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Vineta/I

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Autor: Elisabeth Bürstenbinder
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Titel: Vineta
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 27–40; 41–52, S. 441–444, 461–464, 481–484, 497–500, 513–516, 529–532, 545–550, 561–564, 577–580, 593–596, 611–614, 643–646, 674–676
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[441]
Vineta.
Von E. Werner.

Der heiße Sommertag neigte sich seinem Ende entgegen. Die Sonne war bereits gesunken, nur das Abendroth weilte noch am Horizont und warf seinen glühenden Schimmer über das Meer hin, das ruhig, kaum von einem Hauche bewegt, den letzten Abglanz des scheidenden Tages empfing.

Am Strande des Badeortes C., etwas abseits von der großen Strandpromenade, wo sich, wie gewöhnlich um diese Stunde, das bunte und glänzende Gewühl der Badegäste entfaltete, lag ein einfaches Landhaus. Es zeichnete sich vor den anderen, meist viel größeren und prächtigeren Häusern und Villen des Ortes nur durch die Schönheit seiner Lage aus, denn seine Fenster boten eine unbegrenzte Aussicht über das Meer hin. Sonst stand es ziemlich einsam und abgeschlossen da und konnte wohl nur von solchen Gästen bevorzugt werden, die das geräuschvolle Badeleben von C. eher mieden als aufsuchten.

In der geöffneten Glasthür, welche auf den Balcon hinausführte, stand eine Dame in tiefer Trauerkleidung. Sie war von hoher imponirender Gestalt und konnte noch für schön gelten, obwohl sie den Höhepunkt des Lebens bereits erreicht hatte. Dieses Gesicht mit seinen fest und regelmäßig gezeichneten Linien hatte freilich wohl niemals den Reiz der Anmuth und Lieblichkeit besessen, aber eben deshalb hatten die Jahre ihm auch nichts von seiner kalten, strengen Schönheit nehmen können, die sich noch jetzt siegreich behauptete. Das tiefe Schwarz des Anzuges, der Kreppschleier über der Stirn deuteten auf einen schweren, wohl erst kürzlich erlittenen Verlust, aber man suchte vergebens eine Spur vergossener Thränen in diesen Augen, einen Schimmer von Weichheit in den energischen Zügen. War ein Schmerz dieser Frau wirklich nahe getreten, so war er entweder nicht allzu tief gefühlt worden, oder bereits überwunden.

An der Seite der Trauernden stand ein Herr, gleichfalls von vornehmem Aeußeren. Er mochte in Wirklichkeit nur einige Jahre älter als seine Nachbarin sein, und doch hatte es den Anschein, als läge mehr als ein Jahrzehnt zwischen ihnen, denn an ihm waren die Zeit und das Leben nicht so spurlos vorübergegangen. Der ernste charaktervolle Kopf mit den scharf und tief ausgeprägten Zügen schien schon manchen Sturm durchlebt zu haben; das volle dunkle Haupthaar war schon hier und da ergraut; in die Stirn grub sich Falte an Falte, und der Blick hatte etwas Düsteres, Schwermüthiges, das sich dem ganzen Antlitz des Mannes mittheilte. Er hatte bisher mit angestrengter Aufmerksamkeit auf das Meer hinausgeblickt und wendete sich jetzt mit einer Bewegung der Ungeduld ab.

„Noch immer nichts zu sehen! Sie werden schwerlich vor Sonnenuntergang zurückkehren.“

„Du hättest uns von Deiner Ankunft vorher benachrichtigen sollen,“ sagte die Dame. „Wir erwarteten Dich erst in einigen Tagen. Uebrigens ist das Boot nicht eher zu erblicken, bis es den waldigen Vorsprung dort umsegelt, und dann ist es auch in wenigen Minuten hier.“

Sie trat in das Zimmer zurück und wandte sich zu einem Diener, der im Begriff war, mehrere Reiseeffecten in eines der anstoßenden Gemächer zu tragen.

„Geh’ hinunter nach dem Strande, Pawlick!“ befahl sie, „und sobald das Boot der jungen Herrschaften landet, benachrichtige sie, daß der Herr Graf Morynski eingetroffen ist.“

Der Diener entfernte sich, dem erhaltenen Befehle gemäß. Auch Graf Morynski gab seinen Ausblick vom Balcon auf und trat in das Zimmer, wo er an der Seite der Dame Platz nahm.

„Verzeih’ die Ungeduld!“ sagte er. „Das Wiedersehen der Schwester sollte mir vorläufig wohl genug sein, aber ich habe mein Kind ja seit einem Jahre nicht gesehen.“

Die Dame lächelte. „Du wirst von dem ‚Kinde‘ nicht mehr allzu viel erblicken. Ein Jahr bedeutet viel in solchem Alter, und Wanda verspricht schön zu werden.“

„Und ihre geistige Entwickelung? Du sprachst Dich in Deinen Briefen stets mit Befriedigung darüber aus.“

„Gewiß! Sie überflügelte stets ihre Aufgaben; ich habe eher zügeln als antreiben müssen. In dieser Hinsicht blieb mir nichts zu wünschen übrig, wohl aber in einer anderen. Wanda besitzt einen stark ausgeprägten Eigenwillen und weiß ihn leidenschaftlich zu behaupten. Ich habe mir bisweilen den Gehorsam erzwingen müssen, den sie sehr geneigt war, mir zu versagen.“

Ein flüchtiges Lächeln erhellte das Gesicht des Vaters, als er entgegnete: „Ein eigenthümlicher Vorwurf in Deinem Munde! Einen Willen haben und ihn unter allen Umständen behaupten, ist ja wohl ein hervorragender Zug Deines Charakters, ein Zug unserer Familie überhaupt.“

„Der aber bei einem sechszehnjährigen Mädchen noch unter keinen Umständen zu dulden ist, denn da äußert er sich nur als Trotz und Laune,“ fiel ihm die Schwester in’s Wort. „Ich sage es Dir im Voraus, Du wirst noch öfter damit zu kämpfen haben.“

Es schien, als sei diese Wendung des Gespräches dem Grafen nicht besonders angenehm. „Ich weiß, daß ich mein Kind keinen besseren Händen übergeben konnte, als den Deinigen, sagte er ablenkend, „und deshalb freut es mich doppelt, daß Wanda jetzt, [442] wo ich sie wieder zurücknehme, Deine Nähe nicht ganz zu entbehren braucht. Ich glaubte nicht, daß Du Dich so bald nach dem Tode Deines Gemahls zur Rückkehr entschließen würdest, und rechnete auf Dein Verbleiben in Paris, wenigstens bis zur Vollendung von Leo’s Studium.“

Die Dame machte eine verneinende Bewegung. „Ich bin in Paris nie heimisch geworden, trotz unseres jahrelangen Aufenthaltes dort. Das Loos der Emigranten ist kein beneidenswerthes, Du weißt es aus eigener Erfahrung. Fürst Baratowski freilich durfte den heimathlichen Boden nicht wieder betreten, seiner Wittwe und seinem Sohne aber kann man die Rückkehr nicht verweigern; deshalb habe ich mich unverweilt dazu entschlossen. Leo muß endlich einmal die Luft seines Vaterlandes athmen, um sich ganz als Sohn dieses Landes zu fühlen. Auf ihm ruht jetzt die alleinige Vertretung unseres Geschlechtes. Er ist freilich noch sehr jung, aber er muß es lernen, seinen Jahren voran zu eilen und sich mit den Pflichten und Aufgaben vertraut zu machen, die nach des Vaters Tode an ihn herantreten.“

„Und wo gedenkst Du Deinen Aufenthalt zu nehmen?“ fragte Graf Morynski. „Du weißt, daß mein Haus Dir jederzeit –“

„Ich weiß es,“ unterbrach ihn die Fürstin, „aber ich danke Dir. Für mich handelt es sich vor Allem darum, Leo’s Zukunft zu sichern und ihm die Möglichkeit zu geben, seinen Namen und seine Stellung vor der Welt zu behaupten. Das war schon schwer genug in den letzten Jahren; jetzt ist es vollends zur Unmöglichkeit geworden. Du kennst unsere Vermögensverhältnisse und weißt, welche Opfer uns die Verbannung gekostet hat. Es muß irgend etwas geschehen. Um meines Sohnes willen habe ich mich zu einem Schritte entschlossen, den ich für mich allein nie gethan hätte – erräthst Du, weshalb ich gerade C. zum Sommeraufenthalte wählte?“

„Nein, aber befremdet hat es mich. Das Gut Witold’s liegt nur zwei Stunden von hier entfernt und ich glaubte, daß Du diese Nähe eher zu vermeiden wünschest. Oder stehst Du neuerdings im Verkehr mit Waldemar?“

„Nein,“ sagte die Fürstin kalt. „Ich habe ihn nicht gesehen, seit wir damals nach Frankreich gingen, und seitdem kaum eine Zeile von ihm erhalten. Er hat in all den Jahren nicht nach der Mutter gefragt.“

„Aber die Mutter auch nicht nach ihm,“ warf der Graf hin.

„Sollte ich mich einer Zurückweisung, einer Demüthigung aussetzen?“ fragte die Fürstin etwas gereizt. „Dieser Witold hat mir von jeher feindselig gegenüber gestanden und seine unumschränkten Vormundschaftsrechte in verletzendster Weise gegen mich geltend gemacht. Ich bin machtlos ihm gegenüber.“

„Er hätte aber schwerlich gewagt, Dir jeden Verkehr mit Waldemar zu untersagen; dazu stehen die Rechte einer Mutter denn doch zu hoch, wenn Du sie nur mit Deiner gewöhnlichen Entschiedenheit geltend gemacht hättest. Das ist aber, meines Wissens, nie geschehen, denn – sei aufrichtig, Jadwiga! – Du hast Deinen ältesten Sohn nie geliebt.“

Jadwiga erwiderte nichts auf den Vorwurf. Sie stützte schweigend den Kopf in die Hand.

„Ich begreife es, daß er nicht die erste Stelle in Deinem Herzen einnimmt,“ fuhr der Graf fort. „Er ist der Sohn eines ungeliebten, Dir aufgedrungenen Gatten, die Erinnerung an eine Ehe, die Dich noch jetzt mit Bitterkeit erfüllt; Leo ist das Kind Deines Herzens und Deiner Liebe –“

„Und sein Vater hat mir nie den geringsten Anlaß zu einer Klage gegeben,“ ergänzte die Fürstin mit Nachdruck.

Der Graf zuckte leicht die Achseln. „Du beherrschtest Baratowski aber auch vollständig. Doch davon ist jetzt nicht die Rede. Du hast einen Plan? Willst Du frühere halb vergessene Beziehungen wieder aufnehmen?“

„Ich will endlich einmal die Rechte geltend machen, deren mich Nordeck’s Testament beraubte, dieses unselige Testament, in dem der Haß gegen mich jede Zeile dictirt hatte, das die Wittwe wie die Mutter gleich rechtlos machte. Es bestand bisher in voller Kraft, aber es spricht Waldemar auch mit dem einundzwanzigsten Jahre mündig. Er hat kürzlich dieses Alter erreicht und ist somit Herr seines Willens. Ich will doch sehen, ob er es darauf ankommen läßt, daß seine Mutter bei ihren Verwandten eine Zuflucht suchen muß, während er zu den reichsten Grundbesitzern des Landes zählt und es ihm nur ein Wort kostet, mir und seinem Bruder auf einem der Güter eine standesmäßige Existenz zu sichern.“

Morynski schüttelte zweifelnd den Kopf. „Du rechnest auf Kindesgefühle bei diesem Sohne? Ich fürchte, Du täuschest Dich. Seit seiner frühesten Jugend ist er Dir entfremdet, und man hat ihn schwerlich gelehrt, die Mutter zu lieben. Ich habe ihn nur als Knaben gesehen und damals den allerungünstigsten Eindruck von ihm empfangen. Eines aber weiß ich mit Bestimmtheit, fügsam war er nicht.“

„Auch ich weiß es,“ versetzte die Fürstin mit vollkommener Ruhe. „Er ist der Sohn seines Vaters, wie dieser roh, unbändig, unempfänglich für alles Höhere. Schon als Knabe glich er ihm Zug für Zug, und was die Natur gab, wird die Erziehung bei solch einem Vormunde, wie Witold, wohl vollendet haben. Ich täusche mich durchaus nicht über Waldemar’s Charakter, aber trotzdem wird er zu leiten sein. Untergeordnete Naturen fügen sich schließlich immer einer geistigen Ueberlegenheit, wenn man es nur versteht, sie in der rechten Weise geltend zu machen.“

„Konntest Du seinen Vater leiten?“ fragte der Bruder ernst.

„Du vergißt, Bronislaw, daß ich damals ein siebenzehnjähriges Mädchen ohne Erfahrung, ohne Menschenkenntniß war. Jetzt würde ich auch mit einem solchen Charakter fertig werden, und mir die Herrschaft über ihn zu sichern wissen. Bei Waldemar steht mir außerdem noch die mächtige Autorität der Mutter zur Seite. Er wird sich ihr beugen.“

Der Graf sah sehr ungläubig aus bei diesen mit großer Entschiedenheit gesprochenen Worten. Zu einer Erwiderung fand er keine Zeit, denn jetzt vernahm man im Vorzimmer einen leichten raschen Schritt. Die Thür wurde in stürmischer Eile geöffnet; ein junges Mädchen flog herein und lag in der nächsten Minute in den Armen Morynski’s, der aufgesprungen war und die Tochter mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit an seine Brust schloß.

Die Fürstin hatte sich gleichfalls erhoben. Es schien, als finde sie die gar zu stürmische Begrüßung von Seiten der jungen Dame nicht ganz in der Ordnung, indessen äußerte sie nichts, sondern wandte sich zu ihrem Sohne, der soeben eintrat.

„Ihr seid sehr lange ausgeblieben, Leo. Wir warten bereits seit einer Stunde auf Eure Rückkehr.“

„Verzeihung, Mama! Der Sonnenuntergang auf dem Meere war so schön, daß wir auch nicht eine Minute davon verlieren mochten.“

Mit diesen Worten trat Leo Baratowski zu seiner Mutter. Er war in der That noch sehr jung, vielleicht siebenzehn oder achtzehn Jahre alt; es bedurfte nur eines Blickes in sein Gesicht, um dort die Züge der Fürstin wiederzuerkennen. Die Aehnlichkeit war so auffallend, wie sie nur zwischen Mutter und Sohn möglich ist, und doch trug der jugendliche schöne Kopf des Letzteren, mit dem dunkeln leicht gelockten Haare ein durchaus anderes Gepräge. Es fehlte der kalte, strenge Ausdruck darin. Hier war alles Feuer und Leben; in den dunkeln Augen flammte die volle Leidenschaftlichkeit eines heißen, noch ungezügelten Temperamentes, und die ganze Erscheinung war ein solches Bild von Jugendkraft und Jugendschönheit, daß man den Stolz begriff, mit dem die Fürstin jetzt die Hand ihres Sohnes nahm, um ihn dem Oheim zuzuführen.

„Leo hat keinen Vater mehr,“ sagte sie ernst. „Ich rechne auf Dich, Bronislaw, wo ihm der Rath und die Führung eines Mannes in seiner Laufbahn nothwendig ist.“

Der Graf ließ seinem Neffen eine herzliche, warme, aber weit ruhigere Umarmung zu Theil werden, als vorhin der Tochter. Das Wiedersehen mit ihr schien für jetzt alle anderen Empfindungen bei ihm in den Hintergrund zu drängen. Seine Blicke kehrten immer wieder zu dem jungen Mädchen zurück, das in dem Jahre, wo er es nicht gesehen, die Kindheit fast völlig abgestreift hatte.

Wanda glich ihrem Vater nicht im Mindesten. Die Aehnlichkeit, die bei Leo und seiner Mutter so auffallend hervortrat, fehlte hier gänzlich zwischen Vater und Tochter. Die junge Gräfin Morynska war überhaupt ein durchaus eigenartiges Wesen. Die feine graciöse Gestalt gehörte noch halb dem Kinde an, und hatte sich augenscheinlich noch nicht zu ihrer vollen Höhe entwickelt, auch die Züge des Gesichtes waren noch halb kindlich, obgleich sie bereits den Ausspruch der Fürstin Baratowska rechtfertigten. [443] Etwas bleich war dieses Gesicht, dessen Wangen nur ein leiser Schimmer von Röthe färbte, aber die Blässe hatte nichts Krankhaftes, und beeinträchtigte nicht im Mindesten den Eindruck vollster Jugendfrische. Das reiche tiefschwarze Haar ließ die Weiße der Hautfarbe noch mehr hervortreten, und unter langen schwarzen Wimpern bargen sich dunkle, feuchtschimmernde Augen. Wanda versprach in der That, dereinst schön zu werden, für den Augenblick war sie es freilich noch nicht, dafür besaß sie aber jenen eigenthümlichen Reiz, der manchen Mädchengestalten gerade dann eigen ist, wenn sie auf der Grenze zwischen Kind und Jungfrau stehen. Es war eine reizende Mischung von dem Muthwillen und der Unbefangenheit des Kindes mit dem Ernste der jungen Dame, die sich bei jeder Gelegenheit ihrer sechszehn Jahre erinnert, und der Schmelz der ersten Jugend, der erst halberschlossenen Knospe, der wie ein duftiger Hauch auf der ganzen Erscheinung ruhte, machte sie doppelt anziehend.

Die erste Aufregung des Wiedersehens war vorüber und das Gespräch lenkte nun in ruhigere Bahnen. Graf Morynski hatte seine Tochter neben sich auf einen Sessel niedergezogen und machte ihr scherzend Vorwürfe über ihre verspätete Rückkehr.

„Ich wußte ja nichts von Deiner Ankunft, Papa,“ vertheidigte sich Wanda. „Und dann hatte ich auch ein Abenteuer im Walde –“

„Im Walde?“ unterbrach sie die Fürstin. „Warst Du denn nicht mit Leo auf dem Meere?“

„Nur auf der Rückfahrt, liebe Tante. Wir wollten, wie verabredet, nach dem Buchenholm segeln; Leo meinte, der Weg zur See dorthin sei weit näher als der Fußpfad durch den Wald. Ich behauptete das Gegentheil; wir stritten eine Weile darüber und beschlossen endlich, uns gegenseitig den Beweis zu liefern. Leo segelte allein ab, und ich schlug den Waldweg ein.“

„Auf dem Du denn auch richtig den Buchenholm erreichtest, als ich bereits eine halbe Stunde dort war,“ triumphirte Leo.

„Ich hatte mich verirrt,“ erklärte die junge Dame mit großer Bestimmtheit. „Und ich wäre vielleicht noch im Walde, wenn man mich nicht zurecht gewiesen hätte.“

„Wer wies Dich zurecht?“ fragte der Graf.

Wanda lachte muthwillig. „Ein Waldgeist! Eins von den alten Hünengespenstern, die zu Zeiten hier umgehen sollen! Aber Du darfst mich jetzt nicht mehr fragen, Papa. Leo brennt vor Begierde, es zu erfahren; er hat mich während der ganzen Rückfahrt mit seinen Fragen gequält, und deshalb erfährt er auch nicht eine Silbe davon.“

„Erfindung!“ rief Leo lachend. „Ein Vorwand, um Deine verspätete Ankunft zu erklären. Du würdest eher ein ganzes Märchen erfinden, als zugeben, daß ich diesmal Recht hatte.“

Wanda war im Begriff, die Neckerei zurückzugeben, als die Fürstin sich einmischte. „Vorwand oder nicht!“ sagte sie scharf. „Jedenfalls war dieser einsame und eigenmächtige Spaziergang im höchsten Grade unpassend. Ich hatte Dir die Erlaubniß gegeben, in Leo’s Begleitung eine kurze Meerfahrt zu machen, und ich begreife nicht, wie er Dich stundenlang im Walde allein lassen konnte.“

„Wanda wollte es durchaus,“ entschuldigte sich Leo. „Sie wünschte unseren Streit hinsichtlich des Weges entschieden zu sehen.“

„Jawohl, liebe Tante, ich wollte es,“ die junge Dame legte einen so entschiedenen Nachdruck auf das Wort, wie sie es schwerlich gewagt haben würde, ohne die schützende Nähe des Vaters, „und da wußte Leo sehr gut, daß es ganz vergeblich gewesen wäre, mich zurück zu halten.“

Die Miene der Fürstin zeigte deutlich, daß sie es wieder einmal für nöthig hielt, dem Eigenwillen ihrer Nichte mit vollster Strenge entgegenzutreten. Sie war im Begriff, eine sehr ernste Rüge auszusprechen, als ihr Bruder ihr zuvorkam.

„Du erlaubst wohl, daß ich Wanda mit mir nehme?“ sagte er, rasch einfallend. „Ich fühle mich doch etwas ermüdet von der Reise und möchte mich auf mein Zimmer zurückziehen. Auf Wiedersehen also!“ Damit stand er auf, nahm den Arm seiner Tochter und verließ mit ihr das Zimmer.

„Der Onkel scheint ganz und gar hingerissen zu sein von Wanda’s Anblick,“ bemerkte Leo, als die Beiden verschwunden waren. Die Fürstin sah ihnen schweigend nach. „Er wird sie verziehen,“ sagte sie endlich halblaut. „Er wird sie mit derselben blinden Vergötterung umfassen, wie einst ihre Mutter, und Wanda wird bald genug ihre Macht kennen und brauchen lernen. Das war es, was ich fürchtete bei dieser Rückkehr zum Vater. Schon die erste Stunde zeigt, daß ich Recht hatte. – Was ist das mit diesem Abenteuer im Walde, Leo?“

Der Gefragte zuckte die Achseln. „Ich weiß es nicht. Vermuthlich wieder eine von Wanda’s Neckereien. Sie machte mich zuerst mit allerlei Andeutungen neugierig, um mir dann hartnäckig jede Auskunft zu verweigern und sich an meinem Aerger zu ergötzen. Du kennst ja ihre Art.“

„Jawohl, ich kenne sie.“ Auf der Stirn der Fürstin lag eine leichte Falte. „Wanda liebt es nun einmal, mit Allen zu spielen, Alle, die in ihre Nähe kommen, ihren Muthwillen fühlen zu lassen. Du solltest ihr das nicht so leicht machen, Leo, wenigstens so weit es Dich betrifft.“

Der junge Fürst erröthete bis an die Stirn. „Ich, Mama? Ich bin ja oft genug im Streit mit Wanda.“

„Und läßt Dich trotzdem am Gängelband ihrer Launen leiten, wie und wohin es ihr beliebt. Laß’ das gut sein, mein Sohn! Ich weiß, wer bei Euren Streitigkeiten schließlich triumphirt – doch das sind für jetzt noch Kindereien. Ich wollte etwas Ernstes mit Dir besprechen; schließe die Balconthür und komme hierher an meine Seite!“

Leo gehorchte, sein Gesicht verrieth, daß er verletzt war, vielleicht weniger durch die eben empfangene Zurechtweisung als durch den Ausdruck „Kindereien“.

Die Fürstin nahm jedoch nicht die geringste Notiz von seiner Stimmung.

„Du weißt,“ begann sie, „daß ich bereits einmal vermählt war, ehe ich Deinem Vater meine Hand reichte, und daß ein Sohn aus dieser ersten Ehe existirt. Du weißt auch, daß er in Deutschland erzogen wurde, hast ihn aber bisher noch niemals gesehen. Das wird jetzt geschehen. Du wirst ihn kennen lernen.“

Leo fuhr mit dem Ausdruck der lebhaftesten Ueberraschung empor. „Meinen Bruder Waldemar?“

„Waldemar Nordeck, ja!“ Der Nachdruck, den die Fürstin auf den Namen legte, enthielt einen vielleicht unbeabsichtigten, aber ganz entschiedenen Protest gegen jede Zusammengehörigkeit dieses Nordeck mit einem Baratowski. „Er lebt hier in der Nähe auf dem Gute seines Vormundes. Ich habe ihn von unserem Hiersein Nachricht gegeben und erwarte ihn in diesen Tagen.“

Leo’s früherer Uebermuth war verflogen. Der Gegenstand des Gespräches interessirte ihn augenscheinlich auf’s Höchste.

„Mama,“ sagte er zögernd, „darf ich nicht endlich Näheres über diese düsteren Familiengeschichten erfahren? Ich weiß nur, daß Deine erste Ehe eine unglückliche war, daß Du mit Waldemar’s Verwandten und seinem Vormunde gänzlich zerfallen bist, und auch das weiß ich nur aus den Andeutungen des Onkels und der alten Diener unseres Hauses. An Dich und den Vater habe ich nie eine Frage über diesen Punkt gewagt. Ich sah, daß sie ihn verletzte und Dich erzürnte. Ihr schient Beide jede Erinnerung daran verbannen zu wollen.“

In dem Antlitze der Fürstin lag ein seltsamer Ausdruck von Härte, und dieselbe Härte klang auch in ihrer Stimme, als sie erwiderte:

„Gewiß! Demüthigung und Erniedrigung deckt man am besten mit Vergessenheit, und an beiden ist jene unselige Verbindung überreich gewesen. Frage mich jetzt nicht danach, Leo! Du kennst die Ereignisse – laß’ Dir daran genügen! Ich kann und will Dich nicht Schritt für Schritt in ein Familiendrama einführen, an das ich noch jetzt nicht denken kann, ohne daß der Haß gegen einen Todten sich in mir regt. Ich dachte diese drei Jahre gänzlich aus meinem Leben zu streichen und ahnte nicht, daß ich dereinst selbst gezwungen sein werde, sie wieder hervorzurufen.“

„Und wer zwingt Dich dazu?“ fragte Leo rasch. „Doch nicht etwa unsere Rückkehr? Wir gehen jedenfalls nach Rakowicz zum Onkel.“

„Nein, mein Sohn, wir gehen nach Wilicza.“

„Wilicza?“ wiederholte Leo befremdet. „Das ist ja – Waldemar’s Herrschaft.“

„Es wäre mein Wittwensitz gewesen, ohne jenes Testament, das mich verstieß,“ sagte die Fürstin schneidend. „Jetzt ist es [444] das Eigenthum meines Sohnes – es wird wohl für seine Mutter Platz darauf sein.“

Leo trat mit ungestümer Bewegung einen Schritt zurück. „Was heißt das?“ rief er heftig. „Willst Du Dich vor diesem Waldemar zu einer Bitte erniedrigen? Ich weiß, daß wir arm sind, aber eher will ich alles ertragen, alles entbehren, ehe ich zugebe, daß Du um meinetwillen –“

Die Fürstin erhob sich plötzlich. Ihr Blick und ihre Haltung waren so gebietend, daß der Sohn mitten in seinem leidenschaftlichen Proteste verstummte.

„Hältst Du Deine Mutter für fähig, sich zu erniedrigen?“ fragte sie. „Kennst Du sie so wenig? Ueberlaß’ es mir, mein Sohn, meine und Deine Stellung zu wahren! Du brauchst mir wahrlich nicht die Grenze zu ziehen, bis zu der ich gehen darf. Ich kenne sie allein.“

Leo schwieg und sah zu Boden. Die Mutter trat ihm näher und nahm seine Hand.

„Wird dieser Feuerkopf denn nie ruhig denken lernen?“ sagte sie milder. „Es wird ihm doch noch so nothwendig sein im Leben. Meinen Plan mit Waldemar werde ich allein ausführen. Du, mein Leo, sollst nichts von dem empfinden, was ihm vielleicht Bitteres für mich anhaftet. Du sollst den Blick frei behalten und den Muth ungebeugt für die Zukunft, die Deiner wartet. Das ist Deine Aufgabe; die meine ist es, Dir diese Zukunft zu sichern um jeden Preis. Vertraue Deiner Mutter!“

Sie zog den Sohn an sich, der wie in stummer Abbitte ihre Hand an seine Lippen drückte, und als sie sich jetzt niederbeugte, das schöne lebensvolle Antlitz zu küssen, da sah man, daß die kalte strenge Frau es doch wenigstens verstand, Mutter zu sein, und daß Leo, trotz der Strenge, mit der sie ihn behandelte, doch der Abgott dieser Mutter war.


„Thun Sie mir den Gefallen, Doctor, und hören Sie endlich einmal auf mit diesen ewigen Lamentationen! Ich sage Ihnen, der Junge ist nicht zu ändern. Ich habe es oft genug versucht; sechs Hofmeister haben mir nacheinander dabei geholfen. Wir konnte Alle nichts mit ihm ausrichten, und Sie können es erst recht nicht – also lassen Sie ihm seinen Willen!“

Es war der Gutsbesitzer Herr Witold auf Altenhof, der dem Erzieher seines Mündels im kräftigsten Tone diese Rede hielt. Die beiden Herren befanden sich in der großen Eckstube des Wohnhauses, deren Fenster der Hitze wegen weit geöffnet waren und deren ganzes Aussehen zeigte, daß ihr Bewohner Dinge wie Eleganz und Comfort für sehr überflüssig, wenn nicht gar für schädlich hielt. Die einfachen, zum Theil sehr alterthümlichen Möbel waren ohne die mindeste Rücksicht auf geschmackvolle oder auch nur passende Anordnung hier und dorthin geschoben, wie es gerade die augenblickliche Bequemlichkeit erforderte. An den Wänden hingen Flinten, Jagdgeräthschaften und Hirschgeweihe, gleichfalls ohne jede Wahl geordnet. Wo gerade Platz war, hatte man einen Nagel eingeschlagen und den betreffenden Gegenstand daran befestigt, unbekümmert darum, wie er sich ausnahm. Auf dem Schreibpult lagen Wirthschaftsrechnungen, Tabakspfeifen, Sporen und ein halbes Dutzend neuer Reitpeitschen bunt durcheinander. Die Zeitung befand sich auf dem Teppiche, der allerdings vorhanden war, wenigstens dem Namen nach, dessen Abwesenheit dem Zimmer aber jedenfalls zu größerer Zierde gereicht hätte, denn er zeigte deutliche Spuren davon, daß die großen Jagdhunde ihn als täglichen Ruheplatz erwählt hatten. Ueberhaupt stand und lag kein Ding an dem Platze, wohin es eigentlich gehörte, vielmehr jedes da, wo es gerade zuletzt gebraucht worden war und wo es nun für spätere Fälle liegen blieb. Von dem Kunstsinne des Bewohners gab nur ein einziger Gegenstand in dem Gemache ein freilich haarsträubendes Zeugniß, ein in den grellsten Farben colorirtes Jagdstück, das über dem Sopha hing und dort an der Hauptwand den Ehrenplatz behauptete.

Der Gutsherr saß in seinem Lehnstuhl am Fenster, ganz umlagert von mächtigen Tabakswolken, die er aus seiner Meerschaumpfeife blies. Er war ein angehender Sechsziger, sah aber trotz seiner weißen Haare noch verhältnißmäßig jugendlich aus und stand jedenfalls noch in der Fülle der Kraft und Gesundheit. Die Gestalt von bedeutender Größe zeigte einen ebenso bedeutenden Körperumfang; das etwas geröthete Gesicht verrieth nicht allzu viel Intelligenz, dagegen trug es einen unverkennbaren Ausdruck von Gutmüthigkeit. Der Anzug, ein Gemisch von Haus- und Jagdcostüm, war ziemlich nachlässig, und die urkräftige Gestalt mit ihrer urkräftigen Stimme bildete denn schärfsten Gegensatz zu der vor ihr stehenden schmächtigen Figur des Erziehers.

Der Doctor mochte im Anfange der dreißiger Jahre sein; er war von mittlerer Größe, aber seine gebückte Haltung ließ ihn klein erscheinen. Das Gesicht war nicht gerade unschön, aber es trug zu deutlich den Ausdruck der Kränklichkeit und einer gedrückten Lebensstellung, um anziehend zu erscheinen. Seine Farbe war bleich und ungesund, die Stirn gefaltet, und die Augen hatten jenen zerstreuten unsichern Blick, der Leuten eigen ist, die selten oder nie mit ihren Gedanken ganz bei der Wirklichkeit sind. Der schwarze Anzug zeigte die peinlichste Sorgfalt, und das ganze Wesen des Mannes hatte etwas Schüchternes, Aengstliches, das sich auch in seiner Stimme verrieth, als er leise antwortete:

„Sie wissen, Herr Witold, daß ich mich nur im äußersten Nothfalle an Sie wende. Diesmal aber muß ich Ihre Autorität in Anspruch nehmen. Ich weiß nicht mehr aus noch ein.“

„Was hat denn Waldemar schon wieder angestiftet?“ fragte der Gutsherr ärgerlich. „Daß er unbändig ist, weiß ich so gut wie Sie, da kann ich Ihnen aber nicht helfen. Mir ist der Junge längst über den Kopf gewachsen; er parirt keinem Menschen mehr, auch mir nicht. – Daß er vor Ihren Büchern davonläuft und sich lieber auf der Jagd herumtreibt – pah, ich habe es in meiner Jugend auch nicht besser gemacht. Mir wollte der Gelehrtenkram auch nicht recht in den Kopf. Daß er keine Manieren hat – ist auch gar nicht nothwendig. Wir leben hier ganz unter uns, und wenn wir einmal mit den Nachbarn zusammenkommen, geht es auch ungenirt genug zu. Das wissen Sie doch am besten, Doctor. Sie nehmen ja immer Reißaus vor unseren Jagd- und Trinkgesellschaften.“

„Aber bedenken Sie doch,“ wendete der Erzieher ein, „wenn Waldemar mit seinem unbändigen Wesen später in andere Lebenskreise tritt, wenn er sich dereinst verheirathet –“

„Verheirathet?“ rief Witold förmlich beleidigt von dieser Voraussetzung. „Er wird doch nicht! Wozu braucht er zu heirathen? Ich bin Junggeselle geblieben und befinde mich wohl dabei, und der selige Nordeck hätte auch besser daran gethan, wenn er ledig geblieben wäre. Nun, mit unserm Waldemar hat es Gott sei Dank keine Noth – der läuft vor Allem, was Frauenzimmer heißt, und daran thut er recht.“

Er lehnte sich mit sehr zufriedener Miene in seinem Stuhl zurück. Der Doctor trat einen Schritt näher.

[461] „Um nun aber wieder auf den Anfang unseres Gespräches zurückzukommen –“ sagte er zögernd. „Sie geben es ja selbst zu, daß mein Zögling mir völlig entwachsen ist, und es dürfte somit wohl die höchste Zeit sein, ihn auf die Universität zu senden.“

Herr Witold fuhr mit einem Rucke in die Höhe, daß der Erzieher den eben gethanen Schritt zur Annäherung schleunigst wieder zurückthat.

„Dachte ich es doch, daß wieder so etwas herauskommen würde! Seit vier Wochen höre ich nichts Anderes von Ihnen. Was soll Waldemar auf der Universität? Sich von den Professoren den Kopf noch mehr mit Gelehrsamkeit vollpfropfen lassen? Ich dächte, das hätten Sie schon hinlänglich besorgt. Was ein tüchtiger Gutsherr braucht, hat er gelernt. Er weiß auf Hof und Feldern genau so gut Bescheid, wie mein Inspector; die Leute versteht er besser in Respect zu halten als ich, und im Reiten und auf der Jagd thut es ihm Keiner zuvor. ’s ist ein Prachtjunge.“

Der Erzieher schien diese enthusiastische Ansicht über seinen Zögling durchaus nicht zu theilen. Er wagte das nun freilich nicht laut werden zu lassen, aber er raffte seinen ganzen, offenbar nicht großen Vorrath von Muth zu einer schüchternen Gegenrede zusammen.

„Aber für den Erben von Wilicza dürfte doch am Ende mehr nothwendig sein, als nur die Eigenschaften eines guten Inspectors oder Administrators. Mir scheint, eine höhere akademische Bildung dringend wünschenswerth.“

„Mir ganz und gar nicht,“ rief Herr Witold. „Ist es nicht genug, daß ich den Jungen, der mir an’s Herz gewachsen ist, doch später von mir lassen muß, weil seine Güter gerade in dem verwünschten Polakenlande liegen? Soll ich mich jetzt schon von ihm trennen, um ihn auf die Universität zu schicken, wohin er durchaus nicht will? Daraus wird nichts – absolut nicht! Er bleibt hier, bis er nach Wilicza geht.“

Er that einige so grimmige Züge aus seiner Pfeife, daß sein Gesicht für mehrere Minuten gänzlich hinter den Tabakswolken verschwand. Der Erzieher stieß einen Seufzer aus und schwieg, aber gerade diese stille Resignation schien den tyrannischen Gutsherrn zu rühren.

„Geben Sie sich nur zufrieden, Doctor, mit der Universität!“ sagte er in ganz verändertem Tone. „Dazu bringen Sie den Waldemar doch nun und nimmermehr, und für Sie ist es auch viel besser, Sie bleiben hier in Altenhof. Hier sitzen Sie so recht mitten unter Ihren Hünengräbern und Runensteinen und wie das Zeug alles heißt, an dem Sie den ganzen Tag herumstudiren. Ich begreife freilich nicht, was Sie an dem alten Heidengerümpel Merkwürdiges finden, aber eine Freude muß der Mensch haben, und Ihnen gönne ich sie von Herzen, denn Waldemar macht Ihnen oft genug das Leben schwer – und ich dazu.“

Der Doctor machte eine verlegen abwehrende Bewegung. „O, Herr Witold!“

„Geniren Sie sich nicht!“ sagte dieser gutmüthig. „Ich weiß ja doch, daß Sie im Grunde unser Leben hier für eine ganz heillose Wirthschaft halten, und uns längst davon gelaufen wären, wie Ihre sechs Vorgänger, wenn nicht das alte Heidengerümpel wäre, an dem nun einmal Ihr ganzes Herz hängt, und von dem Sie sich nicht trennen können. Nun, Sie wissen ja, ich bin nicht so schlimm, wenn ich auch hin und wieder einmal auffahre, und da Sie mit Ihren Gedanken doch fortwährend in der Heidenzeit herumstöbern, müßte Ihnen eigentlich bei uns am wohlsten sein. Wie ich mir habe sagen lassen, hatten die Leute damals gar keine Manieren; sie schlugen sich oft aus reiner Freundschaft unter einander todt.“

Dem Doctor schienen die historischen Kenntnisse, die der Gutsherr entwickelte, doch wohl etwas bedenklicher Natur; vielleicht fürchtete er auch eine praktische Anwendung derselben auf seine eigene Person, denn er retirirte unmerklich nach dem Sopha.

„Verzeihen Sie, die alten Germanen –“

„Waren nicht wie Sie, Doctor,“ rief der Gutsherr, dem das Manöver nicht entgangen war, überlaut lachend. „So viel weiß ich auch noch. Ich glaube, von uns Allen kommt ihnen Waldemar am nächsten, also begreife ich gar nicht, was Sie eigentlich an ihm auszusetzen haben.“

„Aber, Herr Witold, im neunzehnten Jahrhundert – weiter kam der Doctor nicht in seiner Auseinandersetzung, denn in diesem Augenblicke krachte ein Schuß, der unmittelbar vor dem offenen Fenster abgefeuert wurde. Die Kugel pfiff durch das Zimmer, und das große Hirschgeweih, das über dem Schreibpulte hing, stürzte polternd herab.

Der Gutsherr sprang von seinem Sitze auf. „Waldemar! Was soll das heißen? Schießt uns der Junge jetzt etwa gar noch in die Stube hinein? Wart’, das Handwerk werde ich Dir legen.“

Er wollte hinauseilen, wurde aber durch den Eintritt eines [462] jungen Mannes daran verhindert, der die Thür öffnete oder sie vielmehr aufstieß, um sie dann in der rücksichtslosesten Weise wieder in’s Schloß fallen zu lassen. Er war im Jagdanzuge, hatte einen großen Jagdhund neben sich und die abgeschossene Flinte in der Hand. Ohne Gruß, ohne Entschuldigung wegen seines gewaltsamen Auftretens, ging er auf Witold zu, stellte sich dicht vor ihn hin und sagte triumphirend:

„Nun, wer hat Recht? Du oder ich?“

Der Gutsherr war wirklich zornig. „Ist das eine Art, den Leuten über die Köpfe wegzuschießen?“ rief er hitzig. „Man ist ja vor Dir seines Lebens nicht mehr sicher. Willst Du den Doctor und mich durchaus aus der Welt schaffen?“

Waldemar zuckte die Achseln. „Warum nicht gar! Meine Wette wollte ich gewinnen. Du behauptetest ja gestern, ich würde von draußen den Nagel nicht treffen, an dem der Zwölfender hängt – da sitzt die Kugel.“

Er wies nach der Wand hinauf. Witold folgte der Richtung.

„Wahrhaftig, da sitzt sie,“ sagte er voll Bewunderung und gänzlich versöhnt. „Doctor, sehen Sie nur, aber was ist Ihnen denn?“

„Herr Doctor Fabian hat wahrscheinlich wieder seine Nervenzufälle,“ sprach Waldemar höhnisch, indem er seine Flinte bei Seite stellte, aber keine Miene machte, seinem Lehrer beizustehen, der halbohnmächtig von dem Schreck in das Sopha zurückgesunken war und noch an Händen und Füßen zitterte. Der gutmüthige Witold richtete ihn auf und redete ihm nach Kräften zu.

„Erholen Sie sich doch! Wer wird denn gleich ohnmächtig werden, weil ein wenig Pulver verknallt ist; die Geschichte ist ja nicht der Rede werth. Es ist wahr, wir hatten gewettet, aber wie konnte ich denn wissen, daß der Junge die Sache auf so unvernünftige Weise in’s Werk setzen würde. Anstatt uns hinauszurufen, damit wir in aller Ruhe zusehen können, feuert er uns ohne Weiteres in die Stube hinein. – Ist Ihnen nun besser? Gott sei Dank!“

Doctor Fabian war aufgestanden und bemühte sich, sein Zittern zu beherrschen, es wollte ihm aber noch nicht gelingen.

„Sie hätten uns erschießen können, Waldemar!“ sagte er mit bleichen Lippen.

„Nein, Herr Doctor, das hätte ich nicht thun können,“ versetzte Waldemar in wenig ehrerbietigem Tone. „Sie standen mit dem Onkel vor dem Fenster zur Rechten, und ich schoß durch das zur Linken, mindestens fünf Schritt seitwärts. Sie wissen doch, ich fehle nie.“

„Künftig aber läßt Du das bleiben,“ erklärte Witold, mit einem Versuche, die Autorität des Vormundes geltend zu machen. „Der Kukuk kann doch einmal mit solcher Kugel sein Spiel treiben, und dann ist das Unglück fertig. Ich verbiete Dir einfür allemal das Schießen auf dem Hofe.“

Der junge Mann schlug trotzig die Arme übereinander. „Das kannst Du, Onkel, aber gehorchen thue ich nicht. Ich schieße doch.“

Er stand vor seinem Pflegevater wie das verkörperte Bild des Trotzes und der Unbändigkeit. Waldemar Nordeck zeigte in seinem Aeußeren den echt germanischen Typus, auch nicht der kleinste Zug erinnerte daran, daß die Mutter einem anderen Volke entstammte. Der hohe, fast riesige Wuchs überragte selbst die stattliche Gestalt Witold’s noch um einige Zoll, aber dem Körper fehlte das Ebenmaß; jede Linie trat scharf und eckig hervor. Das blonde Haar schien in seiner überreichen Fülle eher eine Last für den Kopf zu sein, denn es fiel tief in die Stirn herab und wurde von Zeit zu Zeit mit einer ungeduldigen Bewegung zurückgeworfen. Die blauen Augen hatten einen finsteren Ausdruck, und in Momenten der Gereiztheit, wie jetzt, gewann der Blick sogar etwas Feindseliges. Das Gesicht war entschieden unschön, auch hier zeigte sich jede Linie scharf, unvermittelt – nichts mehr von den weicheren Formen des Knaben, aber auch noch nichts von den festen Zügen des Mannes, der Uebergang trat hier in fast abstoßender Gestalt auf, und die Verwilderung, die sich schon in dem Aeußern des jungen Mannes kund gab, die gänzliche Hintenansetzung aller Formen, diente nicht dazu, den ungünstigen Eindruck zu verwischen, den die ganze Erscheinung machte.

Herr Witold gehörte offenbar zu jenen Menschen, deren Persönlichkeit und Auftreten eine Energie voraussetzen läßt, von der sie in Wirklichkeit auch nicht das Geringste besitzen. Anstatt dem Trotze und der Ungezogenheit seines Mündels in entschiedener Weise entgegenzutreten, fand der Herr Vormund es für gut, nachzugeben.

„Ich sagte es Ihnen ja, Doctor, der Junge parirt auch mir nicht mehr,“ meinte er mit einer Gemüthsruhe, die da zeigte, daß dies der gewöhnliche Ausgang solcher Differenzen war, und daß, wenn es dem jungen Herrn beliebte, einmal Ernst zu machen, der Pflegevater ebenso machtlos war, wie der Erzieher.

Waldemar kümmerte sich um Beide nicht weiter. Er warf sich der Länge nach auf das Sopha, ohne die mindeste Rücksicht darauf zu nehmen, daß seine vom Sumpfwasser durchnäßten Stiefeln in Berührung mit den Polstern kamen, während der große Jagdhund, der jedenfalls im Wasser gewesen war, dem Beispiele seines Herrn folgte und es sich mit der gleichen Rücksichtslosigkeit auf dem Teppiche bequem machte.

Es entstand jetzt eine etwas unbehagliche Pause. Der Gutsherr versuchte brummend seine inzwischen ausgegangene Pfeife wieder in Brand zu setzen, Doctor Fabian aber hatte sich an das Fenster geflüchtet und schickte einen Blick zum Himmel, der deutlicher als Worte aussprach, daß er das Leben hier wirklich für eine „heillose Wirthschaft“ erachtete.

