördlich von Wan an der Seite eines hohen Hügels liegt. Seine Häuser gruppieren sich um einen steilen Felsen, der ihren Mittelpunkt bildet. Der Felsen trägt eine armselige, dem Erlöser geweihte Kapelle. Dieses an Schmucksachen so arme Heiligtum – denn in der Nähe sind zu viele Räuber – ist aber reich an religiösen Traditionen der dortigen Bewohner; seit mehreren Generationen haben die Pilger ihre Namen in dem Kalkstein der Mauern eingegraben. Die ältesten Namen bilden gleichsam ein Glaubensbekenntnis; die Namen neuern Datums bezwecken lediglich die Erinnerung an gewöhnliche Picknicks, denn Ausflüge kommen immer mehr auf bei den Bewohnern Wans.
Von der Höhe des Felsens hat man eine hübsche Aussicht; bei unserer Anwesenheit aber war sie voller Gegensätze. Im Süden verloren die Berge ihre Gipfel in dunklen Wolken, die dem See ein blaugrünes, metallenes Aussehen verliehen, das keinen besonders schönen Anblick gewährte. Im Norden dagegen zeigte der klare Himmel jenes fahle Blau der Herbstabende, während der See heiter und majestätisch vor unsern Augen lag und den Rahmen zu dem Sipan-Dagh bildete, dessen Spitze von einer leichten Wolkenkrone bedeckt war.
In Wan befanden wir uns damals noch in der Mitte der erzählten Schwierigkeiten; um so größern Eindruck machte das herrliche Panorama auf uns.
Bei unserer Rückkehr machten wir einen kleinen Umweg über Schahbaghy (Weinberg, Garten des Schah), ein kleines Dorf am Fuße der Hügel von Toprak-Kala, aber an der Nordseite. Die Tradition nennt dieses Dorf als Hauptquartier des Schah Abbas, als er Wan belagerte, von woher man auch den Namen „Garten des Schah“ herleitet.
Arme Festung von Wan! Von Lesk aus gesehen, machen die Mauern, die die Festung nach Norden zu schützen, einen ziemlich soliden Eindruck; aber an dem Tage, wo sich eine russische Batterie auf den Höhen, die das Dorf beherrschen, auf pflanzt, werden sie bei der ersten Kanonensalve in Trümmer sinken.
Ausflug nach Warak.
Unser Ziel war das Kloster der sieben Kirchen (Yedi-Kilissa), das ungefähr zwei und eine halbe Stunde von Wan entfernt liegt. Obgleich an den Seiten des Warak mehrere Klöster liegen, wird dieses Kloster gewöhnlich mit dem Namen „Kloster des Warak“ bezeichnet, da es das bedeutendste von allen ist. Jaubert besuchte es im Anfang dieses Jahrhunderts; merkwürdigerweise konnte Texier es aber nicht auffinden, sondern versetzte es nach Merik an das Ufer des Sees.
Beim Ausgang aus der Stadt überschreitet man zunächst die große Ebene von Wan; der Aufstieg beginnt erst kurz vor dem kleinen Dorfe Schuschantz, das wie Lesk sehr malerisch um einen Felsen liegt. Von da aus geht es aufwärts den Warak entlang bis zum Kloster auf einem angenehmen Wege an dürren und wilden Felsenwänden vorbei.
Der Anblick des Klosters ist hübsch; die armenischen Kuppeln der Kirchen geben ihm ein altertümliches Gepräge, während ein moderner Zug durch die allerdings noch unvollendeten Gebäude einer Schule hergestellt wird. Das eigentliche Kloster ist ziemlich heruntergekommen; es beherbergt nur mehr einige Religiösen, die zwar ganz gute Menschen zu sein scheinen, aber sehr unkultiviert sind; sie nahmen uns ganz liebenswürdig auf, ohne sich im mindesten an unserm Charakter als katholische Priester zu stoßen. Sehr bereitwillig teilten sie unsere Mahlzeit mit uns.
Dem Namen nach soll das Kloster sieben Kirchen enthalten; mit etwas gutem Willen gelingt es auch dem Reisenden, dies bestätigt zu finden. Aber die Mehrzahl der Kirchen liegt in Trümmern.
Die Hauptkirche ist ganz hübsch; wie fast alle armenische Kirchen setzt sie sich aus zwei deutlich getrennten Teilen zusammen, die durch eine Thüre verbunden sind. Von diesen beiden Teilen ist das Chor am meisten beschädigt; das Schiff ist in besserm Zustande und seine Kuppel hebt sich sehr elegant von den Stützpfeilern ab. Gemälde von sehr altem Aussehen zogen in dem Halbdunkel meine Aufmerksamkeit auf sich, weshalb ich mich etwas mit ihnen beschäftigte. Aber wie groß war mein Erstaunen, als ich bei näherm Zuschauen Perücken und Halskrausen aus der Zeit Ludwigs XV. entdeckte! Das antike Aussehen war verschwunden, nur die Unbeholfenheit in der Darstellung erinnert noch daran.
