Vom Cirkus
Man braucht weder Wolfgang von Goethe noch Gustav Freytag zu heißen, um in seinen Kinderjahren von dem Anschauen des ersten Theaters einen mächtigen Eindruck für das ganze Leben zurückzubehalten. Aber es gab noch einen mächtigeren – wenigstens für mich, der zu jenem im Zahlenverhältnisse stand, wie vier zu zwei, insofern, als hier vierbeinige Künstler jene zweibeinigen ersetzten: die spanischen Reiter. Wenn diese – englische Reiter oder noch richtiger Bereiter ist wohl ihr allgemeiner Name – in die Stadt eingezogen, waren alle normalen Lebensbedingungen bei uns Kindern aufgehoben. Wir aßen nicht, wir tranken nicht, wir schliefen nicht. In einer fieberhaften Aufregung trieben wir uns – in normalen Zeiten oft wegen unserer Langschläferei gescholten – vom ersten Sonnenstrahl bis zum Auslöschen der quer über die Straßen hängenden Oellaternen im Freien herum. Da gab es immer etwas zu sehen: man kam stets auf seine Kosten. Bald ein Herr mit großem Künstlerhute der in einem entzückenden, von Ponies bespannten Wägelchen kutschirte, bald einige fremde Damen, die Schaufenster besichtigten und eine Sprache sprachen, die keiner von uns verstand. Dann wieder die vier weißen Pudel, welche wahre Wunder von Gelehrsamkeit sein sollten und alle Mittage spazieren geführt wurden. Endlich ein Herold auf gezäumtem hohen Schimmel, in Wappenrock und Barett, Schritt vor Schritt durch die Straßen dahinreitend, von Zeit zu Zeit in die mit buntem Gehäng gezierte Trompete blasend und den angesetzten langen schwarzen Bart mit den Fingern an das Kinn drückend. Draußen aber, auf weitem öden Platz, der sonst nur zum Drachensteigen und Schuttabladen benutzt zu werden pflegte, erhob sich das für unsere Kinderbegriffe unermeßliche Zelt, aus schmutzgrauer Leinwand, durch welche tausendfacher Lichtschein schimmerte. Aus ihrem Bereiche drang eine zauberhafte Musik von Horn, Flöte und Trommel heraus und erklang der Rhythmus von Pauke und Becken und das Getrampel der den Sand schlagenden Hufe, hörte manchmal mitten im Takte auf und fing eben so unvermittelt wieder an. Selig der, welcher bei der ältlichen Dame an der Kasse so ohne weiteres sein Billet in Empfang nehmen und hinter dem Leinwandvorhang verschwinden konnte! Beneidet wurde schon, wem es gelang, eines der vielen natürlichen oder künstlich erweiterten Gucklöcher in der Leinwand auszuspähen und in schwierigster Attitüde, hinter den beweglichen Rücken der Zuschauer ab und zu einen schüttelnden Pferdekopf hin- und wiedersausen zu sehen.
Den Zauber, den die Romantik des Cirkuslebens auf die leicht entzündbare Phantasie der Jugend und – sagen wir es getrost – auch auf die „oberen Zehntausend“ der neuntausend Einwohner zählenden Provinzialstadt ausübte, hat sie noch bis auf den heutigen Tag behalten. Allerdings ist man in seinen Ansprüchen verwöhnter geworden – man verlangt immer wieder Neues, Sensationelles: aber im Allgemeinen ist es mit dem Unterschied in den Leistungen nicht gar so weit her, und im Vergleich zu dem durch die raffinirtesten, aufregendsten Schaustellungen verwöhnten römischen Volke, bei dem sich Kaiser und Magistrate durch panem et circenses, Brot und Cirkusspiele, einzuschmeicheln suchten, sind wir ja heute noch die reinen Kinder.
Der antike Cirkus oder Hippodrom, wie sein Urbild in Griechenland hieß, war allerdings nicht ein Cirkus in unserem Sinne; vor allem war er kein Kreis, sondern als Schauplatz für Roß und Wagenrennen lang und schmal. Der Circus maximus in Rom hatte eine Breite von 130, eine Länge von 640 Metern und faßte auf seinen Marmorbänken in der späteren Zeit 385 000 Zuschauer. Die Carceres, jene Wagenschuppen, aus denen die wettfahrenden Gespanne in die Arena stürmten, waren aus Marmor; ihre kunstvollen Auslaufthore öffneten sich durch ein gemeinsames Seil in den Händen des in der Nähe thronenden Beamten. Rechts und links erhoben sich Thürme mit schmetternden Musikbanden. Die Spina, jene der Länge nach den Raum theilende niedere Wand, war aus Marmor und zeigte kunstvolle Reliefs. Die Metae, jene Zielsäulen, bei denen die jagenden Gespanne zu wenden hatten, waren aus vergoldeter Bronze. Götterbilder, Obelisken, Heiligthümer, Mastbäume und Fahnen – die vierfach bespannten Wagen, jeder in einer andern Farbe, weiß, roth, blau oder grün – dann wieder die Faust- und Ringkämpfe, die militärischen Schaustellungen, das von vornehmen berittenen Knaben ausgeführte Trojaspiel in leichter Rüstung – endlich die Schlachten, in denen tausend Bewaffnete, verschiedene Nationalitäten vorstellend und fünfzig für den Krieg dressirte Elefanten durch einander wogten: das war in der That ein Anblick für Götter. Und wirklich fühlte sich dieses Volk bei seinen Lustbarkeiten, in seiner uneingeschränkten Machtfülle und seinem launenvollen Uebermuth als Herr der Erde, die all ihren Reichthum und Glanz zu Gunsten der ewigen Stadt hingeben mußte.