Der Gutsherr hatte inzwischen nach seinem Tabaksbeutels gesucht, den er denn auch richtig auf dem Schreibpulte unter den Sporen und Reitpeitschen entdeckte. Im Begriffe, ihn hervorzuziehen, fiel ihm ein noch uneröffnetes Schreiben in die Hand; er nahm es auf.

„Das hätte ich beinahe vergessen! Waldemar, da ist ein Brief an Dich.“

„An mich?“ fragte Waldemar gleichgültig, aber doch mit jener Verwunderung, die ein ungewöhnliches Ereigniß hervorruft.

„Jawohl. Eine Krone im Siegel und ein großes Schild mit allerhand Wappengethier. Wird wohl von der Fürstin Baratowska sein. Es ist freilich lange her, seit wir mit einem allergnädigsten Handschreiben beehrt wurden.“

Der junge Nordeck erbrach den Brief und durchflog ihn. Er schien nur wenige Zeilen zu enthalten, aber trotzdem stieg auf der Stirn des Lesenden so etwas wie eine Wetterwolke auf.

„Nun, was giebt es?“ fragte Witold. „Sitzt die Verschwörergesellschaft noch immer in Paris? Ich habe den Poststempel nicht angesehen.“

„Die Fürstin ist mit ihrem Sohne drüben in C.,“ berichtete Waldemar; er schien die Bezeichnung Mutter und Bruder absichtlich zu vermeiden. „Sie wünscht mich dort zu sehen; ich werde morgen hinüberreiten.“

„Das wirst Du bleiben lassen,“ sagte der Gutsherr. „Hat sich die hochfürstliche Verwandtschaft jahrelang nicht um Dich gekümmert, so braucht sie es auch jetzt nicht zu thun. Wir fragen wahrhaftig nichts danach – Du bleibst hier.“

„Onkel, jetzt ist es genug mit dem ewigen Befehlen und Verbieten,“ brach Waldemar auf einmal mit solcher Wildheit los, daß Jener ihn mit offenem Munde anstarrte. „Bin ich ein Schulknabe, der bei jedem Schritte erst um Erlaubniß fragen muß? Habe ich mit einundzwanzig Jahren nicht einmal das Recht, selbst über die Zusammenkunft mit meiner Mutter zu entscheiden? Ich habe bereits darüber entschieden, und morgen früh reite ich nach C.“

„Nun, nun, nur nicht gleich so bärenwüthig!“ sagte Witold, mehr erstaunt als erzürnt über diesen plötzlichen Ausbruch eines Jähzorns, den er sich gar nicht erklären konnte. „Meinetwegen reite, wohin Du willst! Ich will nichts mit der Polengesellschaft zu thun haben, das sage ich Dir.“

Waldemar hüllte sich in trotziges Schweigen; er nahm seine Flinte, pfiff seinem Hunde und verließ das Zimmer. Der Vormund sah ihm kopfschüttelnd nach, auf einmal aber schien ihm ein Gedanke zu kommen. Er nahm den Brief, den Waldemar achtlos auf dem Tische hatte liegen lassen, und las ihn gleichfalls durch. Jetzt war es Herr Witold, der bei der Lectüre die Stirn runzelte und bei dem schließlich ein Ungewitter losbrach.

„Dachte ich es doch!“ rief er, mit der Faust auf den Tisch schlagend. „Das sieht der Frau Fürstin ähnlich. In sechs Zeilen stachelt sie den Jungen zur Empörung gegen mich auf; [463] darum also wurde er auf einmal so aufsässig. Hören Sie nur, Doctor, die saubere Epistel:

‚Mein Sohn! Es sind Jahre vergangen, ohne daß ich ein Lebenszeichen von Dir erhalten habe.‘ Als ob sie uns eins gegeben hätte!“ schob der Lesende ein. „‚Ich weiß nur durch Fremde, daß Du noch auf Altenhof bei Deinem Vormunde lebst. Ich befinde mich augenblicklich in C., und es würde mich sehr freuen, wenn ich Dich dort sehen und Dir Deinen Bruder zuführen könnte. Ich weiß nun freilich nicht‘ – geben Sie Acht, Doctor, jetzt kommt der Stachel! – ‚ob Du die nöthige Freiheit zu diesem Besuche hast. Wie ich höre, bist Du trotz Deiner inzwischen eingetretenen Mündigkeit noch gänzlich von dem Willen Deines Vormundes abhängig.‘ Doctor, Sie sind Zeuge davon, wie der Junge uns Beide Tag für Tag maltraitirt. ‚An Deiner Bereitwilligkeit, zu kommen, zweifle ich nicht, wohl aber an der Erlaubniß dazu von Seiten des Herrn Witold. Ich habe es dennoch vorgezogen, mich an Dich zu wenden, und ich werde ja sehen, ob Du so viel Selbstständigkeit besitzest, um diesen Wunsch Deiner Mutter, den ersten, den sie Dir ausspricht, zu erfüllen, oder ob Du ihr selbst diese Bitte nicht gewähren darfst.‘ Das ‚darfst‘ ist unterstrichen. ‚Im ersteren Falle erwarte ich Dich in diesen Tagen und schließe den Grüßen Deines Bruders die meinigen bei. Deine Mutter.‘“

Herr Witold war so erbost, daß er den Brief auf den Fußboden schleuderte. „Und so etwas muß man nun lesen! Meisterhaft ausgedacht von der Frau Mutter. Sie weiß so gut wie ich, welch ein Eisenkopf Waldemar ist, und wenn sie ihn jahrelang studirt hätte, sie könnte ihn nicht besser an seiner schwachen Seite fassen. Der bloße Gedanke, daß ihm Zwang geschehen könnte, bringt ihn außer sich. Jetzt mag ich Himmel und Erde in Bewegung setzen, um ihn zu halten, er wird doch gehen, blos um zu zeigen, daß er seinen eigenen Willen hat. – Was sagen Sie eigentlich zu der Geschichte?“

Doctor Fabian schien in die Familienverhältnisse hinlänglich eingeweiht zu sein und die bevorstehende Zusammenkunft mit dem gleichen Schrecken zu betrachten, wenn auch freilich aus anderen Gründen.

„Um Gotteswillen!“ sagte er ängstlich. „Wenn Waldemar auch in C. mit seinem gewöhnlichen unbändigen Wesen auftritt, wenn er der Frau Fürstin so vor die Augen kommt, was wird sie denken!“

„Daß er nach seinem Vater gerathen ist, und nicht nach ihr,“ war die nachdrückliche Antwort des Gutsherrn. „So, gerade so soll sie Waldemar sehen, dann wird es ihr wohl klar werden, daß er kein allzu gefügiges Werkzeug für ihre Intriguen abgiebt; denn daß da wieder Intriguen gesponnen werden, darauf will ich meinen Kopf verwetten. Entweder der hochfürstliche Geldbeutel ist leer – ich glaube, er ist nie allzu voll gewesen –, oder es soll wieder einmal eine kleine Staatsverschwörung in’s Werk gesetzt werden, und dazu liegt Wilicza so recht bequem, dicht an der Grenze. Was sie eigentlich mit meinem Jungen vorhaben, weiß der Himmel, aber ich werde schon dahinter kommen und ihm bei Zeiten die Augen öffnen.“

„Aber Herr Witold,“ mahnte der Doctor. „Wozu den unglücklichen Riß in der Familie noch mehr erweitern, jetzt wo die Mutter die Hand zur Versöhnung bietet! Wäre es denn nicht besser, endlich einmal Frieden zu schließen?“

„Das verstehen Sie nicht, Doctor,“ sagte Witold mit einer bei ihm ganz ungewöhnlichen Bitterkeit. „Mit der Frau ist kein Friede zu schließen, wenn man sich nicht willenlos ihrer Herrschsucht unterwirft, und weil der selige Nordeck das nicht that, hatte er Tag für Tag die Hölle im Hause. Nun, ich will ihn nicht gerade herausstreichen. Er hatte seine argen Fehler und konnte einem Weibe das Leben wohl schwer machen, aber das ganze Unglück kam doch daher, daß er gerade diese Morynska zur Frau nahm. Eine andere hätte ihn vielleicht lenken, vielleicht ändern können, aber freilich, ein wenig Herz hätte dazu gehört, und von dem Artikel hat Frau Jadwiga nie etwas aufweisen können. Herzlos ist sie von jeher gewesen und hochmüthig dazu. Nun, die sogenannte ‚Erniedrigung‘ der ersten Ehe ist ja durch die zweite wieder gut gemacht worden. Schade nur, daß die Frau Fürstin Baratowska mit Gemahl und Sohn nicht auf Wilicza residiren durfte. Das hat sie nie verwinden können, aber da hatte das Testament zum Glück einen Riegel vorgeschoben, und daß Waldemar nicht noch nachträglich eine Dummheit macht, dafür haben wir mit unserer Erziehung gesorgt.“

„Wir?“ rief der Doctor erschrocken. „Herr Witold, ich habe redlich meine Unterrichtsstunden gegeben, wie es mir vorgeschrieben war, auf das Wesen meines Zöglings habe ich leider nie den geringsten Einfluß üben können, sonst –“ er stockte.

„Wäre er anders geworden,“ ergänzte Witold lachend. „Nun, machen Sie sich keine Gewissensbisse darüber! Mir ist der Junge recht, so wie er nun einmal ist, trotz all seiner Wildheit. Wenn Sie also wollen, ich habe ihn erzogen; wenn das zu den intriguanten Plänen der Baratowski’s nicht stimmt, so soll es mich freuen, und wenn morgen meine Erziehung und ihre Pariser Bildung tüchtig aneinander gerathen, so soll es mich noch mehr freuen. Das ist doch wenigstens eine Revanche für die boshafte Epistel da.“

Mit diesen Worten ging der Gutsherr aus dem Zimmer. Der Doctor bückte sich nach dem Briefe, der noch immer auf dem Fußboden lag, hob ihn auf, legte ihn sorgfältig zusammen und sagte mit einem tiefen Seufzer:

„Und schließlich wird es doch heißen: Ein gewisser Doctor Fabian hat den jungen Erben erzogen. – O du gerechter Himmel!“


Die Herrschaft Wilicza, deren Erbe Waldemar Nordeck war, lag in einer der östlichen Provinzen des Landes und bestand aus einem sehr umfangreichen Gütercomplex, dessen Mittelpunkt das alte Schloß Wilicza mit dem Gute gleichen Namens bildete. Die Art, wie der verstorbene Nordeck in den Besitz dieser Herrschaft gelangt war, wie er schließlich die Hand einer Gräfin Morynska errungen hatte, bildete nur einen neuen Beitrag zu dem in unseren Tagen so oft wiederholten Schauspiele von dem Sinken alter, einst reicher und mächtiger Adelsfamilien und dem Emporsteigen neuer bürgerlicher Elemente, denen mit dem Reichthum auch die Macht zu Theil wurde, die jene einst als ihr ausschließliches Privilegium in Anspruch nahmen.

Graf Morynski und seine Schwester waren früh zu Waisen geworden und lebten unter der Vormundschaft ihrer Verwandten. Jadwiga wurde im Kloster erzogen, und als sie dasselbe verließ, hatte man bereits über ihre Hand verfügt. Das war durchaus nichts Ungewöhnliches in jenen Adelskreisen, und auch die junge Gräfin hätte sich unbedingt gefügt, wäre der ihr bestimmte Gemahl ihr nur ebenbürtig, wäre er nur wenigstens ein Sohn ihres Volkes gewesen. Aber gerade sie hatte man zum Werkzeug von Familienplänen ausersehen, die um jeden Preis verwirklicht werden sollten.

In der Gegend, wo die meisten Glieder der Morynski’schen Familie ansässig waren, war vor einigen Jahren ein gewisser Nordeck aufgetaucht, ein Deutscher von niedriger Herkunft, der aber zu großem Reichthume gelangt war und sich nun hier niederließ. Die Verhältnisse in der Provinz machten es damals einem fremdem Elemente leicht, Boden zu gewinnen, wo man es ihm sonst bedeutend erschwert hätte. Die Nachwehen des letzten Aufstandes, der, wenn auch jenseits der Grenze ausgebrochen, doch die deutschen Landestheile in Mitleidenschaft gezogen hatte, machten sich noch überall fühlbar. Die Hälfte des Adels war flüchtig oder verarmt, in Folge der Opfer, die sie der Sache ihres Vaterlandes gebracht hatten, und so war es für Nordeck nicht schwer, die verschuldeten Güter für die Hälfte ihres Werthes an sich zu bringen und nach und nach in den Besitz einer Herrschaft zu gelangen, die ihm eine Stellung unter den ersten Grundbesitzern des Landes sicherte.

Freilich war der Eindringling von sehr geringer Bildung und abstoßender Persönlichkeit, auch ergab es sich bald, daß er ein durchaus charakter- und gesinnungsloser Mensch war, aber der riesige Besitz gab ihm nichtsdestoweniger eine Macht, die in der Umgegend nur zu bald gefühlt wurde, um so mehr, als sie sich mit entschiedener Feindseligkeit gegen alles kehrte, was Polenthum hieß, vielleicht aus Rache dafür, daß die ausschließlich aristokratische und slavische Nachbarschaft sich mit unverhehlt gegen ihn ausgesprochener Verachtung fernhielt. Mochten nun Unvorsichtigkeiten von dieser Seite vorgefallen sein, mochte der schlaue Fremde auf eigene Hand den Spion gespielt haben, genug, er erlangte Einsicht in gewisse Parteibestrebungen. Dies machte ihn zu einem höchst gefährlichen Gegner und seine Freundschaft geradezu zu einem Gebote der Nothwendigkeit.

[464] Man mußte um jeden Preis den Mann gewinnen, der, wie man längst wußte, zu gewinnen war. Der Bestechung war der Millionär natürlich unzugänglich, so blieb nur seine Eitelkeit übrig, die ihm die Verschwägerung mit einer der polnischen Adelsfamilien als sehr wünschenswerth erscheinen ließ. Vielleicht lenkte der Umstand, daß Wilicza noch bis vor einem halben Jahrhundert im Besitze der Morynski’schen Familie gewesen war, die Wahl gerade auf die Enkelin jenes letzten Besitzers; vielleicht fand sich auch kein anderes Haus, welches seine Tochter oder Schwester zu dem Opfer hergeben wollte, das man von der armen, abhängigen Waise verlangte. Dem rohen Emporkömmling schmeichelte es, daß die Hand einer Gräfin Morynska für ihn erreichbar war; nach einer Mitgift brauchte er nicht zu fragen; er ging also mit vollem Eifer auf den Plan ein, und Jadwiga sah sich bei ihrem Eintritte in die Welt schon einer Bestimmung gegenüber, gegen die sich ihr ganzes Wesen empörte.

Ihr erster Schritt war entschiedene Weigerung, aber was vermochte das Nein eines siebenzehnjährigen Mädchens gegen einen Familienbeschluß, dessen Ausführung man als eine Nothwendigkeit ansah. Als Befehle und Drohungen nichts fruchteten, nahm man seine Zuflucht zu Vorstellungen. Man zeigte der jungen Verwandten die glänzende Rolle, welche sie als Herrin von Wilicza spielen werde, die unbedingte Herrschaft, die sie über einen Mann ausüben müsse, zu dem sie so tief herabsteige. Man sprach ihr von der Genugthuung, daß wieder eine Morynska auf den ihren Vorfahren entrissenen Gütern gebieten solle, von der Nothwendigkeit, aus dem gefürchteten Gegner ein gefügiges Werkzeug der eigenen Pläne zu machen. Man forderte von ihr, daß sie Wilicza und die riesigen Mittel, über welche sein Herr gebot, den Interessen ihrer Partei erhalte – und was dem Zwange verweigert worden war, das erreichte die Ueberredung. Die Rolle einer armen, abhängigen Verwandten war keineswegs nach dem Geschmacke der jungen Gräfin; sie war glühend ehrgeizig, Herzensneigungen und Herzensbedürfnisse kannte sie nicht, und die flüchtig auflodernde Leidenschaft, die Nordeck bei ihrem Anblicke verrieth, ließ auch sie glauben, daß ihre Herrschaft über ihn unbegrenzt sein werde. So gab sie denn endlich nach, und die Vermählung fand statt.

Aber die Pläne, die Berechnung und Eigennutz von beiden Seiten gesponnen, sollten sämmtlich scheitern. Man hatte sich getäuscht in diesem Manne, der, anstatt sich dem Willen seiner jungen Frau zu beugen, nun seinerseits den Herrn und Gebieter herauskehrte, der sich jedem Einflusse, jeder Erhebung unzugänglich zeigte und dessen flüchtige Neigung für die Gattin sich bald genug in Haß verwandelte, als er entdeckte, daß sie ihn und sein Vermögen nur den Interessen ihrer Familie dienstbar machen wollte. Die Geburt eines Sohnes änderte nichts in diesem Verhältnisse. Die Kluft zwischen den Gatten schien im Gegentheile nur noch tiefer zu werden. Nordeck’s Charakter war freilich nicht danach, einer Frau Achtung einzuflößen, diese Frau aber ließ ihn ihre Verachtung in einer Weise fühlen, die jeden Mann auf’s Aeußerste gebracht hätte. Es kam zu furchtbaren Scenen, und nach einer derselben verließ die junge Herrin Wilicza’s das Schloß und floh in den Schutz ihres Bruders.

Der kleine Waldemar, der damals kaum das erste Lebensjahr zurückgelegt hatte, war bei dem Vater zurückgeblieben. Nordeck, wüthend über die Flucht seiner Gemahlin, forderte gebieterisch deren Rückkehr. Bronislaw that, was er konnte, die Schwester zu schützen, und es wäre zwischen ihm und seinem Schwager vielleicht zum Schlimmsten gekommen – da löste unerwartet der Tod die kurze und doch so unglückliche Ehe. Ein Sturz mit dem Pferde auf der Jagd, die er mit wildester Leidenschaft trieb, machte dem Leben Nordeck’s ein Ende, aber auf seinem Sterbebette hatte er noch Kraft und Besinnung genug, ein Testament zu dictiren, das seine Gemahlin um jeden Antheil sowohl an dem Vermögen wie an der Erziehung des Kindes ausschloß. Ihre Flucht aus seinem Hause gab ihm das Recht dazu, und er gebrauchte es schonungslos. Waldemar wurde der Vormundschaft eines ehemaligen Jugendfreundes und entfernten Verwandten übergeben und dieser mit der unbeschränktesten Vollmacht ausgestattet. Die Wittwe versuchte es zwar, dagegen aufzutreten, aber der neue Vormund bethätigte seine Freundschaft für den Verstorbenen dadurch, daß er die Bestimmungen des Testamentes in rücksichtslosester Weise zur Ausführung brachte und jeden Anspruch zurückwies. Witold war schon damals Besitzer von Altenhof und dachte nicht daran, in Wilicza zu bleiben oder sein Mündel dort zu lassen; er nahm den Knaben mit sich in seine Heimath. War es doch eine der letzten Weisungen Nordeck’s gewesen, seinen Sohn gänzlich dem Einfluß der Mutter und der mütterlichen Verwandten zu entziehen, und diese Weisung wurde so streng befolgt, daß der junge Erbe während der ganzen Zeit bis zu seiner Mündigkeit kaum einige Mal in Begleitung des Vormundes nach seinen Gütern kam; er verlebte seine ganze Jugend in Altenhof. Was die riesigen Einkünfte von Wilicza betraf, von denen man vorläufig noch keinen Gebrauch machen konnte, so wurden sie dem Vermögen zugeschlagen, und so sah sich denn Waldemar Nordeck beim Antritt seiner Mündigkeit im Besitz eines Reichthums, mit dem sich in der That nur Wenige messen konnten.

Die Mutter des künftigen Herrn von Wilicza lebte anfänglich im Hause ihres Bruders, der sich inzwischen auch vermählt hatte, aber sie blieb nicht lange dort. Einer der vertrautesten Freunde des Grafen, Fürst Baratowski, verliebte sich leidenschaftlich in die junge, schöne und geistreiche Frau, die ihm denn auch nach Jahresfrist die Hand reichte, und diese zweite Ehe war eine durchaus glückliche. Zwar behauptete man, der Fürst, eine ritterliche, aber nicht besonders energische Natur, beuge sich vollständig dem Scepter seiner Gemahlin, jedenfalls aber liebte er sie und den Sohn, den sie ihm schenkte, auf’s Zärtlichste.

Doch das Glück dieser Verbindung sollte nicht lange ungetrübt bleiben; diesmal freilich kamen die Stürme von außen. Leo war noch ein Kind, da brach das Revolutionsjahr herein, das halb Europa in Flammen setzte. Auch in der polnischen Provinz loderte der so oft schon unterdrückte Aufstand mit neuer Gewalt empor. Morynski und Baratowski waren echte Söhne ihres Landes; sie warfen sich voll glühender Begeisterung in die Revolution, von der sie Rettung des Vaterlandes und Wiederherstellung seiner Größe hofften. Der Aufstand endigte, wie so viele früheren – er ward gewaltsam unterdrückt, und diesmal ging man mit voller Strenge gegen die polnischen Landestheile vor. Fürst Baratowski und sein Schwager flüchteten nach Frankreich, wohin ihnen ihre Frauen mit den Kindern folgten. Die Gräfin Morynska, eine zarte kränkliche Frau, ertrug nicht lange den Aufenthalt in der Fremde; sie starb schon im folgenden Jahre und Bronislaw übergab sein Kind den Händen der Schwester. Ihn selbst litt es nicht länger in Paris, wo ihn alles an den Verlust der leidenschaftlich geliebten Gattin erinnerte. Er lebte unstät bald hier bald dort, und kam nur bisweilen, um seine Tochter zu sehen. Endlich ermöglichte ihm eine Amnestie die Rückkehr in die Heimath, wo ihm inzwischen durch den Tod eines Verwandten das Gut Rakowicz zugefallen war, und er ließ sich auf dem neuen Besitzthume nieder. Anders stand die Sache mit dem Fürsten Baratowski, der von der Amnestie ausgeschlossen blieb. Er war einer der Führer des Aufstandes gewesen und hatte mit an der Spitze der Bewegung gestanden; an seine Rückkehr war nicht zu denken, und Gemahlin und Sohn theilten mit ihm die Verbannung, bis sein Tod auch ihnen die Freiheit zurückgab, ihren Aufenthaltsort zu wählen.

[481] Es war in den Vormittagsstunden; in dem Balconzimmer der Villa, welche die Baratowskische Familie in C. bewohnte, befand sich augenblicklich nur die Fürstin. Sie war in einen Brief vertieft, den sie vor einer Stunde empfangen hatte; er enthielt Waldemar’s Anzeige, daß er heute kommen werde und seinem Boten unmittelbar auf dem Fuße folge. Die Mutter blickte so unverwandt auf das Schreiben nieder, als wolle sie aus den kurzen kalten Worten oder aus den Schriftzügen den Charakter des Sohnes herauslesen, der ihr so gänzlich fremd geworden war. Seit ihrer zweiten Vermählung hatte sie ihn nur selten und flüchtig gesehen, und seit sie in Frankreich lebte, hatte fast jeder Verkehr zwischen ihnen aufgehört. Das Bild, das sie von dem zehnjährigen Knaben noch deutlich in der Erinnerung trug, war abstoßend genug, und was sie über den Jüngling in Erfahrung gebracht, stimmte nur zu sehr damit überein. Trotzdem galt es, sich den Einfluß auf ihn um jeden Preis zu sichern, und die Fürstin war nicht die Frau, vor einer Aufgabe zurückzuschrecken, deren Schwierigkeit sie sich keineswegs verhehlte. Sie war aufgestanden und ging nachdenkend im Gemache auf und nieder, als ein rascher lauter Schritt im Vorzimmer sie innehalten ließ. Gleich darauf öffnete Pawlick die Thür und meldete „Herrn Waldemar Nordeck“. Dieser trat ein. Die Thür schloß sich wieder hinter ihm, und Mutter und Sohn standen einander gegenüber.

Waldemar that noch einige Schritte vorwärts und blieb dann plötzlich stehen. Die Fürstin war im Begriff, ihm entgegen zu gehen, aber auch sie hemmte ihren Schritt. Es war, als ob gleich im ersten Momente des Wiedersehens sich eine endlose Kluft zwischen den Beiden öffne, als ob Alles, was jemals Feindseliges und Fremdes zwischen ihnen gelegen, sich wieder aufbäume – dieses secundenlange Schweigen und Fernhalten sprach deutlicher als Worte; es zeigte, daß weder in dem Herzen der Mutter noch dem des Sohnes sich eine einzige Stimme regte. Die Fürstin überwand die Zurückhaltung zuerst. „Ich danke Dir, mein Sohn, daß Du gekommen bist,“ sagte sie, ihm die Hand entgegenstreckend.

Waldemar kam langsam näher; er berührte die dargebotene Hand nur einen Augenblick lang und ließ sie dann sofort wieder fallen. Der Versuch zu einer Umarmung wurde von keiner Seite gemacht. Die Gestalt der Fürstin war trotz der dunklen Trauerkleidung imponirend schön, als sie so, vom hellen Sonnenlichte umflossen, dastand, aber das schien nicht den geringsten Eindruck auf den jungen Mann zu machen, obgleich er sie unverwandt ansah. Auch der Blick der Mutter haftete auf seinem Gesicht, aber sie suchte vergebens nach einem einzigen Zuge, der ihr angehörte oder wenigstens an sie erinnerte. Nichts trat ihr dort entgegen, als die sprechende Aehnlichkeit mit dem Manne, den sie noch im Tode haßte – der Sohn war das Ebenbild seines Vaters, Zug für Zug.

„Ich hoffte sicher auf Dein Erscheinen,“ fuhr die Fürstin fort, indem sie sich niederließ und ihm mit einer Handbewegung den Platz an ihrer Seite anwies – Waldemar blieb trotzdem stehen.

„Willst Du Dich nicht setzen?“ Die Frage klang sehr ruhig, aber sie ließ keine Verneinung zu und erinnerte den jungen Nordeck daran, daß er füglich nicht während des ganzen Besuches stehen bleiben könne, aber die erneute Handbewegung blieb unbeachtet. Er zog einen Sessel heran und setzte sich der Mutter gegenüber. Der Platz an ihrer Seite blieb leer.

Die Demonstration war unzweideutig – einen Augenblick lang preßten sich die Lippen der Fürstin fester auf einander, aber ihr Gesicht blieb unbewegt. Waldemar saß jetzt gleichfalls im vollen Tageslichte. Er trug auch heute eine Art Jagdanzug, der freilich diesmal nicht Spuren der Jagd zeigte, aber auch keine besondere Sorgfalt verrieth und von einer eleganten Reitkleidung himmelweit verschieden war. In der Linken, die wie die Rechte ohne Handschuhe war, hielt er den runden Hut und die Reitpeitsche. Die Stiefel trugen noch den ganzen Staub eines zweistündigen Rittes; der Reiter hatte es nicht für nöthig befunden, ihn zuvor abzuschütteln, und die Art, wie er sich setzte, verrieth die vollste Unbekanntschaft mit den Gewohnheiten des Salons. Die Mutter sah das Alles mit einem einzigen Blicke, aber sie sah auch den starren Trotz, mit dem ihr Sohn sich gewaffnet hatte. Er leuchtete deutlich genug aus seinen Augen; leicht war ihre Aufgabe nicht – das fühlte sie.

„Wir sind uns fremd geworden, Waldemar,“ begann sie, „und ich kann bei diesem ersten Wiedersehen von Dir noch nicht die Umarmung des Sohnes verlangen. Ich habe Dich ja seit Deiner Kindheit fremden Händen überlassen müssen. Man hat der Mutter nie erlaubt, ihre Pflichten und ihre Rechte bei Dir auszuüben.“

„Ich habe bei meinem Onkel Witold nichts vermißt,“ entgegnete Waldemar herb. „Und jedenfalls war ich bei ihm heimischer, als ich im Hause des Fürsten Baratowski gewesen wäre.“

[482] Er betonte den Namen mit einer Bitterkeit, die der Fürstin nicht entging.

„Fürst Baratowski ist todt,“ sagte sie ernst. „Du siehst seine Wittwe vor Dir.“

Waldemar sah auf. Er schien erst jetzt ihre Trauerkleidung zu bemerken. „Das bedaure ich – um Deinetwillen,“ erwiderte er kalt.

Die Mutter machte eine abwehrende Bewegung. „Laß’ das! Du hast den Fürsten nie gekannt, und ich kann von Dir keine Sympathie für den Mann erwarten, der mein Gemahl hieß. Aber ich verhehle mir nicht, daß der Verlust, der mich so schwer getroffen, eine Schranke niederreißt, die bisher trennend zwischen uns stand. Du hast stets in mir nur die Fürstin Baratowska sehen wollen. Vielleicht erinnerst Du Dich jetzt, daß sie auch Deine Mutter, die Wittwe Deines Vaters ist.“

Bei den letzten Worten erhob sich Waldemar mit einer so ungestümen Bewegung, daß der Sessel zurückflog. „Ich denke, wir lassen das ruhen. Ich bin gekommen, um Dir zu zeigen, daß ich keinem Zwange gehorche, daß ich nur meinem eigenen Willen folge. Du hast mich sprechen wollen – hier bin ich. Was willst Du von mir?“

Die ganze Rücksichtslosigkeit und Rauhheit des jungen Mannes sprach aus diesen Worten. Die Hindeutung auf seinen Vater hatte ihn offenbar tief verletzt, aber auch die Fürstin hatte sich erhoben und stand ihm gegenüber.

„Was ich von Dir will? Ich will den Bannkreis durchbrechen, den ein mir feindseliger Einfluß um Dich gezogen hat. Ich will Dich daran mahnen, daß es jetzt Zeit für Dich ist, mit eigenen Augen zu sehen und Dein eigenes Urtheil sprechen zu lassen, statt blindlings fremden Anschauungen zu folgen, die man Dir aufdrängt. Man hat Dich die Mutter hassen gelehrt – ich wußte es längst. Prüfe erst, ob sie diesen Haß verdient, und dann entscheide selbst! Das will ich von Dir, mein Sohn, da Du mich denn doch zwingst, Dir auf eine solche Frage zu antworten.“

Das wurde mit einer so energischen Ruhe, mit einem so unnahbaren Stolze gesprochen, daß es seinen Eindruck auf Waldemar nicht verfehlen konnte. Er fühlte, daß er die Mutter beleidigt hatte, aber er fühlte auch, daß diese Beleidigung machtlos an ihr abglitt, und der Appell an seine Selbstständigkeit verhallte keineswegs ungehört.

„Ich trage keinen Haß gegen Dich, Mutter,“ sagte er. Es war das erste Mal, daß er den Mutternamen überhaupt aussprach.

„Aber auch kein Vertrauen,“ entgegnete sie. „Und doch ist dies das Erste, was ich von Dir fordern muß. Es wird Dir nicht leicht – ich weiß es; man hat ja von frühester Kindheit an den Samen des Mißtrauens in Deine Seele gesäet. Dein Vormund hat das Möglichste gethan, Dich mir zu entfremden und Dich einzig an sich zu ketten. Ich fürchte nur, seine Erziehung war die am wenigsten geeignete für den Erben von Wilicza.“

Der Blick, der dabei über den jungen Mann hinglitt, ergänzte die Worte; leider wurde er nur zu gut verstanden und reizte eben deshalb auf’s Aeußerste.

„Ich dulde keinen Vorwurf gegen meinen Onkel Witold,“ brach Waldemar mit wildem Jähzorne los. „Er ist mir ein zweiter Vater gewesen, und wenn ich nur hierher gerufen worden bin, um Angriffe gegen ihn zu hören, so ist es besser, ich gehe gleich auf der Stelle wieder. Wir werden uns doch nie verstehen.“

Die Fürstin sah, welchen Fehler sie gemacht hatte, als sie ihrer Feindseligkeit gegen den gehaßten Vormund die Zügel schießen ließ, aber es war nun einmal geschehen. Nachgeben hieß hier ihre ganze Autorität auf’s Spiel setzen. Sie fühlte, daß sie das unter keiner Bedingung thun durfte, und doch hing für sie Alles an dem Bleiben Waldemar’s.

Da kam ihr die Hülfe von einer Seite, von welcher sie dieselbe wohl am wenigsten erwartete. Gerade im entscheidenden Augenblicke öffnete sich eine Seitenthür, und Wanda, die soeben von einem Spaziergange mit dem Vater zurückkam und keine Ahnung von dem inzwischen eingetroffenen Besuch hatte, trat in das Zimmer.

Waldemar war wirklich im Begriffe zu gehen, aber er blieb auf einmal wie angewurzelt stehen. Es war, als ob eine Flamme in seinem Antlitze aufschlage, so jäh und heftig röthete es sich. Zorn und Trotz, die eben noch daraus hervorleuchteten, verschwanden urplötzlich, und er stand einen Moment lang ganz fassungslos da, die Augen starr auf die junge Gräfin gerichtet. Diese wollte sich zurückziehen, als sie einen Fremden bei ihrer Tante erblickte, als dieser Fremde ihr aber das Gesicht zuwendete, entfloh auch ihr ein halblauter Ausruf der Ueberraschung. Wanda ihrerseits verlor zwar die Fassung durchaus nicht und gerieth auch nicht im Mindesten in Verlegenheit, dagegen schien sie ein ganz unwiderstehlicher Lachreiz anzuwandeln, den sie nur mit Mühe unterdrückte. Zum Zurücktreten war es jetzt jedenfalls zu spät; sie schloß deshalb die Thür hinter sich und trat an die Seite ihrer Tante.

„Mein Sohn, Waldemar Nordeck – meine Nichte, Gräfin Morynska,“ sagte die Fürstin, indem sie mit dem Ausdrucke größter Ueberraschung erst Waldemar ansah und dann den Blick fragend zu ihrer Nichte wandte.

Diese hatte die kindische Regung schnell überwunden und erinnerte sich bereits wieder, daß sie ja eigentlich schon zu den Damen gehöre. Ihre graziöse Verneigung war so salonmäßig, daß auch die strengste Hofmeisterin nichts daran hätte tadeln können, aber es zuckte schon wieder verrätherisch um die jugendlichen Lippen, als Waldemar die Vorstellung mit einer Bewegung beantwortete, die wahrscheinlich eine Verbeugung ausdrücken sollte, sich aber allerdings etwas seltsam ausnahm. Der Blick der Mutter haftete so unverwandt auf seinem Gesichte, als wollte sie seine geheimsten Gedanken darauf lesen. „Mir scheint, Du kennst Deine Cousine bereits?“ sagte sie mit eigenthümlicher Betonung. Die Hindeutung auf die verwandtschaftlichen Beziehungen schien den jungen Mann nur noch mehr zu verwirren.

„Ich weiß nicht,“ versetzte er, mit äußerster Befangenheit. „Ich habe allerdings – vor einigen Tagen –“

„Herr Nordeck war so freundlich, meinen Führer zu machen, als ich mich im Walde verirrt hatte,“ fiel Wanda ein. „Es war vorgestern, auf unserer Fahrt nach dem Buchenholm.“

Die Fürstin hatte damals den Spaziergang sehr eigenmächtig und unpassend gefunden. Jetzt hatte sie kein Wort des Tadels dafür; im Gegentheil, ihr Ton klang beinahe gütig, als sie erwiderte:

„In der That, ein eigenthümliches Zusammentreffen! Aber was steht Ihr Beide so fremd einander gegenüber? Unter Verwandten braucht die Etiquette nicht so streng festgehalten zu werden. Du kannst Deinem Vetter immerhin die Hand reichen, Wanda.“

Wanda kam der Aufforderung nach; sie streckte unbefangen ihre Rechte aus. Vetter Leo war schon ritterlich genug, diese Hand zu küssen, wenn sie ihm nach irgend einem Streite zur Versöhnung gereicht ward, der ältere Bruder schien aber leider nichts von dieser Ritterlichkeit zu besitzen. Er faßte die zarten Finger anfangs so scheu und zögernd, als wage er überhaupt gar nicht, sie zu berühren, und dann auf einmal preßte er sie so heftig zwischen den seinigen, daß die junge Dame fast einen Schmerzensschrei ausgestoßen hätte. Sie wußte über diesen neuen Vetter im Grunde nicht mehr als Leo, eigentlich noch weniger. Mit um so größerer Neugierde hatte sie seinem angekündigten Besuche entgegengesehen, ihre Enttäuschung war nun aber auch eine grenzenlose.

Die Fürstin hatte die Beiden schweigend, aber unausgesetzt beobachtet. Sie ließ das Auge nicht von dem Gesichte Waldemar’s.

„Also im Walde seid Ihr einander begegnet?“ nahm sie wieder das Wort. „Wurde denn von keiner Seite ein Name genannt, der Euch aufklärte?“

„Ich habe Herrn Nordeck leider für einen Waldgeist gehalten,“ fuhr Wanda heraus, ohne sich um den ernst zurechtweisenden Blick der Tante zu kümmern. „Und er that das Möglichste, mich in diesem Glauben zu bestärken. Du hast keine Ahnung davon, liebe Tante, wie interessant unsere Unterhaltung war. Er ließ mich während eines halbstündigen Zusammenseins nicht darüber in’s Klare kommen, ob er wirklich dem heutigen Menschengeschlechte oder der alten Sagenwelt angehöre. Du begreifst, daß unter so bewandten Umständen eine officielle Vorstellung unterblieb.“

[483] Die Worte verriethen deutlich genug den übermüthigen Spott, aber seltsam, Waldemar, der sich vorhin so reizbar gezeigt hatte, schien nicht im Geringsten dadurch verletzt zu werden. Sein Auge hing unverwandt an dem jungen Mädchen, dessen Spöttereien er kaum zu hören schien.

Die Fürstin hielt es aber jetzt doch für nöthig, dem Muthwillen Wanda’s ein Ziel zu setzen. Sie wandte sich zu ihrem Sohne, mit so vollkommener Ruhe, als habe die vorhergehende Scene gar nicht stattgefunden.

„Du hast ja Deinen Bruder noch nicht gesehen Waldemar, und Deinen Oheim gleichfalls nicht. Ich werde Dich zu ihnen führen. – Du bleibst doch den Tag über bei uns?“ Die letzte Frage wurde in einem Tone hingeworfen, der das Bleiben als selbstverständlich voraussetzte.

„Wenn Du es wünschest.“ Das klang schwankend, ungewiß, aber es hatte nichts mehr von der trotzigen Energie der früheren Antworten. Waldemar dachte augenscheinlich nicht mehr daran, zu gehen. „Gewiß wünsche ich es. Du wirst doch diesen ersten Besuch nicht so kurz abbrechen wollen? Komm, liebe Wanda!“

Der junge Nordeck zögerte noch eine Minute, als aber Wanda der Aufforderung nachkam, war auch sein Entschluß gefaßt. Er legte Hut und Reitpeitsche, die er bisher hartnäckig festgehalten, auf den Sessel, den er vorhin im auflodernden Zorne fortgestoßen, und folgte geduldig den voranschreitenden Damen. Ein kaum bemerkbares, aber triumphirendes Lächeln spielte um die Lippen der Fürstin. Sie war eine zu gute Beobachterin, um nicht zu wissen, daß sie das Spiel bereits in Händen hatte, freilich war ihr der Zufall dabei zu Hülfe gekommen.


In dem Wohngemache der Fürstin befanden sich Graf Morynski und Leo. Sie hatten durch Pawlick bereits Waldemar’s Ankunft erfahren, aber die erste Zusammenkunft zwischen Mutter und Sohn nicht stören wollen. Der Graf sah nur etwas verwundert auf, als Wanda, die er auf ihrem Zimmer glaubte, gleichfalls mit eintrat, aber er unterdrückte die Frage, die ihm auf den Lippen schwebte; der junge Nordeck fesselte für den Augenblick sein ganzes Interesse.

Die Fürstin nahm die Hand ihres jüngeren Sohnes und führte ihn zu dem älteren. „Ihr habt Euch bisher nicht gekannt,“ sagte sie bedeutsam, „und erst heute ist es mir vergönnt, der langen Trennung zwischen Euch ein Ende zu machen. Leo bringt Dir die volle Geschwisterliebe entgegen, Waldemar. Laß’ mich hoffen, daß er auch in Dir einen Bruder findet.“

Waldemar maß mit einem raschen Blicke den vor ihm stehenden Bruder, aber der Blick hatte nichts Feindseliges mehr. Die Schönheit des jungen Fürsten nahm ihn unwillkürlich gefangen; das sah man, vielleicht war er auch weicher gestimmt durch das Vorhergegangene, und als Leo, noch halb in scheuer Zurückhaltung, ihm die Hand hinstreckte, ergriff er sie lebhaft.

Graf Morynski trat jetzt auch heran, um dem Sohne seiner Schwester einige Höflichkeiten zu sagen, die dieser ziemlich einsilbig beantwortete. Die Unterhaltung, die sich aus Rücksicht für Waldemar ausschließlich in deutscher Sprache bewegte, würde gezwungen und matt gewesen sein, hätte die Fürstin es nicht verstanden, sie mit einer wahren Meisterschaft zu leiten. Sie vermied jede naheliegende Klippe, jede verletzende Erinnerung; sie wußte den Bruder, ihre Söhne und Wanda nach einander in das Gespräch zu ziehen und für eine halbe Stunde wirklich die Illusion zu erwecken, als herrsche die vollkommenste Harmonie zwischen den Familiengliedern.

Leo stand dicht neben dem Sessel Waldemar’s, und nichts war geeigneter, den Contrast zwischen den Brüdern schärfer hervor zu heben, als diese Nähe. Auch der junge Fürst hatte erst kürzlich die Knabenjahre hinter sich gelassen; auch er war noch nicht zum Manne gereift, aber wie anders zeigte sich der Uebergang hier! Waldemar hatte nie abstoßender ausgesehen als neben dieser schlanken elastischen Jünglingsgestalt mit dem vollendeten Ebenmaß in jeder Linie, mit der leichten Sicherheit in Haltung und Bewegungen und dem fast idealisch schönen Kopfe. Der junge Nordeck mit seinen scharfen, eckigen Formen, mit den unregelmäßigen Zügen und den finsteren Augen unter dem blonden Haargewirr rechtfertigte nur zu sehr die Empfindung, mit welcher der Blick der Mutter auf Beiden ruhte, auf ihrem Lieblinge, ihrem schönen lebensvollen Jüngsten, und jenem Anderen, der gleichfalls ihr Sohn hieß und mit dem sie doch nicht ein einziger Zug des Aeußeren, nicht eine einzige Regung des Herzens verband. Es war heute etwas in der Art Waldemar’s, das ihn noch unvortheilhafter erscheinen ließ als gewöhnlich. Das Schroffe, Herrische, das sonst in seinem Wesen lag, so wenig anziehend es war, es paßte doch zu der ganzen Erscheinung, und gab ihr mindestens etwas Charakteristisches. Er hatte es während der ganzen Unterredung mit der Mutter bewahrt; erst seit dem Augenblicke, wo die junge Gräfin Morynska eintrat, war es verschwunden. Zum ersten Male in seinem Leben schien er sich scheu und befangen zu fühlen, zum ersten Male schien er den Einfluß einer Umgebung zu empfinden, die ihm in jeder Beziehung überlegen war, und das raubte ihm mit dem Trotze sichtlich auch die Sicherheit. Er war gekommen, um etwas Feindseligem zu begegnen, und dies gab ihm eine gewisse rauhe Ueberlegenheit – jetzt gab er den Kampf auf, aber die Ueberlegenheit mit ihm; er war unbeholfen, zerstreut, und der verwunderte Blick Morynski’s schien bisweilen zu fragen, ob denn dies wirklich der Waldemar sei, über den man so viel Abschreckendes gehört. Das Zusammensein hatte etwa eine halbe Stunde gewährt, als Pawlick mit der Meldung erschien, daß der Tisch bereit sei.

„Leo, Du wirst es wohl heute Deinem Bruder überlassen müssen, Wanda zu führen,“ sagte die Fürstin, indem sie aufstand und den Arm ihres Bruders nahm. Sie schritt mit ihm voran nach dem Speisezimmer.

„Nun?“ fragte der Graf halblaut auf polnisch. „Wie steht es? Wie endigte die Unterredung?“

Die Fürstin lächelte nur; sie warf noch einen flüchtigen Blick auf Waldemar zurück, der eben im Begriff war, sich Wanda zu nähern, dann entgegnete sie gleichfalls in polnischer Sprache:

„Sei ohne Sorge! Er wird sich fügen – ich versichere es Dir.“ – –

Erst gegen Abend kehrte der junge Nordeck nach Altenhof zurück, und Leo, der den Bruder bis zum Ausgange der Villa begleitet hatte, trat wieder in das Empfangszimmer. Die Fürstin und Graf Morynski waren nicht mehr dort, nur Wanda stand noch auf dem Balcon, um dem Fortreitenden nachzusehen.

„Mein Gott, welch ein Ungethüm ist dieser Waldemar!“ rief die junge Gräfin ihrem Vetter entgegen. „Wie ist es Dir nur möglich gewesen, Leo, die ganze Zeit über ernst zu bleiben? Sieh her, ich habe mein Taschentuch ganz zerknittert, um das Lachen dahinter zu verstecken, aber jetzt kann ich es nicht mehr bewältigen; ich ersticke sonst,“ und Wanda warf sich auf einen der Balconsessel und überließ sich einem so stürmischen Ausbruch von Heiterkeit, daß man sah, welche Mühe es ihr gekostet hatte, ihn bis jetzt zurückzuhalten.