Das Kloster hütet auch mit großer Sorgfalt den hölzernen Thron des Königs Sennacherib.
Bei dem Vernehmen dieser Wundermär konnte ich mich eines ungläubigen Lächelns nicht erwehren. Aber die Sache ist doch weniger lächerlich, als sie auf den ersten Blick hin erscheint; wenn es sich hierbei auch nicht um den Sennacherib der Bibel handelt, so doch vielleicht um den König Senek’harim, der im 11. Jahrhundert über Waspurakhan herrschte.[1] Wahrscheinlich ist es dieser König, dessen Thron die Mönche, ob mit Recht oder Unrecht, mag dahingestellt bleiben, zu besitzen behaupten. In jedem Falle aber ist dieser Thron ein sehr schönes Muster der alten armenischen Kunst.
Hyvernat zeichnete mehrere auf den Mauern angebrachte Keilinschriften hier auf.
Ein Träger einer solchen Inschrift, ein sehr schönes obeliskenartiges Grabmal aus einem einzigen Stein, dient der äußern Thüre der Bibliothek als Oberschwelle (Zapfenhalter). Zu unserm großen Erstaunen war die Thür gerichtlich versiegelt; während Hyvernat auf einem improvisierten Gerüst stehend die Inschrift kopierte, ließ ich mir ein Stück moderner Geschichte erzählen, die ich in Nachstehendem kurz wiedergebe.
In der großen nationalen Bewegung, die augenblicklich die Armenier beschäftigt, rufen die Schulen und Klöster selbstverständlich das größte Mißtrauen der türkischen Regierung wach.
Vor drei bis vier Monaten, als der Wali seine „berühmte“ armenische Verschwörung entdecken wollte, überfiel unter diesem Vorwande eines schönen Tages die Polizei das Kloster, drang in die Kirche ein und zerstörte den steinernen Altar bis auf den Grund in der Hoffnung, dort verborgene Waffen zu finden. Da sie sich in dieser Hoffnung getäuscht sah, hielt sie sich an der Bibliothek[2] schadlos, nahm alle modernen Bücher und die Pressen des Klosters fort und legte die gerichtlichen Siegel an.
Obgleich die Sache so geheim als möglich gehalten wurde, wirbelte sie doch bald Staub auf. Um der Angelegenheit ohne Aufsehen zu erregen auf den Grund zu kommen, veranstaltete der russische Konsul bald nachher einen Ausflug zum Warak. Die durch die Polizei in der Kirche angerichteten Verwüstungen waren kaum ausgebessert, so daß die Zeichen davon deutlich zu erkennen waren; die Bibliothek war geschlossen. Die Anwesenheit des russischen Konsuls hätte den Mönchen als eine gute Gelegenheit erscheinen müssen, einen Beschützer zu suchen.
Nichtsdestoweniger hatte der Superior (gegenwärtig in Wan), als er von dem Konsul befragt wurde, eine solche Furcht, sich der türkischen Regierung gegenüber bloßzustellen, daß er gerichtliche Durchsuchung und Verwüstungen entschieden leugnete.
Es sind dies leider zu häufig vorkommende Züge in dem armenischen Charakter, die zugleich der Emancipation dieses Volkes ein großes Hindernis in den Weg legen.
Kehren wir nun zu Hyvernat zurück! Er war damit beschäftigt, die Inschrift zu kopieren, als sich plötzlich ein Krachen vernehmen ließ. Merkwürdigerweise war die Thür der Bibliothek, die Hyvernat nicht einmal angerührt hatte, wie durch Zauberei eingestürzt. Die armen Mönche waren in dem ersten Augenblick ganz starr vor Schrecken, konnten sich aber dann vor Freude gar nicht fassen. Sie konnten jetzt wieder in ihre Bibliothek gelangen und versuchen, sie in Ordnung zu bringen, was sehr notwendig war, da die Polizei alle Kasten geöffnet und die Bücher bunt durcheinander in alle Ecken des Saales gestreut hatte. Nachdem sie das Dach noch halb zerstört hatte, wurde die Thüre geschlossen und so dem Regen und den Ratten die Vollendung des Zerstörungswerkes überlassen.