Seit die letzten circensischen Spiele in ihrer Pracht und Kunstentfaltung vorübergerauscht, ist ein Jahrtausend verflossen. Das mehr auf Verinnerlichung, auf Frieden des Herzens hinzielende [141] Christenthum hat diese auf äußeres Gepränge gerichteten Feste allmählich ausgelöscht. Man hatte ernsteren Problemen nachzujagen, als der Veranstaltung immer neuer Volksbelustigungen, und auch der in einzelnen Händen und Städten aufgehäufte Reichthum war zusammengeschmolzen. Aber, wenn auch die Stätten
der glanzvollen Rennen und equestrischen Künste zerfielen, das Interesse für das Pferd, dieses liebste, klügste und edelste Hausthier, war niemals ausgestorben. Anstatt der Massenentfaltung war es nun die übrigens auch im alten Rom zu unglaublichster Vollkommenheit gebrachte Dressur, welche das Volk entzückte. Vielleicht waren es die Enkel jener brotlos gewordenen Cirkushelden oder Gladiatoren, die mit indischen und griechischen Gauklern über die Alpen zogen, bei Kirchenfesten und auf Jahrmärkten ihre armselige Wagenburg anhielten und in abenteuerlicher Tracht als Kunstreiter mit aufgeputzten Pferdchen, als Herkulesse und Seiltänzer das Einerlei des mühevollen Lebens erhellten. Die sogenannten Paardenspeeler, deren gelehrte Gäule mit ihren Hufen die Stunden verkünden, Zahlen rathen und Taschentücher apportiren konnten, deren Abbildungen wir auf den Volksfesten und Jahrmärkten von Ostade und Teniers begegnen, bildeten den Uebergang zu den englischen Reitern, deren Vorstelligen dem modernen Cirkus unmittelbar vorangingen.
Dieser ist ein ganz junges Kind unserer Kultur und hat noch kein Greisenalter erreicht. François Blondin, ein intelligenter und unternehmender Franzose, nicht zu verwechseln mit seinem Namensvetter, der die Niagarafälle auf gespanntem Seil überschritt, aber vielleicht nicht weniger kühn als dieser, hatte vor über sechzig Jahren zum ersten Male die Idee verwirklicht, die versprengten Trümmer fahrender Künstler, die bis dahin vereinzelt, auf freien Plätzen, ihr Leben fristeten, in wahrem Sinne des Wortes unter einem Dache zu vereinigen. Was bis dahin, mit
armseligen Requisiten, kämpfend mit Regen, Indolenz und Chikane der Ortspolizei, in kleinen Ortschaften sich mühsam durchgeschlagen, trat nun in Blondin’s Grand cirque Olympique selbstbewußt zu einem großartigen, noch nicht dagewesenen Schauspiele zusammen, mit dem er ganz Europa durchzog, von Fürsten protegirt, von Vornehmen gehätschelt, vom Volke angestaunt. Die Pracht der Antike schien aber auch aus dem Grabe wieder auferstanden. Reitergefechte, Wagenrennen, Kampfspiele, gymnastische Produktionen, alles eingeleitet durch eine pomphafte Kavalkade der phantastisch kostümirten Truppe: das war ein Unternehmen, welches binnen wenigen Jahren seinen Erfinder, einen circensischen Napoleon, auf den Gipfel des Ruhmes und zu dem Besitze von Millionen emporhob und ihn, wie diesen, als seine Pläne ins Unermeßliche stiegen, unter seinen Trümmern begrub. Sein riesiges Material, sein kostbarer Marstall kam unter den Hammer, und nach kaum zehnjährigem Glücksrausch starb er – in einem öffentlichen Krankenhause von Brüssel.
Nach Blondin’s Vorgehen schossen Cirkusse wie Pilze in die Höhe. Brülloff, Wullenweber, Franconi, Plége, Bazola, später Wollschläger, F. Loisset, Ciniselli, Dejean, Blennow und Renz. Ein Theil dieser kühnen Unternehmer verbrannte sich wie Ikarus nach kurzem Schweben die Flügel. Wenigen war es, wie Wollschläger, vergönnt, in hohem Alter, fern den Geschäften, auf seinen Lorbeern auszuruhen. Einer steht noch mitten in der Strömung, hält mit straffer Hand die Zügel seiner zwölf dressirten Hengste, wie die seines ausgebreiteten ungeheuren Geschäftes zusammen: das ist Renz. Auf unserer Vignette sehen wir den „alten Herrn“ in der Probe sitzen und mit scharfen Augen die Leistungen eines vielleicht gerade vorgeführten Pferdes mustern. Hinter ihm sitzt sein Sohn, welcher gerade die Regie führt; vor ihm steht sein Schwiegersohn Hager, der berühmte Schulreiter, und neben Renz sehen wir seine Enkelin Klothilde Hager. So gewinnen wir hier einen Einblick in das Privatissimum eines Mannes, von dem man schon in der Kindheit erstaunlich viel hat reden hören. Er ist gewissermaßen eine mythische Person geworden, und wenn man den hohen Mann mit dem wetterbraunen Gesicht, dem energischen Ausdruck, dem starken Schnurrbart und den dunklen Augen noch so rüstig an der Arbeit sieht, will man kaum seinen Augen trauen. Wenn man im alten Rom die Kinder mit dem Rufe „Hannibal ante portas" einschüchterte, so läßt die Nachricht „Renz kommt“ die Herzen höher schlagen, aber nicht nur die der Kinder, sondern vieler Tausende, die sich für die Personalien der zwei- und vierbeinigen Künstler des Cirkus eben so warm interessiren, wie die Theaterfexe für die Besetzung einer Rolle. Die Sage hat sich bereits seiner Persönlichkeit bemächtigt. Vom Seile, das er zwischen Baumwipfeln aufspannte, vom Besitze eines alten lahmen Schimmels und einer abgetragenen Stallmeisteruniform erzählt sie. Dann soll er, lange nachdem „die Hussiten lagen vor Naumburg“, im Jahre 1840 zum ersten Male daselbst vor einer primitiven Marktbude mit Wohnwagen das Banner mit der stolzen Inschrift „Cirkus Renz“ haben flattern und herzzerreißende Locktöne durch eine als Reliquie bis heutigen Tages verwahrte Trompete haben erschallen lassen. Wie um die Wiege Homer’s sich sieben Städte Griechenlands stritten, so werden einst die Städte, wie Berlin, Wien, Hamburg, Breslau, Königsberg, wo seine polygonen Tempel stehen, um seine Landsmannschaft buhlen. Wie die Kaiser des weiland heiligen römischen Reiches in ihren Landen umherreisten und bald in dieser, [142] bald in jener getreuen Stadt Hof hielten, so wechselt er mittelst neunzigachsigen Extrazügen – deren Kosten jedesmal etwa 20.000 Mark betragen – fortwährend sein Quartier, und sein Marstall von 160 edlen Rossen und die Schar der Künstler und der Troß der Diener finden das Vaterland, wo es ihnen gut geht.