„Wir waren ja auf Waldemar’s eigenthümliches Wesen vorbereitet,“ meinte Leo halb entschuldigend. „Nach allem, was wir über ihn in Erfahrung gebracht, habe ich ihn mir, die Wahrheit zu sagen, noch schroffer und abstoßender gedacht.“

„O, Du sahst ihn heute auch nur im Salongewande,“ spottete Wanda. „Wer wie ich das Glück hatte, ihn in seiner ganzen Ursprünglichkeit zu bewundern, der kann sich dem überwältigenden Eindruck nicht entziehen, den die erste Erscheinung dieses Wilden macht. Ich denke noch mit Schrecken an unser Zusammentreffen im Walde.“

„Ja, Du bist mir noch die Erzählung dieses Zusammentreffens schuldig,“ fiel Leo ein. „Es war also Waldemar, der Dich vorgestern nach dem Buchenholm führte – so viel habe ich aus Eurem Gespräche entnommen, aber ich begreife nicht, weshalb Du ein solches Geheimniß aus der Sache machtest.“

„Das geschah nur, um Dich zu ärgern,“ versetzte die junge Dame sehr aufrichtig. „Du wurdest so gereizt, als ich von der interessanten Begegnung mit einem Fremden sprach; Du setztest natürlich voraus, daß irgend ein Cavalier mich begleitet hätte, und ich ließ Dich in dem Glauben. Jetzt, Leo,“ sie kämpfte wieder mit einem neuen Anfall von Heiterkeit, „jetzt siehst Du doch wohl ein, daß die Sache keine Gefahr hatte.“

„Ja, das sehe ich ein,“ stimmte der junge Fürst lachend bei. „Aber Waldemar scheint doch eine cavaliermäßige Regung gehabt zu habe, da er sich herabließ, Deinen Führer zu machen.“

[484] „Möglich, aber ich werde mein Lebenlang an diese Führung denken. Stelle Dir vor, Leo, ich hatte auf einmal den Waldpfad verloren, den ich doch schon öfter gegangen war, und den ich ganz genau zu kennen meinte. Bei jedem Versuche, ihn wieder aufzufinden, gerieth ich nur immer tiefer in den Wald und fand mich schließlich in ganz unbekannten Umgebungen. Ich wußte nicht einmal mehr die Richtung, in welcher der Buchenholm oder die See lagen, denn es regte sich kein Windhauch, und auch nicht das leiseste Brausen der Wellen drang zu mir herüber. Ganz rathlos stand ich da und war eben im Begriff, umzukehren, als Etwas mit einem Ungestüm, als ob eine ganze Treibjagd daherbrause, durch die Gebüsche brach. Urplötzlich stand eine Gestalt vor mir, die ich wirklich für nichts anderes halten konnte, als für den Waldgeist in höchsteigener Person. Er schien direct aus dem Sumpfe zu kommen, denn er war bis über die Kniee hinauf voll Morast. Ein erschossenes Reh hatte er über die Schulter geworfen, ohne sich darum zu kümmern, daß das herabrieselnde Blut des Thieres seinen ganzen Jagdrock befleckte. Die ungeheure gelbe Löwenmähne, die er statt der Haare trägt, war von den Zweigen arg mitgenommen und fiel ihm über das Gesicht herab. So stand er da, die Flinte in der Hand, einen knurrenden, zähnefletschenden Jagdhund neben sich – ich frage Dich, ob es möglich war, dieses Waldungethüm für einen Menschen und Jäger anzusehen?“

„Du hast Dich wohl außerordentlich gefürchtet?“ spottete Leo.

Wanda hob mit einer sehr entschiedenen Bewegung den Kopf. „Gefürchtet? Ich? Du solltest doch wissen, daß ich nicht furchtsam bin! Eine Andere wäre wahrscheinlich davongelaufen, ich aber hielt Stand und fragte nach dem Wege zum Buchenholm. Aber obgleich ich die Frage wiederholte, wurde mir keine Antwort; statt dessen stand das Gespenst wie an den Boden festgewachsen und starrte mich mit seinen großen wilden Augen an, ohne einen Laut von sich zu geben. Jetzt wurde mir die Sache doch etwas unheimlich, und ich wandte mich zum Gehen; da war es auf einmal mit zwei Schritten an meiner Seite, wies nach rechts hinüber und gab die unzweifelhafte Absicht kund, mich zu führen.“

„Aber doch nicht blos pantomimisch?“ warf Leo ein. „Waldemar wird doch mit Dir gesprochen haben.“

„O ja, er sprach; das heißt: er beehrte mich im Ganzen mit sechs oder sieben Worten – mehr waren es sicher nicht. In der ersten Minute unseres Zusammenseins vernahm ich so etwas, wie: ‚Wir müssen rechts hinüber!‘ und in der letzten: ‚Da ist der Buchenholm.‘ Während der halben Stunde, die dazwischen lag, herrschte ein imponirendes Schweigen, das ich nicht zu brechen wagte. Und was war das für ein Weg, denn wir einschlugen! Erst gingen wir mitten in das Dickicht hinein, mein liebenswürdiger Führer voran, wie ein Bär alles Gesträuch niedertretend und durchbrechend. Ich glaube, er hat den halben Wald ruinirt, um mir einigermaßen den Weg zu bahnen. Dann kamen wir durch eine Lichtung, darauf an einen Sumpf; ich dachte, wir würden geradeswegs hineinlaufen, aber wunderbarer Weise blieben wir am Rande. Und während der ganzen Zeit fiel auch nicht ein einziges Wort zwischen uns, aber der seltsame Begleiter wich nicht von meiner Seite, und so oft ich aufblickte, begegnete ich seinen Augen, die mir mit jeder Minute unheimlicher wurden. Ich neigte mich jetzt entschieden der Ansicht zu, er sei direct aus irgend einem Hünengrabe emporgestiegen, um sich das erste beste Menschenkind als Opfer auszusuchen und es zu einem der alten Heidenaltäre hinzuschleppen, wo es sein Leben lassen müsse. Da, gerade als ich im Begriffe war, mich auf mein nahes Ende vorzubereiten, sah ich auf einmal die blaue See durch die Bäume schimmern und erkannte die Umgebungen des Buchenholms. Mein Cavalier aus der Urzeit blieb stehen, starrte mich nochmals an, als wolle er mich gleich auf der Stelle verschlingen, und schien es kaum zu hören, daß ich ihm dankte. In der nächsten Minute war ich am Strande, wo ich bereits Dein Boot erblickte. – Denke Dir mein Erstaunen, als ich heute eintrete und meinen Waldgeist, mein Hünengespenst, das ich längst in Gott weiß welche Höhlen der Erde versunken glaubte, im Empfangszimmer der Tante erblicke, und das besagte Gespenst mir schließlich als Vetter Waldemar vorgestellt wird! Es ist wahr, er gab sich heute durchaus im Salonstyl; er führte mich sogar zu Tische, aber mein Himmel, wie stellte er sich dabei an! Ich glaube, es war das erste Mal in seinem Leben, daß er einer Dame den Arm bot. Hast Du gesehen, wie er sich verbeugte, wie er sich bei Tische benahm? Nimm es mir nicht übel, Leo, aber Dein neuer Herr Bruder gehört ganz entschieden in die Wildniß, und zwar in die allerentlegenste. Da hat er doch wenigstens noch etwas Furchtbares an sich, wenn er aber unter civilisirten Menschen auftaucht, giebt er höchstens zu Lachkrämpfen Anlaß. Und das soll der künftige Herr von Wilicza sein!“

Leo theilte im Grunde ganz diese Meinung, dennoch sah er sich veranlaßt, die Partei seines Bruders zu nehmen. Er fühlte, wie unendlich er selbst diesem im Erscheinung und Haltung überlegen war, und das machte es ihm leicht, Großmuth zu üben.

„Es ist aber nicht Waldemar’s Schuld, daß seine Erziehung so ganz und gar vernachlässigt ist,“ sagte er. „Die Mama meint, sein Vormund habe ihn systematisch verwildern lassen.“

„Kurz und gut, er ist ein Ungethüm,“ entschied die junge Dame, „und ich erkläre hiermit feierlich, daß, wenn man mir noch einmal einen solchen Cavalier zumuthet, ich mir ein freiwilliges Fasten auferlege und nicht bei Tische erscheine.“

Während des Gespräches war Wanda’s Taschentuch, mit denn sie sich Kühlung zugefächelt hatte, herabgeglitten; es lag seitwärts unter den Epheuranken, die den Balcon umgaben. Leo bemerkte es und bückte sich ritterlich darnach; er mußte sich aber dabei fast auf die Knie niederlassen. In dieser Stellung hob er das Tuch auf und überreichte es seiner Cousine, und diese brach, statt ihm zu danken, wieder in ein lautes Lachen aus.

Der junge Fürst sprang heftig auf. „Du lachst?“

„O, nicht über Dich, Leo! Ich dachte mir nur soeben, wie unendlich komisch Dein Bruder sich in einer solchen Situation ausnehmen würde.“

„Waldemar? Ja freilich! Aber dieses Vergnügen wirst Du schwerlich haben. Der beugt sicher niemals das Knie vor einer Dame, am wenigsten vor Dir.“

„Am wenigsten vor mir?“ wiederholte Wanda beleidigt. „Ah so, Du meinst, ich bin noch ein solches Kind, daß es gar nicht der Mühe lohnt, vor mir niederzuknieen? Ich hätte große Lust, Dich vom Gegentheil zu überzeugen.“

„Wodurch?“ fragte Leo lachend. „Durch Waldemar’s Kniefall vielleicht?“

Die junge Dame warf trotzig die Lippen auf. „Und wenn ich mir nun vornähme, ihn dahin zu bringen?“

„Nun, so versuche doch Deine Macht an meinem Bruder!“ entgegnete er empfindlich. „Vielleicht lernst Du dann die Möglichkeiten richtiger schätzen.“

Wanda sprang auf mit dem ganzer Eifer eines Kindes, dem ein neues Spielzeug in Aussicht gestellt wird.

„Es sei! Was gilt die Wette?“

„Aber es muß ein ernstgemeinter Fußfall sein, Wanda! Keine bloße Artigkeit, wie der meinige vorhin.“

„Natürlich!“ bestätigte die junge Gräfin. „Du lachst? Du hältst das wohl unter allen Umständen für unmöglich? Nun wir werden ja sehen, wer von uns Beiden gewinnt. Du sollst Waldemar vor mir auf den Knieen sehen, ehe wir abreisen. Nur eins bitte ich mir aus: Du darfst ihm keinen Wink geben. Ich glaube, seine ganze Bärennatur käme zum Vorschein, erführe er, daß wir uns unterfingen, allerhöchstihn zum Gegenstand einer Wette zu machen.“

„Ich schweige,“ versicherte Leo, der, von ihrem Muthwillen fortgerissen, jetzt auf den Scherz einging. „Einem Ausbruch seiner Berserkerwuth aber werden wir nicht entgehen, wenn Du ihn schließlich auslachst und ihm die Wahrheit klar wird. Oder beabsichtigst Du vielleicht ihm ein ‚Ja‘ zu geben?“

Die beiden Kinder – denn das waren sie ja im Grunde noch mit ihren sechszehn und siebzehn Jahren – lachten und scherzten über ihren Einfall, wie eben übermüthige Kinder zu thun pflegen. Sie waren so an gegenseitige Neckereien gewöhnt, daß es ihnen durchaus nicht darauf ankam, auch einmal einen Dritten in den Kreis dieser Neckereien zu ziehen. Sie dachten gar nicht daran, wie wenig der schroffe Charakter Waldemar’s dazu geeignet war, und in welchen bitteren Ernst er das Spiel verkehren könnte, das sie sich in ihrem Muthwillen ausgesonnen.

[497] Einige Wochen waren vergangen. Der Sommer neigte sich seinem Ende zu, und in Altenhof hatte man vollauf mit der Ernte zu thun. Der Gutsherr, der den ganzen Vormittag auf den Feldern gewesen war, um überall nachzusehen und anzuordnen, war müde und matt nach Hause gekommen und gedachte jetzt, nach dem Essen, sich der wohlverdienten Mittagsruhe hinzugeben. Während er aber die Anstalten dazu machte, blickte er mit einem Gemisch von Aerger und Verwunderung auf seinen Pflegesohn, der in seinem gewöhnlichen Reitanzuge am Fenster stand und auf das Vorführen seines Pferdes wartete.

„Also Du willst wirklich in der Mittagshitze nach C. hinüber?“ sagte Herr Witold. „Ich gratulire Dir zu dem zweistündigen schattenlosen Wege. Du wirst den Sonnenstich bekommen, aber Du scheinst gar nicht mehr leben zu können, wenn Du Deiner Frau Mutter nicht mindestens drei- oder viermal in der Woche die Aufwartung machst.“

Der junge Mann runzelte die Stirn. „Ich kann der Mutter doch nicht Nein sagen, wenn sie mich zu sehen wünscht. Jetzt, wo wir uns so nahe sind, hat sie am Ende das Recht, zu verlangen, daß ich sie öfter besuche.“

„Nun, sie macht auch einen tüchtigen Gebrauch davon,“ meinte Witold. „Wissen möchte ich aber doch, wie sie es angefangen hat, Dich zum gehorsamen Sohn zu machen. Ich habe das fast zwanzig Jahre lang umsonst versucht; sie brachte es in einem einzigen Tage fertig. Freilich, das Regieren verstand sie von jeher aus dem Grunde.“

„Du weißt doch am besten, Onkel, daß ich mich nicht regieren lasse,“ versetzte Waldemar in gereiztem Tone. „Die Mutter ist mir mit einer Versöhnlichkeit entgegengekommen, die ich nicht so schroff zurückweisen kann und will, wie Du es thatest, so lange ich noch unter Deiner Vormundschaft stand –“

„Es wird Dir wohl recht oft da drüben gesagt, daß Du nicht mehr darunter stehst?“ unterbrach ihn der Pflegevater. „Du betonst das merkwürdig oft seit den letzten Wochen. Das ist übrigens ganz und gar unnöthig, mein Junge. Du hast leider von jeher immer nur gethan, was Du selbst gewollt hast, hast es oft genug gegen meinen Willen gethan. Deine Mündigkeitserklärung ist eine reine Form, das heißt für mich, nicht für die Baratowski. Die werden schon wissen, was sie damit anzufangen haben und weshalb sie Dich fortwährend daran erinnern.“

„Wozu die ewigen Verdächtigungen!“ brauste Waldemar auf. „Soll ich auf jeden Umgang mit meinen Verwandten verzichten, einzig deshalb, weil Du ihnen feind bist?“

„Ich wollte, Du könntest die Zärtlichkeit Deiner lieben Verwandten einmal auf die Probe stellen,“ spottete Witold. „Sie kümmerten sich nicht so viel um Dich, wenn Du nicht zufälliger Weise der Herr von Wilicza wärest. – Nun, fahre nur nicht gleich wieder auf! Wir haben uns in der letzten Zeit so oft über die Geschichte gezankt, daß ich mir heute nicht wieder den Mittagsschlaf dadurch verderben will. Dieser verwünschte Badeaufenthalt wird ja wohl auch ein Ende nehmen, und dann sind wir die ganze Gesellschaft los.“

Es trat ein kurzes Schweigen ein. Waldemar ging ungeduldig im Zimmer auf und nieder.

„Ich weiß nicht, was sie drüben in den Ställen machen. Ich habe Befehl gegeben, den Normann zu satteln, aber der Stallknecht scheint dabei eingeschlafen zu sein.“

„Du hast wohl wieder einmal gewaltige Eile, fortzukommen?“ fragte der Gutsherr trocken. „Ich glaube wahrhaftig, sie haben Dir in C. einen Hexentrank eingegeben, daß Du nirgends anderswo mehr Ruhe hast. Du kannst jetzt nie die Zeit erwarten, bist Du erst im Sattel sitzest.“

Waldemar gab keine Antwort; er pfiff vor sich hin und schlug mit der Reitgerte in die Luft.

„Die Fürstin geht doch hoffentlich wieder nach Paris zurück?“ fragte Witold auf einmal.

„Das weiß ich nicht. Es ist noch nicht beschlossen, wo Leo seine Studien vollenden soll. Die Mutter wird sich wahrscheinlich durch die Rücksicht auf ihn in ihrem künftigen Aufenthalt bestimmen lassen.“

„Ich wollte, er studirte in Constantinopel,“ sprach Herr Witold ärgerlich, „und seine Frau Mutter ließe sich aus Rücksicht für ihn bestimmen, auch mit in’s Türkenland zu gehen, dann kämen sie wenigstens sobald nicht wieder. Dieser junge Baratowski muß ja übrigens ein wahres Ungeheuer von Gelehrsamkeit werden. Du sprichst fortwährend von seinen ‚Studien‘.“

„Leo hat auch viel mehr gelernt als ich,“ sagte Waldemar grollend, „und er ist doch volle vier Jahre jünger.“

„Seine Mutter wird ihn wohl tüchtig zum Lernen angehalten haben. Der hat sicher nur einen einzigen Hofmeister gehabt, während Dir sechs davon gelaufen sind und der siebente nur mit Noth und Mühe bei Dir aushält.“

[498] „Und warum bin ich nicht zum Lernen angehalten worden?“ fragte der junge Nordeck plötzlich, indem er trotzig die Arme übereinander schlug und dicht vor seinen Pflegevater hintrat. Dieser sah ihn mit starrer Verwunderung an.

„Ich glaube, der Junge will mir Vorwürfe machen, weil ich ihm in allen Stücken den Willen gethan habe,“ rief er erzürnt.

„Nein,“ entgegnete Waldemar kurz. „Du hast es gut gemeint, Onkel, aber Du weißt nicht, wie mir zu Muthe ist, wenn ich sehe, daß Leo mir in allen Stücken voraus ist, wenn ich fortwährend von der Nothwendigkeit seiner weiteren Ausbildung höre, und dabeistehe und – aber das soll ein Ende nehmen. Ich gehe auch auf die Universität.“

Herr Witold hätte vor Schreck beinahe das Sophakissen fallen lassen, das er sich eben zurecht legen wollte.

„Auf die Universität?“ wiederholte er.

„Gewiß, Doctor Fabian spricht ja schon seit Monaten davon.“

„Und Du hast Dich seit Monaten entschieden geweigert.“

„Das war früher – jetzt denke ich anders darüber. Leo soll schon im nächsten Jahre zur Universität, und wenn er mit achtzehn Jahren reif dafür ist, so ist es für mich wahrhaftig die höchste Zeit. Ich will nicht immer und ewig hinter meinem jüngeren Bruder zurückstehen. Morgen spreche ich mit Doctor Fabian. – Und jetzt werde ich einmal selbst nach den Ställen hinübergehen und sehen, ob der Normann endlich gesattelt ist. Mir reißt die Geduld bei dem langen Warten.“

Er hatte bei den letzten Worten seinen Hut vom Tische genommen und stürmte nun in voller Ungeduld hinaus. Herr Witold blieb auf dem Sopha sitzen; er hielt das Kissen noch in der Hand, aber er dachte nicht mehr daran, es sich zurecht zu legen; mit der Mittagsruhe schien es vorläufig vorbei zu sein.

„Was ist mit dem Jungen vorgegangen? – Doctor, was haben sie mit dem Jungen angefangen?“ rief er zornig dem ganz harmlos eintretenden Doctor Fabian entgegen.

„Ich?“ fragte dieser erschrocken. „Nichts, Herr Witold. Waldemar kam ja soeben von Ihnen.“

„Ach, ich meine ja gar nicht Sie,“ sagte der Gutsherr ärgerlich. „Ich sprach von der Baratowski’schen Gesellschaft. Seit die den Waldemar in Händen hat, ist er gar nicht mehr zu regieren. Denken Sie nur, er will auf die Universität.“

„Wirklich?“ rief der Doctor erfreut.

Durch diese Antwort wurde Herr Witold nur noch mehr erbost. „Darüber freuen Sie sich wohl ganz außerordentlich?“ grollte er. „Es macht Ihnen wohl sehr großes Vergnügen, daß Sie von hier wegkommen und ich dann mutterseelenallein in Altenhof sitze?“

„Sie wissen ja, daß ich den Universitätsbesuch stets befürwortet habe,“ vertheidigte sich der Erzieher. „Ich habe leider nie Gehör gefunden, und wenn es wirklich die Frau Fürstin ist, die Waldemar endlich dazu vermocht hat, so kann ich ihren Einfluß nur für einen segensreichen halten.“

„Hol’ der Kukuk den segensreichen Einfluß!“ rief der Gutsherr, indem er das unglückliche Sophakissen mitten in das Zimmer schleuderte. „Wir werden schon sehen, was dahinter steckt. Irgend etwas ist mit dem Jungen passirt. Er läuft herum, als ob er am hellen lichten Tage träumte, kümmert sich um nichts mehr und giebt, wenn man ihn fragt, ganz verkehrte Antworten. Wenn er auf die Jagd geht, kommt er mit leeren Händen zurück, er, der sonst immer trifft, und jetzt hat er es auf einmal mit dem Studiren bekommen und ist nicht wieder davon abzubringen. – Ich muß heraus haben, was diese Veränderung bewirkt hat, und Sie sollen mir dabei helfen, Doctor. Sie müssen nächstens mit nach C.“

„Um des Himmelswillen nicht!“ protestirte Doctor Fabian. „Was soll ich dort?“

„Aufpassen!“ sagte der Gutsherr wichtig. „Und mir dann Nachricht bringen. Da drüben passirt etwas, das lasse ich mir nicht nehmen. Ich selbst kann nicht hinüber, denn ich stehe mit der Fürstin so zu sagen auf dem Kriegsfuße, und wenn wir beide zusammengerathen, giebt es Lärm. Ich kann ihre Bosheiten nicht vertragen und sie nicht meine Grobheiten, aber Sie, Doctor, sind neutral in der Sache; Sie sind der rechte Mann.“

Der Doctor wehrte sich mit allen Kräften gegen die ihm gestellte Zumuthung. „Aber ich verstehe mich ganz und gar nicht auf dergleichen,“ klagte er. „Sie kennen ja meine Aengstlichkeit, meine Zerstreutheit im Verkehr mit Fremden, und nun vollends der Frau Fürstin gegenüber. Auch wird Waldemar nie zugeben, daß ich ihn begleite –“

„Hilft Ihnen alles nichts!“ unterbrach ihn Witold dictatorisch. „Sie müssen nach C. Sie sind der einzige Mensch, zu dem ich Vertrauen habe, Doctor. Sie werden mich doch nicht im Stiche lassen?“ Und nun stürmte er mit einer solchen Menge von Bitten, Vorwürfen und Vorstellungen auf den armen Doctor ein, daß dieser, halb betäubt, sich endlich gefangen gab und alles versprach, was man nur von ihm verlangte.

Da ließen sich Hufschläge draußen auf dem Hofe vernehmen. Waldemar saß bereits zu Pferde; er gab dem Thiere die Zügel, und ohne auch nur einen Blick nach den Fenstern zurückzuwerfen, sprengte er davon.

„Da jagt er hin,“ sagte Witold, halb grollend und halb schon wieder voll Bewunderung für seinen Pflegesohn. „Sehen Sie nur, wie der Junge zu Pferde sitzt, wie aus Erz gegossen! Und es ist doch wahrhaftig keine Kleinigkeit, den Normann zu bändigen.“

„Waldemar hat eine eigene Passion, stets nur junge, wilde Pferde zu reiten,“ meinte der Doctor ängstlich. „Ich begreife nicht, weshalb er sich gerade den Normann zum Liebling ausersehen hat. Es ist das unbändigste und widerspänstigste Thier im ganzen Stalle.“

„Eben deshalb!“ lachte der Gutsherr. „Sie wissen ja, er muß etwas zu bezwingen und zu bändigen haben, sonst macht ihm die Sache keinen Spaß. Aber nun kommen Sie, Doctor! Wir wollen Ihre Mission überlegen; Sie müssen die Sache diplomatisch anfangen.“

Damit ergriff er den Doctor beim Arme und zog ihn zum Sopha. Der arme Fabian folgte geduldig. Er hatte sich in alles ergeben, und sagte nur halblaut mit kläglichem Ausdrucke: „Ich ein Diplomat, Herr Witold? Daß Gott erbarm!“ –

Die Baratowski’sche Familie hatte von jeher nur wenig Antheil an dem eigentlichen Badeleben von C. genommen, und seit der letzten Zeit zog sie sich noch mehr als sonst davon zurück. Waldemar fand sie bei seinen jetzt so häufigen Besuchen stets unter sich. Nur Graf Morynski war schon nach wenigen Tagen wieder abgereist; es war allerdings seine Absicht gewesen, seine Tochter sogleich mit sich zu nehmen, aber die Fürstin fand, daß ein längerer Aufenthalt an der See für Wanda’s Gesundheit ganz unbedingt nothwendig sei, und wußte ihren Bruder zu bestimmen, daß er in die verlängerte Trennung willigte. Er hatte sich dem Wunsche der Schwester gefügt und war vorläufig allein nach Rakowicz zurückgekehrt, wo geschäftliche Angelegenheiten seine Gegenwart erforderten.

Der junge Nordeck hatte trotz der Mittagshitze den Ritt in stürmischer Eile zurückgelegt und trat jetzt in das Zimmer der Fürstin, die er an ihrem Schreibtische fand. Wäre Leo so glühend erhitzt bei ihr eingetreten, sie hätte sicher ein Wort der Sorge oder der Ermahnung für ihn gehabt. Waldemar’s Aussehen blieb, wenn auch nicht unbemerkt, doch gänzlich unerwähnt. Es war eigenthümlich, daß auch jetzt, wo Mutter und Sohn sich doch so häufig sahen, nicht die geringste Vertraulichkeit zwischen ihnen Wurzel fassen wollte. Die Fürstin behandelte Waldemar stets mit der äußersten Rücksicht, und er bemühte sich, sein schroffes Wesen ihr gegenüber etwas zu mäßigen, aber es lag auch nicht die leiseste Spur von Herzlichkeit in diesem beiderseitigen Bemühen, ein gutes Einvernehmen aufrecht zu erhalten. Sie konnten nun einmal nicht über die unsichtbare Kluft hinweg, die zwischen ihnen lag, wenn eine fremde Macht sie auch für den Augenblick überbrückt hatte. Die gegenseitige Begrüßung war genau so kühl, wie beim ersten Wiedersehen, nur daß Waldemar’s Augen jetzt unruhig fragend im Zimmer umherschweiften.

„Du suchst Leo und Wanda?“ fragte die Fürstin. „Sie sind bereits unten am Strande und wollen Dich dort erwarten. Ihr habt ja wohl eine Segelfahrt miteinander verabredet?“

[499] „Ja wohl! Ich werde die Anderen sogleich aufsuchen.“ Waldemar machte eine hastige Bewegung nach der Thür, aber die Mutter legte ihre Hand auf seinen Arm.

„Zuerst möchte ich Dich für einige Minuten in Anspruch nehmen. Ich habe etwas Wichtiges mit Dir zu besprechen.“

„Kann das nicht später geschehen?“ fragte Waldemar ungeduldig. „Ich möchte doch vorher –“

„Es liegt mir daran, Dich allein zu sprechen,“ unterbrach ihn die Fürstin. „Du kommst noch immer zeitig genug zu der Partie. Ihr werdet sie wohl um eine Viertelstunde verschieben können.“

Der junge Nordeck sah bei dieser Zumuthung äußerst unzufrieden aus und folgte nur mit offenbarem Widerstreben der Einladung zum Niedersitzen. Von Aufmerksamkeit schien bei ihm vorläufig keine Rede zu sein, denn sein Blick schweifte fortwährend durch das Fenster, in dessen Nähe er saß und das nach dem Strande hinausging.

„Unser Aufenthalt in C. naht sich seinem Ende,“ begann die Fürstin. „Wir werden wohl bald an die Abreise denken müssen.“

Waldemar machte eine Bewegung, die fast Schrecken verrieth. „Schon jetzt? Der September verspricht ja schön zu werden; weshalb willst Du ihn nicht hier verleben?“

„Das kann ich Wanda’s wegen nicht. Ich kann meinem Bruder nicht eine noch längere Trennung von seinem Lieblinge zumuthen. Er hat schon ungern und nur auf meinen besonderen Wunsch in ihr Hierbleiben gewilligt, dafür habe ich ihm aber auch versprochen, sie selbst nach Rakowicz zu bringen.“

„Rakowicz liegt ja wohl nicht weit von Wilicza?“ fragte Waldemar rasch.

„Nur eine Stunde entfernt, etwa halb so weit, wie Altenhof von hier.“

Der junge Mann schwieg; er sah wieder angelegentlich durch das Fenster. Der Strand schien ihn heute außerordentlich zu interessiren.

„Da wir gerade von Wilicza sprechen,“ warf die Fürstin leicht hin, „Du wirst doch jetzt, nach erreichter Mündigkeit, Deine Güter selbst antreten? Wann gedenkst Du dorthin zu gehen?“

„Es war anfangs für nächstes Frühjahr bestimmt,“ sagte Waldemar zerstreut und immer mit seinen Beobachtungen beschäftigt. „Ich wollte den Winter über noch bei dem Onkel bleiben. Das wird sich aber jetzt wohl ändern, da ich beabsichtige, auf die Universität zu gehen.“

Die Mutter neigte zustimmend das Haupt. „Das ist ein Entschluß, dem ich nur meinen vollen Beifall geben kann. Ich habe Dir nie verhehlt, daß ich die vorwiegend praktische Erziehung bei Deinem Vormunde zu einseitig fand. Für eine Stellung, wie die Deinige, ist eine höhere Ausbildung unerläßlich.“

„Ich möchte vorher aber Wilicza gern einmal sehen,“ lenkte Waldemar ein. „Ich war seit meinen Knabenjahren nicht dort, und – und Du bleibst doch jedenfalls längere Zeit in Rakowicz?“

„Ich weiß es nicht,“ erwiderte die Fürstin. „Für den Augenblick werde ich allerdings die Zuflucht annehmen, die mein Bruder mir und meinem Sohne bietet. Es wird sich ja zeigen, ob wir seine Großmuth dauernd in Anspruch nehmen müssen.“

Der junge Nordeck sah auf. „Zuflucht – Großmuth – was soll das heißen Mutter?“

Die Lippen der Fürstin zeigten ein leises nervöses Zucken das einzige Zeichen, wie schwer ihr der Schritt wurde, den sie zu thun im Begriffe stand, sonst schien sie völlig unbewegt, als sie antwortete:

„Ich habe der Welt bisher unsere Verhältnisse verborgen und gedenke das auch ferner zu thun. Dir kann und will ich kein Geheimniß daraus machen. Ja, ich bin gezwungen, bei meinem Bruder eine Zuflucht zu suchen. Du kennst ungefähr die äußeren Ereignisse während meiner zweiten Ehe. Ich habe an der Seite meines Gemahls gestanden, als die Stürme der Revolution ihn fortrissen; ich bin ihm in die Verbannung gefolgt und habe fast zehn Jahre lang das Exil mit ihm getheilt. Unser Vermögen ist dem allem zum Opfer gefallen; schon die letzten Jahre zeigten einen unlösbaren Widerspruch zwischen den Ansprüchen unserer Stellung und den Mitteln, die uns zu Gebote standen. Ein kurzer Ueberblick unserer Angelegenheiten nach dem Tode des Fürsten hat mir gezeigt, daß ich auch diesen Kampf aufgeben muß – wir sind zu Ende mit unseren Hülfsquellen.“

Waldemar wollte sprechen; die Mutter hob abwehrend die Hand.

„Du begreifst, was es mich kostet, Dir diese Eröffnungen zu machen, und daß ich sie Dir nie gemacht hätte, wenn es sich nur um mich allein handelte, aber ich habe als Mutter meinen Sohn zu vertreten – da schwindet jede andere Rücksicht. Leo steht erst im Anfange seines Lebens und Werdens; ich fürchte nicht die Entbehrungen der Armuth für ihn, aber ich fürchte ihre Demüthigungen, denn ich weiß, daß er sie nicht erträgt. Dir hat das Geschick Reichthümer zugesprochen; Dir steht von jetzt an die unbeschränkte Verfügung darüber zu – Waldemar, ich übergebe die Zukunft Deines Bruders Deinem Edelmuth.“

Es wäre für jede Andere eine furchtbare Demüthigung gewesen, den Sohn des Mannes, von dem sie sich mit Haß und Verachtung losgerissen, um Hülfe anzuflehen, aber diesem Frau wußte die Demüthigung in einer Weise zu tragen, die ihr alles Erniedrigende nahm und ihrem eigenen Stolze auch nicht den geringsten Abbruch that. Die Haltung, mit der sie vor dem Sohne stand, war nicht die einer Bittenden. Sie appellirte nicht an ein Kindesgefühl, an eine Zärtlichkeit, die, wie sie wußte, nicht existirten. Die Mutter mit ihren Rechten trat für den Augenblick vollständig zurück; sie machte keins davon geltend, aber sie forderte von dem Gerechtigkeitsgefühle des älteren Bruders, daß er sich des jüngeren annehme, und es zeigte sich, daß sie Waldemar richtig berurtheilt hatte. Er fuhr lebhaft auf:

„Und das sagst Du mir erst jetzt, erst heute? Weshalb erfuhr ich nicht früher davon?“

Der Blick der Fürstin begegnete fest und ernst dem seinigen. „Was würdest Du mir wohl geantwortet haben, wenn ich Dir bei unserem ersten Wiedersehen eine solche Eröffnung gemacht hätte?“

Waldemar sah zu Boden, er erinnerte sich noch sehr gut der verletzenden Art, mit der er die Mutter damals gefragt, was sie eigentlich von ihm wolle.

„Du verkennst mich,“ erwiderte er hastig. „Ich hätte trotzdem nie zugegeben, daß Du mit Leo bei einem Anderen Hülfe suchst, als bei mir. Ich wäre Herr von Wilicza und sollte dulden, daß meine Mutter und mein Bruder in Abhängigkeit leben! – Du verkennst mich, Mutter, dieses Mißtrauen habe ich nicht verdient.“

„Ich hegte es auch nicht gegen Dich, mein Sohn, nur gegen den Einfluß, der Dich bisher geleitet hat, und vielleicht noch leitet. Weiß ich doch nicht einmal, ob er Dir gestatten wird, uns ein Asyl zu bieten.“

Das war wieder der Stachel, der seine Wirkung nie verfehlte, und den die Mutter stets im rechten Augenblicke einzusetzen verstand. Er blieb auch heute nicht ohne Einfluß auf den jungen Mann.

„Ich glaube Dir gezeigt zu haben, daß ich meine Selbstständigkeit zu wahren weiß,“ entgegnete er kurz. „Und nun sage mir, was ich thun soll! Ich bin zu Allem bereit.“

Die Fürstin wußte, daß sie jetzt ein Wagniß unternahm, aber sie ging fest und unbeirrt auf ihr Ziel los.

„Wir können Deine Hülfe nur in einer Form annehmen, wenn sie uns nicht zur Demüthigung werden soll,“ sagte sie. „Du bist der Herr von Wilicza – wäre es nicht das Natürlichste, wenn Mutter und Bruder dort Deine Gäste sind?“

Waldemar stutzte. Bei dem Namen Wilicza bäumten sich der alte Argwohn und das alte Mißtrauen wieder jäh empor. All die Warnungen des Pflegevaters vor den Plänen der Mutter tauchten wieder auf; die Fürstin sah das, aber sie wußte es meisterhaft zu pariren.

„Mir wäre der Ort nur wegen der Nähe von Rakowicz erwünscht,“ warf sie mit gleichgültiger Miene hin. „Ich könnte dann in unbeschränktem Verkehr mit Wanda bleiben.“

Die Nähe von Rakowicz! Der unbeschränkte Verkehr mit seinen Bewohnern! Das entschied alles. Die Wangen des jungen Mannes flammten, als er erwiderte:

[500] „Bestimme Du das ganz nach eigenem Gefallen! Ich bin damit einverstanden. Ich gehe zwar noch nicht dauernd nach Wilicza, aber ich begleite Euch jedenfalls dorthin, und die Universität hat ja auch in jedem Jahre längere Ferien.“

Die Fürstin reichte ihm die Hand. „Ich danke Dir, Waldemar, in meinem und Leo’s Namen.“

Der Dank war wohl aufrichtig gemeint, aber es lag doch keine rechte Wärme darin, und ebenso kühl klang die Erwiderung Waldemar’s:

„Ich bitte Dich, Mutter – Du beschämst mich. Die Sache ist ja abgemacht – und jetzt darf ich doch wohl endlich nach dem Strande?“

Er schien um jeden Preis einer längeren Unterhaltung entfliehen zu wollen, und die Mutter hielt ihn nicht mehr zurück; sie wußte zu gut, wem sie den soeben erfochtenen Sieg verdankte. Am Fenster stehend, sah sie, wie der junge Mann in stürmischer Eile durch die Gartenanlagen nach dem Strande schritt, und kehrte dann wieder zum Schreibtische zurück, um den vorhin begonnenen Brief an ihren Bruder zu vollenden. –

Der Brief war soeben beendigt und die Fürstin stand im Begriff, ihn zu siegeln, als Leo bei ihr eintrat. Er sah fast ebenso erhitzt aus, wie vorhin sein Bruder, aber bei ihm war es augenscheinlich innere Aufregung, die ihm das Blut in die Schläfe trieb. Mit finsterer Stirn und fest zusammengepreßten Lippen näherte er sich der Mutter, die befremdet aufsah.

„Was ist Dir, Leo? Weshalb kommst Du allein? Hat Waldemar Dich und Wanda nicht gefunden?“

„O gewiß!“ versetzte Leo in erregtem Tone. „Er kam schon vor einer Viertelstunde zu uns.“

„Und wo ist er jetzt?“

„Er macht mit Wanda eine Fahrt in das Meer hinaus.“

„Allein?“

„Jawohl. Ganz allein!“

„Du weißt doch, daß ich dergleichen nicht liebe,“ sagte die Fürstin unwillig. „Wenn ich Dir Wanda bei solchen Gelegenheiten anvertraue, so ist das etwas Anderes. Ihr seid wie Geschwister zusammen aufgewachsen und daher zu der Vertraulichkeit von Geschwistern berechtigt. Waldemar steht ihr in jeder Beziehung ferner, und überhaupt – ich wünsche kein so ausschließliches Zusammensein der Beiden. Die Segelfahrt war ja von Euch gemeinsam verabredet worden. Weshalb bist Du nicht bei ihnen geblieben?“

„Weil ich nicht immer die Rolle des Ueberflüssigen spielen will!“ brach Leo aus. „Weil es mir kein Vergnügen macht, zuzusehen, wie Waldemar fortwährend an Wanda’s Blicken hängt, wie er thut, als ob es nichts auf der Welt gäbe, als sie allein.“

Die Fürstin drückte ihr Petschaft auf den Brief. „Ich habe Dir schon einmal gesagt, Leo, was ich von diesen Eifersüchteleien halte. Fängst Du schon wieder damit an?“

„Mama,“ der junge Fürst trat mit sprühenden Augen dicht an den Schreibtisch, „siehst Du denn nicht, oder willst Du nicht sehen, daß Waldemar Deine Nichte liebt, daß er sie anbetet?“

„Und was thust Du denn?“ fragte die Mutter sich ruhig in ihren Sessel zurücklehnend. „Doch wohl genau dasselbe, wenigstens bildest Du es Dir ein. Ihr werdet doch nicht etwa verlangen, daß ich diese Knabenschwärmereien ernst nehmen soll? Du und Waldemar, Ihr seid gerade in dem Alter, wo man nothwendig ein Ideal haben muß, und Wanda ist bis jetzt das einzige junge Mädchen, dem ihr vertraulicher nahen dürft. Zum Glück ist sie noch Kind genug, das Ganze als ein Spiel anzusehen, und deshalb allein gestatte ich es. Würde sie jemals Ernst daraus machen, dann wäre ich genöthigt, einzuschreiten und Eurem Verkehr engere Grenzen zu ziehen. Das wird aber, wie ich Wanda kenne, nicht geschehen; sie spielt mit Euch beiden und lacht über Euch beide. Also schwärmt immerhin für sie! Deinem Bruder zumal kann diese Uebung in der Ritterlichkeit nicht schaden; sie fehlt ihm leider noch gar zu sehr.“

Das Lächeln, das diese Worte begleitete, war nun freilich tief verletzend für eine jugendliche Leidenschaft; es wies sie vollständig in den Bereich der Kinderspiele. Leo schien nur mit Mühe an sich zu halten.

„Ich wollte, Du sprächest einmal mit Waldemar in diesem Tone von der ‚Knabenschwärmerei‘,“ erwiderte er mit unterdrückter Heftigkeit. „Er würde das nicht so ruhig hinnehmen.“

„Ich würde ihm so wenig wie Dir verhehlen, daß ich Euer Benehmen für eine Jugendthorheit halte. Wenn Du mir nach vier oder fünf Jahren von Deiner Liebe zu Wanda sprichst, oder Waldemar es thut, dann will ich Euren Empfindungen Werth beilegen: für jetzt könnt Ihr noch ohne alle Gefahr die Ritter Eurer Cousine spielen – vorausgesetzt, daß es dabei nicht zu Streitigkeiten zwischen Euch kommt.“

„Dahin ist es bereits gekommen,“ erklärte Leo. „Ich bin vorhin mit Waldemar sehr scharf zusammengerathen und habe mich eben deshalb freiwillig von der Fahrt ausgeschlossen. Ich dulde es nicht, daß er Wanda’s Gespräch und Gesellschaft so ausschließlich für sich in Anspruch nimmt; ich dulde überhaupt nicht länger seine herrische Art und Weise und werde ihm das von jetzt an bei jeder Gelegenheit zeigen.“

„Das wirst Du nicht thun,“ fiel ihm die Mutter in’s Wort. „Ich lege mehr als je Werth auf ein gutes Einvernehmen zwischen Euch, denn wir werden mit Waldemar nach Wilicza gehen.“

„Nach Wilicza?“ rief Leo außer sich. „Und ich soll dort sein Gast sein, soll mich ihm vielleicht unterordnen? Nun und nimmermehr thue ich das. Ich will Waldemar nichts verdanken. Und wenn es meine ganze Zukunft kosten sollte, von ihm will ich nichts annehmen.“

Die Fürstin bewahrte ihre überlegene Ruhe, aber ihre Stirn verfinsterte sich doch, als sie antwortete:

„Wenn Du einer bloßen Laune wegen Deine ganze Zukunft auf’s Spiel setzen willst, so bin ich noch da, sie zu vertreten. Uebrigens handelt es sich hier nicht um Dich und mich allein, es sind noch andere, höhere Rücksichten, die mir den Aufenthalt in Wilicza wünschenswerth machen, und ich bin nicht gesonnen, meine Pläne durch Deine kindische Eifersucht stören zu lassen. Du weißt, daß ich Dir nie etwas Erniedrigendes zumuthen werde, aber Du weißt auch, daß ich gewohnt bin, meinem Willen Geltung zu verschaffen. Ich sage Dir, wir gehen nach Wilicza, und Du wirst Deinen älteren Bruder mit der Rücksicht behandeln, die ich selbst ihm erweise. Ich fordere Gehorsam, Leo.“

Der junge Fürst kannte diesen Ton hinreichend. Er wußte, daß, wenn die Mutter ihn anschlug, sie ihren Willen um jeden Preis durchsetzen wollte, aber diesmal trieb ihn ein mächtiger Sporn zum Widerstande. Wenn er auch keine Erwiderung in Worten wagte, so zeigte sein Antlitz doch, daß er sehr geneigt war, der That nach zu rebelliren, und daß er sich schwerlich zu der geforderten Rücksicht für den Bruder herbeilassen werde.

„Uebrigens werde ich dafür sorgen, daß die Veranlassung zu solchen Streitigkeiten künftig wegfällt,“ fuhr die Fürstin fort. „Wir reisen in acht Tagen, und wenn Wanda erst bei ihrem Vater ist, werdet Ihr sie ohnehin seltener sehen. Diese einsame Meeresfahrt mit Waldemar aber, die ich überhaupt nicht billige, soll unter allen Umständen die letzte gewesen sein.“

Damit klingelte sie und befahl dem eintretenden Pawlick, den Brief fortzutragen. Er brachte dem Grafen Morynski die Nachricht der baldigen Abreise und bereitete ihn zugleich darauf vor, daß die Schwester seine Gastfreundschaft nicht in Anspruch nehmen, sondern daß die ehemalige Herrin von Wilicza in Kurzem wieder dort einziehen werde.

[513] Das Boot, in welchem sich Waldemar und die junge Gräfin Morynska befanden, flog mit vollem Segel dahin. Die See war heute ziemlich bewegt; die Wellen, die das Schiffchen durchfurchte, brachen sich schäumend am Kiele und spritzten auch wohl über Bord, was die beiden Insassen aber wenig kümmerte. Waldemar saß am Steuer, mit einer Ruhe, die bewies, daß er der Führung unter allen Umständen Herr war, und Wanda, die ihm gegenüber im Schatten des Segels Platz genommen hatte, schien an der schwebend schnellen Fahrt große Freude zu haben.

„Leo wird uns bei der Tante verklagen,“ sagte sie, nach dem Lande zurückblickend, von dem sie schon eine Strecke entfernt waren. „Er ging in vollem Zorne fort. Sie waren aber auch sehr unfreundlich gegen ihn, Waldemar.“

„Ich liebe nicht, daß ein Anderer das Steuer in Händen hat, wenn ich im Boote bin,“ antwortete er kurz und herrisch.