Da wir ohne unser Zuthun doch der Verletzung der Siegel schuldig waren, gingen wir jetzt alle rasch an die Arbeit; die Mönche ordneten die Bücher, und wir durchstöberten dieselben. Die Bibliothek enthält hundertfünfzig dem Anscheine nach wertvolle Manuscripte. So viel wir bei der raschen Durchsicht beurteilen konnten, sind die Manuscripte sehr alt.
In einer Ecke entdeckte ich auch die Trümmer der Mähmaschine, von der im vorigen Kapitel gesprochen worden ist.
Nachdem der Besuch zu Ende war, gelang es uns glücklich, die Thüre wieder an ihre Stelle zu bringen, ohne daß eine Spur von unserer Anwesenheit geblieben wäre.
Auf dem Rückwege kamen wir an dem alten Kloster von Schuschantz vorbei, wo dem Anschein nach kein anderer Insasse ist als ein alter Episkopos, so eine Art bischöflicher Verwalter. Hyvernat fand mehrere Inschriften; ich kaufte für einen Medschidie vier Lanzenspitzen und assyrische Pfeile. Sie sind, wie man mir versicherte, auf der Stelle des Klosters gefunden worden, wo in frühern Zeiten eine Festung stand. Der Episkopos begleitete uns bis zur Grenze seiner Diözese – fünfzig Schritte.
Der Himmel machte eine drohende Miene, doch beim Sternenschein erreichten wir Wan wieder. Im letzten Augenblick wurden wir von einem schrecklichen Hagelwetter überfallen, das die ganze Nacht anhielt. Auffallend ist, daß es schon so spät im Jahre war, nämlich am 7. November.
Ausflug nach Surp-Kirikor (hl. Gregorius).[3]
Der Warak bildet gleichsam zwei ungeheuere Wellen, die durch einen Sattel mit einander verbunden sind. Von Wan aus bemerkt man nur die erste Masse, die erste Welle; sie verdeckt die zweite. Das Kloster von Surp-Kirikor liegt in der Ausbuchtung zwischen den zwei Massivs des Warak dem Kloster der sieben Furchen diametral gegenüber in einer von wilden Felsen eingeschlossenen Schlucht. Der einzige Priester, der daselbst den Kirchendienst versah, war vor einigen Tagen gestorben, und sein Sohn hatte ohne weitere Umstände den Kirchenschlüssel nach Wan getragen; es war uns also unmöglich, in die Kirche zu gelangen und die Keilinschrift, die sich dort finden soll, zu kopieren. Unverrichteter Sache kehrten wir bei einer starken Kälte nach Wan zurück, hatten somit einen ganzen Nachmittag nutzlos geopfert.
Ausflug nach Artamied.
Um dieses inmitten großer Gärten noch malerischer als Wan gelegene Dorf zu erreichen, bedarf es einer Reise von ungefähr drei Stunden. Ein Felsen beherrscht das Dorf und trägt die Kirche. Von dieser natürlichen Plattform genossen wir eine unvergleichliche Aussicht. Zu unsern Füßen bildeten die Gärten einen bezaubernden Vordergrund; durch die blaue Wasserfläche des Sees von uns getrennt, erhebt sich am Horizont der Sipan, damals von Wolken ganz befreit, bei dem Sonnenschein in seinem reinen Schneekleide funkelnd. Es ist zwar überall dieselbe Landschaft, dieselben Formen, aber dennoch entdeckt man stets neue Schönheiten.
Man glaubt, den Sipan ganz in der Nähe zu haben, und doch war er in Wirklichkeit achtzig Kilometer von unserem Standpunkt entfernt; diese Täuschung kommt daher, weil auf diesen Hochplateaus namentlich in dieser Jahreszeit die Atmosphäre von einer auffallenden Durchsichtigkeit ist.
Wir gingen noch dreiviertel Stunden jenseits Artamied bis zu der Stelle, wo noch „der Kanal der Semiramis“ (Schamiram-Su) durch großartige Unterbauten von sehr altem Gepräge erhalten ist. Dieser Kanal lenkt das Wasser des Coschab ab, um damit die Ebene von Wan fruchtbar zu machen. Ohne Zweifel ist er von dem Könige Minuas im neunten Jahrhundert vor Christus erbaut oder doch wenigstens ausgebessert worden, da die Inschriften hier den Namen des Königs erwähnen. Auch heute noch dient der Kanal zur Bewässerung.
Dem Vernehmen nach befindet sich noch eine Inschrift auf einem Felde nahe bei Artamied, doch war es uns nicht möglich, dieselbe ausfindig zu machen.
Ausgenommen die nächste Umgebung von Wan im Umkreise von ungefähr einer Stunde, war alles mit Schnee bedeckt.