Uebrigens steht Deutschland wie überhaupt in Bezug auf Vergnügungs-Veranstaltungen nicht etwa in erster Reihe. Frankreich, dem die Erfindung gebührt, besitzt in seinem grand hippodrom de Paris ein Etablissement, welches dem alten Rom Ehre gemacht hätte. Eine Societät von Kapitalisten und Sportsmen hat es errichtet und verwaltet es. Mehr als 20.000 Zuschauer versammeln sich in dem oblongen, mit verschwenderischer Pracht erbauten und ausgestatteten Riesenbau, in welchem blendende Ausstattungsstücke von antikem Gepräge in Scene gehen. Außerdem fesseln drei großartige Cirkusinstitute die Pariser, und ein Cirque Noveau verwandelt nach berühmten Mustern seine Manege in ein großes Wasserreservoir, in dem Wasserspiele und nautische
Pantomimen aufgeführt werden. Natürlich konnte dieser Ruhm des Nachbarreiches das klassische Land der Pferdezucht, England, nicht schlafen lasten, und so hat denn eine große Societät das Terrain des berühmten alten Opernhauses Royal covent garden mit glänzendem Erfolg zu einem grand international circus hergerichtet, welcher von der Elite der Londoner Gesellschaft besucht wird. Ein Olympia-Hippodrom á la Paris bildet neben ihm seit diesem Jahre die greatest attraction. Wie aber alle Vergnügungs-Veranstaltungen jenseit des Oceans eine Dimension ins Ungeheure annehmen, so hat auch Barnum’s Cirkus und grand Roman Hippodrom seine sämmtlichen europäischen Geschwister übertroffen. Dieses kolossalste Etablissement der Gegenwart beherbergt einen Marstall von 300 der edelsten Pferde, eine Menagerie von 200 der seltensten Thiere und eine Truppe von fast 1000 Personen. Dieser von der ganzen Union abgöttisch verehrte Fürst der Reklame und aus kleinsten Anfängen zum Krösus aufgestiegene Selfmademan hat auch die fliegenden Cirkusse erfunden, die er auf Blitzzügen durch die Union jagt, in etwa 300 cirkusdurstigen Mittelstädten seine Zelte binnen wenigen Tagen aufschlagend und nach der Vorstellung wieder abbrechend, um einige hundert Meilen weiter dasselbe Manöver zu wiederholen. Neben ihm bereisen die Riesencirkusse Forepaugh, Robinson, Wilson das cirkuslustige Universum.
Diese Nomadenzüge in sogenannten „american tents" haben einige englische Unternehmer, Meyers, Sanger, Merkel, in einem gemäßigteren Tempo auch für Europa nachgeahmt. Ja, man kann fast sagen, daß in der ganzen Welt „das Wandern ist des Cirkus Lust“, als wenn etwas von der raschen Beweglichkeit des Pferdes auch auf die Besitzer übergegangen wäre. So wechselt Salomonski zwischen Moskau und Odessa, Ciniselli zwischen Petersburg und Warschau, Schumann zwischen Stockholm und Kopenhagen. Nancy hat seine stabilen Cirkusse in Lyon, Genf und Marseille, Wulff, Herzog und Corty-Althoff vagiren durch die deutschen Gaue und Cirkus Carré – dem Wortlaute nach die praktische Lösung der Quadratur des Cirkels – alternirt zwischen Wien, Köln, Brüssel, Antwerpen und Amsterdam. Krembser hat vor einiger Zeit – am blauen Strand der Spree – nicht weit entfernt von Renz’ maurischem Kunsttempel einen neuen Cirkus ganz aus Wellblech errichtet, und nun locken die Sirenentöne zweier „Circen“ die Berliner in ihre lichten Räume, ohne daß diese die Vorsicht gebrauchen, sich gleich Odysseus die Ohren mit Wachs zu verstopfen.
Ich möchte keinen Cirkus haben, und wenn man mir ihn schenkte. Ein Theaterdirektor ist schon ein geplagter, von Sonnenschein und Regen, von Laune und Konkurrenz abhängiger Mann: aber er wird oft aus der Schatulle eines Mäcen oder der Gemeinde subventionirt, und wenn es einmal nicht weiter gehen will, spricht er mit seinen Leuten und spielt mit ihnen auf Theilung. Die Pferde lassen aber nicht mit sich sprechen und sich nichts an ihren Rationen kürzen: ein Marstall ist ein fressendes Kapital in des Wortes verwegenster Bedeutung. Man hat kaum eine Vorstellung von den Kosten eines solchen Unternehmens. Der Tagesetat von 2000 Mark ist nicht zu hoch gegriffen. Der Bau einer Holzrotunde kostet bis 20.000 Mark; die Steuern, die Beleuchtung, die Police gegen Feuersgefahr – alles, was möglich ist, wälzt die Gemeinde, in der er Gastrecht genießt, auf seine Schultern – ein sorgenvolles Brot mit unberechenbaren Chancen. Drum – wie es im schönen Volksliede heißt – „drum möchte ich ein Renz nicht sein!“ Und doch – und doch! Wie fließen die Einnahmen, wenn das Gebotene die Neugier zu reizen, wenn es sich zum sensationellen Ereignis herauszubilden weiß, das jeder gesehen haben will und muß! 5000 Mark Abendeinnahme ist sicher; der große Cirkus Renz soll bei total ausverkauftem Hause das Doppelte ergeben. Da ist die Chance vorhanden, in wenigen Monaten Reichthümer zu sammeln. Und dann die Stellung in den Grenzen seines Reiches! Der Direktor ist von seinem Personal geachtet: denn er hat von klein auf angefangen und er versteht das Metier von Grund aus besser als einer. Er ist gefürchtet: denn er herrscht souverän und seine Leute zittern nicht minder vor dem Blitze aus seinem Auge, als die vierfüßigen Künstler ihm auf den Wink pariren. Es giebt keinen Widerspruch gegen sein Wort – keinen Appell gegen seinen Spruch. Le cirque c’est moi, liegt auf seinen stolzen Zügen, wenn er sich noch, aus besonderer Rücksichtnahme, zur Vorführung einer equestrischen Glanznummer herbeiläßt. Er ist ein Fürst von Gottes Gnaden – nur das P. T. Publikum, welchem er seine Reverenz macht, erkennt er über sich an – „ich möchte drum ein Renz wohl sein.“
Ein Cirkusdirektor hat neben sich zwei ausführende Minister: den des Innern – den Arrangeur, den Leiter der Proben und Vorstellungen – den Regisseur; den des Aeußern – seinen Geschäftsführer – im Englischen „Manager“ – den wichtigsten Mann neben seinem Chef. Er entwirft den Feldzugsplan, baut die Cirkusse, schließt die Kontrakte, inserirt und organisirt, beaufsichtigt Sekretäre und Kassirer; er ist die ausführende Hand des Allgewaltigen und stets zu seiner Seite, wenn ihn nicht ein Geschäft, eine Auseinandersetzung mit den Behörden die Besichtigung einer schneidigen Parforcereiterin einmal auf einige Tage nach Petersburg oder nach Madrid entführt hat.