„Und wenn ich es nun haben wollte?“ fragte Wanda neckend.

Er gab keine Antwort, aber er stand sofort auf und bot ihr schweigend das Steuer. Die junge Gräfin lachte.

„O, nicht doch. Es war nur eine Frage. Ich habe kein Vergnügen an der Fahrt, wenn ich fortwährend auf das Lenken achten muß.“

Ohne ein Wort zu sagen, nahm Waldemar das Steuer wieder zur Hand, das allerdings den ersten Anlaß zum Streite zwischen ihm und Leo gegeben hatte, wenn der eigentliche Grund auch anderswo lag.

„Wohin segeln wir denn eigentlich?“ nahm Wanda nach einem kurzen Schweigen wieder das Wort.

„Ich denke, nach dem Buchenholm. Es war ja verabredet.“

„Wird das für heute nicht zu weit sein?“ fragte die junge Dame ein wenig bedenklich.

„Bei dem günstigen Winde sind wir in einer halben Stunde dort,“ sagte Waldemar, „und wenn ich später die Ruder tüchtig einlege, brauchen wir kaum mehr Zeit zur Rückkehr. Sie wollten ja den Sonnenuntergang einmal vom Buchenholm aus sehen.“

Wanda widersprach nicht länger, obgleich sie ein unbestimmtes Gefühl von Bangigkeit überkam. Sonst war Leo der stete Begleiter der Beiden auf allen Spaziergängen und Ausflügen; zum ersten Male befanden sie sich heute allein mit einander. So jung Wanda auch noch war, sie hätte keine Frau sein müssen, um nicht schon bei dem zweiten Besuche Waldemar’s zu entdecken, was ihn bei dem ersten so seltsam scheu und verlegen gemacht hatte. Er war nicht fähig, sich zu verstellen, und seine Augen redeten eine nur allzu deutliche Sprache, obgleich er sich noch mit keinem Worte verrathen hatte. Er war gegen Wanda noch einsilbiger und zurückhaltender als gegen Andere, aber trotzdem kannte sie ihre Macht über ihn hinreichend und wußte sie zu brauchen, mißbrauchte sie wohl auch gelegentlich einmal, denn ihr war die ganze Sache in der That nur ein Spiel, nichts weiter. Es machte ihr Vergnügen, daß sie diese starre, unbändige Natur mit einem Worte, ja mit einem einzigen Blicke lenken konnte; es schmeichelte ihr, Gegenstand einer zwar meist stummen und seltsamen aber doch leidenschaftlichen Huldigung zu sein, und vor allem machte es ihr Spaß, daß sich Leo so sehr darüber ärgerte. Seinem älteren Bruder den Vorzug zu geben, fiel ihr in Wirklichkeit gar nicht ein, denn Waldemar’s ganzes Wesen war ihr im höchsten Grade antipathisch. Sie fand sein Aeußeres abstoßend, seine Formlosigkeit entsetzlich und seine Unterhaltung langweilig. Auch hatte die Liebe den jungen Nordeck nicht liebenswürdiger gemacht. Er zeigte nie jene ritterliche Artigkeit, in der Leo, trotz seiner Jugend, schon Meister war; er schien sich im Gegentheil nur widerwillig dem Zauber zu beugen, dem er doch nicht mehr entfliehen konnte, und gleichwohl gab sein ganzes Wesen Zeugniß davon, mit welcher unwiderstehlichen Gewalt ihn die erste Leidenschaft gefangen genommen hatte.

Der Buchenholm mochte früher wirklich eine kleine Insel gewesen sein; der Name deutete noch darauf hin, jetzt war er nur noch eine dichtbewaldete Anhöhe, die durch einen schmalen Landstreifen, eine Art Dünenzug, mit dem Ufer zusammenhing, von wo aus man ihn zu Fuß erreichen konnte. Der Ort wurde trotz seiner Schönheit nur wenig besucht; er war zu einsam und abgelegen für die glänzende und zerstreuungssüchtige Badegesellschaft von C., die ihre Ausflüge meist nach den benachbarten Stranddörfern richtete. Auch heute befand sich Niemand auf dem Holm, als das Boot landete. Waldemar stieg aus, während seine junge Begleiterin, ohne seine Hülfe abzuwarten, leichtfüßig auf den weißen Sand des Ufers sprang und dann die Anhöhe hinaufeilte.

Der Buchenholm führte seinen Namen mit Recht. Der ganze Wald, der sich fast eine Meile lang am Strande hinzog, zeigte nicht so viele und so prachtvolle Bäume dieser Art, wie sie hier auf diesem Fleckchen Erde vereint standen. Es waren mächtige, [514] uralte Buchen, die ihre riesigen Aeste weithin über den grünen Rasen ausbreiteten und über die grauen verwitterten Steintrümmer, die hier und da zerstreut lagen – der Sage nach die Ueberreste einer alten heidnischen Opferstätte. An der Landungsstelle traten die Bäume zu beiden Seiten zurück, und wie in einem Rahmen lag das weite Meer da. Tiefblau dehnte sich die unabsehbare Fläche aus; kein Ufer, keine Insel begrenzte den Blick; kein Segel tauchte am Horizonte auf, nichts als das Meer in seiner ganzen Schönheit, und der Buchenholm lag so einsam und weltverloren da, als sei er wirklich ein kleines Eiland mitten im Ocean.

Wanda hatte ihren Strohhut abgenommen, um den sich nur ein einfaches schwarzes Band schlang, und ließ sich jetzt auf einem der moosbewachsenen Steine nieder. Sie trug noch theilweise die Trauer um den verstorbenen Fürsten Baratowski; das weiße Kleid zeigte als einzigen Schmuck einige schwarze Schleifen, und die schweren Enden der gleichfalls schwarzen Schärpe fielen an der Seite nieder. Diese Todtenfarbe auf dem weißen Gewande gab der Erscheinung des jungen Mädchens etwas Ernstes, Schwermüthiges, das ihr sonst gar nicht eigen war; sie sah unendlich reizend aus, als sie so, mit leicht verschlungenen Händen, dasaß und nachdenkend auf das Meer hinausblickte.

Waldemar, der an ihrer Seite auf den riesigen Wurzeln einer Buche Platz genommen hatte, schien das auch zu finden, denn er unterhielt sich ausschließlich damit, sie anzusehen. Die ganze übrige Umgebung existirte für ihn nicht, und er schreckte wie aus einem Traume empor, als Wanda auf ihren Steinsitz deutete und dabei scherzend fragte:

„Ist das vielleicht einer von Ihren alten Runensteinen?“

Waldemar zuckte die Achseln. „Da müssen Sie meinen Lehrer, den Doctor Fabian, fragen,“ entgegnete er. „Der ist in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung besser zu Hause als in dem jetzigen. Er würde Ihnen einen sehr gelehrten und ausführlichen Vortrag über Runensteine, Hünengräber und dergleichen halten; es wäre sein höchster Genuß, das zu thun.“

„Um Gotteswillen nicht!“ lachte Wanda. „Aber wenn Doctor Fabian solche Begeisterung für die Vorzeit hegt, dann wundert es mich, daß er nicht auch Ihnen den Geschmack daran beigebracht hat. Mir scheint, Sie sind sehr gleichgültig dagegen.“

Der junge Mann machte eine verächtliche Miene. „Was kümmern mich diese Alterthumsgeschichten! Mich interessiren Wald und Felder nur wegen der Jagd, die sie mir bieten.“

„Wie prosaisch!“ rief Wanda entrüstet. „Also nur Ihre Jagdgeschichten haben Sie im Kopfe? Und hier auf dem Buchenholm denken Sie wohl auch nur an die Rehe und Hasen, die er möglicher Weise bergen könnte?“

„Nein,“ sagte Waldemar langsam, „hier nicht.“

„Es wäre auch unverzeihlich in dieser Umgebung. Sehen Sie nur diese Abendbeleuchtung! Dort drüben scheint die Fluth förmlich zu strahlen.“

Waldemar folgte gleichgültig der Richtung ihrer Hand. „Ja wohl – dort soll ja auch Vineta versunken sein.“

„Was ist dort versunken?“ fragte die junge Dame, sich lebhaft umwendend.

„Haben Sie noch nicht davon gehört? Es ist eine unserer Meeressagen; ich glaubte, Sie kennten sie bereits.“

„Nein. Erzählen Sie!“

„Ich bin ein schlechter Märchenerzähler,“ sagte Waldemar abwehrend. „Fragen Sie unser Strandvolk danach! Jeder alte Schiffer weiß Ihnen das besser und ausführlicher zu berichten als ich.“

„Ich will es aber aus Ihrem Munde hören,“ beharrte Wanda. „Also erzählen Sie!“

Auf der Stirn Waldemar’s zeigte sich eine Falte – der Befehl klang auch gar zu gebieterisch.

„Sie wollen?“ wiederholte er mit einiger Schärfe.

Wanda sah recht gut, daß er verletzt war, aber sie pochte auf eine Macht, die sie während der letzten Wochen oft genug erprobt hatte. „Ja wohl, ich will,“ erklärte sie mit der gleichen Bestimmtheit wie vorher.

Die Falte auf der Stirn des jungen Mannes vertiefte sich. Es war wieder einer jener Momente, wo er sich trotzig gegen den Zauber aufbäumte, der ihn in Fesseln gelegt hatte, aber jetzt begegnete er den dunkeln Augen, die den Befehl in eine Bitte umzuwandeln schienen, und vorbei war es mit Trotz und Widerstand – seine Stirn glättete sich; er lächelte.

„Nun denn also, wie ich es geben kann, kurz und – prosaisch,“ sagte er, das letzte Wort betonend. „Vineta soll, der Sage nach, eine alte Meeresfeste gewesen sein, die Hauptstadt der damaligen Bevölkerung, die das Meer und die Küsten ringsum beherrschte und an Glanz und Pracht ihres Gleichen suchte, während ihr aus allen Ländern unermeßliche Schätze zuströmten. Aber Hochmuth und Sünden ihrer Bewohner riefen das Strafgericht des Himmels auf sie herab, und sie ward von den Fluthen verschlungen. Unsere Schiffer schwören noch heute darauf, daß dort drüben, wo das Ufer so weit zurücktritt, die Feste Vineta unversehrt auf dem Meeresgrunde ruht. Sie wollen unter dem Wasser oft die Thürme und Kuppeln erblicken, die Glocken läuten hören, und bisweilen, in gewissen Zauberstunden, soll die ganze Wunderstadt wieder heraufsteigen aus der Tiefe und sich den besonders Begnadeten zeigen – es giebt ja Luftspiegelungen genug auf dem Meere, und wir haben hier im Norden auch eine Art von Fata Morgana, wenn auch freilich äußerst selten –“

„So erlassen Sie mir doch die nüchterne Erklärung!“ unterbrach ihn Wanda ungeduldig. „Wer fragt darnach, wenn die Sage nur schön ist, und wunderschön ist sie. Finden Sie das nicht auch?“

„Ich weiß nicht,“ versetzte Waldemar in einiger Verlegenheit. „Ich habe eigentlich noch nie darüber nachgedacht.“

„Aber haben Sie denn ganz und gar keine Empfindung für Poesie?“ rief die junge Gräfin verzweiflungsvoll. „Das ist ja entsetzlich.“

Er schaute sie betreten an. „Finden Sie das wirklich so entsetzlich?“

„Gewiß!“

„Mich hat aber nie Jemand gelehrt, die Poesie zu verstehen,“ sagte der junge Mann wie im Tone der Entschuldigung. „Im Hause meines Onkels weiß man nichts davon, und meine Lehrer haben mir nur immer trockene Unterrichtsstunden gegeben – ich fange erst jetzt an zu begreifen, daß es überhaupt eine Poesie giebt.“

Die letzten Worte hatten einen beinahe träumerischen Ausdruck, den Waldemar sonst niemals zeigte. Er warf das Haar zurück, das ihm wie gewöhnlich tief in die Stirn herabfiel, und lehnte den Kopf an den Stamm der Buche. Wanda machte zum ersten Mal die Entdeckung, daß es eine merkwürdig hohe und schön gewölbte Stirn war, die sich da unter dem blonden Haargewirr barg. Jetzt, wo sie sich frei und unbedeckt zeigte, schien sie das unschöne und unregelmäßige Gesicht förmlich zu adeln. An den linken Schläfen lief eine eigenthümlich gezeichnete blaue Ader hin, die selbst im Moment der Ruhe scharf und deutlich hervortrat; die junge Gräfin hatte sie noch niemals bemerkt unter der „ungeheuren gelben Löwenmähne“, die ihr stets ein Gegenstand des Spottes war.

„Wissen Sie, Waldemar, daß ich soeben etwas entdeckt habe?“ fragte sie neckend.

„Nun?“ fragte er zurück, ohne seine Stellung zu verändern.

„Die seltsame blaue Ader da an Ihrer Stirn – die Tante trägt sie gleichfalls an den Schläfen, genau an derselben Stelle und genau ebenso gezeichnet, nur schwächer.“

„Wirklich? Nun, das ist auch wohl das Einzige, was ich von meiner Mutter habe.“

„Ja, es ist wahr, Sie ähneln ihr nicht im Mindesten,“ meinte Wanda unbefangen. „Und Leo gleicht ihr doch zum Sprechen.“

„Leo!“ wiederholte Waldemar mit eigenthümlicher Betonung. „Ja freilich, Leo! Das ist auch etwas Anderes.“

Wanda lachte. „Weshalb? Soll der jüngere Bruder darin etwas vor dem älteren voraus haben?“

„Warum nicht? Hat er doch die Liebe der Mutter vor ihm voraus – ich dächte, das wäre genug.“

„Aber Waldemar!“ warf die junge Gräfin ein.

„Ist Ihnen das neu?“ fragte er mit einem finsteren Aufblick. „Ich dächte, es könnte für keinen Dritten ein Geheimniß mehr sein, wie ich mit meiner Mutter stehe. Sie zwingt sich [515] freundlich gegen mich zu sein, o ja! und das mag ihr oft Mühe genug kosten, aber sie kann die innere Abneigung nun einmal nicht überwinden, und ich kann’s auch nicht – also haben wir uns Beide nichts vorzuwerfen.“

Wanda schwieg betreten. Die Wendung, die das Gespräch nahm, befremdete sie im höchsten Grade. Waldemar schien das nicht zu bemerken; er fuhr in herbem Tone fort:

„Die Fürstin Baratowska ist und bleibt mir fremd. Ich gehöre nicht zu ihr und ihrem Sohne – das fühle ich bei jeder neuen Begegnung. Sie ahnen nicht, Wanda, was es mich kostet, immer wieder diese Schwelle zu betreten, immer wieder dieses Zusammensein zu ertragen. Es ist eine wahre Tortur, die ich mir auferlege, und ich habe nie geglaubt, daß ich sie so geduldig aushalten würde.“

„Aber weshalb thun Sie es denn?“ rief Wanda unvorsichtig. „Es zwingt Sie ja Niemand dazu.“

Er sah sie an. Die Antwort lag in seinen Augen, lag so deutlich darin, daß das junge Mädchen bis an die Stirn erröthete. Der heiße, vorwurfsvolle Blick sprach auch gar zu deutlich.

„Sie thun der Tante Unrecht,“ versetzte sie rasch, wie um ihre Verwirrung zu verbergen. „Sie muß und wird doch ihren eigenen Sohn lieben.“

„O gewiß!“ Die Bitterkeit Waldemar’s ließ sich jetzt nicht länger bewältigen. „Ich bin überzeugt, daß sie Leo sehr liebt, trotz ihrer Strenge gegen ihn, aber weshalb sollte sie mich lieben, oder ich sie? Ich hatte kaum die ersten Lebensjahre hinter mir, da verlor ich Vater und Mutter zugleich. Da wurde ich fortgerissen aus der Heimath, um im fremden Hause aufzuwachsen. Als ich später denken und fragen lernte, da vernahm ich, daß die Ehe meiner Eltern ein Unglück gewesen war, ein Unglück für Beide, daß sie sich im bittersten Haß von einander losgerissen hatten, und ich habe es erfahren, wie dieser Haß über Tod und Grab hinaus noch in mein Leben eingriff. Man sagte mir, die Mutter sei an Allem schuld gewesen, und doch hörte ich so manche Aeußerung, so manche Andeutung über den Vater, die mich auch an ihm irre machte. Wo andere Kinder lieben und verehren dürfen, da wurden mir Argwohn und Mißtrauen eingeflößt – ich kann sie jetzt nicht wieder los werden. Der Onkel ist gut gegen mich gewesen; er hat mich auch lieb in seiner Weise, aber er konnte mir doch auch nichts anderes bieten, als das Leben, das er selbst führt. Sie werden es ja wohl zur Genüge kennen; ich glaube, man ist bei meiner Mutter sehr genau darüber unterrichtet – und da verlangen Sie von mir, Wanda, ich soll die Poesie kennen?“

Die letzten Worte klangen wie ein grollender Vorwurf, und doch barg sich tief dahinter etwas wie eine dumpfe Klage. Wanda blickte mit großen erstaunten Augen auf ihren Begleiter, den sie heute gar nicht wieder erkannte. Es war freilich das erste Mal, daß sie in ein ernstes Gespräch mit ihm gerieth, daß er seine einsilbige Zurückhaltung ihr gegenüber aufgab. Auch ihr war das eigenthümlich kalte Verhältniß zwischen Mutter und Sohn nicht entgangen, aber sie hatte nicht geglaubt, daß dieser überhaupt eine Empfindung dafür habe; hatte er doch bisher mit keiner Silbe darauf hingedeutet, und nun auf einmal verrieth er eine fast leidenschaftliche Kränkung darüber. Dem jungen Mädchen kam erst in dieser Stunde eine Ahnung davon, wie einsam, wie grenzenlos leer und öde die Jugend Waldemar’s gewesen sein mußte, und wie verlassen und freundlos der junge Erbe, dessen Reichthum sie so oft hatte preisen hören.

„Sie wollten ja den Sonnenuntergang sehen,“ sagte Waldemar, plötzlich abbrechend, in ganz verändertem Tone, indem er sich erhob und an ihre Seite trat. „Ich glaube, wir haben ihn heute in seltener Pracht.“

Das Gewölk, das den Horizont umsäumte, war in der That schon von rother Gluth umflossen, und die Sonne selbst sank in voller Klarheit dem Meere zu, das seltsam aufleuchtete, als es den Abschiedsgruß des scheidenden Gestirns empfing. Eine Fluth von Glanz und Licht schien darüber hinzuströmen und sich weithin zu verbreiten. Dort drüben aber, wo Vineta auf dem Meeresgrunde ruhte, brannten die Wellen in dunklem Purpurscheine; in ihren Furchen glänzte es wie flüssiges Gold und tausende von strahlenden Funken tanzten darüber hin. Es liegt doch etwas in den alten Sagen, was sie weit hinaushebt über den Aberglauben, und man kann ein Kind der neuen Zeit sein, und doch voll und ganz die Märchenstunde erleben, in der das alles wieder lebendig wird. Es waren ja Menschen, welche die Sagen schufen, und ihre ewigen Räthsel, wie ihre ewigen Wahrheiten ruhen noch heute tief in der Menschenbrust. Freilich nicht Jedem öffnet sich das jetzt so streng verschlossene Märchenreich, aber die Beiden auf dem Buchenholme mußten wohl zu den besonders Begünstigten gehören, denn sie fühlten deutlich den Zauber, der sie leise, aber unwiderstehlich in seine Kreise zog, und keines hatte den Muth oder den Willen, sich ihm zu entreißen.

Ueber ihren Häuptern rauschten die Buchenwipfel im Winde, und noch lauter rauschte das Meer zu ihren Füßen. Woge auf Woge kam an das Ufer gerollt; die weißen Schaumkronen auf den Häuptern, bäumten sie sich einen Moment lang empor, um dann zischend am Strande zu zerschellen. Es war die alte mächtige Melodie des Meeres, jene aus Windesrauschen und Wellenbrausen zusammengesetzte Melodie, die mit ihrer ur-ewigen Frische jedes Herz gefangen nimmt. Sie singt von träumender sonnenbeglänzter Meeresstille, von Sturmestoben mit all seinem Schrecken und Verderben, von rastlosem, endlosem Wogen und Leben, und jede Welle bringt einen Ton davon an’s Ufer, und jeder Windhauch bringt den Accord dazu.

Waldemar und seine jugendliche Gefährtin mußten diese Sprüche wohl verstehen, denn sie lauschten ihr in athemlosem Schweigen, und für sie klang auch noch etwas Anderes mit hindurch. Aus der Tiefe der Fluth schwebten die Glockenklänge zu ihnen empor, und es legte sich ihnen um das Herz, wie Schmerz und Sehnsucht, und doch wieder wie die Ahnung eines unendlichen Glückes. Den purpurnen Wellen aber entstieg ein schimmerndes Luftgebild. Es schwebte auf dem Meere; es zerfloß im Sonnengolde und stand doch klar und leuchtend da, eine ganze Welt voll unermessener, nie gekannter Schätze, von ihrem Zauberglanze umwoben, die alte Wunderstadt – Vineta.

Der glühende Sonnenball schien jetzt mit seinem strahlenden Rande die Fluth zu berühren; tief und tiefer sinkend, entschwand er langsam den Blicken; noch einmal flammte es am Horizonte auf, wie mit feuriger Lohe – dann war das Licht verschwunden, und auch das dunkle Roth, das noch auf dem Wasser lagerte, begann allmählich zu verblassen.

Wanda athmete tief auf und fuhr mit der Hand über die Stirn. „Die Sonne ist nieder,“ sagte sie leise, „wir werden an die Rückkehr denken müssen.“

„An die Rückkehr?“ wiederholte Waldemar wie im Traume. „Schon jetzt?“

Das junge Mädchen erhob sich rasch, als gelte es irgend einer beängstigenden Empfindung zu entfliehen. „Das Tageslicht bleibt nicht mehr allzulange, und wir müssen jedenfalls bei anbrechender Dämmerung in C. sein, sonst verzeiht uns die Tante nie diese eigenmächtige Fahrt.“

„Das werde ich bei meiner Mutter vertreten,“ sagte Waldemar, auch er schien sich zu den gleichgültigen Worten förmlich zwingen zu müssen, „wenn Sie aber die Rückkehr wünschen –“

„Ich bitte darum.“

Der junge Mann machte eine Wendung nach dem Boote hin, auf einmal aber hielt er inne.

„Sie wollen ja wohl fort, Wanda? Schon in wenigen Tagen? Nicht wahr?“

Die Frage klang seltsam erregt, und auch in der Stimme der jungen Gräfin lag nicht die gewöhnliche Unbefangenheit, als sie antwortete:

„Ich muß zu meinem Vater; er entbehrt mich schon so lange.“

„Meine Mutter und Leo gehen nach Wilicza –“ Waldemar stockte bei den Worten, als ob ihm irgend etwas den Athem benehme. „Es ist die Rede davon, daß ich sie begleite – darf ich das?“

„Weshalb fragen Sie mich danach?“ fragte Wanda mit einer ihr sonst ganz fremden Befangenheit. „Es hängt doch einzig von Ihnen ab, ob Sie Ihre Güter besuchen wollen.“

[516] Der junge Mann beachtete den Einwurf nicht; er beugte sich zu ihr nieder; seine Stimme bebte, wie in leidenschaftlicher Unruhe.

„Ich frage aber Sie, Wanda, Sie allein – darf ich nach Wilicza kommen?“

„Ja!“ fiel es wie unwillkürlich von Wanda’s Lippen, aber in demselben Augenblick erschrak sie auch darüber, denn Waldemar hatte mit einer stürmischen Bewegung ihre Hand ergriffen und hielt sie so fest, als sei es für die Ewigkeit. Die junge Gräfin fühlte, was er in dieses „Ja“ hinein legte, und das machte sie bestürzt. Es überkam sie auf einmal wie eine heiße Angst. Waldemar bemerkte ihr Zurückweichen.

„Bin ich Ihnen wieder zu ungestüm?“ fragte er leise. „Sie dürfen mir darüber nicht böse sein, Wanda, heute nicht. Ich konnte nur den Gedanken an Ihre Entfernung nicht ertragen. Jetzt weiß ich’s ja, daß ich Sie wiedersehen darf – jetzt will ich geduldig warten, bis wir in Wilicza sind.“

Sie gab keine Antwort. Schweigend gingen beide nach dem Boote hinunter. Waldemar richtete die Segel und legte die Ruder ein, und einige mächtige Stöße trieben das kleine Fahrzeug weit hinaus in die See. Noch lag ein leichter Rosenschimmer auf den Wellen, als das Boot darüber hinglitt. Niemand sprach auf der Fahrt, nur das Meer rauschte eintönig, während das letzte flüchtige Roth am Himmel verblaßte und die ersten Schatten der Dämmerung sich über den Buchenholm legten, der weit und weiter zurückwich. Der Traum beim Sonnenuntergang war zu Ende, aber die alte Sage, die ihn gesponnen, erzählt auch, daß, wer einmal das versunkene Vineta geschaut, einmal seinen Glockenklängen gelauscht habe, den lasse die Sehnsucht danach nicht ruhen sein Lebelang, bis die alte Wunderstadt wieder zu ihm emporsteigt – oder bis sie ihn hinabzieht in die Tiefe.


Die diplomatische Mission, zu der Herr Witold den Doctor Fabian auserlesen hatte, schien dem Ersteren in ihrer Ausführung nicht halb so schwierig, wie in ihrer Einleitung. Um genauen Bericht darüber zu erstatten, „was eigentlich da drüben in C. passirte“, mußte der Doctor natürlich Zutritt bei der Fürstin Baratowska haben, und das konnte nur durch Waldemar geschehen. Witold zerbrach sich den Kopf darüber, wie er seinem starrsinnigen Pflegesohne die Sache beibringen könne, ohne gleich von vorn herein auf ein entschiedenes Nein zu stoßen. Da kam ihm unerwartet der Zufall zu Hülfe. Die Fürstin hatte bei dem letzten Zusammensein den Wunsch ausgedrückt, den Lehrer ihres Sohnes persönlich kennen zu lernen. Waldemar sprach davon nach seiner Rückkehr, und der Gutsherr ergriff mit beiden Händen die willkommene Gelegenheit. Er war zum ersten Male in seinem Leben in der Lage, einen Wunsch der Fürstin Jadwiga vernünftig zu finden; er hielt den Doctor unerbittlich beim Worte, und dieser, der noch immer gehofft hatte, die Sache werde an dem Eigensinne seines Zöglings scheitern, mußte schon am zweiten Tage mit Waldemar zu der gewünschten Vorstellung nach C.

Waldemar war auch heute zu Pferde. Er war ein leidenschaftlicher Reiter und verabscheute das Fahren auf den sandigen oder steinigen Landwegen, über die er im Galopp hinsprengte. Es fiel ihm nicht ein, Rücksicht auf seinen Lehrer zu nehmen und sich zu ihm in den Wagen zu setzen. Doctor Fabian war an dergleichen Rücksichtslosigkeiten gewöhnt, und von Natur schüchtern und nachgiebig, hatte er nicht den Muth, sich dagegen zu erheben oder deswegen seine Stellung zu opfern. Er besaß kein Vermögen; eine Stellung war überhaupt für ihn eine Lebensfrage. Das Leben in Altenhof sagte ihm wenig zu, aber er nahm im Ganzen ja auch nur wenig Theil daran. Er erschien nur bei Tische und hin und wieder Abends auf eine Stunde, um dem Gutsherrn Gesellschaft zu leisten; sein Zögling nahm ihn wenig genug in Anspruch. Waldemar war stets froh, wenn er die Unterrichtsstunden hinter sich hatte, und sein Lehrer war es noch mehr. Die ganze übrige Zeit stand diesem zur freien Verfügung; er konnte sich ungestört seinem Steckenpferde, den germanischen Studien, hingeben. Diesen geliebten Studien verdankte Herr Witold es allein, daß der jetzige Erzieher seines Pflegesohnes nicht dem Beispiele der sechs Vorgänger folgte und gleichfalls davonlief, denn er sagte sich ganz richtig, daß in einer anderen Stellung, wo eine stete Beaufsichtigung der Zöglinge verlangt werde, es mit dem Studiren vorbei sei. Freilich gehörte ein so geduldiger Charakter, wie der des Doctors dazu, unter solchen Verhältnissen auszuhalten; er ertrug es auch heute schweigend, daß Waldemar wirklich vorausritt und ihn erst am Eingange von C. erwartete, wo sie gegen Mittag anlangten.

Sie fanden bei ihrer Ankunft nur Gräfin Wanda im Salon und Doctor Fabian machte die erste Vorstellung zwar in großer Befangenheit, aber doch in leidlicher Haltung durch. Leider reizte seine sichtbare und ein wenig komische Aengstlichkeit die junge Gräfin sogleich, ihren Muthwillen an ihm zu üben.

„Also Sie, Herr Doctor, sind der Erzieher meines Vetters Waldemar,“ begann sie. „Ich spreche Ihnen mein aufrichtiges Beileid aus und beklage Sie von ganzem Herzen.“

Fabian sah erschrocken in die Höhe und dann nicht minder erschrocken auf seinen Zögling, aber dieser schien die Aeußerung gar nicht gehört zu haben, denn seine Miene verrieth nicht die geringste Entrüstung.

„Wie meinen Sie, gnädige Gräfin?“ stammelte der Doctor.

„Nun, ich meine, daß es ein sehr schwieriges Amt ist, Herrn Waldemar Nordeck zu erziehen,“ fuhr Wanda unbekümmert fort und ergötzte sich unendlich an der grenzenlosen Verlegenheit, die ihre Worte hervorriefen.

Doctor Fabian blickte in einer wahren Todesangst zu Waldemar hinüber; er wußte, wie empfindlich dieser war, auch gegen bloße Neckereien. Oft genug hatten weit harmlosere Aeußerungen des Herrn Witold einen wahren Sturm hervorgerufen, aber merkwürdiger Weise zeigte sich heute nicht das kleinste Anzeichen davon. Der junge Mann stützte sich ruhig auf den Sessel der Gräfin Morynska, ja, es schwebte sogar ein Lächeln um seine Lippen, als er, zu ihr herabgebeugt, fragte:

„Glauben Sie, daß ich so schlimm bin?“

„Jawohl, das glaube ich,“ erklärte Wanda. „Hatte ich doch erst vorgestern bei dem Streite um das Steuer das Vergnügen, Sie in vollem Zorne zu sehen.“

„Aber doch nicht gegen Sie,“ sagte Waldemar vorwurfsvoll.

Der Doctor ließ den Hut sinken, den er bisher mit beiden Händen festgehalten hatte. Was war das für ein Ton, der so weich und mild von den Lippen seines wilden Zöglings kam, und was sollte der Blick bedeuten, der ihn begleitete? Das Gespräch ging in dieser Art weiter. Wanda neckte den jungen Mann mit ihrem gewöhnlichen Uebermuthe, und Waldemar ließ sich das Spiel mit einer unendlichen Geduld gefallen. Hier schien ihn nichts reizen, nichts verletzen zu können; für Alles, hatte er nur ein Lächeln: er war überhaupt wie ausgetauscht, seit er sich in der Nähe der jungen Gräfin befand.

„Herr Doctor Fabian hört uns ganz andächtig zu,“ spottete diese. „Sie freuen sich wohl über unsere muntere Laune?“

[529] Der arme Doctor! Er dachte nicht daran, sich zu freuen. Mit ihm ging Alles im Kreise herum. So wenig Erfahrung er auch in Liebesangelegenheiten hatte, hier dämmerte die Wahrheit ihm doch allmählich auf; er fing jetzt an zu merken, was hier eigentlich „passirte“. Also darum hatte Waldemar so schnell in die Aussöhnung gewilligt; darum ritt er unverdrossen in Sturm und Sonnenschein nach C.; daher stammte die Veränderung in seinem ganzen Wesen. Herrn Witold traf sicherlich der Schlag, wenn er die Geschichte erfuhr, er, der einen so tief eingewurzelten Haß gegen die ganze „Polengesellschaft“ hegte. Die diplomatische Mission war nun freilich gleich in der ersten halben Stunde geglückt, aber ihr Resultat jagte dem Abgesandten ein solches Entsetzen ein, daß er die ihm anbefohlene Diplomatie vollständig vergaß und wahrscheinlich seinen Schrecken verrathen hätte, wenn nicht soeben die Fürstin Baratowska eingetreten wäre.

Die Dame hatte mehr als einen Grund zu dem Wunsche, den Erzieher ihres Sohnes, der diesen auch auf die Universität begleiten sollte, persönlich kennen zu lernen. Jetzt, wo die Aussöhnung erfolgt und eine dauernde Verbindung angeknüpft war, konnte ihr die nächste Umgebung Waldemar’s nicht gleichgültig sein. Sie überzeugte sich nun freilich schon in den ersten zehn Minuten, daß von dem harmlosen Fabian nichts Feindseliges zu besorgen sei, daß er sich im Gegentheile gebrauchen lassen werde, wenn auch ohne sein Wissen. Von dem steten Begleiter konnte man in Zukunft Manches erfahren, was von dem unzugänglichen Waldemar selbst nicht zu erfahren war, und das blieb unter allen Umständen von Wichtigkeit. Die Fürstin erwies dem Doctor die Ehre, ihn für ein geeignetes Werkzeug anzusehen; sie war in Folge dessen von herablassender Freundlichkeit gegen ihn, und die Demuth, mit der er diese Herablassung aufnahm, gewann ihm ihre volle Zufriedenheit. Sie verzieh seine Schüchternheit und Unbeholfenheit, oder vielmehr, sie fand beides in ihrer Gegenwart sehr natürlich und geruhte, ihn in ein längeres Gespräch zu verflechten.

Waldemar schien mit dem Eintritte der Mutter seine ganze sonstige Einsilbigkeit wieder aufgenommen zu haben. Er betheiligte sich wenig an der Unterhaltung und sagte der Fürstin endlich einige leise Worte. Sie erhob sich sofort und trat mit ihm auf den Balcon hinaus.

„Du wünschest mich allein zu sprechen?“ fragte sie.

„Nur auf eine Minute,“ entgegnete Waldemar. „Ich wollte Dir nur sagen, daß es mir unmöglich ist, Dich und Leo nach Wilicza zu begleiten, wie wir verabredet hatten.“

Ein leichtes Erschrecken zeigte sich in den Zügen der Mutter. „Weshalb? Legt man Deiner Abreise vielleicht Schwierigkeiten in den Weg?“

„Ja wohl,“ sagte der junge Mann unmuthig. „Es sind, wie sich jetzt herausstellt, nach meiner Mündigkeitserklärung einige Förmlichkeiten zu erfüllen, bei denen ich durchaus persönlich zugegen sein muß. Das Testament des Vaters weist in dieser Hinsicht verschiedene Bestimmungen auf; weder Onkel Witold noch ich haben daran gedacht, und gerade jetzt, wo ich fort will, kommt die Aufforderung. Ich werde für’s Erste noch hier bleiben müssen.“

„Nun, dann werden wir unsere Abreise gleichfalls verschieben,“ meinte die Fürstin, „und ich muß Wanda allein nach Rakowicz senden.“

„Auf keinen Fall!“ fiel Waldemar mit der größten Bestimmtheit ein. „Ich habe bereits nach Wilicza geschrieben, daß Du in den nächsten Tagen dort eintreffen wirst und daß man die nöthigen Vorbereitungen im Schlosse treffen soll.“

„Und Du?“

„Ich komme nach, sobald ich hier frei bin. Jedenfalls bringe ich einige Wochen bei Euch zu, ehe ich zur Universität gehe.“

„Noch eine Frage, Waldemar,“ sagte die Fürstin ernst. „Weiß Dein ehemaliger Vormund bereits von dieser Bestimmung?“

„Nein. Ich habe bisher nur von meinem Besuche in Wilicza gesprochen.“

„Dann wirst Du unseren Aufenthalt dort also vor ihm vertreten müssen.“

„Ich werde,“ entgegnete Waldemar kurz. „Im Uebrigen habe ich den Administrator angewiesen, sich zu Deiner Verfügung zu stellen, bis ich selbst eintreffe. Du hast nur Deine Befehle zu geben; es ist dafür gesorgt, daß sie respectirt werden.“

Die Fürstin wollte ihren Dank aussprechen, aber er kam nicht über ihre Lippen; sie wußte ja, daß diese Großmuth nicht ihr galt, und die eigenthümlich kalte Art, in der sie ihr geboten wurde, ließ ihr nur die Möglichkeit, sie ebenso kalt hinzunehmen, wollte sie sich nicht demüthigen.

„Wir dürfen Dich also bestimmt erwarten?“ fragte sie. „Was Leo betrifft –“

[530] „Leo schmollt noch mit mir wegen unseres vorgestrigen Streites,“ unterbrach sie Waldemar. „Er ging bei meiner Ankunft sehr demonstrativ nach dem Strande hinunter, ohne mich sehen zu wollen.“

Die Fürstin runzelte die Stirn. Leo hatte gemessenen Befehl erhalten, dem Bruder freundlich zu begegnen, und dennoch zeigte er diesen Trotz, welcher der Mutter gerade jetzt äußerst ungelegen kam.

„Leo ist oft heftig und unbedacht,“ entgegnete sie. „Ich werde dafür sorgen, daß er Dir zuerst die Hand zur Versöhnung bietet.“

„Nicht doch,“ lehnte Waldemar kühl ab. „Wir machen das besser unter uns allein aus. Sei unbesorgt!“

Sie traten wieder in den Salon, wo Wanda sich inzwischen damit unterhalten hatte, den Doctor Fabian von einer Verlegenheit in die andere zu treiben. Die Fürstin erlöste ihn jetzt davon; sie wünschte den Studienplan ihres Sohnes eingehend mit ihm zu besprechen, und er mußte sie auf ihre Aufforderung in ihr eigenes Zimmer begleiten.

„Der arme Doctor!“ sagte Wanda, ihm nachblickend. „Mir scheint, Waldemar, Sie haben das Verhältniß geradezu umgekehrt. Sie hegen nicht den mindesten Respect vor Ihrem Lehrer, aber er hat eine grenzenlose Furcht vor Ihnen.“

Waldemar widersprach nicht dieser nur allzu richtigen Bemerkung; er erwiderte nur: „Finden Sie, daß Doctor Fabian eine Persönlichkeit ist, die Respect einflößt?“

„Das nicht, aber er scheint sehr gutmüthig und geduldig zu sein.“

Der junge Mann nahm eine verächtliche Miene an. „Mag sein! Aber das sind Eigenschaften, die gerade ich am wenigsten zu schätzen verstehe.“

„Man muß Sie wohl tyrannisiren, wenn man Ihnen Respect einflößen will?“ fragte Wanda mit einem schelmischen Aufblicke.

Waldemar zog einen Sessel heran und nahm an ihrer Seite Platz. „Es kommt darauf an, von wem die Tyrannei ausgeht. In Altenhof möchte ich sie Keinem rathen, auch meinem Onkel Witold nicht, und hier dulde ich sie auch nur von einer Seite.“

„Wer weiß!“ warf Wanda leicht hin. „Ich möchte es nicht versuchen, Sie ernstlich zu reizen.“

Er gab keine Antwort; er war augenscheinlich nur halb bei dem Gespräche und schien einen ganz anderen Gedankengang zu verfolgen.

„Fanden Sie es vorgestern nicht wunderschön auf dem Buchenholm?“ fragte er plötzlich, ohne jeden Uebergang.

Eine leichte Röthe stieg in dem Antlitze der jungen Gräfin auf, aber sie erwiderte in dem vorigen übermüthigen Tone: „Ich finde, daß der Ort etwas Unheimliches hat, trotz all seiner Schönheit, und was nun vollends Ihre Meeressagen betrifft – ich lasse sie mir sicherlich nicht zum zweiten Male bei Sonnenuntergang erzählen. Man kommt schließlich dahin, an die alten Märchen zu glauben.“

„Jawohl, man kommt dahin,“ sagte Waldemar leise. „Sie warfen es mir ja vor, daß ich die Poesie in der Sage nicht begreifen konnte – jetzt habe ich sie auch verstehen gelernt.“

Wanda schwieg. Sie kämpfte wieder mit jener Befangenheit, die sie erst seit vorgestern kannte. Schon vorhin, beim Eintritte des jungen Nordeck hatte sich dieses Gefühl ihrer bemächtigt; sie hatte versucht, es wegzulachen und wegzuspotten, und das war auch gelungen in Gegenwart der Anderen, aber sobald sie sich Beide allein befanden, kam es mit neuer Macht zurück; sie konnte den unbefangenen Ton von früher nicht wiederfinden. Dieser seltsame Abend auf dem Buchenholm! Er hatte einen eigenthümlichen Ernst in die Sache gebracht, die ja doch nur ein Scherz sein und bleiben sollte und nichts weiter.

Waldemar harrte vergebens auf eine Antwort; es schien ihn fast zu kränken, daß sie ausblieb. „Ich habe vorhin der Mutter mitgetheilt, daß ich nicht sogleich mit nach Wilicza kann,“ nahm er von Neuem das Wort. „Ich werde erst in drei oder vier Wochen nachkommen.“

„Nun, das ist ja nur eine kurze Zeit,“ meinte Wanda.

„Nur eine kurze Zeit?“ rief der junge Mann heftig. „Eine Ewigkeit ist es. Sie haben wohl gar keine Ahnung davon, was es mich kostet, hier zurückzubleiben und Sie allein reisen zu lassen?“

„Waldemar, ich bitte Sie,“ fiel Wanda mit sichtbarer Beklommenheit ein, aber er hörte nicht darauf; er fuhr mit der gleichen Heftigkeit fort:

„Ich habe Ihnen versprochen, zu warten, bis wir in Wilicza sind, aber damals hoffte ich noch, Sie zu begleiten. Jetzt liegt vielleicht ein Monat zwischen unserem Wiedersehen und so lange kann ich nicht schweigen, so lange kann ich Sie nicht fortwährend in Leo’s Nähe wissen, ohne die Ueberzeugung, daß Sie mir gehören, mir allein.“

Das Geständniß kam so plötzlich, so stürmisch, daß die junge Gräfin gar keine Zeit hatte, es abzuwehren, und es wäre dieser ausbrechenden Leidenschaft gegenüber auch umsonst gewesen. Er hatte wieder ihre Hand ergriffen und hielt sie so fest wie damals auf dem Buchenholm.

„Weichen Sie nicht so vor mir zurück, Wanda! Sie müssen es ja längst wissen, was mich allein hier festhielt; ich konnte es ja nie verbergen, und Sie haben es geduldet, haben mich nicht zurückgewiesen, da darf ich endlich doch einmal das Schweigen brechen. Ich weiß, daß ich nicht bin wie die Anderen, daß mir viel, vielleicht Alles fehlt, um Ihnen zu gefallen, aber ich kann und will es lernen. Es ist ja einzig und allein um Ihretwillen, daß ich mir diese Universitätsjahre auferlege. Was frage ich nach dem Studium, was nach dem Leben da draußen? Mich kümmert das Alles nichts, aber ich habe es gesehen, daß Sie oft vor mir zurückschrecken, daß Sie bisweilen über mich spotten, und – das sollen Sie nicht mehr. Nur die Gewißheit, daß Sie mein sind, daß ich Sie wiederfinde! Wanda, ich bin allein gewesen seit meiner Kindheit, oft recht allein. Wenn ich Ihnen roh und wild erschienen bin – Sie wissen es ja, mir hat die Mutter, mir hat die Liebe gefehlt. Ich konnte nicht so werden wie Leo, dem das Alles zu Theil ward, aber lieben kann ich, vielleicht heißer und besser als er; Sie sind das einzige Wesen, das ich je geliebt habe, und ein einziges Wort von Ihnen wiegt die ganze Vergangenheit auf. – Sage mir dieses Wort, Wanda, gieb mir wenigstens die Hoffnung, daß ich es einst von Dir hören werde, aber sage nur nicht Nein, denn das ertrage ich nicht!“

Er lag wirklich auf den Knieen vor ihr, aber die junge Gräfin dachte jetzt nicht mehr daran, sich des Triumphes zu freuen, den sie einst im kindischen Uebermuthe herbeigewünscht. Es war ihr wohl hin und wieder eine dunkle Ahnung gekommen, daß das Spiel ernsthafter werden könne, als sie gedacht, daß es sich nicht mit einem bloßen Scherze werde beendigen lassen, aber mit dem ganzen Leichtsinne ihrer sechszehn Jahre hatte sie den Gedanken von sich gewiesen. Jetzt war die Entscheidung da; sie mußte ihr Stand halten, mußte einer offenen leidenschaftlichen Werbung Stand halten, die unerbittlich ein Ja oder Nein verlangte. Freilich, bestrickend war diese Werbung nicht; sie hatte nichts Zärtliches, Schwärmerisches, wie es die Empfindungsweise eines jungen Mädchens verlangte, selbst durch das Geständniß seiner Liebe wehte etwas von jenem herben Zuge, der von dem Wesen Waldemar’s nun einmal nicht zu trennen war, aber aus jedem Worte sprach ein stürmisches, lang zurückgehaltenes Gefühl, sprach die volle Gluth der Leidenschaft; zum ersten Male sah Wanda klar, wie ernst er es mit seiner Liebe meinte, und wie mit brennendem Vorwurfe überkam sie der Gedanke: Was hast du gethan!