In das mit riesigen Plakaten und bunten Bildern beklebte Vestibül, durch welches die drei Mächtigen plaudernd promeniren, rauschen jetzt, gedämpft durch den schweren Vorhang, welcher die ringförmig um den Mittelkreis gelagerten Stallungen abschließt, die taktmäßigen Töne des Orchesters und erdröhnen die Beifallssalven der animirten Menge. Ich bin heute so glücklich, mich nicht mehr auf den verstohlenen Blick durch die Ritze der Leinwand beschränken zu müssen – ich bin einer von den Beneideten, der sich ein Billet kauft und in die lichtdurchflimmerte Riesenrotunde eintreten darf.
Man tritt gewissermaßen in einen Krater, dessen Boden die mit gelbem Sande bestreute Manege und dessen lebendige Wände die tausendköpfige, bis zur Decke ringsum ansteigende Menge [143] bildet, von welcher, was unten geschieht, in lautem Jubel oder hellem Lachen widerhallt. Eine bildschöne Brünette im kurzen luftigen Kleide, hoch zu Roß, bedankt sich eben nach allen Seiten mit dem Ausdrucke so holder Ueberraschung, als ob ihr diese Ehre zum ersten Male in ihrem Leben passirt sei. Der Klown, der ihr den Reifen beim Sprung gehalten, macht ihr ein Kompliment und scheint zufrieden mit der Leistung seiner Partnerin. Auch der Schimmelhengst Almansor, der eigentlich weiter nichts zu thun hatte, als an der Manege herum zu traben und das Panneau zu tragen, von welchem die kleine Französin ihre Reifensprünge exekutirt hatte, zeigt einen sichtlich befriedigten Ausdruck um die Nüstern. Ich weiß nicht, ob dieser von dem gesättigten Ehrgeiz herrührt – und die Hälfte des Beifalls nimmt er für sich in Anspruch – oder von der anheimelnden Aussicht, nach seinem Stall zurückkehren und bis zur morgigen Probe um zehn Uhr Vormittags unbehelligt träumen zu dürfen.
Die Manege hat sich geleert. Jetzt springen rothgekleidete Manegediener, das Gros der bedienenden Künstler in ihren Galauniformen nebst einigen Klowns in ihren barocken Kostümen hervor und stellen sich wie zur Bewillkommnung in Spalier nächst dem Eingange auf. Die Kapelle intonirt ein verheißungsvolles Präludium und tausend Köpfe recken ihre Hälse nach den zurückgeschlagenen Vorhängen der Manegeeingänge aus. -
Das nächste Mal davon. Die Vorstellung verspricht nach dem Programm sehr interessant zu werden. Dann will ich in der Pause wie einer der echten oder Talmisportmänner mit den langen Ueberziehern, den rothgestreiften Kravatten und der Hufeisennadel, das Stöckchen in der Hand, ein wenig in den Stallungen umherwandeln und versuchen, ob ich von dem Künstlervölkchen in seinem Interieur einen Blick zu erhaschen vermag. Was ich da sehe und erfahre, davon will ich treulich Bericht erstatten.
[155]Es giebt Leute, welche behaupten, eine Cirkusvorstellung gleiche der andern aufs Haar und habe man eine gesehen, so könne man Entree und Zeit für eine zweite sparen. Es giebt aber auch solche, die jeden Abend im Cirkus zubringen – die ihm, wenn er den Ort verläßt, am liebsten nachreisen möchten, die unglücklich sind, wenn sie eine hundert Mal gesehene Nummer versäumen müssen. Und wenn man nun die unbeschäftigten Künstler und Angestellten während einer Vorstellung beobachtet, mit welchem aufgeregten Interesse sie an jeder der tausendfach schon gesehenen Leistungen ihrer Kollegen theilnehmen: da kommt man wohl zu dem Schlusse, es müsse doch unter dieser scheinbaren Gleichartigkeit ein dauernder Wechsel vorhanden sein, oft nicht so leicht erkennbar für den ungeübten Sinn der nur aufs Ganze gehenden Menge, wie interessant für den Kenner und um so interessanter, je öfter man ihn beobachtet und studirt.
Im Aeußern also fast überall das nämliche Programm. Etwa sechzehn – bei Parforcevorstellungen bis zwanzig Einzelnleistungen, die meisten Reiterproduktionen. Die grand voltige à la Richard, das Apportirpferd Abdallah – das Springentrée der beliebten Klowns – der grand travail gracieux der Groteskreiterin – Lady Hamilton und Achilles (eine feine Familie), englische Vollbluthengste in ihren großartigen Konkurrenzsprüngen – das Auftreten der Königin des Wassers; der Königin der Luft (als ob man in der Luft auftreten könnte) – die sensationellen Leistungen der dressirten Elephanten, Gänse, Auerhühner, Nashörner – das non plus ultra eines auf dem Seil laufenden Pferdes – die komischen Intermezzos der Klowns – die Quadrille in Rokoko – zum Schluß große Pantomime mit Ballet und elektrischem Feuerzauber.
Ich gehöre nicht zu jenen Specialisten mit dem subtilen Pferde- und Specialitätenverstand, um das Dargebotene in allen seinen Details zu würdigen, einzelne Abweichungen der heutigen Leistung gegen die gestrige herauszufinden, das Schwierige vom Mittelschweren, das Mittelschwere vom Leichten zu unterscheiden: aber ich muß sagen, daß mir die Stunden im Cirkus noch jederzeit großes Vergnügen bereitet haben. Wie ein Abend im Theater auf Geist und Gemüth, so wirkt ein Abend im Cirkus auf die Sinne. Freilich kann ich nicht Rechenschaft geben, wie viel die rauschende Musik mit ihrem eigenartigen Rhythmus, das Knallen der langen Peitschen, die plötzlichen Pausen, die kurzen ermunternden Anrufe, das Jagen und Treiben im Kreise, das Schlagen des aufstiebenden Sandes, wie viel die sammetweiche glänzende Haut, das Feuer der schnaubenden schönen Thiere, der Muth, der Ehrgeiz, die Treffsicherheit, die Elasticität der Künstler, die kleidsamen, bald sportmäßigen, bald nationalen, bald phantastischen Kostüme, die Anmuth und Schönheit der Artistinnen – und eine gewisse Schönheit tragen sie alle in der kurzen Blüthe ihrer Produktionsnummer – an dieser eigenartigen mächtigen Wirkung theilhaben.
Wer vieles bringt, wird jedem etwas bringen. Man ist längst davon zurückgekommen, den Schwerpunkt der Aufführungen auf die Reitkunst zu legen; Akrobaten, Klowns, Specialitäten, Pantomimen stehen dieser ebenbürtig zur Seite. So kommt eben jeder Geschmack zur Befriedigung.
Wer da hinauszog, um das Gruseln zu lernen – und es sind nicht die Wenigsten, welche der Haut-gout einer recht halsbrecherischen Produktion anzieht – der findet ausreichend Gelegenheit an dem, was sich hoch über unseren Häuptern in der Rotunde vollzieht, zu welcher Leistung eifrige Diener in Livrée Mastbäume aufhissen, Taue verstauen und ein System von Netzen über die Manege ziehen, mit einer Eilfertigkeit, als gelte es die Vorbereitungen zu einem Auto da fé. Und wenn endlich die jungen Artistinnen in ihrem Feenkostüm hereintänzeln und sich in graziösen Stellungen, wie wir sie vielleicht im Märchen empfunden, auf alten Bildern geschaut, nie aber im Salon bemerkt haben, vor dem Publikum verneigen, wenn sie mit jugendlichem Elan nach den Masten eilen, wie die Kätzchen hinaufklettern, im Nu sich in schwindelnder Höhe umwirbeln, an einander hängen, sich verkürzen, wie die schwebenden Engel des Correggio und sich wieder strecken wie die Gestalten der Byzantiner, wie sie in diesem Augenblick niederzusausen scheinen als fallende Meteore, im nächsten im Fluge mit der Sicherheit eines Vogels ihren Halt gewinnen, wie sie, umwallt von Lockenfluth, vom luftigen Sitze des schwebenden Recks hinunterschauen und lächelnd Kußhände der athemlos folgenden Menge herabwerfen: dann muß auch der Grübler, welcher in der Theorie solche schwindelerregende Leistungen von sich weist, die Hände applaudirend regen, hingerissen von der unmittelbaren Wirkung des Geschauten.
Und wessen Herz solch lieblichen Eindrücken mit Grusel-Haut-gout verschlossen ist, wer aber leicht und gern lacht, für den ist in den komischen Intermezzos ein ausreichendes Material geboten.
Es giebt allerdings Menschen, die für den Humor der Klowns keine Organe besitzen – die nur lächeln können, nicht [156] lachen: aber das ist eine verschwindende Minorität und ich bedaure dieselbe. Diese grotesken Gestalten in ihren absichtlich verpaßten Kostümen dem rothen Seidenfrack mit kurzer Taille und unendlichen Schößen, ihren Kinderanzügen aus einem Stück, mit Uhren, Ziffern und anderen Hieroglyphen barock bemalt, ihren zebraartig gestreiften oder auf jeder Seite verschieden gefärbten Trikotanzügen, mit ihrem mehlweißen Gesicht, verbreiterten Munde, verzogenen Augenbrauen und rothem Schopf – diese Erscheinungen mit ihrer bald
hüpfenden, bald schreitenden Bewegung, ihren unerwarteten Ueberkugelungen und Kopfsprüngen, die mit ihrer angenommenen Ungeschicklichkeit so lustig kontrastiren – ihrem Idiom, das aus allen Sprachen etwas aufgelesen hat – diese Typen drolliger Unverschämtheit, die sich in alles hineinmengen, alles verkehrt oder anders machen als gewöhnliche Menschen, mit aller Welt auf einem neckenden Kriegsfuß leben, maßlos sind in der Liebe und im Haß: ich sollte meinen, der komischen Wirkung dieser Figuren könnte sich gar niemand entziehen. Ihre lustigen Improvisationen, welche durch den Umstand nicht an Werth verlieren, daß sie sorgfältig einstudirt und auf ihre Wirksamkeit erprobt sind, ihre theilweise zur Specialität ausgebildeten gymnastischen, musikalischen, Jongleurleistungen, ihre Thierdressuren und ihre gelungenen Parodien erster Artisten wirken wie das antike Satyrspiel nach der Tragödie. Sind unsere Klowns auch nur die Urenkel jener Rüpel, deren tölpelhafte Sprünge wir im „Sommernachtstraum“ und „Wintermärchen“ belachen, Verwandte des spanischen Gracioso und deutschen Hanswurstes: mir scheint es, als müsse ein großer Theil ihrer Späße schon aus der Zeit des Mimus und der Atellanenspiele herrühren, und ich gebe mich mit dem Gefühl eines historischen Rechtes rückhaltlos der Freude über dieselben hin, über welche vielleicht einst graubärtige Peripatetiker
und kahlköpfige Senatoren auf ihren mit Polster belegten Sitzen sich die Toga vor Lachen gehalten haben.
Wer aber auch an dem „Hoplá, cousin“ der Klowns nicht Interesse finden kann, der wird sich gern dem Eindruck der glitzernden und gleißenden Kostüme, der frischen Bewegung tummelfroher, prachtvoll geputzter Rosse, dem chromatropenartigen Wechsel der Figuren hingeben, der getanzten Fabel der Pantomime folgen, in der Roß und Reisige, wie Kreisel sich drehende Ballerinen und farbige Strahlen der elektrischen Sonnen, Trompetenstöße und Feuerzauber, Lachen und Beifallsjubel aus vielen tausend Kehlen sich zu einem gewaltigen Schlußaccord verschlingen.