„Stehen Sie auf, Waldemar!“ – in ihrer Stimme bebte die verhaltene Angst. „Ich bitte Sie darum.“

„Wenn ich ein Ja von Deinen Lippen höre – sonst nicht!“

„Ich kann nicht – jetzt nicht – stehen Sie doch auf!“

Er gehorchte nicht; er lag noch auf den Knieen, als die Thür, welche in das Vorzimmer führte, unvermuthet geöffnet wurde und Leo eintrat. Einen Moment lang stand er wie angewurzelt, dann aber entfuhr ein Ausruf der Entrüstung seinen Lippen. „Also doch!“

Waldemar war aufgesprungen; seine Augen sprühten im wildesten Zorne. „Was willst Du hier?“ herrschte er den Bruder an.

Leo war blaß vor innerer Aufregung, aber der Ton der Frage jagte ihm das Blut in’s Gesicht. Mit einigen raschen Schritten stand er vor Waldemar.

[531] „Du scheinst meine Gegenwart hier überflüssig zu finden,“ sagte er mit blitzenden Augen. „Und doch könnte gerade ich Dir die beste Erklärung zu der eben stattgefundenen Scene geben.“

„Leo, Du schweigst!“ rief Wanda halb bittend, halb befehlend, aber die Eifersucht ließ den jungen Fürsten jede Rücksicht und jede Schonung vergessen.

„Ich schweige nicht,“ entgegnete er in vollster Erbitterung. „Mein Wort galt nur bis zur Entscheidung der Wette, und ich habe es ja jetzt mit eigenen Augen gesehen, wie sie entschieden ist. Wie oft habe ich Dich gebeten, das Spiel zu endigen! Du wußtest, daß es mich kränkte, daß es mich zur Verzweiflung brachte. Du triebst es dennoch bis zum Aeußersten. Soll ich jetzt vielleicht dulden, daß Waldemar im Gefühle seines vermeintlichen Triumphes mir als einem Ueberlästigen die Thür weist, mir, der Zeuge davon gewesen ist, wie Du Dich vermaßest, ihn unter allen Umständen bis zum Kniefall zu bringen? Freilich, Du hast es ja erreicht, aber er soll wenigstens die Wahrheit erfahren.“

Waldemar war schon bei dem Worte „Wette“ zusammengezuckt; jetzt stand er regungslos da. Seine Rechte faßte krampfhaft die Lehne des Sessels, während die Augen sich mit einem seltsamen Ausdrucke auf die junge Gräfin richteten.

„Was – was soll das heißen?“ fragte er mit völlig erloschener Stimme.

Wanda senkte schuldbewußt das Haupt. In ihrem Inneren kämpfte der Zorn gegen Leo mit der eigenen Beschämung, und über das Alles hinweg fluthete eine heiße Angst; sie wußte ja jetzt, daß der Schlag tödtlich traf. Auch Leo antwortete nicht; die plötzliche Veränderung in den Zügen des Bruders ließ ihn inne halten. Er begann überdies jetzt zu fühlen, in welcher unverantwortlichen Weise er Wanda preisgab und daß er keinen Schritt weiter gehen durfte.

„Was soll das heißen?“ wiederholte Waldemar, aus seiner Erstarrung auffahrend, indem er dicht vor das junge Mädchen hintrat. „Leo spricht von einer Wette, von einem Spiel, dessen Gegenstand ich gewesen bin. Antworten Sie mir, Wanda! Ich glaube Ihnen, nur Ihnen allein – sagen Sie mir, daß es eine Lüge ist –“

„Also bin ich ein Lügner in Deinen Augen,“ brauste Leo auf, aber der Bruder hörte nicht auf ihn; das Verstummen der jungen Gräfin sagte ihm genug – er bedurfte keiner Bestätigung mehr. Doch mit der Entdeckung der Wahrheit flammte auch die ganze Wildheit seiner Natur wieder auf und riß ihn jetzt, wo der Zauber gebrochen war, dem er sich so lange gebeugt, hinweg über alle Schranken.

„Ich will Antwort haben,“ brach er in gereizter Wuth aus. „Bin ich Euch wirklich nur ein Spielball gewesen, ein Zeitvertreib für Eure Launen? Habt Ihr über mich gelacht und gespottet, während ich – Sie werden mir antworten, Wanda, auf der Stelle antworten, oder –“

Er vollendete nicht, aber Blick und Ton waren so furchtbar drohend, daß Leo schützend vor Wanda trat, doch sie richtete sich jetzt auch empor. Dieser maßlose Jähzorn gab ihr die Haltung zurück.

„Ich lasse mich nicht so zur Rede stellen,“ erklärte sie und war im Begriff, sich mit ihrem ganzen Trotze zu erheben – da begegnete ihr Auge dem Waldemar’s, und sie hielt inne. Wenn in seinem Antlitz auch nur Zorn und Wuth stritten, der Blick verrieth doch die grenzenlose innere Qual des Mannes, der seine Liebe verhöhnt und verrathen sah, dem in diesem Augenblick das angebetete Ideal rettungslos vernichtet wurde. Aber die Stimme schien ihn doch zur Besinnung gebracht zu haben. Seine geballten Hände lösten sich, während die Lippen sich so fest aufeinander preßten, als müßten sie jedes Wort verschließen. Die Brust hob und senkte sich gewaltsam unter der furchtbaren Anstrengung, mit der er den Jähzorn niederzwang; er schwankte und stützte sich auf den Sessel.

„Was hast Du, Waldemar?“ fragte Leo betroffen und mit aufquellender Reue, indem er versuchte, ihm näher zu treten. „Hätte ich gewußt, daß Du die Sache so ernst nimmst, ich hätte geschwiegen.“

Waldemar richtete sich empor. Er machte nur eine stumme abwehrende Bewegung gegen den Bruder hin, dann wandte er sich ohne einen Laut weiter zum Gehen, aber jeder Blutstropfen war aus seinem Antlitz gewichen.

Doch jetzt erschien die Fürstin, von Doctor Fabian begleitet. Die immer lauter werdenden Stimmen, die bis in ihr Zimmer drangen, hatten ihr verrathen, daß etwas Ungewöhnliches im Salon vorgehe. Sie trat rasch ein, ohne im Augenblick bemerkt zu werden. Wanda stand noch da, zwischen Trotz und Angst schwankend, aber jetzt gewann letztere die Oberhand, und im Tone eines Abbitte thuenden Kindes, das ein begangenes Unrecht einsieht, rief sie den sich Entfernenden zurück:

„Waldemar!“

Er hemmte seine Schritte. „Haben Sie mir noch etwas zu sagen, Gräfin Morynska?“

Die junge Gräfin zuckte zusammen; es war das erste Mal, daß dieser Ton eiskalter, schneidender Verachtung ihr Ohr berührte, und die brennende Röthe, welche urplötzlich ihr Antlitz übergoß, zeigte, wie tief sie ihn empfand. Jetzt aber vertrat die Fürstin ihrem Sohne den Weg.

„Was ist geschehen? Wohin willst Du, Waldemar?“

„Fort!“ entgegnete er dumpf, ohne aufzublicken.

„Aber so erkläre mir doch –“

„Ich kann nicht. Laß’ mich – ich kann nicht bleiben,“ und die Mutter zurückdrängend stürmte er hinaus.

„Nun, so werde ich Euch wohl um die Erklärung dieses seltsamen Auftrittes bitten müssen,“ wandte sich die Fürstin jetzt zu den beiden Anderen. „Bleiben Sie, Herr Doctor!“ fuhr sie fort, als Doctor Fabian, der bisher ängstlich an der Thür gestanden hatte, Miene machte, seinem Zöglinge zu folgen. „Jedenfalls waltet hier ein Mißverständniß, und ich werde Sie wohl ersuchen müssen, die Aufklärung bei meinem Sohne zu übernehmen. Er macht es mir durch sein Fortstürmen ja unmöglich, dies selbst zu thun. – Was ist vorgegangen? Ich will es wissen.“

Wanda kam der Aufforderung nicht nach; sie warf sich statt dessen in das Sopha und brach in ein leidenschaftliches Weinen aus, Leo aber trat auf den Wink der Mutter mit ihr an das Fenster und theilte ihr dort leise das Vorgefallene mit. Die Miene der Fürstin ward finsterer bei jedem seiner Worte, und es kostete ihr offenbar Mühe, die ruhige Haltung zu behaupten, als sie sich endlich zu dem Doctor wandte und scheinbar gelassen sagte:

„Wie ich voraussetzte, ein Mißverständniß, nichts weiter! Eine Neckerei zwischen meiner Nichte und meinem jüngsten Sohne hat Waldemar Anlaß gegeben, sich beleidigt zu fühlen. Ich bitte Sie, ihm zu sagen, daß ich das aufrichtig bedauere, aber auch von ihm erwarte, er werde der Thorheit der beiden übermüthigen Kinder,“ sie betonte die Worte scharf, „nicht mehr Wichtigkeit beilegen, als sie verdient.“

„Es wäre wohl das Beste, wenn ich jetzt meinen Zögling aufsuchte,“ wagte Fabian zu bemerken.

„Gewiß – thun Sie das!“ stimmte die Dame bei, der sehr daran lag, den ebenso unschuldigen wie unwillkommenen Zeugen der Familienscene zu entfernen. „Auf Wiedersehen, Herr Doctor! Ich rechne bestimmt auf Ihre baldige Rückkehr in Begleitung Waldemar’s.“

Sie sprach die letzten Worte sehr gnädig und nahm die Abschiedsverbeugung des Erziehers mit einem Lächeln entgegen, als sich aber die Thür hinter ihm geschlossen hatte, trat die Fürstin mit einer heftigen Bewegung zwischen Wanda und Leo, und ihr Antlitz verkündete einen Sturm, wie er nur selten bei der gestrengen Mutter und Tante heraufzog. –

Doctor Fabian hatte inzwischen von Pawlick erfahren, daß der junge Herr Nordeck sich auf sein Pferd geworfen habe und fortgeritten sei. Es blieb dem Doctor nichts übrig, als gleichfalls nach Altenhof zu fahren, was er auch schleunigst that, aber bei seiner Ankunft dort erfuhr er, daß Waldemar noch nicht eingetroffen sei. Der Erzieher konnte nicht umhin, sich über dieses Ausbleiben zu beunruhigen, das ihm unter anderen Umständen gar nicht aufgefallen wäre. Der Schluß der erregten Scene, die er mit angesehen, ließ ihn in seinen Vermuthungen der Wahrheit einigermaßen nahe kommen. Die Fürstin hatte freilich nur von einem Mißverständnisse gesprochen, von einer Neckerei, die ihr Sohn übel genommen habe, aber das wilde Fortstürmen desselben, seine schneidende Antwort auf den bittenden Ruf der jungen Gräfin – und vor Allem der Ausdruck seines Gesichtes zeigte, daß es sich hier um ganz Anderes handelte. Es mußte etwas Ernstes vorgefallen sein, daß Waldemar, der [532] eben noch geduldig, mit Verleugnung seines ganzen Charakters, sich jeder Laune Wanda’s beugte, ihr und den Ihrigen in so furchtbarer Erregung den Rücken kehrte, daß er das Haus der Mutter in einer Weise verließ, die auf Nimmerwiederkehr deutete. Aber auch hier in Altenhof verfloß der ganze Nachmittag, ohne daß Waldemar sich zeigte. Doctor Fabian harrte vergebens; er war froh, daß Herr Witold die Abwesenheit seiner beiden Hausgenossen benutzt hatte, um nach der nahegelegenen Stadt zu fahren, von wo er erst gegen Abend zurückerwartet wurde – so entging man wenigstens für’s Erste seinen unvermeidlichen Fragen.

Stunde um Stunde verging; der Abend brach herein, aber weder der Inspector, der in der Försterei gewesen war, noch die Leute, die vom Felde heimkamen, hatten den jungen Herrn gesehen. Jetzt trieb die Angst den Doctor zum Hause hinaus; er ging eine Strecke den Fahrweg hinauf, der nach dem Gute führte und den jeder Ankommende passiren mußte. In einiger Entfernung zog sich ein sehr breiter und tiefer Graben hin, der meistens voll Wasser stand, aber die Hitze dieses Sommers hatte ihn völlig ausgetrocknet, und die mächtigen Feldsteine, mit denen der Grund förmlich gepflastert war, lagen offen da. Von der Brücke, die hinüber führte, hatte man einen weiten Umblick auf die Felder ringsum. Noch war es völlig hell im Freien, nur der Wald fing schon an, sich in Dämmerung zu hüllen. Rathlos stand Doctor Fabian auf der Brücke und überlegte eben, ob er weitergehen oder umkehren solle – da endlich erschien in der Ferne die Gestalt eines Reiters, der im Galopp näher kam. Der Doctor athmete auf; er wußte selbst nicht recht, was er eigentlich gefürchtet hatte, aber die Befürchtung war ja grundlos gewesen, und voll Freude darüber eilte er am Graben entlang dem Ankommenden entgegen.

„Gott sei Dank, daß Sie da sind, Waldemar!“ rief er. „Ich habe mich so sehr Ihretwegen geängstigt.“

Waldemar parirte sein Pferd beim Anblick seines Lehrers. „Weshalb?“ fragte er kalt. „Bin ich ein Kind, das man nicht aus den Augen lassen darf?“

Es war trotz der erzwungenen Ruhe ein fremder Klang in seiner Stimme, der die kaum beschwichtigten Besorgnisse des Doctors wieder aufwachen ließ. Er sah erst jetzt, daß das Roß bis zum Tode erschöpft schien; es war über und über mit Schweiß bedeckt; aus seinen Nüstern floß der Schaum nieder, und die Brust hob sich keuchend. Das Thier war augenscheinlich ruhelos umhergejagt worden, nur der Reiter zeigte keine Spur von Ermüdung; er saß fest im Sattel, hatte mit eisernem Griff die Zügel gefaßt und machte jetzt, statt seitwärts nach der Brücke zu lenken, Miene, über den Graben zu setzen.

„Um Gotteswillen!“ wehrte Fabian ab. „Sie werden doch nicht eine solche Tollkühnheit begehen – Sie wissen ja, Normann nimmt den Graben nie.“

„So nimmt er ihn heute,“ erklärte Waldemar, seinem Roß die Sporen in die Seite setzend; es stieg hoch empor, aber es scheute zurück vor dem Hinderniß und mochte auch wohl fühlen, daß die erschöpften Kräfte ihm den Dienst versagen würden.

„Aber so hören Sie doch!“ flehte der Doctor, indem er trotz seiner Furcht vor dem bäumenden, schlagenden Thiere nahe herantrat. „Sie verlangen Unmögliches; der Sprung mißlingt, und Sie zerschmettern sich im Sturze den Kopf an den Steinen da unten.“

Statt aller Antwort trieb Waldemar seinen Normann von Neuem an. „Gehen Sie mir aus dem Wege!“ stieß er hervor. „Ich will nun einmal hinüber – aus dem Wege, sage ich.“

Der wilde, qualvoll gepreßte Ton zeigte dem Doctor, wie es in diesem Augenblick um seinen Zögling stand und daß er nicht viel darnach fragte, ob er sich wirklich da unten auf den Steinen zerschmetterte. In seiner Todesangst vor dem Unglück, das er unvermeidlich herankommen sah, wagte es der sonst so furchtsame Mann, in die Zügel zu greifen, und wollte seine Vorstellungen fortsetzen. In demselben Moment aber sauste ein furchtbarer Hieb der Reitpeitsche auf das widerspänstige Roß nieder; es bäumte sich in die Höhe und schlug wild mit den Vorderfüßen in die Luft, aber es versagte den Sprung. Zugleich schlug ein schwacher Schrei an das Ohr des Reiters; er stutzte, hielt inne und riß dann blitzschnell das Thier zurück – es war zu spät. Doctor Fabian lag bereits am Boden, und als Waldemar in der nächsten Secunde vom Pferde sprang, sah er seinen Lehrer blutend, ohne Lebenszeichen vor sich liegen.

[545] Die Bewohner von Altenhof hatten eine Woche von Angst und Sorge durchlebt. Als Herr Witold an jenem Abend zurückkam, fand er das ganze Haus in Aufruhr. Doctor Fabian lag blutend und noch immer bewußtlos in seinem Zimmer, während Waldemar, mit einem Gesichte, das den Pflegevater fast noch mehr erschreckte, als das Aussehen des Verwundeten, sich bemühte, das Blut zu stillen. Von ihm war nichts weiter herauszubringen, als daß er die Schuld an dem Unglück trage, und so blieb der Gutsherr größtentheils auf den Bericht der Dienstleute angewiesen. Von ihnen erfuhr er, daß der junge Herr mit einbrechender Dämmerung angelangt war, den Verletzten, den er die ganze Strecke getragen haben mußte, in den Armen, und sofort Boten nach dem zunächst wohnenden Arzte gejagt hatte. Eine Viertelstunde später war auch das Pferd eingetroffen, erschöpft und mit allen Spuren eines heftigen Rittes. Das Thier hatte den wohlbekannten Weg nach Hause zurückgelegt, als es sich von seinem Herrn verlassen sah; weiter wußten die Leute nichts. Der bald darauf eintreffede Arzt machte ein sehr ernstes Gesicht bei der Untersuchung. Die Kopfwunde, die offenbar von einem Hufschlag herrührte, schien bedenklicher Art zu sein, und der starke Blutverlust und die schwächliche Constitution des Verwundeten ließen eine Zeit lang das Schlimmste befürchten. Herr Witold, der bei seiner eigenen und Waldemar’s kerngesunden Natur bisher nie gewußt hatte, was Krankheit und Sorge eigentlich sei, schwor oft genug, daß er für alle Schätze der Welt diese Tage nicht noch einmal durchleben möchte. Heute zum ersten Male zeigte das Gesicht des Gutsherrn wieder seinen gewöhnlichen derb gutmüthigen und unbekümmerten Ausdruck, als er in dem Zimmer des Kranken an dessen Bette saß.

„Also das Schlimmste hätten wir glücklich überstanden,“ sagte er. „Und nun, Doctor, thun Sie mir den Gefallen und setzen Sie dem Waldemar den Kopf zurecht!“ Er zeigte auf seinen Pflegesohn, der am Fenster stand und, die Stirn gegen die Scheiben gedrückt, auf den Hof hinausblickte. „Ich richte nichts mit ihm aus, aber Sie können ja jetzt Alles bei ihm durchsetzen; also bringen Sie ihn zur Vernunft! Der Junge geht mir sonst noch zu Grunde an der unglückseligen Geschichte.“

Doctor Fabian, der eine breite weiße Binde um die Stirn trug, sah noch sehr angegriffen aus, aber er saß doch schon wieder aufrecht, in die Kissen gelehnt, und seine Stimme klang, wenn auch noch etwas matt, doch vollkommen klar, als er fragte: „Was soll denn Waldemar?“

„Vernünftig sein!“ erklärte Witold mit Nachdruck. „Und Gott danken, daß die Geschichte noch so abgelaufen ist; statt dessen plagt er sich damit herum, als hätte er wirklich einen Mord auf dem Gewissen. Ich habe wahrhaftig auch Angst genug ausgestanden während der erste Tage, wo Ihr Leben an einem Haare hing, aber jetzt, wo der Arzt Sie für außer Gefahr erklärt hat, kann man doch wieder aufathmen. Was zu viel ist, ist zu viel, und ich halte es nicht aus, wenn mir der Junge noch länger mit solchem Gesicht herumgeht und stundenlang kein Wort spricht.“

„Aber ich habe es Waldemar ja schon so oft versichert, daß ich allein die Schuld an dem Unfalle trage,“ sagte der Doctor. „Er war ja in vollem Kampfe mit dem Pferde begriffen und konnte es nicht sehen, daß ich so nahe stand. Ich war so unvorsichtig, dem Thiere in die Zügel zu greifen, und da riß es mich nieder.“

„Sie sind dem ‚Normann‘ in die Zügel gefallen?“ rief der Gutsherr starr vor Staunen. „Sie, der Sie jedem Pferde zehn Schritte aus dem Wege gehen und der wilden Bestie vollends niemals zu nahen wagten? Wie kamen Sie denn dazu?“

Fabian sah zu seinem Zöglinge hinüber. „Ich hatte Furcht vor einem Unglücke,“ entgegnete er sanft.

„Das auch ohne Frage erfolgt wäre,“ ergänzte Witold. „Waldemar muß an dem Abende seine fünf Sinne nicht recht beisammen gehabt haben. An der Stelle über den Graben setzen zu wollen, noch dazu mit einem halbtodt gejagten Pferde und bei einbrechender Dämmerung! Ich habe es ihm immer gesagt, er würde noch einmal ein Unglück anrichten mit seiner Wildheit; nun hat er eine Lehre bekommen – freilich, er nimmt sie sich doch etwas gar zu sehr zu Herzen. Also, Doctor, lesen Sie ihm ordentlich den Text – das Sprechen ist Ihnen ja jetzt wieder erlaubt –, und dann reden Sie ihm zu, vernünftig zu sein! Ihnen folgt er jetzt auf’s Wort, das weiß ich.“

Damit stand der Gutsherr auf und verließ das Zimmer.

Die beiden Zurückgebliebenen schwiegen eine Weile; endlich begann der Doctor: „Haben Sie gehört, Waldemar, was mir aufgetragen wurde?“

Der junge Mann, der bisher schweigend und theilnahmlos am Fenster gestanden hatte, als berühre ihn das Gespräch gar nicht, wendete sich sofort um und trat an das Bett. Auf den ersten Blick schien die Besorgniß Witold’s übertrieben; eine Natur wie die Waldemar’s unterlag nicht so leicht seelischen [546] Einflüssen. Er war nur etwas bleicher als sonst; wer ihn aber genauer ansah, der bemerkte doch die Veränderung. Es stand ein fremder Zug in seinem Gesichte, der etwas geradezu Beängstigendes hatte, eine eigenthümliche Starrheit lag darin, in der jede andere Regung erstorben zu sein schien. Vielleicht war es auch nur der Panzer, mit dem eine furchtbar aufgereizte Empfindung sich gegen die Außenwelt abschloß, aber auch die Stimme hatte nicht mehr den vollen kräftigen Klang; sie war matt und tonlos, als er erwiderte:

„Hören Sie doch nicht auf den Onkel! Mir ist ja nichts.“

Doctor Fabian ergriff mit beiden Händen die Rechte seines Zöglings, was dieser widerstandslos geschehen ließ.

„Herr Witold meint, Sie machten sich immer noch Vorwürfe wegen des Unfalls, der mich betroffen. Das können Sie aber doch jetzt nicht mehr, wo jede Gefahr beseitigt ist und die Schmerzen nur noch äußerst gering sind. – Ich fürchte, es handelt sich um etwas ganz Anderes.“

Die Hand des jungen Mannes zuckte in der seines Lehrers. Er wendete das Gesicht ab.

„Ich habe den Punkt noch nicht zu berühren gewagt,“ fuhr Fabian zaghaft fort. „Ich sehe, daß es Ihnen auch jetzt noch Pein verursacht. Soll ich schweigen?“

Ein tiefer Athemzug rang sich aus Waldemar’s Brust empor.

„Nein! Ich muß Ihnen ohnedies noch dafür danken, daß Sie dem Onkel die Wahrheit verschwiegen. Er hätte mich zu Tode gemartert mit seinen Fragen, und ihm hätte ich doch nicht Rede gestanden. Ihnen hat meine Stimmung an jenem Abende beinahe das Leben gekostet; Ihnen kann und will ich nicht ableugnen, was Sie ja doch schon wissen.“

„Ich weiß nichts,“ versetzte der Doctor mit bekümmerter Miene. „Ich hege nur Vermuthungen nach der Scene, die ich mit ansah. Waldemar, um Gotteswillen, was ist damals vorgefallen?“

„Eine Kinderei,“ sagte Waldemar bitter. „Eine bloße Thorheit, die es gar nicht verdient, daß man sie ernst nimmt – so schrieb mir meine Mutter wenigstens vorgestern. Ich habe es aber nun einmal ernst genommen, so furchtbar ernst, daß es mir ein Stück von meinem Leben gekostet hat, das beste vielleicht.“

„Sie lieben die Gräfin Morynska?“ fragte der Doctor leise.

„Ich habe sie geliebt. Das ist vorbei. Ich weiß jetzt, daß sie nur ein erbärmliches Spiel mit mir getrieben hat – jetzt bin ich fertig mit ihr und mit meiner Liebe.“

Fabian schüttelte den Kopf, während sein Blick mit tiefer Besorgniß auf den Zügen des jungen Mannes haftete. „Fertig? Sie sind es noch lange nicht. Ich sehe es nur zu gut, wie schwer Sie noch in diesem Augenblicke unter Ihrer Liebe leiden.“

Waldemar fuhr mit der Hand über die Stirn. „Das wird vorübergehen. Habe ich es ertragen, so werde ich es auch überwinden, und überwinden will ich’s um jede Preis. Nur noch eine Bitte: schweigen Sie auch ferner gegen den Onkel und – gegen mich. Ich werde die Schwäche niederkämpfen, das weiß ich, aber sprechen kann ich nicht darüber, auch mit Ihnen nicht. Lassen Sie mich das mit mir allein ausmachen – um so eher ist es begraben.“

Seine zuckenden Lippen verriethen, welche Qual ihm jede Berührung der Wunde schuf; der Doctor sah, daß er davon abstehen mußte.

„Ich schweige, wie Sie es wünschen,“ versicherte er. „Sie sollen auch in Zukunft nie wieder ein Wort darüber hören.“

„In Zukunft?“ wiederholte Waldemar. „Wollen Sie denn überhaupt noch bei mir bleiben? Ich habe angenommen, Sie würden uns gleich nach Ihrer Genesung verlassen. Ich kann Ihnen doch nicht zumuthen, bei einem Zöglinge auszuhalten, der Ihre Angst und Sorge um ihn damit vergalt, daß er Sie niederritt.“

Der Doctor faßte wieder beschwichtigend die Hände des jungen Mannes. „Als ob ich nicht wüßte, daß Sie an meinem Krankenbette weit mehr ausgestanden haben, als ich selber! Ein Gutes hat die Krankheit doch gehabt: sie hat mir eine Ueberzeugung gegeben, die ich – verzeihen Sie! – bisher nicht hegte. Ich weiß jetzt, daß Sie ein Herz haben.“

Waldemar schien die letzten Worte kaum zu hören; er blickte finster vor sich hin. „In Einem hat der Onkel Recht,“ sagte er plötzlich. „Wie kamen Sie dazu, dem Normann in die Zügel zu fallen, gerade Sie?“

Fabian lächelte. „Sie meinen, weil meine Furchtsamkeit allbekannt ist? Die Angst um Sie war es, die mich auch einmal muthig sein ließ. Ich hatte Sie freilich schon öfter ähnliche Tollkühnheiten ausführen sehen und es doch nie gewagt, einzugreifen, aber ich wußte dann stets, daß Sie der Gefahr gewachsen waren, die Sie bezwingen wollten. An jenem Abende galt es nicht der Gefahr – Sie wollten den Sturz erzwingen, Waldemar. Ich sah, daß Sie ihn herbeiwünschten, sah, daß er Ihnen den Tod bringen würde, wenn ich Sie nicht mit Gewalt zurückhielt – und da vergaß ich selbst meine Furcht und griff in die Zügel.“

Waldemar richtete das Auge groß und erstaunt auf den Sprechenden. „Es war also nicht bloße Unvorsichtigkeit, nicht ein unglücklicher Zufall, daß Sie niedergerissen wurden? Sie kannten die Gefahr, der Sie sich aussetzten? Liegt Ihnen denn überhaupt etwas an meinem Leben? Ich glaubte, es fragte Niemand danach.“

„Niemand! Und Ihr Pflegevater?“

„Onkel Witold – ja, der vielleicht! Er ist aber auch der Einzige.“

„Ich meine Ihnen doch bewiesen zu haben, daß er nicht der Einzige ist,“ sagte der Doctor mit leisem Vorwurfe.

Der junge Mann beugte sich über ihn. „Und ich habe es doch gerade um Sie am wenigsten verdient. Aber glauben Sie mir, Herr Doctor, ich habe eine harte Lehre erhalten, so hart, daß ich sie mein Leben lang nicht wieder vergessen werde. Seit der Stunde, in der ich Sie blutend nach Hause trug, seit den beiden ersten Tagen, in welchen der Arzt Sie verloren gab, weiß ich, wie einem Mörder zu Muthe ist. Wenn Sie wirklich bei mir bleiben wollen, jetzt können Sie es wagen. An Ihrem Schmerzenslager habe ich den wilden Jähzorn abgeschworen, der mich blind macht gegen Alles, was mir in den Weg tritt. Sie sollen nicht mehr über mich klagen.“

Die Worte hatten wohl wieder etwas von der alten Energie, aber Doctor Fabian schaute doch sorgenvoll in das Antlitz seines Zöglings, das sich über ihn neigte. „Ich wollte, Sie sagten mir das mit einem andern Gesichte,“ erwiderte er. „Es ist ja keine Frage, daß ich bei Ihnen bleibe, aber ich ertrüge viel lieber Ihr früheres ungestümes Wesen, als diese dumpfe unheimliche Ruhe. Ihr Auge gefällt mir gar nicht.“

Mit einer raschen Bewegung richtete sich Waldemar empor und entzog sich so der Beobachtung. „Wir wollen nicht immer und ewig nur von mir sprechen. Der Arzt hat Ihnen ja die frische Luft wieder erlaubt – soll ich das Fenster öffnen?“

Der Doctor seufzte; er sah, daß hier nichts auszurichten war; überdies wurde das Gespräch jetzt durch Herrn Witold unterbrochen.

„Da bin ich schon wieder,“ sagte er eintretend. „Waldemar, Du wirst wohl herunterkommen müssen, der junge Fürst Baratowski ist da.“

„Leo?“ fragte Waldemar in sichtlicher Ueberraschung.

„Jawohl, er verlangt Dich zu sprechen, und dabei werde ich wohl überflüssig sein. Geh nur! Ich leiste inzwischen unserem Doctor Gesellschaft.“

Der junge Mann verließ das Zimmer, während Witold seinen früheren Platz am Bette wieder einnahm.

„Die Baratowski haben gewaltige Eile, ihn wieder zu bekommen,“ sprach er mit Bezug auf seinen Pflegesohn. „Schon vor drei Tagen kam ein Brief der gnädigen Frau Mama an – Waldemar hat ihn meines Wissens nicht beantwortet; er war ja überhaupt nicht von Ihrem Krankenbette wegzubringen – und jetzt erscheint der Herr Bruder in eigener Person. Diese junge Polenpflanze ist übrigens ein ganz nettes Gewächs. Ein bildhübscher Junge! Nur leider seiner Mutter wie aus den Augen geschnitten, und das setzt ihn bei mir von vornherein in Mißcredit. Dabei fällt mir ein, ich habe Sie noch gar nicht einmal gefragt, wie es eigentlich mit Ihren Entdeckungen in C. steht. In der Angst um Sie hatte ich die Sache ganz und gar vergessen.“

Doctor Fabian sah vor sich nieder und zupfte verlegen an der Decke. „Ich kann Ihnen darüber leider gar nichts berichten, Herr Witold,“ erwiderte er, „Mein Aufenthalt in C. war doch zu [547] kurz und flüchtig, und ich sagte es Ihnen ja vorher, daß ich“ – er lächelte wehmüthig – „weder Geschick noch Glück zum Diplomaten habe.“

„Sie meinen das Loch in Ihrem Kopfe?“ fragte der Gutsherr. „Nun, das hing doch eigentlich mit der Geschichte gar nicht zusammen, aber ich will Sie künftig doch nicht mehr mit solchen Aufträgen plagen. Also Sie haben nichts herausbekommen, schade! Und wie steht es mit Waldemar? Haben Sie ihm einen tüchtigen Sermon gehalten?“

„Er hat mir versprochen, sich das Geschehene aus dem Sinne zu schlagen.“

„Gott sei Dank! Ich sage es ja, Sie können jetzt Alles mit ihm ausrichten. Uebrigens, Doctor, haben wir dem Jungen Beide Unrecht gethan, wenn wir meinten, er hätte überhaupt kein Gefühl. Ich dachte nie, daß ihm die Geschichte so zu Herzen gehen würde.“

„Ich auch nicht,“ sagte der Doctor mit einem Seufzer und mit einer Beziehung, die Herrn Witold natürlich ganz entging. –

Waldemar fand beim Eintritte in das Eckzimmer den Bruder seiner harrend. Der junge Fürst, dem schon bei seiner Ankunft das alterthümliche, etwas niedrige Wohnhaus und die entsprechenden Hofgebäude aufgefallen waren, musterte jetzt mit äußerstem Befremden die einfache Einrichtung des Gemaches, in das man ihn gewiesen. Er war seit frühester Jugend an vornehme und elegante Umgebungen gewöhnt und begriff nicht, wie sein Bruder, dessen Reichthum er ja kannte, hier überhaupt ausdauern konnte. Der Salon der Miethwohnung in C., der ihm und der Fürstin erbärmlich schien, war ja prachtvoll zu nennen gegen dieses Empfangszimmer von Altenhof.

Doch all diese Erwägungen verschwanden beim Erscheinen Waldemar’s. Leo ging ihm entgegen und sagte hastig, als wolle er sich so rasch wie möglich einer unangenehmen Nothwendigkeit entledigen: „Mein Kommen befremdet Dich? Du hast aber seit acht Tagen unser Haus nicht betreten und nicht einmal den Brief der Mama beantwortet; da blieb mir wohl nichts Anderes übrig, als Dich aufzusuchen.“

Es war nicht schwer, zu sehen, daß der junge Mann bei diesem Besuche nicht aus eigenem Antriebe handelte; sein Gruß und seine Haltung hatten etwas entschieden Gezwungenes; er schien dem Bruder die Hand reichen zu wollen, aber so weit konnte er sich offenbar nicht überwinden; es blieb bei dem bloßen Versuche dazu.

Waldemar bemerkte das nicht oder wollte es nicht bemerken. „Du kommst auf Befehl der Mutter?“ fragte er.

Leo erröthete. Er wußte am besten, welchen Kampf es der Fürstin gekostet hatte, ehe sie diesen Besuch erzwang, für den sie schließlich ihre ganze Autorität einsetzen mußte.

„Ja,“ entgegnete er endlich.

„Es thut mir leid, Leo, daß Du zu etwas veranlaßt worden bist, was Du nothwendig als eine Demüthigung empfinden mußt. Ich hätte es Dir unbedingt erspart, wenn ich davon gewußt hätte.“

Leo blickte überrascht auf; der Ton war ihm so neu wie die Rücksichtnahme auf seine Empfindungen von dieser Seite.

„Die Mama behauptet, Du seist in unserm Hause beleidigt worden,“ nahm er wieder das Wort. „Durch mich beleidigt, und deshalb müßte ich den ersten Schritt zur Versöhnung thun. Ich habe eingesehen, daß sie Recht hat. Du glaubst mir doch, Waldemar“ – seine Stimme nahm einen erregten Ton an – „daß ich ohne diese Ueberzeugung den Schritt nie gethan hätte, niemals?“

„Ich glaube Dir,“ war die kurze, aber bestimmte Antwort.

„Nun, so mache mir die Abbitte auch nicht so schwer!“ rief Leo, indem er jetzt wirklich die Hand ausstreckte, doch der Bruder wies sie zurück.

„Ich kann Deine Abbitte nicht annehmen. Weder die Mutter noch Du bist schuld an der Beleidigung, die mir in Eurem Hause widerfuhr. Sie ist übrigens bereits vergessen worden. Sprechen wir nicht mehr davon!“

Leo’s Erstaunen wuchs mit jeder Minute; er konnte sich in diese kühle Ruhe nicht finden, die er so gar nicht erwartet hatte. War er doch selbst Zeuge der furchtbaren Aufregung Waldemar’s gewesen, und jetzt lagen kaum acht Tage dazwischen.

„Ich glaubte nicht, daß Du so schnell vergessen könntest,“ erwiderte er mit unverstellter Betroffenheit.

„Wo ich verachten muß – allerdings!“

„Waldemar, das ist zu hart,“ fuhr Leo auf. „Du thust Wanda Unrecht; sie hat mir eigens aufgetragen, Dir –“

„Willst Du es mir nicht lieber ersparen, die Botschaft der Gräfin Morynska zu hören?“ schnitt ihm der Bruder das Wort ab. „Es handelt sich hier doch wohl um meine Auffassung der Sache, und die weicht durchaus von der Eurigen ab. Doch lassen wir das! – Die Mutter erwartet wohl nicht, daß ich ihr persönlich Lebewohl sage. Sie wird es begreifen, daß ich für jetzt noch ihr Haus meide und auch in diesem Herbste nicht nach Wilicza komme, wie wir ausgemacht hatten. Vielleicht im nächsten Jahre.“

Der junge Fürst trat mit finsterer Miene einen Schritt zurück. „Du wirst doch nicht etwa meinen, daß wir nach diesem Zerwürfnisse, nach dieser eiskalten Abweisung, die ich von Dir erfahren muß, noch Deine Gäste sein können?“ fragte er gereizt.

Waldemar kreuzte die Arme und lehnte sich an das Schreibpult. „Du irrst; von einem Zerwürfnisse zwischen uns ist keine Rede. Die Mutter hat jenen Vorfall in ihrem Briefe an mich auf das Entschiedenste mißbilligt. Du hast es durch Dein Einschreiten noch mehr gethan, und wenn mir noch eine formelle Genugthuung fehlte, so giebst Du sie mir jetzt durch Dein Kommen. Was hat denn überhaupt die ganze Sache mit Eurem Aufenthalt auf meinen Gütern zu thun? Du hast freilich dem Plane von jeher widerstrebt – ich weiß es. Weshalb?“

„Weil er mich demüthigt. Und was mir früher peinlich war, ist mir jetzt vollends unmöglich geworden. Mag die Mama beschließen, was sie für gut findet, ich setze keinen Fuß –“

Waldemar legte begütigend die Hand auf seinen Arm. „Sprich das nicht aus, Leo! Das übereilte Wort könnte Dir später einen Zwang auferlegen. Um Dich handelt es sich hier ganz und gar nicht. Ich habe meiner Mutter den Wohnsitz in Wilicza angeboten, und sie hat ihn angenommen. Es war das, wie die Verhältnisse nun einmal liegen, einfach meine Pflicht; ich kann und darf ihren dauernden Aufenthalt bei Fremden nicht zugeben, ohne mich selbst zu beschämen; es bleibt also bei dem Plane. Du gehst ja übrigens zur Universität und kommst höchstens in den Ferien nach Wilicza, um die Mutter zu sehen, und was sie mit ihrem Stolze vereinbar findet, wirst Du wohl auch ertragen können.“

„Aber ich weiß, daß es sich dabei um unsere ganze Existenz handelt,“ brach Leo aus. „Ich habe Dich beleidigt; ich sehe es jetzt ein, und da kannst Du doch nicht verlangen, daß ich alles aus Deiner Hand nehmen soll.“

„Du hast mich nicht beleidigt,“ sagte Waldemar ernst. „Im Gegentheil, Du allein bist wahr gegen mich gewesen, und wenn mich das im Augenblicke auch kränkte, jetzt danke ich es Dir. Du hättest nur früher sprechen sollen, aber freilich, ich konnte von Dir nicht fordern, den Denuncianten zu machen, und begreife, daß nur die Leidenschaft des Augenblicks Dich zu der Eröffnung fortreißen konnte. Dein Dazwischentreten hat ein Netz zerrissen, in welchem ich gefangen lag, und Du glaubst doch nicht, daß ich Schwächling genug bin, das zu beklagen? – Zwischen uns Beiden hat alle Feindschaft ein Ende.“

Leo kämpfte zwischen Trotz und Beschämung. Er wußte recht gut, daß nur seine eigene Eifersucht ihn angetrieben hatte, und fühlte seine Mitschuld um so tiefer, je mehr man ihn davon entlasten wollte. Er hatte sich auf eine heftige Scene mit dem Bruder gefaßt gemacht, dessen Ungestüm er hinlänglich kannte; jetzt stand er ihm völlig fassungslos gegenüber. Der junge Fürst war noch zu wenig Menschenkenner, um zu sehen oder auch nur zu ahnen, was sich hinter dieser unbegreiflichen Ruhe Waldemar’s barg und was sie diesem kostete; er nahm sie für Wahrheit. Was er aber klar empfand, war das Bemühen des Bruders, ihn und die Fürstin das Vorgefallene nicht büßen zu lassen, ihnen trotz alledem den Aufenthalt auf seinen Gütern zu ermöglichen. Leo wäre unter ähnlichen Umständen einer gleichen Großmuth vielleicht nicht fähig gewesen, aber eben deshalb fühlte er sie in ihrem ganzen Umfange.

[548] „Waldemar, es thut mir leid, was geschehen ist,“ sagte er, ihm freimüthig die Hand hinstreckend, und diesmal hatte die Bewegung nichts Gezwungenes mehr; sie kam aus vollem Herzen – diesmal ergriff der Bruder aber auch die dargebotene Rechte.

„Versprich mir, die Mutter nach Wilicza zu begleiten! Ich bitte Dich darum,“ fuhr er ernster fort, als Leo widersprechen wollte, „und wenn Du wirklich glaubst, mich beleidigt zu haben, so fordere ich von Dir diesen Dienst als Preis der Versöhnung.“

Leo senkte das Haupt; er gab den Widerstand auf. „Du willst also der Mutter nicht selbst Lebewohl sagen?“ fragte er nach einer Pause. „Das wird sie schmerzen.“

Ein unendlich bitteres Lächeln schwebte um Waldemar’s Mund, als er erwiderte: „Sie wird es zu ertragen wissen. Leb’ wohl, Leo! Es freut mich, daß ich wenigstens Dich noch einmal gesehen habe.“

Der junge Fürst blickte eine Secunde lang in das Gesicht seines Bruders, dann legte er wie in plötzlicher Aufwallung die Arme um seinen Hals. Waldemar duldete die Umarmung schweigend, aber er erwiderte sie nicht, und doch war es die erste zwischen ihnen.

„Lebe wohl!“ sagte Leo erkältet, indem er die Arme wieder sinken ließ.

Einige Minuten später rollte der Wagen, der den jungen Baratowski gebracht hatte, wieder aus dem Hofe, und Waldemar kehrte in das Zimmer zurück. Wer ihn jetzt sah, mit diesen zuckenden Lippen, mit den qualvoll gespannten Zügen und dem starren, düstern Blicke, der wußte, welche Bewandtniß es mit der Ruhe und Kälte hatte, die er während der ganzen Unterredung gezeigt. Sein tödtlich verwundeter Stolz hatte sich aufgerafft; Leo durfte nicht sehen, daß er litt, durfte am allerwenigsten das in C. berichten, jetzt aber bedurfte es der Selbstbeherrschung nicht mehr; jetzt blutete die Wunde wieder. Stürmisch und gewaltsam, wie der ganze Charakter Waldemar’s, war auch seine Liebe gewesen, das erste Gefühl, das sich in dem vereinsamten, verwilderten Jünglinge regte. Er hatte Wanda mit der vollen Gluth der Leidenschaft geliebt, aber auch mit der ganzen Anbetung der ersten reinsten Neigung, und wenn er auch nicht zu Grunde ging an dem Bewußtsein, sich verhöhnt zu wissen, die Stunde, in der sein Jugendideal ihm zertrümmert wurde, kostete ihn doch manches Andere – die Jugend selbst und das Vertrauen zu den Menschen.


Schloß Wilicza, das der ganzen zu ihm gehörigen Herrschaft seinen Namen lieh, bildete, wie schon erwähnt, den Mittelpunkt eines großen Gütercomplexes, der nicht weit von der Grenze des Landes lag. Wohl selten mochte sich ein so ausgedehntes Besitzthum in den Händen eines Einzelnen befinden, und noch seltener mochte es vorkommen, daß der Besitzer sich so wenig darum kümmerte, wie es hier der Fall war. Wilicza hatte von jeher der einheitlichen und einsichtsvollen Leitung entbehrt; der verstorbene Nordeck war eben nur Speculant und hatte als solcher sein Vermögen erworben. Den Großgrundbesitzer zu spielen verstand er weder in gesellschaftlicher noch in praktischer Hinsicht; er war fast gänzlich von seinen Beamten abhängig. Der Sorge für die einzelnen Güter und Vorwerke wußte er sich durch Verpachtung derselben zu entledigen; sie befanden sich noch jetzt in den Händen verschiedener Pächter, nur Wilicza selbst, sein eigener Wohnsitz, wurde davon ausgenommen und der Verwaltung eines Administrators übergeben. Der Hauptreichthum der Güter aber bestand in den ausgedehnten Forsten, die fast zwei Drittel der ganzen Herrschaft einnahmen und ein ganzes Heer von Forstleuten zur Aufsicht nöthig hatten. Sie bildeten einen eigenen Verwaltungszweig für sich, und aus ihnen hauptsächlich stammten die riesigen Einnahmen, die dem Besitzer zuflossen.