Und wenn man alle diese zur Hauptsache werdenden Nebensächlichkeiten abstreift, bei einer Probe also, wo Licht, Schminke, Musik, Kostüm und Publikum fehlt, wo also nur die reine Leistung, ohne schönfärberischen, sinnberauschenden Apparat zur Geltung kommt: müßte das Ganze nicht da einen abschreckenden Eindruck machen? Ich habe das nicht gefunden. Zwar erscheinen die Artisten uns hier in der Tageshelle, im Alltagskostüm klein, nüchtern, unbedeutend. Einige sehen aus wie Oekonomen, andere wie Kommis, der lange, aus dem zurückgeschlagenen Stehkragen herausschimmernde Hals, das bartlose englische Gesicht zeigt den Klown. Die Herren, gewöhnlich im Jaquet oder langen Ueberzieher, das runde Hütchen auf dem Kopf, die Cigarre im Munde, einen Stock in der Hand; die Damen im Hauskleid unter dem langen braunen Regenmantel, das Haar provisorisch aufgesteckt, den schlichten Stoffhut auf dem Köpfchen: so steht oder sitzt das Künstlervölkchen in den Sperrsitzen, leise plaudernd und beobachtend während der Proben in der Tageshelle umher, mit kollegialem Interesse dem schwarzgelockten Italiener folgend, der, eine Cigarette zwischen den Lippen, gerade seine große Abendnummer durchübt. Man kann hier wohl beobachten, wie das hohe Schulpferd, welches Abends so leicht und gefällig nach der Musik zu tänzeln weiß, als sei es mit dem musikalischsten Ohre auf die Welt gekommen, diese Begabung durch Schenkeldruck und kurze Peitschen und ohne Orchester, der Reiter pfeift nur leise vor sich hin, beigebracht bekommt; wie es zu dem tiefen Komplimente vor dem verehrlichen Publikum, das so ganz aus innerster Ergebenheit und Hochachtung zu kommen scheint, durch unwiderstehlichen Terrorismus gezwungen wird: man sieht den Schweiß, den die Götter vor das Gelingen gesetzt haben, auf der Stirn des Reiters und auf dem glänzenden Leibe des Rosses perlen.
Ein kleiner schwarzbrauner Kunstjünger – ein russischer Ponyhengst wird mit fünf Kameraden zu Exercitien im Freien eingeschult. Man bemerkt, daß er zuerst keine Idee davon hat, was man eigentlich von ihm haben will – man sieht, wie ihm die akustische Lehre von den Schwingungen und den Knoten an zwei Peitschen von der Radiuslänge des Cirkus praktisch beigebracht wird; wie er endlich kapirt, worauf es seinem Dresseur ankommt, wie er über das Kommando mit sich ins Klare kommt, seine Ohren spitzt. und mit gespanntester Aufmerksamkeit an dem erwarteten Rufe hängt; wie er im Uebereifer sich sogar vor der Zeit um sich selbst dreht; wie er in den trostreichen Worten: „brav, sehr brav“ mit sichtlicher Genugthuung seine gute Konduite entgegennimmt; wie er endlich schweißgebadet und schäumend im Vollgefühle erfüllter Pflicht auf seinen Lehrer und Peiniger zueilt und seine Schnauze in die streichelnde Hand schiebt, um nach gethaner Arbeit von einem Stallknecht in Hemdsärmeln und blauer Schürze – man erkennt die Gentlemen vom Abend in ihnen nicht wieder – in das traute Dämmerlicht des Stalles zurückgeführt zu werden.
Für den Realisten ist die Probe vielleicht noch interessanter als die Vorstellung: für den Artisten ist sie ein notwendiges Uebel. Er haßt sie, wie er den Regisseur [157] nicht besonders in sein Herz zu schließen pflegt, der sie ansetzt, der sie mit militärischer Strenge überwacht. Sie sind ja auch in der That geplagt genug, diese Leutchen. Ein vielparagraphisches Hausreglement ordnet ihre Tagesstunden, und wenn man dem liebenswürdigen Völkchen gern etwas Leichtfertigkeit imputirt, so möchte ich wissen, wieviel Zeit ihnen dazu eigentlich bleibt. Der Morgen von acht, im Sommer von sieben Uhr an bis oft zur zweiten Stunde Nachmittags gehört den ermüdenden Proben; eine Stunde vor Anfang der Vorstellung muß sich das gesammte Personal im Cirkus wieder einfinden. Sie haben hier, außerhalb ihrer Programmnummer, in Uniform Manegedienst zu thun, Spalier zu bilden, die Pferde zu leiten, dem Springenden die Reifen und Bänder zu halten, eine Thätigkeit, die, wenn nicht mit großer Aufmerksamkeit und Sachkenntniß gehandhabt, große Unfälle nach sich ziehen kann.
Das rosige, lustige Leben des Artisten ist eine Kette unausgesetzter Arbeit. Er wird in der Regel schon als zartes Kind in den Prinzipien seiner Kunst unterrichtet. Bei seinen Eltern oder einem kinderlosen Ziehvater vollendet er seine Lehrjahre. Bei Talent und gutem Willen eignet er sich hier nach und nach die Elemente an, Tanzen, Springen, Balanciren, später Reiten. Wenige Hilfsmittel – richtiger Schutzvorrichtungen gegen Unfälle –
stehen dem Lernenden zur Seite. Die Federmatratze, die Longe, ein am Rücken befestigter Gurtstrick, die Zugmaschine für das Stehendreiten, das große Netz und die Fallleine für die Luftgymnastik – das ist alles.
Im Uebrigen heißt es: Hic Rhodus, hic salta! Springe, probire, riskire – von früh bis Abend, unermüdlich, und wenn dir ein Tric zehnmal mißräth – ein elftes, ein zwölftes, ein zwanzigstes Mal, so lange, bis er gelingt. Uebung – und eiserne Ausdauer macht den Meister, und wenn unser luftiger Streber nun endlich ausgebildet, und gewöhnlich auch etwas eingebildet, sich dem etwa 40.000 Köpfe starken Heere der Artisten beigesellt sieht, entscheidet er sich, ob er ein Reitkünstler höherer Observanz werden oder der Ausübung einer Spezialität zustreben soll, welche, wenn sie etwas non plus ultra bietet, einen Goldregen auf ihren Meister heranzuziehen vermag. Die Gagen im Cirkus sind überhaupt – die Meister vom hohen Cis vielleicht ausgenommen – die höchsten, welche in der Welt gezahlt werden. Sie werden nicht nur dem ausübenden Artisten, sondern auch für die schwierige und jahrelange Arbeit der Dressur bewilligt und drücken sich in den enormen Preisen aus, welche für ein Pferd höherer Schule angelegt werden. Ein mittelmäßiger Reiter, Gymnastiker, Klown erhält mindestens seine 300 Mark, und dieses Monatsgehalt steigt nach der Leistungsfähigkeit auf das Zehnfache. Ein einfach dressirtes Manegepferd kostet 3- bis 4000 Mark. Die 12 Trakehner Rapphengste, der Stolz des niederländischen Cirkus Carré, repräsentiren eine halbe Million, und der Vollblutaraber „Caid“ des Schulreiters von Laszewski aus dem Marstall der deutschen Kaiserin, die Wulff’schen Percheronhengste, die Dressurpferde des berühmten Schumann’schen Marstalles, sowie die des weltberühmten Dresseurs Corradini sind nicht für hohe Schätze feil. Einzelne Specialitäten machen in der Glanzzeit ihrer Kraft oder Beliebtheit Jahresengagements zu 50- bis 100.000 Mark. Aber es sind in der Regel nur wenige Jahre dem Artisten vergönnt, so ungemessene Ernte einzuheimsen, und die Gefahr an Leib und Leben ist in diesen Gagenverhältnissen in der Regel einbegriffen. Das Straucheln oder Schießen eines Pferdes, ein Flimmern vor dem Auge, ein Zittern der Hand, die Unachtsamkeit des assistirenden Dieners, und lange Krankheit, dauernde Verstümmelung endet oft den allzu kurzen Traum von Glanz, Goldregen und berauschendem Beifall. Auch das gefeierte Roß sinkt in immer niedrigere soziale Stellungen. Wenn ein verträumter Droschkengaul seinen melancholische Trab plötzlich mit eitlem unerwarteten Sprung unterbricht, so ist das vielleicht die Reminiscenz einer glanzvollen Jugendepoche.
Hinter der Portière – wenige Schritte von der Arena – entfaltet sich in dem von den Garderoben und Stallungen begrenzten Zwischenraum ein malerisches Treiben. Bänder, Barrieren, Reifen, Ballons, bunt gestrichene Requisiten, wiehernde gesattelte Pferde, ein Löwenkäfig mit seinen Insassen, rothe Stallburschen, schneidige Stallmeister mit gewichsten Schnurrbärten, phantastisch kostümirte Künstler, hübsche Tänzerinnen in Mullröckchen und fleischfarbigem Trikot, grell bemalte Klowns, Kavallerieoffiziere, Cirkushabitués, Sportsmen: alles steht und lustwandelt durch einander. Das Interesse der Letzteren theilt sich zwischen die edlen Thiere und das Leben à la Bohémienne, welches nach anderen Gesetzen sich zu regeln scheint, als das Alltagsdasein. Hier plaudert im blauseidenen Jockeikostüme, die Reitpeitsche in der Rechten, ein hochgeschätzter Saltomortalereiter mit dem von Billetsdour und wagenradgroßen Bouquetten umworbenen Cirkusdirektortöchterchen, der ersten Schulreiterin und Trägerin eines Namens, dessen Klang ihrem Auserkorenen, wenn er selbständig werden will, das vollste Prestige in der pferdeliebenden Welt sichert. Dort füttert eine etwas vorgeschrittene Prima Ballerina ihr feistes Möpschen, das einzige Wesen, welches ihr nach vielen Enttäuschungen im Leben Treue bewahrt hat. Nebenan sitzt auf einem Kasten die à la Scheherezade gekleidete Löwenzwingerin: das Princenez auf dem hübschen Näschen, verfolgt sie – unbeirrt von dem Murren ihrer ungeduldigen Zöglinge und von dem lauten Treiben ringsum – mit Spannung einen dickleibigen Roman, dessen Lektüre sie dem Roman ihres Lebens zu entrücken scheint. Hinter ihr suchen sich ein Knabe und ein knabenhaft gekleidetes Mädchen in gymnastischen Drehungen – Flicflac nennt es die Cirkussprache – zu überbieten, und dicht an die Portière drängt sich jetzt eine elastische Gestalt im schimmernden Feenkostüm, einen schweren übergeworfenen Pelz fröstelnd zusammenfassend, um durch eine Lücke nach dem Publikum auszuspähen. Oder es bildet, wie aus unserer Vignette, eine Reiterin den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, die jedoch bald durch des Klowns witzige Einfälle abgelenkt wird.
Die gefeierte Königin der Luft erklärt dem sie besorgt um den Grund ihrer Melancholie fragenden Cirkusgrafen, daß heut ihr Unglückstag, ein Freitag, sei. Die tollkühne Künstlerin, die sich nirgends glücklicher und selbstbewußter fühlt, als hoch über dem kleinen Publikum, kann sich dem allgemeinen Artistenaberglauben nicht entziehen. Und dieser Glaube wird ihr zum Verhängniß. Gerade vor Schluß ihres bejubelten Potpourri aérien springt sie zu kurz, schlägt nieder auf den Rand des Netzes und wird herausgetragen wie ein in den Reihen der Brüder gefallener Soldat.
„Gestern noch auf stolzen Rossen,
Heute durch die Brust geschossen,
Morgen in das kühle Grab.“
Oder sollte der Klown Recht behalten, der dem Direktor soeben versichert, er habe die Künstlerin bereits dreimal an verschiedenen Cirkussen herabfallen sehen, allemal aber habe sie den [158] nächsten Tag wieder ihre Arbeit verrichtet? Wir wollen hoffen, daß er sich nicht täuscht. Das Künstlervölkchen verwirklicht den Traum des Kosmopoliten. Geburtsland, Rasse, Religion, früherer Stand sind aufgehoben. Eine Kameraderie verbindet sie alle. Deutsch, englisch, holländisch, französisch, italienisch, russisch schwirrt es durch einander. Ein neues Idiom – von jeder Sprache etwas – ist
entstanden. Auch der mitarbeitende Japaner, Araber, Neger unterliegen dem Nivellement. Eine wahre Musterkarte von Physiognomien tritt uns entgegen: allen gemeinsam „der Schneid des Cirkuslebens“, das stetige Kämpfen und Spielen mit Gefahren, das Reisen durch aller Herren Länder, oft ein müder verlebter Ausdruck. Ein hohes Durchschnittsalter ist ihnen nicht gewährt. Einige glückliche Ausnahmen, wie der erste Thurmseilläufer Kolter, der das sechsundneunzigste Jahr erreichte, Blondin, der mit 65 Jahren den Niagarafall überschreitet, der siebzigjährige, noch in voller Thätigkeit sich dem Publikum zeigende Altmeister Renz, stehen vereinzelt da.