Der Vormund des minderjährigen Erben, der nach dem Tode Nordeck’s an dessen Stelle trat, hatte die sämmtlichen früheren Einrichtungen bestehen lassen, theils aus Pietät für den Verstorbenen, theils weil er sie für durchaus zweckmäßig hielt. Herr Witold war ein ganz vortrefflicher Landwirth für das nicht sehr bedeutende Altenhof, das er selbst bewirthschaftete und wo alle Details durch seine Hände gingen; den großartigen Verhältnissen Wiliczas zeigte er sich in keiner Weise gewachsen; ihm fehlte jeder Ueberblick, jeder Maßstab dafür. Er glaubte seiner Pflicht in vollstem Maße nachzukommen, wenn er die vorgelegten Rechnungen und Belege, die er natürlich auf Treue und Glauben hinnehmen mußte, möglichst sorgfältig prüfte, die eingehender Summen gewissenhaft im Interesse seines Mündels anlegte und im Uebrigen die Beamten schalten und walten ließ, wie es ihnen beliebte. Einen andern Besitzer hätte diese Art der Bewirthschaftung vielleicht ruinirt, dem Nordeck’schen Vermögen konnte sie keinen allzu großen Schaden zufügen, denn wenn dabei auch Tausende zu Grunde gingen, so blieben immer noch Hunderttausende übrig, und die großen Einkünfte der Herrschaft, von deren der junge Erbe nur zum kleinsten Theile Gebrauch machen konnte, deckten nicht allein jeden etwaigen Ausfall, sondern ließen auch das Vermögen selbst immer mehr anschwellen. Daß die Güter unter solchen Verhältnissen nicht das werden konnten, was sie in tüchtigen Händen geworden wären, stand fest, aber danach fragte der Vormund wenig und der junge Nordeck that es noch weniger. Er war sogleich nach seiner Mündigkeitserklärung auf die Universität und später auf Reisen gegangen und hatte Wilicza, das er überhaupt nicht zu lieben schien, seit Jahren nicht betreten.

Das Schloß selbst stand im schönsten Gegensatz zu den meisten Edelsitzen der Nachbarschaft, die mit wenigen Ausnahmen kaum den Namen von Schlössern verdienten, und wo oft genug ein gewisser äußerer Glanz, der man um jeden Preis festhalten wollte, den Verfall und die Verkommenheit nicht zu decken vermochte. Wilicza verleugnete auch in seiner äußeren Erscheinung nicht den alten Fürsten- und Grafensitz, der fast zwei Jahrhunderte überdauert hatte. Es stammte noch aus der Glanzepoche des Landes, wo die Allmacht des Adels mit seinem Reichthum Hand in Hand ging und seine Wohnsitze die Schauplätze einer Pracht und Ueppigkeit waren, wie sie unsere Zeit kaum mehr kennt. Das Schloß konnte nicht eigentlich für schön gelten und hätte vor einem künstlerischen Auge schwerlich Gnade gefunden. Der Geschmack, der es schuf, war unleugbar ein roher gewesen, aber es imponirte doch durch die Massigkeit seiner Formen und die Großartigkeit der ganzen Anlage. Trotz all’ der Veränderungen, die es im Laufe der Jahre erfahren hatte, war ihm doch sein ursprünglicher Charakter erhalten geblieben, und der mächtige Bau mit seinen langen Fensterreihen, mit dem weiten rasenbedeckten Vorplatz und dem großen waldartigen Parke hob sich, etwas düster zwar, aber doch imposant aus dem Kranze der prachtvollen Wälder, die ihn umgaben.

Nach dem Tode des früheren Besitzers hatte das Schloß lange Jahre hindurch einsam und verödet gestanden. Der junge Erbe kam nur äußerst selten in Begleitung seines Vormundes dorthin und blieb stets nur wenige Wochen da. Die Einsamkeit nahm erst ein Ende, als die ehemalige Herrin von Wilicza, die jetzige verwittwete Fürstin Baratowska, wieder dort einzog. Jetzt endlich wurden die so lange verschlossenen Räume wieder geöffnet, und die äußerst kostbare Einrichtung, mit welcher Nordeck bei seiner Vermählung Zimmer und Säle ausgestattet hatte, wurde erneuert und in ihrem ganzen früheren Glanze wieder hergestellt. Der jetzige Besitzer hatte seiner Mutter die sämmtlichen Einkünfte des Schloßgutes zugewiesen, für ihn ein nur unbedeutender Theil seines Einkommens und doch hinreichend, der Fürstin und ihrem jüngsten Sohne eine standesgemäße Existenz zu sichern, so weit sie auch den Begriff „standesgemäß“ auffassen mochte. Sie machte denn auch vollständigen Gebrauch von den Summen, die zu ihrer Verfügung standen, und ihre Umgebung und Lebensweise wurde auf einen ähnlichen Fuß eingerichtet, wie zu jener Zeit, wo die junge Gräfin Morynska als Gebieterin in Wilicza einzog und ihr Gemahl es noch liebte, vor ihr und ihren Verwandten seinen Reichthum zur Schau zu tragen.

Es war im Anfang des October; der Herbstwind strich schon rauh über die Wälder hin, deren Laub sich allmählich zu färben begann, und die Sonne kämpfte sich oft mühsam durch die dichten Nebel, welche die Landschaft einhüllten. Auch heute war es erst gegen Mittag klar geworden, und jetzt schien die Sonne hell in den Salon, der unmittelbar an das Arbeitscabinet der Fürstin stieß und den sie gewöhnlich bewohnte. Es war ein großes Gemach, hoch und etwas düster, wie die sämmtlichen Räume des Schlosses, mit tiefen Fensternischen und einem mächtigen Kamin, in dem bei der herbstlichen Kühle schon ein [549] Feuer loderte. Die schweren dunkelgrünen Vorhänge waren weit zurückgeschlagen, und das voll hereindringende Tageslicht zeigte die gediegene Pracht der Einrichtung, in der gleichfalls das dunkle Grün vorherrschte. Augenblicklich befanden sich nur die Fürstin und Graf Morynski dort. Der Graf kam mit seiner Tochter sehr oft von Rakowicz herüber, um dann auf Tage und Wochen Gast der Schwester zu sein, auch heute war er zu einem längeren Besuche eingetroffen. Man sah es ihm doch an, daß er um mehrere Jahre älter geworden war; das Haar zeigte sich stärker ergraut, und in die Stirn gruben sich noch einige Linien mehr, sonst hatte das ernste charakteristische Gesicht seinen früheren Ausdruck behalten. An der Fürstin dagegen war kaum eine [550] Veränderung zu bemerken; die Züge der noch immer schönen Frau waren genau so kalt und stolz, die Haltung ebenso unnahbar wie früher. Obgleich sie schon nach Jahresfrist die tiefe Trauer um den verstorbenen Gemahl abgelegt hatte, trug sie doch stets noch schwarze Kleidung, und der dunkle, aber äußerst reiche Anzug kleidete die hohe Gestalt sehr vortheilhaft. Sie war in lebhaftem Gespräche mit ihrem Bruder begriffen.

„Ich begreife nicht, wie Dich diese Nachricht so überraschen kann,“ sagte sie. „Wir mußten längst darauf gefaßt sein. Mich wenigstens hat es stets befremdet, daß Waldemar seinen Gütern so lange und so consequent fern blieb.“

„Eben deshalb!“ fiel der Graf ein. „Er hat Wilicza bisher in beinahe auffallender Weise vermieden; weshalb kommt er jetzt auf einmal so plötzlich, ohne jede vorherige Andeutung? Was kann er hier wollen?“

[561] „Was sollte er hier anders wollen, als jagen?“ fuhr die Fürstin fort. „Du weißt, die Jagdleidenschaft hat er von seinem Vater geerbt. Ich bin überzeugt, er wählte nur deshalb die Universität von J., weil der Ort in waldiger Umgebung liegt, und ist, anstatt die Vorlesungen zu besuchen, den ganzen Tag lang mit Flinte und Jagdtasche umhergestreift. Auf seinen Reisen wird es wohl ähnlich gegangen sein. Er kennt und liebt ja nun einmal nichts Anderes, als die Jagd.“

„Er konnte aber zu keiner schlimmeren Zeit kommen,“ rief Morynski. „Gerade jetzt hängt alles davon ab, daß Du unumschränkte Herrin hier bleibst. Rakowicz liegt zu weit von der Grenze; wir sind dort überall beobachtet, überall von Rücksichten eingeengt. Wir müssen die Disposition über Wilicza behalten.“

„Das weiß ich,“ erklärte die Fürstin, „und ich werde dafür sorgen, daß sie uns bleibt. Du hast Recht, der Besuch kommt äußerst ungelegen, aber ich kann es meinem Sohne doch nicht verwehren, seine eigenen Güter zu betreten, wenn es ihm beliebt. Wir müssen eben größere Vorsicht beobachten.“

Der Graf machte eine Bewegung der Ungeduld. „Mit der Vorsicht allein ist es nicht gethan. Es handelt sich einfach darum, Alles aufzugeben, so lange Waldemar im Schlosse ist, und das können wir nicht.“

„Es ist auch nicht nöthig, denn er wird wenig genug im Schlosse sein, oder ich müßte den Reiz nicht kennen, den unsere Wälder auf solch eine Nimrodsnatur ausüben. Bei Nordeck wurde diese Jagdpassion schließlich zur Manie, die ihn unempfänglich für alles Andere machte, und sein Sohn gleicht ihm auch darin vollkommen. Wir werden ihn nur äußerst selten zu Gesichte bekommen; er steckt den ganzen Tag im Walde und hat sicher nicht die mindeste Aufmerksamkeit für das, was in Wilicza vorgeht. Das Einzige, was ihn hier möglicherweise interessirt, ist die große Gewehrsammlung seines Vaters, und die wollen wir ihm gern überlassen.“

Es lag eine Art von mitleidigem Spott in diesen Worten, die Stimme des Grafen dagegen verrieth einiges Bedenken, als er erwiderte: „Es sind vier Jahre her, daß Du Waldemar nicht gesehen hast. Freilich, Du wußtest ihn schon damals ganz nach Deinem Willen zu leiten, woran ich zuerst entschieden zweifelte. Hoffentlich gelingt Dir das auch jetzt.“

„Ich denke,“ versetzte die Fürstin mit ruhiger Zuversicht. „Uebrigens ist er durchaus nicht so schwer zu leiten, wie Du glaubst. Gerade sein störriger Eigenwille bildet die beste Handhabe dazu. Man muß seinem rohen Ungestüm für den Augenblick nur unbedingt nachgeben und ihn in dem Glauben erhalten, daß sein Wille unter allen Umständen respectirt wird, dann hat man ihn vollständig in der Hand. Wenn wir ihm täglich sagen, daß er unumschränkter Herr von Wilicza ist, so wird es ihm gar nicht einfallen, das auch sein zu wollen. Ich traue ihm überhaupt nicht so viel Intelligenz zu, sich um die Verhältnisse auf seinen Gütern eingehend zu kümmern. Wir können unbesorgt sein.“

„Ich muß mich darin ganz auf Dein Urtheil verlassen,“ sagte Morynski. „Ich selbst sah ihn ja nur zwei Mal – wann hast Du den Brief erhalten?“

„Heute Morgen, eine Stunde vor Deiner Ankunft. Danach können wir Waldemar jeden Tag erwarten; er war bereits auf der Reise hierher. Im Uebrigen schreibt er mit seiner gewöhnlichen lakonischen Kürze, ohne alle Details. Du weißt, unsere Correspondenz zeichnete sich nie durch Ausführlichkeit aus; wir haben uns stets nur das Nothwendige mitgetheilt.“

Der Graf sah nachdenkend vor sich nieder. „Kommt er allein?“

„Mit seinem ehemaligen Erzieher, der sein steter Begleiter ist. Ich glaubte anfangs, der Mann werde sich benutzen lassen, um uns Näheres über Waldemar’s Thun und Treiben auf der Universität erfahren zu lassen, täuschte mich aber darin. Ich mußte natürlich die Studien meines Sohnes zum Vorwand der Erkundigungen nehmen und erhielt nun nichts als gelehrte Abhandlungen über diese Studien selbst, nicht ein Wort von dem, was ich zu wissen wünschte; meine Fragen in dieser Hinsicht schienen gar nicht verstanden zu werden, so daß ich schließlich den unfruchtbaren Briefwechsel abbrach. Sonst ist dieser Doctor Fabian einer der harmlosesten Menschen, die existiren. Von seiner Gegenwart ist gar nichts zu besorgen und von seinem Einfluß auch nichts, denn er besitzt keinen.“

„Es handelt sich für uns auch hauptsächlich um Waldemar,“ erklärte der Graf. „Wenn Du also meinst, daß von seiner Seite keine störende Beobachtung zu fürchten ist –“

„Jedenfalls keine schärfere, als wir sie nun schon seit Monaten Tag für Tag erdulden,“ unterbrach ihn die Schwester. „Ich dächte, der Administrator hätte uns Vorsicht gelehrt.“

„Jawohl, dieser Frank und sein ganzes Haus legen sich förmlich auf’s Spioniren,“ rief Morynski heftig. „Ich begreife nicht, Jadwiga, daß es Dir immer noch nicht möglich ist, uns von dieser unbequemen Persönlichkeit zu befreien.“

[562] Die Fürstin lächelte mit vollster Ueberlegenheit. „Beruhige Dich, Bronislaw! Der Administrator nimmt bereits in diesen Tagen seine Entlassung. Ich konnte nicht eher gegen ihn vorgehen; er ist seit zwanzig Jahren auf seinem Posten und hat ihn stets tadellos verwaltet; mir fehlte jeder Grund, die Entlassung zu erzwingen. Ich zog es vor, ihn dahin zu bringen, daß er selbst seinen Abschied nahm, und das hat er gestern gethan, vorläufig nur mündlich, mir gegenüber, aber die formelle Kündigung wird nicht auf sich warten lassen. Ich lege Werth darauf, daß sie von seiner Seite erfolgt, zumal jetzt, wo Waldemar’s Ankunft bevorsteht.“

Die Züge des Grafen, die während der ganzen Unterredung unverkennbare Besorgniß ausgedrückt hatten, glätteten sich allmählich wieder. „Es war auch die höchste Zeit,“ sagte er mit sichtlicher Befriedigung. „Dieser Frank fing bereits an, eine Gefahr für uns zu werden; leider müssen wir ihn noch eine Weile dulden. Sein Contract lautet ja wohl auf mehrmonatliche Kündigung?“

„Allerdings, aber die Frist wird nicht eingehalten werden. Der Administrator ist längst nicht mehr von seiner Stellung abhängig; es heißt ja, er beabsichtige, sich selbst anzukaufen; außerdem besitzt er ein starkes Unabhängigkeitsgefühl. Man ruft irgend eine Scene hervor, die seinen Stolz verletzt, und er geht sofort – dafür bürge ich. Das ist nicht schwer zu erreichen, nachdem er sich überhaupt zum Gehen entschlossen hat. – Wie, Leo, schon zurück von dem Spaziergange?“

Die letzten Worte waren an den jungen Fürsten gerichtet, der soeben eintrat und sich den Beiden näherte.

„Wanda wollte nicht länger im Parke bleiben,“ entgegnete er. „Ich kam – aber ich störe wohl eine Berathung?“

Graf Morynski erhob sich. „Wir sind zu Ende. Ich erfuhr soeben die bevorstehende Ankunft Deines Bruders, und wir erörterten die unvermeidlichen Folgen. Eine derselben wird es auch sein, daß wir den diesmaligen Besuch abkürzen; wir bleiben noch morgen zu der beabsichtigten Festlichkeit, kehren aber schon am nächsten Tage nach Rakowicz zurück, ehe Waldemar eintrifft. Er kann uns doch nicht gleich als Gäste seines Hauses finden?!“

„Weshalb nicht?“ fragte die Fürstin ruhig. „Etwa wegen der Kinderei von damals? Wer denkt noch daran! Wanda gewiß nicht, und Waldemar – er wird doch wohl in den vier Jahren Zeit gehabt haben, die vermeintliche Beleidigung zu verschmerzen! Daß sein Herz sehr wenig betheiligt war, wissen wir ja durch Leo, dem er bereits acht Tage darauf mit der vollkommensten Ruhe erklärte, er habe die ganze Geschichte bereits vergessen, und unser Aufenthalt in Wilicza beweist am besten, daß er ihr gar keine Wichtigkeit mehr beilegt. Ich halte es für das Tactvollste und Zweckmäßigste, die Sache vollständig zu ignoriren. Wenn Wanda ihm unbefangen als seine Cousine entgegentritt, wird er sich kaum noch erinnern, daß er einst eine Knabenschwärmerei für sie hegte.“

„Vielleicht wäre es das Beste,“ meinte der Graf, indem er sich zum Gehen wandte. „Jedenfalls werde ich mit Wanda darüber sprechen.“

Leo hatte sich, ganz gegen seine Gewohnheit, mit keinem Worte an dem Gespräche betheiligt, und als jetzt sein Oheim das Zimmer verließ, nahm er schweigend dessen Platz ein. Er sah schon beim Eintritte äußerst erregt aus, und auch jetzt noch lag in seinen Zügen ein Ausdruck von Verstimmung, den er sich vergebens zu verbergen bemühte, die Mutter wenigstens bemerkte ihn sofort.

„Eure beabsichtigte Promenade wurde ja sehr schnell abgebrochen,“ warf sie hin. „Wo ist denn Wanda?“

„Auf ihrem Zimmer – so vermuthe ich wenigstens.“

„Vermuthest Du nur? Es hat wohl wieder einmal eine Scene zwischen Euch gegeben? Versuche doch nicht, mir das abzuleugnen, Leo! Dein Gesicht spricht deutlich genug davon und außerdem weiß ich, daß Du sicher nicht von Wanda’s Seite gehst, wenn sie Dich nicht selbst vertreibt.“

„Ja wohl, sie findet oft ein eigenes Vergnügen darin, mich zu vertreiben,“ sagte Leo mit unverstellter Bitterkeit.

„Du quälst sie aber auch oft genug mit Deiner ganz unbegründeten Eifersucht auf Jeden, der in ihre Nähe kommt. Ich bin überzeugt, das hat auch heute wieder den Anlaß zu Eurem Streite gegeben.“

Der junge Fürst schwieg und bestätigte dadurch die Voraussetzung seiner Mutter, die jetzt mit leisem Spott fortfuhr: „Es ist doch eine alte Erfahrung: wenn eine Liebe keine Leiden hat, so schafft sie sich solche. Ihr seid in dem seltenen glücklichen Falle, ohne jedes Hinderniß, mit vollster Billigung der Eltern dem Zuge Eurer Herzen folgen zu dürfen, und nun macht Ihr Euch auf diese Weise das Leben schwer. Ich will Wanda keineswegs von der Mitschuld daran freisprechen. Ich bin nicht blind gegen ihre Vorzüge, die sich immer glänzender entwickeln, seit sie das Kind mit seinen Thorheiten abgelegt hat, aber was ich vom ersten Tage an, wo ich sie ihrem Vater zurückgab, fürchtete, ist leider eingetroffen. Er hat mit seiner grenzenlosen Zärtlichkeit und der Vergötterung seiner Tochter Dir und mir einen schweren Stand bereitet. Wanda kennt keinen Willen als den ihrigen; sie ist gewohnt, ihn überall durchzusetzen, und Du lehrst sie leider auch keinen anderen kennen.“

„Ich versichere Dir, Mama, daß ich heute nicht sehr nachgiebig gegen Wanda war,“ versetzte Leo in einem Tone, dem man noch die Gereiztheit anhörte.

Die Fürstin zuckte die Achseln. „Heute vielleicht! Und morgen liegst Du doch wieder vor ihr auf den Knieen und bittest sie um Verzeihung. Sie hat Dich bisher noch jedesmal dazu gebracht. Wie oft soll ich Dir noch klar machen, daß das nicht der Weg ist, einem so stolzen und eigenwilligen Mädchen die Achtung einzuflößen, die der künftige Gemahl unter allen Umständen beanspruchen muß.“

„Ich bin aber solcher kühlen Berechnungen nicht fähig,“ rief Leo leidenschaftlich. „Wo ich liebe, wo ich anbete mit aller Gluth meiner Seele, da kann ich nicht immer und ewig bedenken, ob mein Benehmen auch ja dem künftigen Gemahl nichts vergiebt.“

„So beklage Dich auch nicht, wenn Deine Leidenschaft nicht in dem Maße erwidert wird, wie Du es forderst!“ sagte die Fürstin kalt. „Wie ich Wanda kenne, wird sie nie den Mann lieben, der sich unbedingt ihrer Herrschaft beugt, weit eher den, der ihr Widerstand entgegen setzt. Eine Natur, wie die ihrige, will zur Liebe gezwungen sein, und das hast Du bisher noch nicht verstanden.“

Er wendete sich in grollendem Unmuthe ab. „Ich habe ja überhaupt noch gar kein Recht auf Wanda’s Liebe. Es wird mir ja noch immer versagt, sie öffentlich meine Braut nennen zu dürfen; die Zeit unserer Verbindung wird in endlose Ferne hinausgeschoben –“

„Weil jetzt nicht Zeit ist an Verlobung und Hochzeit zu denken,“ unterbrach ihn die Mutter mit vollster Entschiedenheit. „Weil Du jetzt andere, ernstere Aufgaben hast als die, eine junge Gemahlin anzubeten, die bei Dir alles Andere in den Hintergrund drängen würde. Endlose Ferne! Wo es sich um einen Aufschub von höchstens einem Jahre handelt! Verdiene Dir die Braut – die Gelegenheit dazu wird nicht ausbleiben, und Wanda selbst würde sich nie entschließen, Dir eher ihre Hand zu reichen. Aber da kommen wir auf einen andern Punkt, den ich Dir nicht ersparen kann. – Leo, Dein Oheim ist nicht zufrieden mit Dir.“

„Hat er mich bei Dir verklagt?“ fragte der junge Mann mit einem finsteren Aufblicke.

„Er mußte es leider. Soll ich Dich erst daran erinnern, daß Du dem älteren Verwandten, dem Führer, unter allen Umständen Gehorsam schuldig bist? Statt dessen bereitest Du ihm unnöthige Schwierigkeiten, trittst an der Spitze von mehreren Deiner Altersgenossen in offene Opposition gegen ihn – was soll das heißen?“

Auf dem Gesichte Leo’s lag ein Ausdruck von starrem Trotze, als er antwortete: „Wir sind keine Kinder mehr, die sich willenlos leiten lassen. Wenn wir auch die Jüngeren sind, das Recht einer eigenen Meinung wird uns doch wohl zugestanden werden, und wir ertragen nun einmal nicht dieses ewige Zögern und Bedenken, mit dem man uns zurückhält.“

„Denkst Du, mein Bruder werde sich von Euch jugendlichen Heißspornen auf Bahnen fortreißen lassen, die er für verderblich erkennt?“ fragte die Fürstin mit vollster Schärfe. „Da irrt Ihr sehr. Es wird ihm schon schwer genug, alle die widerstreitenden Elemente im Zügel zu halten, und nun muß er es erleben, daß sein eigener Neffe das Beispiel des Ungehorsams giebt.“

„Ich habe nur widersprochen, nichts weiter,“ vertheidigte [563] sich der junge Fürst. „Ich ehre und liebe Morynski gewiß als Deinen Bruder und mehr noch als den Vater Wanda’s, aber es kränkt mich, daß er mir so gar keine Selbstständigkeit zugestehen will. Du selbst wiederholst mir oft genug, daß mein Name, meine Abkunft mich zu der ersten Stelle berechtigen, und der Onkel verlangt von mir, mich mit einer untergeordneten zu begnügen.“

„Weil er es noch nicht wagen darf, einem einundzwanzigjährigen Feuerkopfe Entscheidendes anzuvertrauen. Du verkennst Deinen Oheim vollständig. Ihm ist der eigene Erbe versagt geblieben, und wie sehr auch Wanda sein Abgott sein mag, die Hoffnungen, die ihm nur ein Sohn verwirklichen kann, sie ruhen doch einzig in Dir, der ja auch seinem Blute entstammt und in Kurzem sein Sohn heißen wird. Wenn er es für den Augenblick noch für nothwendig hält, Dich zu zügeln, für die Zukunft rechnet er doch ganz auf Deine junge, frische Kraft, wo die seinige schon zu ermatten beginnt. Ich habe sein Wort, daß, wenn es zur Entscheidung kommt, Fürst Leo Baratowski die ihm gebührende Stellung einnehmen wird – wir hoffen Beide, Du werdest Dich dessen würdig zeigen.“

„Zweifelt Ihr daran?“ rief Leo aufspringend mit flammenden Augen.

Die Mutter legte beschwichtigend ihre Hand auf seinen Arm. „An Deinem Muthe gewiß nicht. Was Dir fehlt, ist die Besonnenheit, und ich fürchte, Du wirst sie nie lernen, denn Du hast das Temperament Deines Vaters. Auch Baratowski flammte stets so leidenschaftlich auf, ohne nach Schranken und Möglichkeiten zu fragen, und das brachte ihm und mir oft genug Unheil. Aber Du bist doch auch mein Sohn, Leo, und ich denke, etwas wirst Du doch auch von Deiner Mutter geerbt haben. Ich habe mich bei meinem Bruder dafür verbürgt – an Dir ist es, die Bürgschaft einzulösen.“

Es lag in den Worten, trotz ihres tiefen Ernstes, ein solcher Mutterstolz, daß Leo in aufwallender Empfindung sich an ihre Brust warf. Die Fürstin lächelte; sie war nur selten weichen Regungen zugänglich, in diesem Augenblicke aber sprach doch die ganze Zärtlichkeit der Mutter aus ihrem Blicke und ihrem Tone, als sie, die Umarmung des Sohnes erwidernd, sagte: „Was ich für Hoffnungen auf Deine Zukunft setze, mein Leo, das brauche ich Dir nicht erst zu wiederholen, Du hast es oft von mir gehört, bist Du doch von jeher mein Einziger, mein Alles gewesen.“

„Dein Einziger?“ mahnte der junge Fürst mit leisem Vorwurfe. „Und mein Bruder?“

„Waldemar!“ Die Fürstin richtete sich empor; bei dem Namen schwand auf einmal alle Weichheit aus ihren Zügen, alle Zärtlichkeit aus ihrer Stimme. Ihr Antlitz wurde wieder streng und ernst wie vorhin, und ihr Ton klang eisig kalt, als sie fortfuhr: „Ja freilich, ihn hatte ich vergessen. Das Schicksal hat ihn nun einmal zum Herrn von Wilicza gemacht – wir werden ihn ertragen müssen.“


In nicht allzu weiter Entfernung vom Schlosse lag die Wohnung des Administrator Frank. Schloß und Gutswirthschaft waren in Wilicza von jeher getrennt gewesen. Das erstere, mochte es nun bewohnt sein oder nicht, lag stets in vornehmer Abgeschlossenheit da, und die letztere befand sich ausschließlich in den Händen eines Beamten. Das stattliche Wohnhaus desselben, die umliegenden, fast durchweg neuen Wirthschaftsgebäude und die Ordnung, welche auf dem Hofe herrschte, wichen bedeutend von dem ab, was man auf den Gütern der Nachbarschaft zu sehen gewohnt war, und galten auch wirklich in der ganzen Umgegend für ein überall angestauntes, aber niemals nachgeahmtes Muster. Die Stellung des Administrators von Wilicza war allerdings eine solche, daß ihn mancher Gutsherr darum beneiden konnte, sowohl was das Einkommen wie was die Art zu leben betraf.

Der Abend dämmerte bereits. Drüben im Schlosse begann sich die ganze Fensterreihe des ersten Stockwerkes zu erleuchten; bei der Fürstin fand eine größere Festlichkeit statt. In dem Wohnzimmer des Administrators war noch kein Licht angezündet worden, und die beiden Herren, welche sich dort befanden, schienen so sehr in die Unterhaltung vertieft zu sein, daß sie die zunehmende Dunkelheit gar nicht bemerkten.

Der ältere der Beiden war eine stattliche Erscheinung im kräftigsten Mannesalter, mit offenen, von der Sonne stark gebräunten Zügen, der jüngere dagegen verrieth in seinem ganzen Aeußeren, daß er nicht auf dem Lande heimisch sei. Er konnte trotz seiner ziemlich kleinen Figur für einen recht hübschen Mann gelten; das sorgfältig gekräuselte Haar und der äußerst moderne Anzug gaben ihm etwas Stutzerhaftes, doch lag nichts eigentlich Geziertes in seinem Wesen, Sprache und Haltung zeigten im Gegentheil ein Uebermaß von Würde und Wichtigkeit, das mit seiner kleinen Gestalt bisweilen in etwas komischen Gegensatz gerieth.

„Es bleibt dabei – ich gehe,“ sagte der Aeltere. „Ich habe es vorgestern der Fürstin erklärt, daß ich ihr den Gefallen thun werde, Wilicza den Rücken zu kehren, da ihre Manöver seit Jahr und Tag darauf hinzielten. Weiter kam ich aber nicht mit meinen Eröffnungen, denn sie fiel mir mit ihrer vollen Majestät in die Rede. ‚Mein lieber Frank, ich bedauere aufrichtig, daß Sie uns verlassen wollen, kann Ihrem Wunsche aber kein Hinderniß in den Weg legen; seien Sie überzeugt, mein Sohn und ich werden Ihre langjährige Thätigkeit in Wilicza nicht vergessen!‘ – Das sagt sie mir, mir, den sie systematisch vertrieben hat. Glauben Sie denn, daß ich gegen diesen Blick und Ton aufkommen konnte? Ich hatte mir vorgenommen, endlich einmal meinem Herzen Luft zu machen und ihr zum Abschiede gründlich die Wahrheit zu sagen, und jetzt – machte ich eine Verbeugung und ging.“

Der jüngere Herr schüttelte den Kopf. „Eine merkwürdige Frau, aber auch eine höchst gefährliche Frau! Wir von der Regierung haben Proben davon. Ich sage Ihnen, Herr Frank, diese Fürstin Baratowska ist eine Gefahr für die ganze Provinz.“

„Warum nicht gar!“ rief der Administrator ärgerlich. „Aber eine Gefahr für Wilicza ist sie. Sie hat es nun richtig durchgesetzt, die ganze Herrschaft unter ihr Scepter zu bringen; ich war der letzte Stein des Anstoßes, und den räumt sie nun auch aus dem Wege. Glauben Sie mir, Herr Assessor, ich habe ausgehalten, so lange es nur irgend ging, nicht meiner Stellung wegen – ich bin Gott sei Dank so weit, daß ich jeden Tag auf eigenen Füßen stehen kann, aber es that mir weh, daß Alles, was ich in zwanzig Jahren gearbeitet und geschaffen habe, nun zu Grunde gehen soll, wenn die alte polnische Wirthschaft wieder anfängt. Als ich hierher kam, war Herr Nordeck seit ein paar Jahren todt, sein Sohn bei dem Vormunde in Altenhof, und Pächter, Förster und Administratoren wirthschafteten lustig darauf los. Hier in Wilicza ging es am ärgsten zu; mein Vorgänger hatte so offen und unverschämt gestohlen, daß es sogar Herrn Witold zu viel wurde und er ihn Knall und Fall entließ. Das Schloß, von dessen Prachteinrichtung man weit und breit fabelte, stand leer und verschlossen, wie es aber im Dorfe und nun vollends auf dem Gutshofe aussah, das kann ich Ihnen nicht beschreiben. Elende Holz- und Lehmschuppen, die Einem über dem Kopfe zusammenfielen, Schmutz und Unordnung, wohin man sich wandte. Das Dienstvolk kriechend, falsch und voll von echt nationalem Hasse gegen den ‚Deutschen‘, die Felder in einem Zustande, daß sich einem Landmanne das Herz im Leibe umkehrte. Es that wahrhaftig Noth, daß ein paar märkische Fäuste da zugriffen, und es dauerte ein halbes Jahr, ehe ich Frau und Kinder nachkommen lassen konnte, weil eine nach unseren Begriffen menschliche Wohnung außerhalb des Schlosses nicht aufzutreiben war. Wie hätte es denn auch anders sein sollen! Der verstorbene Nordeck hatte nichts weiter gethan als jagen und sich mit seiner Frau Gemahlin zanken, und Herr Witold that überhaupt gar nichts. Es setzte zwar regelmäßig einige Donnerwetter, wenn er herkam, aber im Uebrigen ließ er sich an der Nase herumführen, und das wußte man auf der ganzen Herrschaft nur zu gut. Wenn die Rechnung nur schwarz und weiß auf dem Papiere stand und die Zahlen stimmten, dann war die Sache in Ordnung, ob die Ausgaben auch wirklich gemacht waren, danach fragte er nicht. Was habe ich im Anfange für Summen fordern müssen, um nur einigermaßen Ordnung zu schaffen! Sie wurden mir anstandslos bewilligt; daß ich sie nun auch wirklich auf das Gut wandte, anstatt sie, wie meine Herren Collegen, in die eigene Tasche zu stecken, das war ein Ausnahmefall. Uebrigens hatte der alte Herr doch eine Ahnung davon, daß ich der einzig Ehrliche unter der [564] ganzen Gesellschaft war, denn er erhöhte mir schon nach den ersten Jahren Gehalt und Tantième in einer Weise, daß ich mit der Ehrlichkeit gerade so gut fuhr, wie die Anderen mit ihren Diebereien und wäre er am Leben geblieben, so hätte ich Wilicza nicht verlassen, trotz aller Chicanen der Fürstin. Sie wagte sich auch wohlweislich nicht an mich; sie wußte, daß, wenn ich einmal nach Altenhof schrieb und Herrn Witold reinen Wein einschenkte, es eine Explosion geben würde. So viel Einfluß besaß er denn doch noch auf seinen Pflegesohn, mir hier freie Bahn zu schaffen. Bei seinen Lebzeiten hatte ich Ruhe, aber als er starb, war es aus damit. Was hilft es, daß mein Contract mir die Selbstständigkeit meiner Stellung garantirt? Wenn die fortwährenden Eingriffe vom Schlosse aus geschehen und es die Mutter meines Gutsherrn ist, die sie anbefiehlt, dann heißt es entweder ertragen oder gehen, und ich habe lange genug ertragen – ich gehe jetzt.“

„Aber das ist ein Unglück für Wilicza,“ fiel der Assessor ein. „Sie waren noch der Einzige, der es wagte, der Fürstin einigermaßen die Spitze zu bieten, vor dessen scharfen Augen man eine heilsame Furcht hatte. Wenn Sie gehen, sind den geheimen Umtrieben hier Thür und Thor geöffnet. Wir von der Regierung“ – er legte jedesmal einen Nachdruck auf das Wort – „wissen am besten, was es heißen will, wenn die Nordeck’schen Güter mit ihrer riesigen Ausdehnung und ihrer verwünschten Lage so dicht an der Grenze unter dem Regimente einer Baratowska stehen.“

„Ja, sie hat es in den vier Jahren ziemlich weit gebracht,“ sagte der Administrator bitter. „Das ging vom ersten Tage an vorwärts, langsam, Schritt für Schritt, aber unverrückt auf das Ziel los, mit einer Energie, die man trotz alledem bewundern muß. Als vor Jahr und Tag die Pachtcontracte abliefen, da wußte sie es durchzusetzen, daß die Pachtgüter sämmtlich in die Hände ihrer Landsleute geriethen; sie bewarben sich darum und sie bekamen sie. Herr Nordeck erfuhr wahrscheinlich gar nicht, daß überhaupt noch andere Bewerber da waren. Aus der Forstverwaltung ist nach und nach jedes deutsche Element verdrängt worden; das ganze Personal besteht nur noch aus gehorsamen Dienern der Fürstin, und wie oft habe ich alle Energie aufbieten müssen, um meine deutschen Inspectoren und Aufseher in ihren Stellungen zu schützen. Aber es half zuletzt auch nichts mehr. Sie gingen freiwillig, weil sie die Widerspänstigkeit der Leute nicht mehr ertragen konnten. Wir wissen recht gut, von welcher Seite das Dienstvolk unaufhörlich aufgehetzt und gestachelt wird. – Meinen Nachfolger im Amte glaube ich auch schon zu kennen; er ist ein Trunkenbold, der so gut wie nichts von der Landwirthschaft versteht und Wilicza zu Grunde richten wird, wie die Pächter und Förster eben daran sind, es mit den anderen Gütern und den Waldungen zu thun, aber er ist ein Nationaler vom reinsten Wasser, und das entscheidet bei der Fürstin – der Posten ist ihm gewiß.“

„Wenn Herr Nordeck sich nur einmal entschließen wollte, hierher zu kommen,“ meinte der Assessor. „Er hat sicher keine Ahnung davon, wie es auf seinen Gütern zugeht.“

Frank zuckte die Achseln. „Unser junger Herr? Als ob der sich jemals um sein Wilicza gekümmert hätte! Seit zehn Jahren hat er es mit keinem Fuße betreten; er treibt sich lieber draußen in der Welt herum. Ich hoffte, er würde nach erlangter Mündigkeit endlich einmal auf längere Zeit kommen, und es hieß ja anfangs auch so, aber er blieb fort und schickte uns seine Frau Mutter her, die denn auch nicht säumte, das Regiment an sich zu reißen. Keiner von den Beamten verkehrt ja direct mit ihm – wir sind mit unseren Rechnungslagen, Einzahlungen, Anforderungen ausschließlich an den Justizrath in L. gewiesen. Uebrigens habe ich, ehe ich mich zum Gehen entschloß, noch das letzte Mittel versucht und an Herrn Nordeck selbst geschrieben. Ich wußte bereits, daß meine Stellung unhaltbar war, und da hielt ich es nach zwanzigjährigen Diensten denn doch für Pflicht, ihm die Wirthschaft hier auf seinen Gütern aufzudecken und ihm gerade heraus zu sagen, daß, wenn das so weiter ginge, auch sein Vermögen nicht mehr Stand halten würde. Vor vier Wochen sandte ich den Brief ab – glauben Sie, daß ich auch nur eine Antwort darauf erhalten habe? Nein, von der Seite ist nichts zu hoffen. – Aber über dem Aerger vergesse ich ganz, daß wir jetzt vollständig im Finstern sitzen. Ich begreife nicht, weshalb Gretchen nicht wie sonst die Lampe hereinbringt. Sie weiß wahrscheinlich nicht, daß Sie hier sind.“

„O doch!“ sagte der Assessor etwas pikirt. „Fräulein Margaretha stand im Hausflur, als ich auf den Hof fuhr, aber sie ließ mir nicht einmal Zeit zu grüßen, sondern lief in größter Eile die Treppe hinauf bis zur Bodenkammer.“

In Frank’s Gesicht zeigte sich eine leichte Verlegenheit. „Nicht doch, Sie täuschen sich wohl.“

„Die ganze Treppe hinauf bis zur Bodenkammer!“ wiederholte der kleine Herr mit Nachdruck, indem er die Augenbrauen in die Höhe zog und den Administrator ansah, als verlange er, dieser solle in seine Entrüstung einstimmen, aber Frank lachte nur.

„Das thut mir leid, aber da kann ich Ihnen beim besten Willen nicht helfen.“

„Sie können mir sehr viel helfen,“ rief der Assessor lebhaft. „Die Autorität des Vaters ist eine unbeschränkte, wenn Sie Ihrer Tochter sagen, daß es Ihr Wunsch und Wille ist –“

„Das thue ich unter keiner Bedingung,“ unterbrach ihn Frank mit ruhiger Bestimmtheit. „Sie wissen, ich lege Ihrer Bewerbung nichts in den Weg, denn ich glaube, daß Sie mein Kind aufrichtig lieben, und habe gegen Ihre Persönlichkeit und Verhältnisse nichts einzuwenden; sich das Jawort des Mädchens zu holen ist aber Ihre Sache, darein mische ich mich nicht. Sagt sie aus freien Stücken Ja, so sind Sie mir als Schwiegersohn willkommen, mir scheint freilich, Sie haben wenig Aussicht dazu.“

„Da täuschen Sie sich, Herr Frank,“ sagte der Assessor zuversichtlich, „da täuschen Sie sich ganz entschieden. Es ist wahr, Fräulein Margarethe behandelt mich bisweilen ganz eigenthümlich, sozusagen rücksichtslos, aber das ist nur die gewöhnliche Sprödigkeit junger Mädchen. Sie wollen gesucht, umworben sein, wollen durch ihre Zurückhaltung den Preis begehrenswerther machen. O, ich verstehe mich ganz ausgezeichnet auf dergleichen. Seien Sie unbesorgt – ich erreiche sicher mein Ziel.“

„Soll mich freuen,“ erwiderte der Administrator kurz abbrechend, da der Gegenstand des Gespräches mit der Lampe in der Hand soeben eintrat.

[577] Gretchen Frank mochte ungefähr zwanzig Jahre alt sein; sie war durchaus keine zarte, ideale Erscheinung, aber dafür ein wahres Bild von Jugend und Gesundheit. Es lag in ihrem ganzen Wesen etwas von der stattlichen, kräftigen Art des Vaters, und das frische, rosige Gesicht mit den klaren blauen Augen und den blonden Flechten über der Stirn sah jetzt, von dem hellen Scheine der Lampe angestrahlt, so reizend aus, daß man es begriff, daß der Assessor die schnöde Flucht „bis zur Bodenkammer“ vollständig vergaß und eiligst aufsprang, um seine Auserkorene zu begrüßen.

„Guten Abend, Herr Assessor!“ sagte das junge Mädchen, die Begrüßung etwas kühl erwidernd. „Also Sie waren es, der vorhin in den Hof fuhr? Ich setzte das gar nicht voraus, da Sie erst am Sonntage hier waren.“

Der Assessor fand für gut, die letzten Worte zu überhören. „Mich führen diesmal Amtsgeschäfte her,“ entgegnete er, „ein Auftrag von großer Wichtigkeit, den man mir anvertraut hat und der mich einige Tage hier in der Gegend festhält. Ich habe mir erlaubt, die Gastfreundschaft Ihres Herrn Vaters in Anspruch zu nehmen. Wir von der Regierung haben jetzt schlimme Zeit, Fräulein Margarethe. Ueberall dumpfe Gährung, geheime Umtriebe, revolutionäre Bestrebungen – die ganze Provinz ist eine einzige große Verschwörung.“

„Das brauchen Sie uns nicht erst zu sagen,“ meinte der Administrator trocken. „Ich dächte, das hätten wir hier in Wilicza aus erster Hand.“

„Ja wohl, dieses Wilicza ist der eigentliche Herd der Verschwörungen,“ rief der Assessor im Eifer. „In Rakowicz wagen sie das Spiel nicht so offen zu treiben; es liegt dicht bei L. und ist rechts und links von deutschen Colonien eingeschlossen – das genirt den Herrn Grafen Morynski doch einigermaßen, hier dagegen hat er freie Hand.“

„Und das günstigste Terrain,“ setzte Frank hinzu. „Bis zur Grenze Nordeck’sches Gebiet, nichts als Wald und die Förster und Forstaufseher darin zu den Befehlen der Fürstin. Man sollte meinen, die Grenze wäre so scharf bewacht, daß auch nicht eine Katze durch könnte, und doch geht es allnächtlich hinüber und herüber, und wer von drüben kommt, findet offene Thüren in Wilicza, wenn es auch vorläufig nur die Hinterpforten sind.“

„Wir wissen das Alles, Herr Frank,“ versicherte der Assessor mit einer Miene, die zum Mindesten Allwissenheit verkündete. „Alles, sage ich Ihnen. Aber wir können nichts thun, denn uns fehlt jeder Beweis. Es ist absolut nichts zu entdecken. Sobald sich Jemand von unserer Seite naht, ist das ganze Treiben in die Erde versunken. Auch meine Mission hängt damit zusammen, und da Sie die Polizeiverwaltung hier haben, so bin ich zum Theil auf Ihren Beistand angewiesen.“

„Wenn es sein muß! Sie wissen, ich gebe mich nur ungern zu solchen Diensten her, obgleich man im Schlosse darauf besteht, mich für einen Spion und Häscher zu halten, weil ich meine Augen nicht absichtlich verschließe und der Widersetzlichkeit meiner Leute mit voller Strenge entgegentrete.“

„Es muß sein. Es handelt sich um zwei sehr gefährliche Subjecte, die sich hier in der Gegend unter allerlei Vorwänden herumtreiben und womöglich dingfest zu machen sind. Ich bin ihnen übrigens bereits auf der Spur. Bei meiner Herfahrt traf ich mit zwei äußerst verdächtigen Individuen zusammen. Sie gingen zu Fuße.“

Gretchen lachte laut auf. „Ist das ein Verdachtsgrund? Sie hatten vermuthlich kein Geld, die Post zu bezahlen.“

„Bitte sehr um Entschuldigung, mein Fräulein – sie hatten sogar Geld genug für die Extrapost, denn sie fuhren in einer solchen an mir vorüber. Auf der letzten Station aber haben sie den Wagen verlassen und sich in auffälliger Weise nach allen möglichen Einzelheiten über Wilicza erkundigt. Die angebotene Führung dorthin lehnten sie ab und gingen zu Fuße weiter, aber mit Vermeidung der Landstraße, quer durch die Felder. Dem Postmeister wollten sie auf keine seiner Fragen Rede stehen. Ich traf leider erst auf der Station ein, als sie bereits fort waren, und die einbrechende Dämmerung machte für heute den weiteren Nachforschungen ein Ende, morgen aber werde ich sie mit allem Eifer wieder aufnehmen. Die Beiden sind jedenfalls noch in der Nähe.“

„Vielleicht sogar dort drüben,“ sagte Gretchen, in jene Richtung hinauszeigend, von wo die erleuchtete Fensterreihe des Schlosses durch das Dunkel herüberschimmerte. „Es ist ja heute großer Verschwörungsabend bei der Fürstin.“

Der Assessor fuhr in die Höhe. „Verschwörungsabend? Wie? Was? Wissen Sie das genau? Ich werde sie überraschen; ich werde –“

Der Administrator zog ihn lachend wieder auf seinen Sitz nieder. „Lassen Sie sich doch nichts weiß machen! Es ist eine übermüthige Idee von dem Mädchen da, weiter nichts.“

„Aber Papa, Du meintest doch selbst neulich, daß es ganz besondere Gründe hätte, wenn im Schlosse jetzt Fest auf Fest folgte,“ warf Gretchen ein.

[578] „Das meine ich allerdings. Die Fürstin mag Glanz und Pracht lieben, daß sie aber in einer Zeit wie die jetzige nur Sinn für Festlichkeiten haben sollte, traue ich ihr entschieden nicht zu. Diese großen Jagden und Bälle sind der einfachste und bequemste Vorwand, alle möglichen Persönlichkeiten in Wilicza zu vereinigen, ohne daß es besonders auffällt. Jetzt tanzen und diniren sie allerdings – man muß ja den Schein wahren – aber der größte Theil der Gäste bleibt über Nacht im Schlosse, und was geschieht, wenn die Kronleuchter ausgelöscht, möchte nicht ganz so harmlos sein.“

Der Assessor hörte mit gespannter Aufmerksamkeit diesen für ihn so interessanten Erörterungen zu; leider wurden sie unterbrochen, denn man rief den Administrator ab. Ein Krankheitsfall, der sein eigenes, sehr schönes Reitpferd betroffen, drohte eine ernste Wendung zu nehmen. Frank ging selbst, um nach dem Thiere zu sehen, und ließ die beiden jungen Leute allein.

Fräulein Margarethe wurde durch dieses unerwartete Alleinsein mit dem Assessor sichtlich unangenehm berührt; desto angenehmer war es offenbar dem Letzteren. Er drehte wohlgefällig sein Schnurrbärtchen, fuhr sich mit der weißen Hand durch die gekräuselten Haare und beschloß, die günstige Gelegenheit nach Kräften auszunutzen.

„Herr Frank hat mir vorhin mitgetheilt, daß er seine Stellung aufzugeben beabsichtigt,“ begann er. „Der Gedanke, ihn und die Seinigen nicht mehr in Wilicza zu wissen, würde mich unter anderen Umständen schwer getroffen haben, sozusagen wie ein Donnerschlag, aber da ich selbst nicht mehr allzu lange in L. bleiben werde –“

„Wollen Sie denn fort?“ fragte das junge Mädchen verwundert.

Der Assessor lächelte selbstbewußt. „Sie wissen ja, Fräulein Margarethe, daß bei uns Beamten mit der Beförderung meist eine Versetzung verbunden ist, und ich hoffe, nun baldigst Carrière zu machen.“

„Wirklich?“

„Ganz unzweifelhaft! Ich bin bereits Regierungsassessor, und das will in einem Staate wie der unserige Alles sagen. Es ist gewissermaßen die erste Stufe der großen Beamtenleiter, die direct zum Ministersessel empor führt.“

„Nun, bis dahin haben Sie doch noch ein wenig weit,“ meinte Gretchen in ziemlich mißtrauischem Tone.

Der kleine Herr lehnte sich mit einer Würde zurück, als sei der einfache Rohrstuhl, auf dem er Platz genommen hatte, schon der erwähnte Ministersessel.

„In Jahr und Tag läßt sich dergleichen allerdings nicht erreichen, aber für die Zukunft – man muß stets das Große im Auge haben, mein Fräulein; man muß sich immer nur die höchsten Ziele stecken; der Ehrgeiz ist der edelste Sporn des Beamten. Was mich speciell betrifft, so warte ich täglich auf den Regierungsrath.“

„Darauf warten Sie aber schon sehr lange,“ warf das junge Mädchen ein.

„Weil mir überall Neid und Mißgunst im Wege stehen,“ rief der Assessor mit aufwallender Empfindlichkeit. „Wir jüngeren Beamten werden ja von den Herren Vorgesetzten niedergehalten, so lange es nur irgend geht. Mir fehlte bisher die Gelegenheit, mich auszuzeichnen, jetzt endlich hat man die Nothwendigkeit eingesehen, eine Mission von Wichtigkeit in meine Hände zu legen. Seine Excellenz der Herr Präsident hat mir selbst die nöthigen Instructionen ertheilt und mich beauftragt, ihm persönlich Vortrag über das Ergebniß meiner Recherchen zu halten. Wenn es günstig ausfällt, so ist mir der Regierungsrath gewiß.“

Er blickte bei den letzten Worten so vielsagend zu der jungen Dame hinüber, daß sie unmöglich im Zweifel sein konnte, wer zur künftigen Regierungsräthin auserkoren sei, dennoch beobachtete sie ein hartnäckiges Schweigen.

„Dann würde wohl auch meine Versetzung erfolgen,“ fuhr der Assessor fort. „Wahrscheinlich sogar nach der Hauptstadt; ich habe einflußreiche Verwandte dort. Sie kennen die Hauptstadt noch nicht, mein Fräulein,“ und nun begann er das Residenzleben zu schildern, die dortigen Vergnügungen, die einflußreichen Verwandten und wußte das Alles äußerst geschickt um seine Person zu gruppiren. Gretchen hörte mit einem Gemisch von Neugier und Bedenklichkeit zu. Die glänzenden Bilder, die da vor ihr aufgerollt wurden, hatten doch viel Verlockendes für ein junges, in der Einsamkeit des Landlebens erzogenes Mädchen; sie stützte den blonden Kopf in die Hand und sah nachdenklich auf die Tischdecke. Das Bedenkliche der Sache lag für sie augenscheinlich nur in der unvermeidlichen Zugabe des jetzigen Assessors und künftigen Ministers. Dieser jedoch bemerkte seinen Vortheil recht gut und säumte nicht, ihn zu verfolgen; er rüstete sich zu einer Hauptattaque.

„Aber ich werde mich trotzdem einsam und verlassen fühlen,“ sagte er mit Pathos, „denn mein Herz bleibt doch hier zurück. Fräulein Margaretha –“

Gretchen erschrak; sie sah, daß der Assessor, der nach ihrem Namen eine große Kunstpause gemacht, jetzt aufstand, in der ganz unzweifelhaften Absicht, sich vor ihr auf die Kniee niederzulassen, aber die Feierlichkeit und Umständlichkeit, womit er diese Präliminarien der Liebeserklärung in Scene setzte, sollten verhängnißvoll für ihn werden – sie ließen dem jungen Mädchen Zeit, zur Besinnung zu kommen; sie sprang gleichfalls auf.

„Entschuldigen Sie, Herr Assessor – ich glaube – ich glaube, die Hausthür ist soeben in’s Schloß gefallen. Papa kann nicht herein, wenn er zurückkommt. Ich werde ihm öffnen –“ damit flog sie aus dem Zimmer.

Der Assessor stand mit seiner Kunstpause und den halb eingebogenen Knieen da und sah äußerst betroffen aus. Es war heute das zweite Mal, daß seine Auserwählte vor ihm die Flucht nahm, und diese Sprödigkeit fing nachgerade an, ihm unbequem zu werden. Es fiel ihm freilich nicht ein, an einen ernstlichen Widerstand zu denken; es war Eigensinn, Coquetterie, vielleicht sogar – der Bewerber lächelte – Furcht vor seiner Unwiderstehlichkeit. Man wagte augenscheinlich nicht, ihm das Ja zu verweigern, und floh nun in reizender Schüchternheit die Entscheidung. Dieser Gedanke hatte etwas außerordentlich Tröstendes für den Herrn Assessor, und wenn er auch bedauerte, wieder einmal nicht zum Ziele gekommen zu sein, so zweifelte er doch durchaus nicht an seinem endlichen Siege; er verstand sich ja so ausgezeichnet darauf.

Der Vorwand, den das junge Mädchen gebraucht hatte, war nicht ganz aus der Luft gegriffen. Die große Eingangsthür war wirklich, von einer unkundigen Hand geworfen, mit großem Geräusch in’s Schloß gefallen. Der Administrator brauchte nun freilich bei seiner Rückkehr nur vom Hofe aus die Magd zu rufen und sich öffnen zu lassen, aber daran schien seine Tochter gar nicht zu denken, denn sie flog wie der Sturmwind durch das Nebenzimmer in den Hausflur.

Ein Schmerzens- und ein Schreckensruf ertönten zu gleicher Zeit. Gretchen hatte die Thür, welche in den Flur führte, mit voller Gewalt aufgestoßen, gerade in dem Augenblicke, als von draußen Jemand die Hand auf die Klinke legte; der Fremde taumelte, von dem Anprall des Thürflügels getroffen, einige Schritte zurück und wäre wahrscheinlich hingestürzt, wenn sein Gefährte ihn nicht rasch umfaßt und gehalten hätte.

„Mein Gott, was ist denn geschehen?“ rief das junge Mädchen erschrocken.

„Ich bitte tausendmal um Entschuldigung!“ sagte eine schüchterne Stimme, im Tone außerordentlicher Höflichkeit.

Gretchen blickte verwundert auf den Mann, der sich so höflich entschuldigte, weil man ihn gestoßen, und der sich jetzt eiligst wieder emporrichtete, ehe sie aber noch Zeit zur Antwort fand, trat der zweite Fremde näher und wendete sich direct an sie.

„Wir wünschen Herrn Administrator Frank zu sprechen; man sagte uns, er sei zu Hause.“

„Papa ist augenblicklich nicht hier, wird aber sogleich kommen,“ versicherte Gretchen, der dieser späte und unerwartete Besuch eine große Erleichterung gewährte, denn er zeigte ihr einen Ausweg zwischen der Unhöflichkeit, den Assessor bis zur Rückkehr des Vaters allein zu lassen, und der Nothwendigkeit, ihm Gesellschaft zu leisten; sie führte die Fremden deshalb auch nicht in die Arbeitsstube Frank’s, wie es sonst gewöhnlich geschah, sondern dirigirte sie ohne Weiteres in das Wohnzimmer.

„Zwei Herren, die den Papa zu sprechen wünschen,“ sagte sie erklärend zu dem verwundert aufschauenden Assessor; dieser erhob sich; die Fremden traten grüßend näher, während das junge

[579] Mädchen sich freundlich erbot, den Vater benachrichtigen zu lassen, und zu diesem Zwecke nochmals hinausging.

Sie hatte soeben eine der beiden Mägde fortgesandt und war im Begriff, in das Zimmer zurückzukehren als zu ihrer größten Verwunderung der Assessor in dem matt erleuchteten Hausflur erschien und sich eilfertig erkundigte, ob bereits nach dem Herrn Administrator geschickt sei. Gretchen bejahte.

Der Assessor trat dicht an sie heran und sagte im Flüsterton: „Fräulein Margaretha – das sind sie.“

„Wer?“ fragte sie überrascht.

„Die beiden Verdächtigen. Ich habe sie. Sie sind in der Falle.“

„Aber Herr Assessor, das sind doch nun und nimmermehr Polen,“ warf das junge Mädchen ein.

„Es sind die beiden Individuen, die vorhin in der Extrapost an mir vorüberfuhren,“ versetzte er hartnäckig. „Dieselben, die sich später in so verdachterregender Weise benommen haben. Jedenfalls werde ich meine Maßregeln treffen; ich werde inquiriren, nöthigenfalls verhaften.“

„Aber muß denn das gerade in unserem Hause sein?“ fragte das junge Mädchen in sehr ungnädigem Tone.

„Die Pflicht meines Amtes!“ sagte der Assessor mit Würde. „Vor allen Dingen gilt es, den Eingang zu sichern und etwaige Fluchtversuche zu hindern. Ich werde die Hausthür abschließen.“ Er drehte wirklich den Schlüssel um und zog ihn ab.

„Aber was fällt Ihnen denn ein?“ protestirte Gretchen. „Papa kann ja nicht in’s Haus, wenn er zurückkommt.“

„Wir stellen die Magd an die Thür und geben ihr den Schlüssel,“ flüsterte der kleine Herr, der in einen fieberhaften Amtseifer gerathen war. „Sie öffnet, sobald Herr Frank kommt, und ruft dann gleich die Knechte herbei, um die Thür zu besetzen. Wer weiß, ob die Delinquenten sich gutwillig fügen!“

Gretchen war und blieb mißtrauisch. „Aber woher wissen Sie denn, daß es überhaupt Delinquenten sind? Wenn Sie sich nun irren?“

„Fräulein Margaretha, Sie haben keinen Polizeiblick,“ erklärte der Assessor mit Ueberlegenheit. „Ich verstehe mich auf Gesichter, und ich sage Ihnen, es sind die echtesten, ausgeprägtesten Verschwörerphysiognomien, die mir je vorgekommen sind. Mich täuscht man nicht, und wenn man auch ein noch so reines Deutsch spricht. Ich werde vorläufig nur inquiriren, bis Herr Frank erscheint. Es ist freilich gefährlich, solche Menschen ahnen zu lassen, daß sie entdeckt sind, zumal wenn man allein mit ihnen ist, sehr gefährlich, aber die Pflicht gebietet es.“

„Ich gehe mit Ihnen,“ versicherte Gretchen beherzt.

„Ich danke Ihnen,“ sagte der Assessor in einem so feierlichen Tone, als habe sich das junge Mädchen mindestens entschlossen, mit ihm zum Schaffot zu gehen, „und nun lassen Sie uns handeln!“

Er rief die Magd herbei, gab ihr die betreffenden Weisungen und kehrte dann in das Zimmer zurück. Gretchen folgte ihm; sie war von Natur ziemlich tapfer und sah daher der Entwickelung der Sache mit ebenso viel Neugier wie Besorgniß entgegen. Die beiden Fremden hatten offenbar keine Ahnung von dem drohenden Ungewitter, das sich über ihren Häuptern zusammenzog, schienen sich vielmehr in vollkommener Sicherheit zu wähnen. Der Jüngere, eine auffallend hohe Gestalt, der seinen Gefährten fast um Kopfeslänge überragte, ging mit verschränkten Armen auf und nieder, während der Aeltere, eine schmächtige Figur mit blassen, aber angenehmen Zügen, den angebotenen Platz eingenommen hatte und ganz harmlos im Lehnstuhle saß.

Der Assessor warf sich in die Brust. Die Ueberzeugung von der Wichtigkeit des Momentes und das Bewußtsein, vor den Augen seiner zukünftigen Braut zu operiren, hatten etwas Erhebendes für ihn. Er sah aus wie das personificirte Weltgericht, als er vor die beiden „Individuen“ hintrat.

„Ich habe mich den Herren noch nicht vorgestellt,“ begann er, vorläufig noch den Ton der Höflichkeit festhaltend. „Regierungsassessor Hubert aus L.“

Die Beiden waren jedenfalls keine Neulinge mehr in der Verschwörung, denn sie erbleichten nicht einmal bei Nennung dieser amtlichen Eigenschaft. Der ältere Herr erhob sich, machte eine stumme, aber sehr artige Verbeugung und nahm dann wieder seinen Platz ein. Der jüngere dagegen neigte nur leicht das Haupt und sagte nachlässig: „Sehr angenehm.“

„Dürfte ich nun auch meinerseits um die Namen der Herren bitten?“ fuhr Hubert fort.

„Wozu das?“ fragte der junge Fremde gleichgültig.

„Ich wünsche sie zu kennen.“

„Ich bedaure – wir wünschen nicht, sie zu nennen.“

Der Assessor nickte mit dem Kopfe, als wollte er sagen: Das habe ich mir gedacht. „Ich bin bei dem Polizeidepartement in L. angestellt,“ betonte er.

„Eine sehr schätzenswerthe Stellung,“ meinte der Fremde, dabei aber glitt sein Blick mit beleidigender Gleichgültigkeit über den Beamten hin und blieb auf dem jungen Mädchen haften, das sich in die Nähe des Fensters zurückgezogen hatte.

Hubert war einen Moment lang verblüfft. Das mußten hartgesottene Verschwörer sein, auch die Erwähnung des Polizei-Departements vermochte es nicht, ihnen ein Zeichen des Schreckens zu entlocken, und doch mußte sie ihnen nothwendig eine Ahnung ihres Schicksals geben. Aber man hatte Mittel, diese Verstocktheit zu brechen; das Verhör wurde fortgesetzt.

„Sie fuhren vor etwa zwei Stunden in einer Extra-Postchaise an mir vorüber?“

Diesmal antwortete der jüngere Fremde gar nicht; die Sache schien ihn zu langweilen, der ältere aber erwiderte höflich: „Gewiß, wir haben Sie gleichfalls in Ihrem Wagen bemerkt.“

„Sie verließen aber die Chaise auf der letzten Station und gingen zu Fuße weiter. Sie wollten ausgesprochenermaßen nach Wilicza –; Sie vermieden die Landstraße und schlugen einen Seitenweg quer über die Felder ein.“ Der Assessor war wieder ganz Weltgericht, als er diese Anklagen, eine nach der anderen, in wahrhaft vernichtender Weise herausschleuderte, und sie blieben diesmal nicht ganz wirkungslos. Der ältere der Verschwörer begann unruhig zu werden, der jüngere dagegen, den der „Polizeiblick“ des Beamten sofort als den Gefährlichsten herausgefunden hatte, trat rasch an den Stuhl seines Begleiters und legte den Arm wie schützend auf die Lehne.

„Wir haben überdies noch unsere Paletots angezogen, als es anfing kühl zu werden, und im Posthause ein Paar Handschuhe vergessen,“ entgegnete er mit unverhehlter Ironie. „Wollen Sie nicht diese beiden Thatsachen Ihren interessanten Notizen über unser Thun und Treiben hinzufügen?“

„Mein Herr, man spricht nicht in solchem Tone mit einem Vertreter der Regierung,“ rief Hubert gereizt.

Der Fremde zuckte statt aller Antwort die Achseln und wandte sich nach dem Fenster.

„Mein Fräulein, Sie ziehen sich so vollständig zurück. Wollen Sie uns nicht durch Ihre Gegenwart von der unerquicklichen Unterhaltung dieses Herrn befreien?“

Der Assessor ergrimmte in gerechtem Zorne; diese Keckheit ging ihm denn doch zu weit, und da der Administrator jeden Augenblick eintreten mußte, so ließ er die bisherige Vorsicht fahren und versetzte in hohem Tone:

„Ich fürchte, es steht Ihnen noch manches Unerquickliche bevor. Zuvörderst werden Sie mir Ihre Namen nennen, Ihre Papiere ausliefern – ich fordere das; ich bestehe darauf. Mit einem Worte: Sie sind verdächtig.“

Das schlug endlich ein. Der blasse Herr fuhr mit allen Zeichen des Schreckens empor. „Um Gotteswillen!“

„Aha, regt sich das Schuldbewußtsein endlich?“ triumphirte Hubert. „Sie haben gleichfalls gezuckt,“ wandte er sich an den Anderen, gebieterisch an ihm in die Höhe blickend. „Leugnen Sie nicht! Ich habe ein Zucken in Ihrem Antlitze gesehen.“

Es war allerdings ein ganz eigenthümliches Zucken gewesen, das bei dem Worte „verdächtig“ um den Mund des jungen Mannes flog, und es wiederholte sich jetzt in noch stärkerer Weise, als er sich zu seinem Begleiter herabbeugte.

„Aber weshalb machen Sie der Sache nicht ein Ende?“ fragte dieser leise und bittend.

„Weil sie mir Spaß macht,“ war die ebenso leise Antwort.

„Hier wird nicht geflüstert!“ fuhr der Assessor dazwischen. „Keine neue Verschwörung in meiner Gegenwart, das bitte ich mir aus. Noch einmal: die Namen – wird man mir nun antworten?“

„Ja so!“ sagte der junge Fremde, sich wieder emporrichtend. „Wir sind also in Ihren Augen Verschwörer?“

„Und Hochverräther,“ ergänzte Hubert mit Nachdruck.

[580] „Und Hochverräther! Natürlich, das pflegt sich meistentheils zu ergänzen.“

Der Assessor stand völlig starr ob dieser Verwegenheit. „Ich fordere Sie zum letzten Male auf, mir Ihre Namen zu nennen und Ihre Papiere zu zeigen,“ rief er. „Sie verweigern mir Beides?“

Der Fremde setzte sich in sehr ungenirter Weise auf die Seitenlehne des Armstuhls und kreuzte die Arme.

„Ganz recht! Das ist ja eben die Verschwörung.“

„Herr, ich glaube, Sie wollen Ihren Spott mit mir treiben,“ schrie der Assessor, kirschroth vor Zorn. „Wissen Sie, daß das Ihren Fall ganz außerordentlich erschwert? Das Polizeidepartement in L. –“

„Muß sich in einer sehr traurigen Verfassung befinden, da es Sie zum Vertreter hat,“ vollendete der junge Mann mit unerschütterlicher Gemüthsruhe.

Das war zu viel; der Beleidigte fuhr wie besessen in die Höhe.

„Unerhört! Also so weit ist es schon gekommen, daß man es wagt, den Behörden offen Hohn zu sprechen, aber das soll Ihnen theuer zu stehen kommen. Sie haben die Regierung in meiner Person beleidigt und angegriffen. Ich verhafte Sie; ich lasse Sie geschlossen nach L. transportiren.“

Er schoß wie ein Kampfhahn auf seinen Gegner los, der ihn ruhig herankommen ließ und ihn dann ohne Weiteres zurückschob. Es war nur eine einzige Bewegung des kraftvollen Armes, aber der Herr Assessor flog wie ein Ball auf das nahestehende Sopha, das ihn zum Glück auffing.

„Gewalt!“ rief er außer sich. „Ein Attentat auf meine Person! Fräulein Margarethe, holen Sie Ihren Vater –“

„Mein Fräulein, holen Sie lieber ein Glas Wasser und gießen Sie es diesem Herrn über den Kopf!“ sagte der Fremde. „Er hat es nöthig.“

Das junge Mädchen fand keine Zeit, den beiden so verschiedenartigen Aufforderungen nachzukommen, denn man vernahm eilige Schritte im Nebenzimmer, und der Administrator, der schon mit äußerstem Befremden die an der Hausthür getroffenen Vorsichtsmaßregeln gesehen und die lauten Stimmen gehört hatte, trat rasch ein.

Der Assessor lag noch im Sopha und zappelte mit Händen und Füßen, um wieder auf die Beine zu kommen, was ihm bei der Kürze derselben und der Höhe des Sophas nicht sogleich gelingen wollte.

„Herr Frank,“ rief er, „wahren Sie den Eingang! Rufen Sie die Knechte herbei! Sie haben die Polizeiverwaltung von Wilicza. Sie müssen mir beistehen. Ich verhafte diese beiden Subjecte im Namen –“ hier schlug ihm die Stimme über; er focht, verzweiflungsvoll mit den Händen in der Luft herum, kam aber nun vermittelst eines gewaltigen Ruckes zum Sitzen.

Der junge Fremde hatte sich erhoben und ging auf den Administrator zu. „Herr Frank, Sie führen in meinem Namen die Polizeiverwaltung von Wilicza, und da werden Sie sich hoffentlich bedenken, Ihren eigenen Gutsherrn auszuliefern.“

„Wen?“ rief der Administrator zurückprallend.

Der Fremde zog ein Papier aus der Brusttasche und reichte es ihm. „Ich komme ganz unerwartet, und Sie werden mich nach zehn Jahren kaum wiedererkennen. So mag mir denn dieser Brief zur Legitimation dienen; Sie richteten ihn vor einigen Wochen an mich.“

Frank warf einen raschen Blick auf das Blatt, dann einen zweiten auf die Züge des vor ihm Stehenden. „Herr Nordeck?“

„Waldemar Nordeck!“ bestätigte dieser. „Der gleich in der ersten Stunde, wo er seine Güter betritt, als ‚Subject‘ verhaftet werden sollte. In der That ein angenehmes Willkommen!“

Er blickte nach dem Sopha hinüber; dort saß der Assessor starr und steif wie eine Bildsäule. Der Mund stand ihm weit offen; seine Arme waren schlaff am Körper niedergesunken, und er starrte den jungen Gutsherrn wie geistesabwesend an.

„Welch ein peinliches Mißverständniß!“ sagte der Administrator in äußerster Verlegenheit. „Es thut mir sehr leid, Herr Nordeck, daß es gerade in meinem Hause vorfallen mußte. Der Herr Assessor wird unendlich bedauern –“

Der arme Assessor! Er war so vernichtet, daß er nicht einmal mehr die Kraft hatte, sich zu entschuldigen. Der Herr und Gebieter von Wilicza, der mehrfache Millionär, der Mann, von dem der Präsident noch neulich gesagt hatte, daß man ihn im Falle eines Besuchs in Wilicza mit besonderer Rücksicht behandeln müsse – und den hatte der Untergebene geschlossen nach L. transportiren wollen! Zum Glück nahm Waldemar keine Notiz weiter von diesem letzteren; er stellte seinen Begleiter dem Administrator und dessen Tochter vor.

„Herr Doctor Fabian, mein Freund und Lehrer. – Wir sahen das Schloß erleuchtet und hörten, daß eine größere Festlichkeit dort stattfindet. Ich bin den Gästen meiner Mutter vollständig fremd, und da meine plötzliche Ankunft begreiflicher Weise eine Störung veranlassen würde, so zogen wir es vor, einstweilen hier einzusprechen, wenigstens bis zur Abfahrt der Gäste. Ich habe überdies noch mit Ihnen zu reden, Herr Frank, hinsichtlich Ihres Briefes, den ich erst vor einigen Tagen erhielt. Ich war auf Reisen, und da ist er mir von Ort zu Ort nachgeschickt worden. Können wir eine halbe Stunde lang ungestört sein?“

Frank öffnete die Thür zu seinem Arbeitszimmer. „Darf ich bitten, hier einzutreten?“

Waldemar, im Begriff zu gehen, wandte sich noch einmal um. „Bitte, erwarten Sie mich hier, Herr Doctor! Hoffentlich gerathen Sie jetzt nicht mehr in Gefahr, als Verschwörer und Hochverräther behandelt zu werden. Ich komme bald zurück.“ Er verneigte sich leicht gegen das junge Mädchen und verließ dann, von dem Administrator begleitet, das Zimmer. Der Assessor schien für ihn nicht mehr zu existiren.

„Herr Assessor,“ sagte Gretchen halblaut, indem sie sich dem unglücklichen Vertreter des Polizeidepartements in L. näherte. „Ich gratulire zum Regierungsrath!“

„Mein Fräulein!“ stöhnte der Assessor.

„Sie halten ja wohl Seiner Excellenz dem Herrn Präsidenten persönlich Vortrag über das Ergebniß Ihrer Recherchen?“

„Fräulein Margaretha!“

„Ja, ich habe nun einmal keinen Polizeiblick,“ fuhr das junge Mädchen unbarmherzig fort. „Wer konnte auch denken, daß unser junger Herr eine so echte und ausgeprägte Verschwörerphysiognomie haben würde!“

Der Assessor hatte bisher mühsam Stand gehalten; den Spott von diesen Lippen ertrug er nicht. Er erhob sich, stammelte, da die Hauptperson nicht mehr zugegen war, eine Entschuldigung gegen den Doctor und schützte dann Uebelbefinden vor, um sich so schnell wie möglich zurückzuziehen.

„Mein Fräulein,“ sagte Doctor Fabian in seiner schüchternen Weise, aber in mitleidigem Tone, „dieser Herr scheint etwas excentrischer Natur zu sein. Ist er vielleicht – –?“ – er griff mit bezeichnender Geberde an die Stirn.

Gretchen lachte. „Nein, Herr Doctor! Er will nur Carrière machen, aber dazu braucht er seiner Meinung nach ein paar Verschwörer, und die glaubte er in Ihnen und Herrn Nordeck gefunden zu haben.“

Der Doctor schüttelte bedenklich den Kopf. „Der arme Mann! Es liegt doch etwas Krankhaftes in seinem Wesen. Ich glaube nicht, daß er Carrière machen wird.“

„Ich auch nicht,“ sagte Gretchen mit aller Entschiedenheit. „Dazu ist unser Staat denn doch zu vernünftig.“

[593] Es war in den Vormittagsstunden des nächsten Tages. Die Gäste des Schlosses, die zum größten Theil dort übernachtet hatten, waren bereits in aller Frühe wieder abgefahren, nur Graf Morynski und seine Tochter befanden sich noch in Wilicza. Da die Ankunft des jungen Gutsherrn sie nun doch überrascht hatte, so erforderte es die Artigkeit, ihn vor der Abreise wenigstens noch flüchtig zu begrüßen, der Graf hielt es aber bei der vollständigen Fremdheit, mit der er seinem Neffen gegenüberstand, für angemessen, diesen in den ersten Stunden des Wiedersehens ausschließlich der Mutter zu überlassen, und Wanda ihrerseits hatte noch weit weniger Eile, das Recht der Verwandtschaft geltend zu machen.

Die Fürstin war allein mit ihren beiden Söhnen; sie saß auf ihrem gewöhnlichen Platze im grünen Salon, Waldemar ihr gegenüber, während Leo neben dem Sessel des Bruders stand – dem äußeren Anscheine nach eine ganz friedliche und trauliche Familiengruppe.

„Nein, Waldemar, das kann ich Dir wirklich nicht verzeihen,“ sagte die Fürstin in vorwurfsvollem Tone. „Beim Administrator abzusteigen! Als ob Dein Schloß Dir nicht jede Minute zu Gebote stände, als ob es mir nicht eine Freude gewesen wäre, Dich meinen Gästen vorzustellen! Ich wäre beinahe versucht, das, was Du eine Rücksicht für mich nennst, als das Gegentheil aufzufassen. Den Vorwand der Störung lasse ich unter keinen Umständen gelten.“

„Nun, so laß’ wenigstens meine Abneigung gelten, so unmittelbar nach der Ankunft in einen mir völlig fremden Kreis zu treten,“ erwiderte Waldemar. „Ich war wirklich nicht in der Stimmung dazu.“

„Hegst Du noch immer die alte Antipathie gegen alles, was Gesellschaft heißt? Da werden wir den Verkehr in Wilicza allerdings einschränken müssen.“

„Doch nicht etwa meinetwegen? Ich bitte Dich, in diesem Punkte auf mich gar keine Rücksicht zu nehmen. Nur wirst Du es entschuldigen müssen, wenn ich nicht allzu oft in Deinen Salons erscheine. Ich habe zwar gelernt, mich den gesellschaftlichen Nothwendigkeiten zu fügen, wenn es unbedingt sein muß, aber unbequem bleibt es mir immer.“

Die Fürstin lächelte; diese Neigung, die sie ja längst kannte, stimmte vollständig mit ihren Wünschen überein. Ueberhaupt zeigte ihr gleich diese erste Zusammenkunft, daß ihr Urtheil über Waldemar ein richtiges gewesen und seine Natur in den Grundzügen die gleiche geblieben war; selbst sein Aeußeres hatte sich nicht allzu sehr verändert. Seine hohe Gestalt kam freilich jetzt mehr zur Geltung, weil die Haltung eine bessere war, überragte er doch sogar den schlanken, hochgewachsenen Bruder, auch das Unreife, Unfertige des Jünglings hatte der vollen Männlichkeit der Erscheinung Platz gemacht, freilich ohne daß die letztere darum sympathischer geworden wäre. Diese unschönen und unregelmäßigen Züge konnten nun einmal nicht anziehend sein, wenn auch das frühere Ungestüm, das sie so oft entstellte, jetzt einem kalten Ernst gewichen war. Nur eins gereichte Waldemar’s Antlitz entschieden zum Vortheil; das blonde Haar, „die ungeheuere gelbe Löwenmähne“, wie Wanda es spottweise nannte, war in seiner gar zu üppigen Fülle und Verwilderung beschränkt worden; es bedeckte noch immer dicht und voll das Haupt, ließ aber, zurückgestrichen, Stirn und Schläfe frei, und es war unleugbar eine schöne und mächtige Stirn, die sich da über den finsteren Augen wölbte – der einzige Vorzug, den die Natur dem jungen Manne geliehen. Auch die rücksichtslose Schroffheit seiner Haltung zeigte sich einigermaßen gemildert; man sah, daß er sich jetzt wenigstens ohne Zwang in den gesellschaftlichen Formen bewegte und ihnen Rechnung zu tragen wußte, damit schienen aber auch die Errungenschaften der Reife- und Universitätsjahre zu Ende zu sein. Eine Erscheinung für den Salon war Waldemar Nordeck trotz alledem nicht, seine Haltung hatte etwas so Abweisendes, so wenig Verbindliches, seinem ganzen Wesen war der Stempel finsterer Verschlossenheit so deutlich aufgeprägt, daß wohl Niemand leicht in die Lage kam, sich zu ihm hingezogen zu fühlen.

Der Gegensatz zwischen ihm und seinem Bruder trat jetzt noch schärfer hervor als ehemals. Auch Leo war nicht mehr der knabenhafte Jüngling von siebenzehn Jahren, aber wenn er schon damals dem alten Witold das Bekenntniß entriß, der Sohn seiner Gegnerin sei doch „ein bildhübscher Junge“, so zeigte er jetzt die ganze Schönheit seines Volkes, die, wo sie überhaupt vorhanden ist, auch meist in seltener Vollendung aufzutreten pflegt. Etwas kleiner als Waldemar, aber weit schlanker als dieser, besaß er im vollsten Maße all die Vorzüge, die dem älteren Bruder fehlten, den Adel der Züge, die mehr als je die sprechende Aehnlichkeit mit der Mutter verriethen, die prachtvollen dunklen Augen, in denen es heiß aufflammte bei jeder Erregung, das schwarze, leicht gelockte Haar, das sich weich und glänzend um die Stirn [594] legte. Dabei ging durch das ganze Wesen des jungen Fürsten ein Zug von Romantik, der sich sehr glücklich mit der Eleganz und Vornehmheit des Cavaliers vereinigte, – Leo Baratowski war ein wahres Ideal von Schönheit und Ritterlichkeit.

„Also Du hast wirklich Deinen ehemaligen Hauslehrer mitgebracht,“ sagte er heiter. „Da bewundere ich Deinen Geschmack, Waldemar. Ich war froh, als mir mein Herr Präceptor nichts mehr zu sagen hatte, und hätte ihn auf keinen Fall mit auf die Universität oder gar auf Reisen genommen.“

Die Kälte, die stets in dem Wesen des jungen Nordeck lag, wenn er ausschließlich mit seiner Mutter sprach, verschwand zum größten Theile, als er sich jetzt an den Bruder wandte.

„Als einen bloßen Hauslehrer darfst Du den Doctor Fabian wirklich nicht ansehen, Leo. Er hat das Erziehungsfach längst aufgegeben und sich ausschließlich seinen historischen Studien zugewendet; es war ja überhaupt nur seine Mittellosigkeit, die ihn das erstere ergreifen ließ. Er ist von jeher mit Leib und Seele Gelehrter gewesen, wußte seine Kenntnisse aber nie praktisch zu verwerthen, und da blieb ihm denn freilich nichts übrig, als ‚Präceptor‘ zu werden.“

„Das merkte man,“ fiel die Fürstin ein. „Er hatte von jeher die ganze Trockenheit und Pedanterie des Gelehrten.“

„Warst Du mit seinen Berichten nicht zufrieden?“ fragte Waldemar ruhig.

„Mit welchen Berichten?“

„Die der Doctor Dir im Anfange meiner Universitätszeit regelmäßig sandte. Er war im Zweifel darüber, was Du eigentlich zu wissen wünschtest, und da gab ich ihm den Rath, sich möglichst eingehend an meine Studien zu halten. Ich denke, er ist ausführlich genug gewesen.“

Die Fürstin stutzte. „Du scheinst diese Correspondenz bis in alle Details hinein zu kennen und sie sogar theilweise – dirigirt zu haben.“

„Doctor Fabian hat keine Geheimnisse vor mir, und ich meinerseits fand es natürlich, daß Du Dich für meine Studien interessirtest,“ versetzte Waldemar in so gleichgültigem Tone, daß der Argwohn der Mutter, er könne ihren damaligen Plan durchschaut haben, sofort wieder verschwand. Die ersten Bemerkungen hatten ihr entschieden wie Ironie geklungen, aber ein Blick auf das unbewegliche Antlitz des Sohnes beruhigte sie. Unmöglich! Weder er noch sein ehemaliger Lehrer besaßen die Fähigkeit, so tief zu schauen.

„Leo freut sich sehr darauf, bei den Jagdstreifereien in und um Wilicza Deinen Führer zu machen,“ sagte sie abbrechend. „Ich werde wohl darauf gefaßt sein müssen, Euch in den nächsten Wochen sehr wenig im Schlosse zu haben.“

Waldemar blickte zu dem Bruder auf, der noch an seinem Sessel lehnte.

„Ich fürchte nur, Leo, wir treiben die Passion Beide auf sehr verschiedene Weise. Du bleibst auch als Jäger immer der elegante Cavalier, der nöthigenfalls vom Walde gleich in den Salon treten kann, mit mir dagegen mußt Du mitten durch das Dickicht und oft genug auch durch Sumpf und Moor dem Wilde nach. Wer weiß, ob Dir das zusagt!“

Der junge Fürst lachte. „Nun, ich glaube denn doch, daß es in unseren polnischen Wäldern ernsthafter zugeht als in den friedlichen Jagdgründen von Altenhof. Du wirst ja bald selbst urtheilen können, ob man bei einem gelegentlichen Rencontre mit den Wölfen immer in so salonfähigem Zustande davonkommt. Ich habe oft genug verwegene Streifereien ausgeführt, und da auch Wanda eine leidenschaftliche Jägerin ist – Du weißt doch, daß sie in Wilicza ist?“

Die Frage kam ganz plötzlich und unerwartet; sie verrieth eine lebhafte Spannung. Desto ruhiger war der Ton Waldemar’s, als er erwiderte:

„Gräfin Morynska? Ja wohl, ich habe es gehört.“

„Gräfin Morynska!“ wiederholte die Fürstin vorwurfsvoll. „Es ist Deine Cousine, die Dir in Kurzem noch näher stehen wird. – Leo, Deinem Bruder wirst Du doch wohl nicht verschweigen wollen, was für Fremde allerdings noch ein Geheimniß ist.“

„Gewiß nicht!“ fiel der junge Fürst rasch ein. „Du erfährst es natürlich, Waldemar, daß – Wanda meine Braut ist.“

Seine Augen hefteten sich bei diesen Worten mit leidenschaftlichem Forschen auf das Gesicht des Bruders, auch die Fürstin fixirte es einige Secunden lang scharf, aber dort war nicht die geringste Erregung zu entdecken. Waldemar’s Züge blieben unbeweglich; nichts regte sich darin; er änderte nicht einmal seine bequeme, halb nachlässige Stellung.

„Deine Braut? Wirklich?“

„Das scheint Dich gar nicht zu überraschen?“ sagte Leo, etwas betroffen von dieser Gleichgültigkeit.

„Nein,“ versetzte Waldemar kalt. „Ich weiß ja, daß Du von jeher eine Neigung für Deine Cousine hegtest, und kann mir denken, daß weder die Mutter noch Graf Morynski Dir Hindernisse in den Weg gelegt haben. Ich wünsche Dir Glück, Leo.“

Dieser ergriff mit wirklicher Herzlichkeit die dargebotene Hand. Es war ihm doch etwas peinlich gewesen, diesen Punkt zur Sprache zu bringen; er fühlte sich im Unrechte gegen den Bruder, mit dessen Neigung er und Wanda ein so übermüthiges Spiel getrieben hatten, und die Ruhe, mit welcher Waldemar die Neuigkeit aufnahm, gewährte ihm eine große Erleichterung. Die Fürstin dagegen, die der Sache grundsätzlich keine Wichtigkeit mehr beilegte, aber doch einsah, daß man dieses Thema nicht mit zu großer Ausführlichkeit behandeln dürfe, beeilte sich, auf ein anderes überzugehen.

„Du wirst Wanda und ihren Vater ja heute noch sehen,“ sagte sie leichthin. „Wir haben natürlich viel Verkehr mit Rakowicz, das Du jedenfalls kennen lernen mußt. Doch vor allen Dingen – wie gefällt Dir Dein Wilicza? Du hast uns nicht Wort gehalten. Damals in C. versprachst Du Deinen Besuch schon zum nächsten Frühjahre, und volle vier Jahre sind vergangen, ehe Du Dich wirklich entschlossest, zu kommen.“

„Ich hatte immer die Absicht und kann nie dazu, sie auszuführen.“ Er erhob sich und trat an das große Mittelfenster. „Aber Du hast Recht, Wilicza ist mir beinahe fremd geworden. Ich werde in den nächsten Tagen einmal wieder das ganze Gebiet durchstreifen müssen, um nur einigermaßen heimisch zu werden.“

Die Fürstin wurde aufmerksam. „Das ganze Gebiet? Ich glaube kaum, daß es Dir viel Interessantes bietet, die Wälder ausgenommen, die für Dich als Jäger einen besonderen Reiz haben. Ueber Wilicza selbst wird Dir der Administrator Bericht erstatten – er hat Dir wohl schon gesagt, daß er seine Stellung zu verlassen beabsichtigt?“ Die Frage wurde ganz beiläufig hingeworfen; nichts verrieth die Spannung, mit der die Antwort erwartet wurde.

„Ja wohl,“ sagte Waldemar, zerstreut durch das Fenster blickend. „Er geht zum Frühjahre.“

„Das thut mir nun Deinetwillen leid, nun so mehr, als ich wohl die indirecte Ursache bin, daß Du einen jedenfalls tüchtigen Beamten verlierst. Frank wird in mancher Hinsicht schwer zu ersetzen sein. Seine Verwaltung zum Beispiel wird allgemein als mustergültig angesehen. Leider setzt seine Thätigkeit die stete Abwesenheit des Gutsherren voraus, denn er duldet keine andere Autorität neben sich; seine Leute klagen oft bitter über seine Rücksichtslosigkeit, und auch ich habe Proben davon erhalten. Ich habe ihn bisweilen ernstlich daran erinnern müssen, daß das Schloß und die Fürstin Baratowska denn doch nicht unter seiner Botmäßigkeit stehen, und eine dieser Scenen veranlaßte sein Abschiedsgesuch. Es kommt nun freilich darauf an, auf wessen Seite Du Dich stellst, Waldemar. Ich glaube, der Administrator wäre nicht abgeneigt, zu bleiben, wenn Du ihm gestattetest, nach wie vor den unumschränkten Gebieter zu spielen. Ich füge mich natürlich Deiner Entscheidung.“

Der junge Nordeck machte eine ablehnende Bewegung. „Ich bin ja erst seit gestern Abend hier und kann mich unmöglich so schnell in die Verhältnisse finden. Wenn Frank übrigens gehen will, so werde ich ihn nicht halten, und wenn wirklich Differenzen mit den Schlosse die Veranlassung dazu sind, so traust Du es mir doch hoffentlich nicht zu, daß ich dem Administrator gegenüber meine Mutter dementiren werde.“

Die Fürstin athmete auf. Sie hatte doch einige Besorgniß hinsichtlich Frank’s gehegt. Ihr Sohn sollte erst mit ihm in Verkehr treten, wenn er mit ihren Augen sehen gelernt hatte und gründlich gegen seinen Beamten eingenommen war; bei dem rücksichtslosen Freimuthe desselben und dem ungestümen Charakter des jungen Gutsherrn, der nicht den geringsten Widerspruch [595] ertrug, mußte es dann nothwendig zu einem Zusammenstoße kommen – da störte der unerwartete und unpassende Besuch im Gutshofe den ganzen Plan. Indessen Waldemar’s Haltung bewies, daß es in der kurzen Zeit, die er drüben verweilte, zu keinen Erörterungen gekommen war; er legte augenscheinlich gar keinen Werth auf das Gehen oder Bleiben des Administrators und besaß Schicklichkeitsgefühl genug, sich von vorn herein und ohne jede Prüfung auf die Seite seiner Mutter zu stellen.

„Ich wußte, daß ich auf Dich rechnen konnte,“ erklärte sie, sehr befriedigt von dieser ersten Zusammenkunft. Es fügte sich ja Alles und Jedes nach ihren Wünschen. „Aber da gerathen wir gleich in den ersten Stunden auf dieses unerquickliche Beamtenthema, als ob uns nichts Besseres zu Gebote stände. Ich wollte – ah, da bist Du ja, Bronislaw!“ wandte sie sich an ihren Bruder, der mit seiner Tochter am Arme eintrat.

Waldemar hatte sich bei den letzten Worten gleichfalls umgewendet. Einen Moment schien er doch betroffen, so fremd war ihm die Erscheinung, die so hoch und stolz ihm gegenüberstand. Er hatte nur das sechszehnjährige Mädchen mit seinem frischen Jugendreize gekannt; diese Gestalt mochte ihm doch neu sein. „Sie verspricht dereinst schön zu werden,“ hatte die Fürstin Baratowska von ihrer Nichte gesagt. Wie sehr dieser Ausspruch sich bewähren würde, hatte sie wohl selbst nicht vorausgesehen. Freilich lag die Schönheit hier nicht in dem Begriffe der Regelmäßigkeit, denn dem entsprachen Wanda’s Züge durchaus nicht. Der slavische Charakter trat zu deutlich darin hervor, und sie entfernten sich ziemlich weit von dem griechischen oder römischen Ideale, aber trotzdem war dieses immer noch etwas bleiche Antlitz von einem hinreißenden Zauber, dem sich Niemand verschließen konnte. Das tiefschwarze Haar, im Widerspruche mit der herrschenden Mode ganz einfach geordnet, zeigte sich eben dadurch in seiner ganzen prächtigen Fülle; was aber der jungen Gräfin den mächtigsten Reiz lieh, das waren ihre dunklen feuchten Augen, die sich so groß und voll unter den langen Wimpern aufschlugen. Jetzt freilich stand etwas Anderes darin, als Kindesübermuth und Kinderscherze. Mochten diese dunklen, tiefen Augen sich nun in träumerischer Ruhe verschleiern oder in leidenschaftlicher Gluth aufstrahlen, räthselhaft und gefährlich blieben sie immer. Man fühlte bei ihrem Anblicke, daß sie rettungslos bestricken, unwiderstehlich festhalten konnten, und Gräfin Morynska hatte diese Macht zu oft erprobt, um sich ihrer nicht im vollsten Maße bewußt zu sein.