Und dabei geht es ihnen, wie den Kriegern in „Wallenstein’s Lager“ :
„Wer merkt es ihnen an,
Daß sie aus Süden und aus Norden
Zusammengeschneit und geblasen worden?
Sehn sie nicht aus wie aus einem Span?
Greifen sie nicht wie ein Mühlwerk flink
In einander auf Wort und Wink?“
Jeder hat ein anderes Vorleben. Die meisten Jünger der circensischen Kunst sind von zartester Kindheit an herangebildet, aber Begabung und Neigung haben oft auch im vorgerückten Alter die unüberwindlichen Schwierigkeiten überwinden lassen. Dieser beliebte Klown in weitem buntscheckigen Kostüm ist ein Aristokrat und gab seine militärische Laufbahn einer Kunstreiterin zu Liebe auf. Damen des englischen High-Life, lebenslustige Studenten, Kaufleute, die vielleicht ihr Soll und Haben nicht recht in Einklang zu bringen wußten, folgen einer Laune, einem Trotz, lassen sich von dem verführerischen Reize dieses Lebens der Bohémiens blenden und produciren sich nach wenigen Jahren als brave Künstler. Freilich unter ihnen mancher „Saltimbanque“ oder Viertelskünstler, „Schulzini“ oder „Don Lehmann“ genannt, das achte Weltwunder, das den Artistenstand kompromittirt. Barone, Sportleute, Gutsbesitzer – Spätlinge, deren Knochen zu ungelenk geworden sind, um erfolgreich mit den jungen Kräften in die Schranken zu treten – verwerthen ihr theoretisches Können, werden Regisseure, Geschäftsführer, Direktoren. Auch sind nicht alle Gelehrte, die sich als Specialitätenkünstler Unsummen verdienen. Das Abiturientenexamen wird nicht verlangt. Man erzählt von einzelnen, die nicht lesen und nicht schreiben können, so wie man es von alten Generälen behauptete, die ihrem Vaterlande die größten Dienste geleistet haben. Das schmälert ihr Verdienst nicht; die Exemplare werden auch immer seltener. Giebt es doch heute viele unter ihnen, die neben Trense und Kandare auch die Feder gewandt zu handhaben wissen. Besitzen doch die Künstler ihre eigenen Zeitungen: die in London dreisprachig erscheinende „Era“, den englischen „Klipper“ in New-York, die „Union internationale des artistes" in Paris und den deutschen „Artisten“ in Düsseldorf. Der Zug nach Verbesserung der Stellungen spielt, wie in allen Ständen, auch hier in den Leitartikeln eine Rolle. Die Engagementsgesuche und Anerbietungen machen die Lektüre auch für den Laien interessant. Hier offerirt sich ein Klown mit urkomischen Entrées nebst seinem dressirten Esel; dort sucht ein weltberühmter Seilläufer einen schwindelfreien jungen Mann, den er über das Thurmseil tragen will und der neben dieser tragischen Rolle noch die eines Kassirers zu handhaben hat, etc. In neuester Zeit strebt alles hin auf die Bildung einer Artistengenossenschaft – eines weitverzweigten Verbandes, wie er längst in der segensreichen deutschen Bühnengenossenschaft besteht zu gegenseitiger Unterstützung in Noth, Krankheit und Alter. Sie müßte aber nicht zur Vereinsmeierei, sondern ernst genommen weit umfangreicher werden und alle Länder umschließen; denn dieses Völkchen gleicht den Zigeunern. Sie haben kein Vaterland und sind doch überall zu Hause, wo man sie gern hat.
Sonst aber gleichen sie ihren südlichen Brüdern nicht so sehr, wie es manche wünschen möchten. Ihre Lebensformen weichen vielleicht in einigen Stücken von den bürgerlichen ab, nicht ihre Anschauungen. Wer sich in diese Kreise drängt, um unter dem Schutze leichterer Auffassungen von Liebe und Ehe vergnüglich zu tändeln, giebt sich einer Täuschung hin. „In diesem Falle denken sie höchst bürgerlich.“ Wer glaubt, daß sie nicht ernster hingebender Liebe fähig sind, unterschätzt sie. Das ewig lächelnde Antlitz vor dem tausendköpfigen Ungeheuer hindert nicht, daß sich in ihrem Herzen ein Parc reservé befindet, welchen nur betreten darf, wen sie ihrer Liebe würdig achten. Eine Künstlermutter, ein strenger Vater, ein Lehrherr, ein väterlicher Freund bewacht mit Argusaugen die Tugend der ihnen anvertrauten Novize. Die jugendliche ungebrochene Kraft ist die erste Bedingung für eine gute Leistungsfähigkeit, und schon aus diesem Grunde werden sie bewahrt wie Vestalinnen. Das Problem der selbständigen Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechtes fand im Cirkus längst seine praktische Lösung: Frauen ohne Beruf und Gage giebt es nicht. Sie sind nicht auf die Ehe angewiesen, um zu existiren, und wenn sie heirathen, ist die Liebe in der Regel das ausschlaggebende Motiv. Es giebt Ausnahmen wie in jedem Stande, aber den besseren lebt ein Kunstideal im Herzen, und wo sie dies zu Gunsten einer glänzenden Heirath außerhalb ihres Standes preisgeben, da büßen sie den Verrath an ihrem Berufe gewöhnlich in einem freudeleeren Dasein, das ihnen keine Befriedigung zu bieten vermag.
Die Liebe ist ein Pflänzchen, welches nicht wählerisch ist mit seinem Standorte. Sie blüht nicht nur in der Idylle des Dorfes, im traulichen Mansardenstübchen, im glänzenden Salon, sondern
sie schwingt sich auch auf das galoppirende Roß des Kunstreiters und springt im Salto Mortale von Trapez zu Trapez. Wie die Liebe und die Tugend, so gedeihen auch der Haß, der Neid, die Intrigne zwischen den Bändern und papierbespannten Reifen. Es ist eben der Cirkus – man gestatte mir die etwas freie Uebersetzung – in gewissem Sinne ein Circulus vitiosus, ein Erdkreis im Kleinen mit Freuden und Leiden, mit Ehre und Misère.