„Sie haben ganz Wilicza mit Ihrer Ankunft überrascht, Waldemar,“ sagte der Graf, „und finden nun gleich Gäste in Ihrem Hause. Wir wollten eigentlich schon heute früh abreisen, auf die Nachricht von Ihrem Eintreffen hin aber mußten wir uns doch noch Zeit zur Begrüßung nehmen.“

„Gewiß, Cousin Waldemar!“ bestätigte Wanda, indem sie ihm mit einem reizenden Lächeln und der graciösesten Unbefangenheit die Hand entgegenstreckte.

Nordeck verneigte sich sehr förmlich und abgemessen vor seiner schönen Cousine. Er schien die dargebotene Hand nicht zu sehen und die liebenswürdig vertrauliche Anrede nicht gehört zu haben, denn ohne auch nur eine Silbe darauf zu erwidern, wandte er sich zu Morynski.

„Ich will doch nicht hoffen, daß ich Sie vertreibe, Herr Graf? Da ich vorläufig ja auch nur der Gast meiner Mutter bin, so sind wir im gleichen Falle.“

Der Graf schien angenehm berührt von dieser Artigkeit, die er seinem Neffen gar nicht zugetraut hatte; er antwortete verbindlich, Wanda dagegen stand stumm mit fest zusammengepreßten Lippen da. Sie hatte für gut befunden, dem jungen Verwandten mit der ganzen Unbefangenheit der Weltdame entgegenzutreten, ihm großmüthig eine peinliche Erinnerung zu ersparen, indem sie dieselbe vollständig ignorirte, und nun mußte sie es erleben, daß die Unbefangenheit gar nicht angenommen, die Großmuth zurückgewiesen wurde. Der Blick, der mit so eisiger Gleichgültigkeit über sie hinglitt, zeigte ihr, daß Waldemar die einstige Neigung allerdings vergessen, die einstige Beleidigung aber nicht verziehen hatte und sich jetzt dafür rächte.

Das Gespräch wurde bald allgemein, da auch die Fürstin und Leo sich daran betheiligten. An Stoff fehlte es nicht. Man sprach von Waldemar’s Reisen, von seiner unvermutheten Ankunft, von Wilicza und der Umgegend, aber so belebt die Unterhaltung auch war, es blieb doch jede Vertraulichkeit ausgeschlossen; man sprach zu einem Fremden, mit dem man zufällig in verwandtschaftlichen Verhältnissen stand. Dieser Nordeck’sche Sprößling gehörte nun einmal nicht zu dem Kreise der Baratowski und Morynski – das wurde von beiden Seiten gefühlt und unwillkürlich regelte sich der Ton danach. Der Graf konnte es auch jetzt nicht über sich gewinnen, den ältesten Sohn seiner Schwester mit dem Du anzureden, das er dem jüngsten als selbstverständlich gab, und Waldemar hielt consequent das „Herr Graf“ gegen seinen Oheim fest. Er zeigte sich in der Unterhaltung nicht viel anders als sonst, schweigsam und zurückhaltend, aber nicht mehr unbeholfen.

Da es um die Herbstzeit war, so kam das Gespräch natürlich bald auf die Jagd, die überhaupt das bevorzugteste Vergnügen auf den Gütern der Umgegend bildete, und der auch die Damen nicht fremd waren; sie betheiligten sich lebhaft an den Erörterungen. Leo erwähnte schließlich der großen Nordeck’schen Waffensammlung und rühmte einige dort befindliche Büchsen ganz besonders. Graf Morynski widersprach und wollte die betreffenden, allerdings sehr kostbaren Stücke nur als Merkwürdigkeiten gelten lassen, während Waldemar sich entschieden auf die Seite seines Bruders schlug. Die Herren geriethen in’s Feuer und beschlossen, den Streit durch einen Gang nach dem Waffensaale und eine vorläufige Probe zu entscheiden, sie brachen auch ungesäumt dahin auf.

„Noch ganz der alte Waldemar!“ sagte die Fürstin, ihnen nachblickend. „Nur wenn es sich um Jagdgeschichten handelt, fängt er Feuer. Alles Uebrige ist ihm gleichgültig. Findest Du ihn verändert, Wanda?“

„Ja,“ entgegnete die junge Gräfin einsilbig. „Er ist eigenthümlich ruhig geworden.“

„Ja, Gott sei Dank! Einigermaßen scheint er die Schroffheit und Formlosigkeit abgelegt zu haben, wenigstens so lange er sich im Salon befindet. Man kann ihn jetzt präsentiren, ohne sich lächerlich zu machen und braucht nicht gleich bei der harmlosesten Unterhaltung einen Eclat zu fürchten. Seine nähere Umgebung freilich wird wohl nach wie vor zu leiden haben; bei dem ersten Versehen, das der Reitknecht bei den Pferden oder Hunden sich zu Schulden kommen läßt, ist der alte Berserker mit seinem ganzen Ungestüm wieder da.“

Wanda erwiderte nichts auf diese Bemerkung. Sie hatte sich in einen Sessel geworfen und spielte mit den Seidenquasten desselben.

„Gleich seine Ankunft war ein echt Nordeck’scher Streich,“ fuhr die Fürstin unwillig fort. „Es war schon arg, daß er die Extrapost auf der letzten Station fortschickte und zu Fuße ankam, wie der erste beste Abenteurer, aber daran hatte Waldemar natürlich noch nicht genug. Als er das Schloß erleuchtet sieht und von einer Festlichkeit hört, kehrt er schleunigst beim Administrator ein, aus bloßer Angst, man könne ihn zwingen, sogleich in die Gesellschaft zu treten. Spät Abends erst kommt er mit dem Doctor in’s Schloß, giebt sich Pawlick zu erkennen und läßt sich nach seinen Zimmern führen, verbietet aber auf das Bestimmteste, mich noch zu stören. Ich erfuhr natürlich seine Ankunft fünf Minuten darauf. Meine Dienerschaft ist doch besser geschult, als er voraussetzt, da er aber in dieser Hinsicht einen so entschiedenen Befehl gegeben hatte, so blieb mir nichts übrig, als sein Hiersein zu ignoriren und mich erst heute Morgen überraschen zu lassen.“

„Eine Ueberraschung, die auch uns zum Bleiben nöthigte,“ fiel Wanda ungeduldig ein. „Ich hoffe, Papa kommt bald zurück, damit wir endlich abreisen können.“

„Doch nicht sogleich? Ihr werdet doch wenigstens noch zu Tische hier bleiben?“

„Nein, liebe Tante, ich werde den Papa bitten, sofort anspannen zu lassen. Denkst Du, daß es mir Vergnügen macht, mich von Herrn Waldemar Nordeck fortgesetzt so ignoriren zu lassen, wie er es während dieser halben Stunde that? Er vermied es mit bewundernswürdiger Consequenz, mir zu antworten oder nur ein einziges Mal das Wort an mich zu richten.“

Die Fürstin lächelte. „Nun, diese kleine Rache kannst Du ihm bei der ersten Zusammenkunft immerhin gestatten. Du hast ihm ziemlich schonungslos mitgespielt und kannst Dich wirklich nicht wundern, wenn der Groll darüber sich noch hin und wieder [596] in ihm regt. Doch das giebt sich bei dem öfteren Zusammensein. Wie findest Du sein Aeußeres? Mich dünkt, ein wenig hat er sich doch zu seinem Vortheil verändert.“

„Ich finde ihn noch gerade so abstoßend wie früher,“ erklärte die junge Gräfin. „Ja, mehr noch, denn damals war der Eindruck seiner Persönlichkeit ein unbewußter, und jetzt habe ich ihn beinahe in Verdacht, daß er abstoßen will. Aber trotzdem – ich weiß nicht, worin es liegt; vielleicht darin, daß er die Stirn jetzt so frei und offen trägt – aber er verliert nicht mehr gegen Leo.“

Die Fürstin schwieg betroffen. Die gleiche Bemerkung hatte sich ihr vorhin aufgedrängt, als die beiden Brüder neben einander standen. So unbestritten die Schönheit des jüngeren war und so wenig der ältere auch nur den geringsten Anspruch darauf machen konnte, er gerieth dennoch nicht in Gefahr, in den Hintergrund gedrängt zu werden. Mochte man, wie Gräfin Morynska, seine Erscheinung immerhin unsympathisch und abstoßend finden, es lag etwas darin, das trotz alledem seinen Platz behauptete, und auch die Mutter sah sich genöthigt, das zuzugeben.

„Solche Hünengestalten haben immer einen großen Vortheil voraus,“ meinte sie, „sie imponiren beim ersten Anblick, aber das ist auch Alles. Geist und Charakter darf man niemals dahinter suchen.“

„Niemals?“ fragte Wanda mit eigenthümlicher Betonung. „Bist Du dessen so ganz sicher?“

Die Fürstin schien diese Frage sehr seltsam und überflüssig zu finden, denn sie blickte ihre Nichte erstaunt an.

„Wir wissen Beide, welchen Zwecken Wilicza noch dienen soll,“ fuhr diese mit unterdrückter Heftigkeit fort, „und da wirst Du mir zugeben, liebe Tante, daß es sehr unbequem und gefährlich wäre, wenn es Deinem Sohne urplötzlich einfiele, ‚Geist‘ zeigen zu wollen. Sei vorsichtig! Mir will diese Ruhe und vor allen Dingen diese Stirn nicht gefallen.“

„Mein Kind,“ sagte die ältere Dame mit ruhiger Ueberlegenheit, „willst Du es nicht mir überlassen, für den Charakter meines Sohnes einzustehen, oder traust Du Dir mit Deinen zwanzig Jahren eine größere Urtheilsfähigkeit zu, als ich sie besitze? Waldemar ist ein Nordeck – und damit ist Alles gesagt.“

„Und damit hast Du Dein Urtheil über ihn von jeher abgeschlossen. Er mag das Ebenbild seines Vaters sein in jedem Zuge, die Stirn aber mit der scharfgezeichneten blauen Ader an den Schläfen hat er von Dir – hältst Du es denn gar nicht für möglich, daß er sich auch einmal als Sohn seiner Mutter zeigt?“

„Nein!“ erklärte die Fürstin in einem so herben Tone, als beleidige sie diese Idee förmlich. „Was ich von meiner Natur vererben konnte, das besitzt Leo allein. Sei nicht thöricht, Wanda! Du bist gereizt durch das Benehmen Waldemar’s gegen Dich, und ich gebe zu, daß es nicht sehr zuvorkommend war, aber Du mußt darin wirklich seiner Empfindlichkeit Rechnung tragen. Wie Du jedoch dazu kommst, aus seinem zähen Festhalten an dem alten Grolle auf einen wirklichen Charakter zu schließen, das begreife ich nicht; mir beweist es das Gegentheil. Jeder Andere wäre Dir dankbar dafür gewesen, daß Du ihm über eine halbvergessene peinliche Erinnerung hinweghelfen wolltest, und hätte mit der gleichen Unbefangenheit der Braut seines Bruders –“

„Weiß Waldemar bereits – –?“ unterbrach sie die junge Gräfin.

„Gewiß, Leo selbst theilte es ihm mit.“

„Und wie nahm er die Nachricht auf?“

„Mit der grenzenlosesten Gleichgültigkeit, obgleich ich ihm in meinen Briefen niemals eine Andeutung davon gemacht habe. Das ist’s ja eben. Mit seiner einstigen Schwärmerei für Dich ist er sehr schnell fertig geworden – davon haben wir Proben, an die vermeinte Beleidigung aber klammert er sich noch mit dem ganzen Eigensinn des ehemaligen Knaben. Willst Du vielleicht, daß ich eine solche Natur als ‚Charakter‘ gelten lasse?“

Wanda erhob sich mit unverkennbarer Gereiztheit. „Durchaus nicht, aber ich fühle keine Neigung, mich diesem Eigensinn noch länger auszusetzen und deshalb wirst Du es entschuldigen, liebe Tante, wenn wir Wilicza verlassen. Ich wenigstens bleibe auf keinen Fall hier – und Papa läßt mich schwerlich allein abreisen; wir fahren noch in dieser Stunde.“

Die Fürstin protestirte vergebens; sie mußte wieder einmal die Erfahrung machen, daß ihre Nichte es ebenso gut wie sie selbst verstand, ihren Willen durchzusetzen, und daß Graf Morynski den Wünschen seiner Tochter gegenüber „grenzenlos schwach“ war. Trotz des wiederholten Wunsches der Schwester und der sichtbaren Verstimmung Leo’s blieb es bei der Anordnung, die Wanda getroffen hatte, und eine halbe Stunde später fuhr der Wagen vor, der sie und ihren Vater nach Rakowicz zurückbrachte.


Einige Wochen waren vergangen, ohne daß die Ankunft des jungen Gutsherrn irgend etwas Nennenswerthes in Wilicza geändert hätte. Man merkte seine Anwesenheit kaum, denn er war, wie die Fürstin richtig vorausgesehen, nur selten im Schlosse zu finden und streifte statt dessen tagelang in den Wäldern und überhaupt in der Umgegend umher. Die alte Jagdleidenschaft schien ihn mit voller Macht wieder ergriffen zu haben und alles Andere in den Hintergrund zu drängen. Nicht einmal bei Tische erschien er regelmäßig. Seine Streifereien führten ihn gewöhnlich so weit, daß er genöthigt war, auf irgend einer Försterei oder einem Pachthofe einzusprechen, und dies geschah in der That sehr häufig; kam er dann spät und ermüdet nach Hause, so brachte er die Abende meist auf seinen Zimmern mit dem Doctor Fabian zu und erschien nur, wenn er mußte, in den Salons seiner Mutter.

Leo hatte es schon nach den ersten Tagen aufgegeben, den Bruder zu begleiten, denn es ergab sich in der That, daß sie beide die Jagd auf sehr verschiedene Weise trieben. Der junge Fürst zeigte sich auch hier, wie in allen anderen Dingen, feurig, verwegen, aber keineswegs ausdauernd; er schoß, was ihm gerade vor den Lauf kam, scheute im Nachsetzen kein Hinderniß und fand ein entschiedenes Vergnügen daran, wenn die Jagd eine gefährliche Wendung nahm; Waldemar dagegen ging mit zäher, unermüdlicher Ausdauer dem Wilde tagelang nach, das er sich gerade ausersehen hatte, ohne sich um Essens- oder Schlafenszeit zu kümmern, und legte sich dabei Strapatzen auf, denen eben nur sein eiserner Körper gewachsen war. Leo fing bald an, das ermüdend, langweilig und im höchsten Grade unbequem zu finden, und als er vollends die Entdeckung machte, daß sein Bruder das Alleinsein unbedingt vorzog, überließ er ihn mit Vergnügen sich selber.

Auf diese Art konnte von einem eigentlichen Zusammenleben mit der Mutter und dem Bruder gar keine Rede sein, obgleich man sich täglich sah und sprach. Die starre Unzugänglichkeit Waldemar’s war dieselbe geblieben, und seine Verschlossenheit im engeren Verkehr hatte eher zu- als abgenommen. Weder die Fürstin noch Leo waren ihm nach wochenlangem Zusammensein auch nur einen Schritt näher gekommen als am Tage seiner Ankunft, doch dessen bedurfte es auch nicht. Man war zufrieden, daß der junge Gutsherr so vollständig den gehegten Voraussetzungen entsprach und in gesellschaftlicher Hinsicht sogar eine Fügsamkeit bewies, die man gar nicht erwartete. So hatte er sich zum Beispiel durchaus nicht geweigert, den Gegenbesuch in Rakowicz zu machen, und der Verkehr zwischen den beiden Schlössern war lebhafter als je; Graf Morynski kam mit seiner Tochter sehr oft nach Wilicza, wenn sie den Herrn desselben auch meistentheils nicht antrafen. Das Einzige, was der Fürstin bisweilen Aerger verursachte, war das Verhältniß zwischen ihrem ältesten Sohne und Wanda, das sich durchaus nicht ändern wollte; es blieb kalt, gezwungen, sogar feindselig. Die Mutter hatte es einige Male versucht, vermittelnd einzutreten, aber ohne jeden Erfolg; sie gab es schließlich auf, die beide „Trotzköpfe“ von ihrem Eigensinn abzubringen. Die ganze Sache war ja überhaupt nur insofern von Wichtigkeit, als sie nicht etwa den Anlaß zu einem Bruche geben durfte, und das geschah durchaus nicht. Waldemar zeigte dem Grafen gegenüber so viel Verbindlichkeit, wie sein unverbindliches Wesen nur irgend zuließ, und that im Uebrigen seinen sämmtlichen Verwandten den Gefallen, sich ihnen so viel wie möglich zu entziehen.

[611] Es fand wieder eine jener großen Jagdfestlichkeiten statt, welche gewöhnlich die ganze Umgegend in Wilicza zu versammeln pflegte; auch diesmal waren die ergangenen Einladungen sämmtlich angenommen worden und die Gesellschaft, die ausschließlich aus dem polnischen Adel der Nachbarschaft bestand, zahlreicher als je. Der Fürstin war es sehr lieb, daß die Rücksicht auf ihren Sohn darin keine Aenderung verlangte. Sie hätte ihm natürlich das Opfer gebracht, die Einladungen nach seinen Wünschen zu regeln, aber davon war gar nicht die Rede. Waldemar schien es durchaus selbstverständlich zu finden, daß der Umgangskreis seiner Mutter auch der seinige sei, und bei dem äußerst geringen Antheile, den er überhaupt an den geselligen Beziehungen nahm, konnte ihm das auch ziemlich gleichgültig sein. Er selbst verkehrte bis jetzt noch mit Niemand in der Umgegend und vermied auch die Bekanntschaften, welche die Fürstin einigermaßen fürchtete, die höheren Beamten aus L. und die Officiere der dortigen Garnison, obwohl er die meisten von ihnen bereits am dritten Orte kennen gelernt hatte. Man hatte sich in diesen Kreisen denn auch darein gefunden, den jungen Nordeck als gänzlich zu den Baratowski gehörig zu betrachten, und nahm an, daß er vollständig in der Gewalt der Mutter sei, die ihm kein fremdes Element auch nur nahe kommen lasse.

Der Aufbruch der Jagdgesellschaft erfolgte diesmal ungewöhnlich spät. Ein dichter Nebel, der wie festgemauert stand und kaum einige Schritte weit zu sehen gestattete, hatte am Morgen gedroht, die ganze Jagd in Frage zu stellen. Erst in den Vormittagsstunden lichtete es sich soweit, daß das Programm des Tages zur Ausführung gebracht werden konnte, mit der alleinigen Abänderung, daß das Frühstück im Schlosse statt im Walde eingenommen wurde.

Ein Theil der Gäste war schon im Aufbruche begriffen. Die Herren und die jüngeren Damen, welche an der Jagd Theil nahmen, verabschiedeten sich von der Fürstin, die mit Leo in der Mitte des großen Saales stand. Wer die Verhältnisse nicht kannte, mußte unbedingt den jungen Fürsten für den eigentlichen Gebieter von Wilicza halten, denn er und seine Mutter bildeten den Mittelpunkt der ganzen Gesellschaft, nahmen alle Artigkeiten, alles Interesse derselben in Anspruch und machten die Honneurs in einer Weise, die an Vornehmheit und Eleganz nichts zu wünschen übrig ließ, während Waldemar einsam und fast übersehen am Fenster stand, im Gespräche mit dem Doctor Fabian, der natürlich im Schlosse zurückblieb und nur an dem Frühstücke Theil genommen hatte.

Die Haltung des jungen Schloßherrn fiel Keinem auf, da er stets freiwillig diese untergeordnete Rolle wählte. Er schien sich consequent als Gast seiner Mutter zu betrachten, der mit der Repräsentation des Hauses gar nichts zu thun habe, und wies Alles, was damit zusammenhing, als lästig und unbequem von sich. Man hatte sich daher allmählich gewöhnt, dem, der so gar keine besonderen Rücksichten beanspruchte, auch keine zu gewähren. Man grüßte ihn stets sehr verbindlich beim Kommen und Gehen, hörte aufmerksam zu, wenn er sich einmal herbeiließ, an der Unterhaltung Theil zu nehmen, und bequemte sich sogar zu dem Opfer, in seiner Gegenwart deutsch zu sprechen, trotz der allgemeinen Abneigung gegen diese Sprache – er war und blieb doch nun einmal dem Namen nach der Herr dieser Güter, und man wußte, was seine Passivität als solche werth war. Die vergebliche Mühe, die eigensinnige Zurückhaltung zu durchbrechen, in der er sich gefiel, gab sich schon lange Niemand mehr, und im Großen und Ganzen nahm die Gesellschaft nicht mehr Notiz von ihm, als er von ihr.

„Nur nicht wieder so wild reiten, Leo!“ ermahnte die Fürstin, während sie mit einer Umarmung von ihrem jüngsten Sohne Abschied nahm. „Du und Wanda, Ihr wetteifert dabei immer in allen nur möglichen Wagnissen. Ich bitte diesmal ernstlich um Vorsicht.“ Sie wandte sich zu ihrem Aeltesten, der jetzt auch herantrat, und reichte ihm mit kühler Freundlichkeit die Hand. „Leb’ wohl, Waldemar! Du bist ja wohl heute recht eigentlich in Deinem Elemente?“

„Durchaus nicht!“ war die ziemlich unmuthige Antwort. „Solche große Staats- und Convenienzjagden, wo der ganze Wald voll von Treibern und Jägern ist und das Wild zum mühelosen Schusse vor den Lauf getrieben wird, sind durchaus nicht nach meinem Geschmacke.“

„Waldemar ist nur froh, wenn er mit seiner geliebten Büchse allein ist,“ sagte Leo lachend. „Ich habe Dich entschieden in Verdacht, daß Du mich geflissentlich durch das ärgste Gestrüpp und den tiefsten Moor geschleppt und mich dem Hunger und Durst preisgegeben hast, nur um mich möglichst bald los zu werden. Ich bin doch auch gerade kein Weichling in solchen Dingen, aber ich hatte schon nach den ersten drei Tagen genug von den Strapazen, die Du ‚Vergnügen‘ nennst.“

„Ich sagte es Dir ja vorher, daß unsere Neigungen darin auseinander gehen,“ meinte Waldemar gleichgültig, während sie gemeinschaftlich den Saal verließen und die Treppe hinabstiegen.

Ein Theil der Gesellschaft war bereits unten auf dem [612] großen Rasenplatze vor dem Schlosse versammelt, auch Graf Morynski mit seiner Tochter befand sich dort. Die Herren bewunderten einstimmig das schöne Reitpferd Nordeck’s, das dieser erst kürzlich hatte nachkommen lassen und das vorgestern eingetroffen war; sie gestanden es dem jungen Gutsherrn zu, daß er in dieser Beziehung wenigstens sehr viel Geschmack zeige.

„Ein herrliches Thier!“ sagte der Graf, indem er den schlanken Hals des Rappen klopfte, der sich die Liebkosung geduldig gefallen ließ. „Waldemar, ist dies wirklich der wilde Normann, den Sie in C. ritten? Pawlick stand jedesmal Todesangst aus, wenn er den Zügel halten mußte, denn das Thier war eine Gefahr für Jeden, der in seine Nähe kam – es ist ganz eigenthümlich sanft geworden.“

Waldemar, der mit seinem Bruder soeben aus dem Portal getreten war, näherte sich der Gruppe.

„Normann war damals noch sehr jung,“ erwiderte er. „Es war das erste Jahr, wo er überhaupt den Sattel trug. Seitdem hat er sich an Ruhe gewöhnen müssen, wie ich selbst mir das wilde Reiten abgewöhnt habe. Was übrigens die Sanftmuth des Thieres betrifft, so fragen Sie Leo danach! Er hat sie gestern kennen gelernt, als er dem Versuch machte, das Pferd zu besteigen.“

„Ein Satan von einem Pferde!“ rief Leo ärgerlich. „Ich glaube, Du hast es eigens darauf abgerichtet, sich wie unsinnig zu geberden, wenn ein Anderer als Du den Fuß in den Bügel setzt. Aber ich zwinge es doch noch.“

„Laß das lieber bleiben! Normann gehorcht nur mir und keinem Andern. Du bändigst ihn nicht – ich dächte, das hättest Du doch gestern gesehen.“

Eine dunkle Gluth schoß in das Antlitz des jungen Fürsten; er hatte einen Blick Wanda’s aufgefangen, der gebieterisch von ihm forderte, er solle der Behauptung widersprechen, daß er das Pferd seines Bruders nicht habe bändigen können. Das geschah nun zwar nicht, aber der Blick stachelte doch und verschuldete jedenfalls die Heftigkeit Leo’s, in welcher er antwortete:

„Wenn es Dir Vergnügen macht, Deine Pferde so zu dressiren, daß sie einen anderen Reiter überhaupt gar nicht in dem Sattel gelangen lassen, so ist das Deine Sache. Solche Kunststücke habe ich meinen Vaillant allerdings nicht gelehrt,“ er wies nach dem schönen Goldfuchs hinüber, den sein Reitknecht am Zügel hielt. „Im Uebrigen aber würdest Du mit ihm so wenig fertig werden, wie ich mit Deinem Normann. Du hast freilich bisher noch nie die Probe machen wollen. Willst Du es heute versuchen?“

„Nein,“ versetzte Waldemar gelassen. „Dein Pferd ist bisweilen sehr ungehorsam. Du gestattest ihm allerlei Unarten und einen Eigenwillen, den ich nicht dulden würde. Ich käme in die Nothwendigkeit, es mißhandeln zu müssen, und das möchte ich Deinem Lieblinge denn doch nicht anthun. Ich weiß, wie sehr er Dir an’s Herz gewachsen ist.“

„Nun, das käme doch auf einen Versuch an, Herr Nordeck,“ mischte sich Wanda ein; sie hatte gleich nach der ersten Begegnung das vertrauliche „Cousin Waldemar“ ein für alle Mal fallen lassen. „Ich glaube zwar, Sie reiten beinahe so gut wie Leo.“

Waldemar verzog keine Miene bei dem Angriff. Er blieb vollkommen ruhig.

„Sie sind sehr gütig, Gräfin Morynska, mir doch wenigstens einige Fertigkeit im Reiten zuzugestehen,“ erwiderte er.

„O, das sollte keine Beleidigung für Sie sein,“ erklärte Wanda in einem Tone, der noch verletzender war, als vorhin ihr „beinahe“. „Ich bin überzeugt, daß die Deutschen ganz gute Reiter sind, aber mit unseren Herren können sie es darin doch nicht aufnehmen.“

Nordeck wandte sich, ohne irgend etwas darauf zu erwidern, an seinen Bruder. „Willst Du mir Deinen Vaillant für heute überlassen, Leo? Auf jede Gefahr hin?“

„Auf jede!“ rief Leo mit blitzenden Augen.

„Gehen Sie nicht darauf ein, Waldemar!“ fiel Graf Morynski ein, dem die Sache unangenehm zu sein schien. „Sie haben ganz recht gesehen – das Pferd ist ungehorsam und ganz unberechenbar in seinen Launen; überdies hat Leo es an allerlei Tollkühnheiten und Wagestücke gewöhnt, denen ein fremder Reiter, und wäre es der beste, nicht gewachsen ist. Sie setzen sich fraglos dem Abwerfen aus.“

„Nun, probiren könnte es Herr Nordeck doch wenigstens,“ warf Wanda hin, „vorausgesetzt, daß er sich in die Gefahr begeben will.“

„Seien Sie ohne Sorge!“ sagte Waldemar zu dem Grafen, der seiner Tochter einen unwilligen Blick zusandte. „Ich werde das Pferd reiten, Sie sehen ja, wie dringend Gräfin Morynska wünscht, mich – abgeworfen zu sehen. Komm’, Leo!“

„Wanda, ich bitte Dich,“ flüsterte Morynski seiner Tochter zu. „Das wird ja jetzt eine förmliche Feindschaft zwischen Dir und Waldemar. Du reizest ihn aber auch bei jeder Gelegenheit.“

Die junge Gräfin schlug heftig mit der Reitgerte gegen die Falten ihres Sammetkleides. „Da irrst Du, Papa. Reizen! Dieser Nordeck läßt sich überhaupt nicht reizen, am wenigstens durch mich.“

„Nun, weshalb versuchst Du es denn immer wieder von Neuen?“

Wanda blieb die Antwort schuldig, aber der Vater hatte Recht – sie konnte keine Gelegenheit vorübergehen lassen, den zu reizen, der einst bei jeden unbesonnenen Worte in leidenschaftlicher Empfindlichkeit aufloderte und der ihr jetzt mit dieser unverwüstlichen Gelassenheit gegenüberstand.

Die übrigen Herren waren inzwischen auch aufmerksam geworden. Sie kannten Nordeck bereits als tüchtigen, wenn auch besonnenen Reiter, aber es galt ihnen als ausgemacht, daß er es darin mit dem Fürsten Baratowski nicht aufnehmen könne, und weniger rücksichtsvoll, als Graf Morynski gönnten sie dem „Fremden“ die voraussichtliche Niederlage von Herzen. Die beiden Brüder standen bereits bei dem Goldfuchs. Das schlanke, feurige Thier schlug ungeduldig mit seinen Hufen die Erde und machte mit seiner Unruhe dem Reitknechte viel zu schaffen. Leo nahm dem Letzteren die Zügel aus der Hand und hielt das Pferd selbst, während sein Bruder aufstieg; die tiefste innerste Genugthuung leuchtete dabei aus seinen Augen; er kannte seinen Vaillant. Jetzt ließ er ihn los und trat zurück.

Der Goldfuchs spürte in der That kaum die fremde Hand am Zügel, als er seinen ganzen Eigensinn zu zeigen begann. Er bäumte, schlug und machte die heftigsten Versuche, den Reiter abzuschütteln, aber dieser saß wie festgewachsen und setzte dem leidenschaftlichen Ungestüm des Pferdes einen ruhigen, aber so energischen Widerstand entgegen, daß es sich endlich in sein Schicksal ergab und ihn duldete.

Damit war aber auch die Fügsamkeit zu Ende, denn als Waldemar das Thier jetzt antreiben wollte, weigerte es sich entschieden zu gehorchen und war nicht vom Flecke zu bringen. Es erschöpfte sich in allerlei Tücken und Launen. Alle Geschicklichkeit, alle Energie brachte es auch nicht einen Schritt vorwärts. Dabei gerieth es aber in eine immer größere Aufregung und nahm zuletzt eine entschieden drohende Haltung an. Bisher war Waldemar noch ziemlich ruhig geblieben, jetzt aber begann sich seine Stirn dunkel zu röthen; seine Geduld war zu Ende. Er hob die Reitpeitsche, und ein schonungslos geführter Hieb sauste auf das widerspänstige Roß nieder.

Doch diese ungewohnte Strenge brachte das eigenwillige und verwöhnte Thier zum Aeußersten. Es machte einen Satz, daß die umstehenden Herren rechts und links auseinanderstoben, und schoß dann wie ein Pfeil über den Rasenplatz hin, in die große Allee hinein, die nach dem Schlosse führte. Dort artete der Ritt in einen wilden Kampf zwischen Roß und Reiter aus; das erstere geberdete sich wie unsinnig. Es tobte förmlich und setzte augenscheinlich Alles daran, denn Reiter aus dem Sattel zu schleudern. Wenn Waldemar trotzdem seinen Platz behauptete, so konnte es nur mit äußerster Lebensgefahr geschehen.

„Leo, mache der Sache ein Ende!“ sagte Morynski unruhig zu seinem Neffen. „Vaillant wird sich beruhigen, wenn Du dazwischen trittst. Bestimme Deinen Bruder, abzusteigen, oder wir haben ein Unglück.“

Leo stand mit übereinandergeschlagenen Armen da und sah dem Kampfe zu, machte aber keine Miene einzuschreiten. „Ich habe Waldemar die Gefahr nicht verhehlt, die das Pferd einem Fremden bringt,“ erwiderte er kalt. „Wenn er es absichtlich wüthend macht, so mag er auch die Folgen tragen! Er weiß es ja, daß Vaillant keine Strenge verträgt.“

In diesem Augenblicke kam Waldemar zurück; er war des Zügels Herr geblieben und zwang das Pferd sogar eine bestimmte Richtung einzuhalten, denn er jagte in einem weiten [613] Bogen um den Rasenplatz, von einer Fügsamkeit war aber noch lange nicht die Rede. Der Goldfuchs sträubte sich immer wieder von Neuem gegen die Hand, die ihn mit so eisernem Griffe regierte, und suchte mit seinen blitzschnellen, unberechenbaren Bewegungen den Reiter zum Sturze zu bringen, doch Nordeck’s Aussehen zeigte, daß das alte Ungestüm wieder in ihm wach geworden war. Flammendroth im ganzen Gesichte, mit sprühenden Augen und zusammengebissenen Zähnen gebrauchte er Peitsche und Sporn in einer so erbarmungslosen Weise, daß Leo außer sich gerieth. Der Gefahr seines Bruders hatte er ruhig zugesehen, diese Mißhandlung seines Lieblings ertrug er nicht.

„Waldemar, hör’ auf!“ rief er zornig hinüber. „Du ruinirst mir ja das Pferd. Wir haben es jetzt Alle gesehen, daß Vaillant Dich trägt. Laß’ ihn endlich in Ruhe!“

„Erst werde ich ihm Gehorsam beibringen.“ In Waldemar’s Stimme klang die wildeste Gereiztheit; er kannte jetzt keine Rücksicht mehr, und Leo’s Einspruch hatte keine andere Wirkung, als daß das Pferd bei der zweiten Tour um den Rasenplatz noch schonungsloser behandelt wurde, als vorhin. Als es zum dritten Mal mit seinem Reiter die Runde machte, hatte es sich ihm endlich gefügt. Es widerstrebte nicht mehr, hielt die vorgeschriebene Gangart inne und stand auf einen einzigen Druck des Zügels am Schlosse still, freilich in einem Zustande, als müsse es jeden Augenblick zusammenbrechen.

Nordeck stieg ab. Die Herren umringten ihn, und es fehlte nicht an Complimenten für seine Reitkunst, wenn auch unleugbar eine Verstimmung auf der ganzen Gesellschaft lag. Leo allein sprach kein Wort; er streichelte stumm das zitternde schweißtriefende Roß, an dessen glänzend braunem Fell sich Blutspuren zeigten. So furchtbar hatten ihm die Sporen Waldemar’s zugesetzt.

„Das war ja eine Kraftprobe ohne Gleichen,“ sagte Graf Morynski; man hörte den Worten das Gezwungene an. „Vaillant wird den Ritt sobald nicht wieder vergessen.“

Waldemar war seiner Erregung bereits wieder Herr geworden, nur die Röthe auf seiner Stirn und die hoch-angeschwollene blaue Ader an den Schläfen gaben noch Zeugniß von seiner inneren Erhitzung, als er erwiderte:

„Ich mußte das Lob der Gräfin Morynska, daß ich beinahe so gut reite als mein Bruder, doch einigermaßen zu verdienen suchen.“

Wanda stand neben Leo mit einem Ausdruck, als habe sie selbst eine Niederlage erlitten, die sie nun auf Tod und Leben rächen müsse; so drohend flammte es aus ihren dunklen Augen.

„Ich bedauere, daß mein unvorsichtiges Wort dem armen Vaillant diese Mißhandlungen zugezogen hat,“ entgegnete sie mit fliegendem Athem. „An eine solche Behandlung ist das edle Thier allerdings nicht gewöhnt.“

„Und ich nicht an einen solchen Widerstand,“ versetzte Waldemar scharf. „Es ist nicht meine Schuld, daß Vaillant sich nur den Sporen und der Peitsche fügen wollte – fügen mußte er sich nun einmal.“

Leo machte dem Gespräch ein Ende, indem er sehr laut und demonstrativ seinem Reitknecht befahl, den Goldfuchs, der „dem Zusammenbrechen nahe sei“, in den Stall zu führen und alle mögliche Sorgfalt für ihn zu tragen, dann aber rasch ein anderes Pferd zu satteln und zur Stelle zu bringen. Graf Morynski, der einen Ausbruch fürchtete, trat zu seinem Neffen und zog ihn bei Seite.

„Beherrsche Dich, Leo!“ sagte er leise und eindringlich. „Zeige den Gästen nicht diese finstere Stirn! Willst Du etwa Streit mit Deinem Bruder suchen?“

„Und wenn ich es thäte!“ stieß der junge Fürst halblaut hervor. „Hat er mich nicht vor der ganzen Jagdgesellschaft preisgegeben mit seiner tactlosen Erzählung von dem Normann? Hat er mir meinen Vaillant nicht fast zu Tode geritten? Und das Alles um einer elenden Prahlerei willen!“

„Prahlerei? Besinne Dich! Du warst es, der ihm die Probe antrug. Er weigerte sich ja anfangs, darauf einzugehen.“

„Er hat mir und uns Allen zeigen wollen, daß er Meister ist, wo es sich am die bloße rohe Kraftäußerung handelt. Als ob ihm Jemand das schon bestritten hätte! Das ist ja überhaupt das Einzige, was er kann. Aber ich sage es Dir, Onkel, wenn er mich noch einmal in dieser Weise herausfordert, so ist es zu Ende mit meiner Geduld, und wäre er zehnmal der Herr von Wilicza.“

„Keine Unvorsichtigkeit!“ warnte der Graf. „Du und Wanda, Ihr seid es leider gewohnt, Eurem persönlichen Empfinden alles Andere unterzuordnen. Ich kann von ihr nie die mindeste Rücksicht erlangen, sobald es sich um diesen Waldemar handelt.“

„Wanda darf doch wenigstens ihre Abneigung offen zeigen,“ grollte Leo. „Ich dagegen – da steht er bei seinem Normann, als wären sie beide die Ruhe und Gelassenheit selber, aber man soll es nur einmal versuchen, ihnen nahe zu kommen!“

Das verlangte Pferd wurde nun gebracht, und in dem nun erfolgenden allgemeinen Aufbruch verlor sich der Mißton einigermaßen. Es war aber doch ein Glück, daß der heutige Jagdtag die Brüder von einander fern hielt und ihnen jedes längere Beisammensein unmöglich machte, sonst wäre es bei der fortdauernden Gereiztheit Leo’s doch wohl noch zu einem Ausbruch gekommen. Als man erst einmal das Jagdrevier erreicht hatte, trat, für einige Stunden wenigstens, alles Andere vor der Lust des Jagens in den Hintergrund.

Waldemar hatte Unrecht, wenn er die „großen Staats- und Convenienzjagden“ so entschieden verabscheute; sie boten doch immerhin ein prächtiges, glänzendes Bild, zumal hier in Wilicza, wo man dergleichen sehr großartig und echt fürstlich in Scene zu setzen verstand. Die sämmtlichen Förstereien waren aufgeboten, um mit ihrem Personal in vollster Gala Staat zu machen. Die ganzen Waldungen waren lebendig geworden; es schwärmte förmlich darin von Forstleuten und Treibern, das Imposanteste aber war unstreitig der heransprengende Jagdzug selbst. Die Herren, meist prachtvolle Gestalten im eleganten Jagdcostüm, auf ihren schlanken feurigen Pferden, die Damen in Amazonentracht an der Seite ihrer Cavaliere, die Dienerschaft hinter ihnen, und dazu das Schmettern der Hörner, das Gekläff der Hunde – es war eine Scene von Feuer und Leben, und bald verkündeten auch das vorüberfliehende Wild und die Schüsse, die ringsum das Echo des Waldes weckten, daß die Jagd ihren Anfang genommen habe.

Das Wetter ließ jetzt, wo der Nebel gefallen war, nichts mehr zu wünschen übrig; es war ein kühler, etwas verschleierter, aber im Ganzen doch schöner Novembertag. Der Wildstand des Forstreviers von Wilicza galt für unvergleichlich; die Anordnungen waren vorzüglich getroffen, die Jagdbeute äußerst ergiebig. Da verstand es sich wohl von selbst, daß man sich bemühte, die unfreiwillige Verspätung von heute Morgen wieder einzubringen. Der kurze Nachmittag des Spätherbstes neigte sich schon seinem Ende zu, aber man dachte nicht daran, die Jagd vor der beginnenden Dämmerung abzubrechen.

Einige tausend Schritte von der Försterei entfernt, die für heute als Rendez-vous diente, lag eine Waldwiese, einsam und wie verloren mitten im Dickicht. Das dichte Unterholz und die mächtigen Bäume machten den Platz unsichtbar für Jeden, der ihn nicht bereits kannte oder ihn durch Zufall entdeckte; jetzt freilich, wo die Umgebung sich schon herbstlich zu lichten begann, konnte man den Zugang eher finden. Inmitten des Wiesengrundes ruhte eines jener stillen, kleinen Gewässer, wie sie der Wald oft in seinem Schooße birgt, ein See oder Teich. Im Sommer mochte er mit seinem wehenden Schilfgrase, seinen träumerischen Wasserlilien dem Orte wohl einen eigenen poetischen Reiz leihen, jetzt aber lag er dunkel und schmucklos da, bedeckt von welken Blättern und umgeben von braunem Rasen, herbstlich öde, wie die ganze Umgebung ringsum.

Unter einem der Bäume, die ihre Aeste weithin über die Wiese streckten, stand Gräfin Morynska, ganz allein und ohne jede Begleitung. Ihre Zurückgezogenheit mußte wohl eine freiwillige sein. Verloren konnte sie die Jagd nicht haben, denn man hörte den Lärm derselben, wenn auch in einiger Entfernung, doch deutlich genug, auch lag ja die Försterei nahe, wo die junge Dame jedenfalls ihr Pferd zurückgelassen hatte, denn sie war zu Fuß. Sie schien absichtlich die Einsamkeit gesucht zu haben und auch festhalten zu wollen; an den Stamm des Baumes gelehnt, blickte sie unverwandt in das Gewässer und sah doch offenbar nichts von ihm oder von der Umgebung. Ihre Gedanken waren ganz wo anders. Die schönen Augen Wanda’s konnten sehr finster blicken – das sah man jetzt, wo sie augenscheinlich mit irgend [614] einer grollenden Empfindung kämpfte, aber die tiefe Falte auf der weißen Stirn, die trotzig aufgeworfenen Lippen zeigten, daß diese Empfindung sich nicht so leicht niederkämpfen ließ, sondern ihren Platz behauptete. Die Jagd mit ihrem Lärme entfernte sich mehr und mehr. Sie schien sich nach der Richtung des Flusses hinzuziehen und diesen Theil des Reviers völlig frei zu lassen, all’ die wirren Töne verklangen in immer weiterer Ferne, nur die Schüsse hallten noch dumpf herüber; jetzt trat auch darin eine Pause ein, und es wurde still, todtenstill im Walde.

Eine ganze Weile mochte Wanda so regungslos gestanden haben, als ein Schritt und ein Rauschen in ihrer unmittelbaren Nähe sie aufschreckte. Unwillig richtete sie sich empor und wollte eben der Störung weiter nachforschen, als die Gebüsche sich theilten und Waldemar Nordeck daraus hervortrat.

Auch er stutzte bei dem Anblicke der Gräfin – die unerwartete Begegnung schien ihm ebenso unangenehm zu sein wie ihr, aber ein Zurücktreten war nicht mehr möglich; dazu standen sie sich zu nahe gegenüber. Waldemar grüßte leicht und sagte:

„Ich wußte nicht, daß Sie die Jagd bereits verlassen hatten. Gräfin Morynska ist doch sonst als unermüdliche Jägerin bekannt – und sie fehlt bei dem Schlusse des heutigen Tages?“

„Die Frage möchte ich Ihnen zurückgeben,“ versetzte Wanda. „Sie, gerade Sie fehlen bei dem letzten Treiben?“

Er zuckte die Achseln. „Ich habe vollständig genug daran. Mir stört der Lärm und das Durcheinander eines solchen Tages die ganze rechte Jagdlust. Mir fehlt die Mühe, die Aufregung der Jagd und vor Allem die Waldesstille und Waldeseinsamkeit.“

Das war es nun gerade, was Wanda vorhin vermißt, was sie hier gesucht hatte, sie wollte das aber natürlich um keinen Preis zugeben, sondern fragte nur:

„Sie kommen von der Försterei?“

„Nein! Ich habe nur meinen Normann dorthin vorausgesendet. Die Jagd geht nach dem Flusse zu, sie muß aber bald zu Ende sein und kommt jedenfalls auf dem Rückwege hier vorüber. Das Rendez-vous ist ja in unmittelbarer Nähe.“

„Und was thun wir inzwischen?“ fragte Wanda ungeduldig.

„Wir warten,“ entgegnete Waldemar lakonisch, indem er seine Flinte abnahm und den Hahn in Ruhe setzte.

Die Falte auf der Stirn der jungen Gräfin vertiefte sich. „Wir warten.“ Das klang so selbstverständlich, als setze er auch ihr Bleiben voraus. Sie hatte große Lust, sofort nach der Försterei zurückzukehren, aber nein! Es war seine Sache, den Platz zu räumen, auf dem er sie so ohne Weiteres in ihrer Einsamkeit gestört hatte. Sie beschloß zu bleiben, selbst auf die Gefahr hin, ein längeres Zusammensein mit diesem Nordeck aushalten zu müssen.

Er machte indessen gar keine Anstalten zum Gehen; er hatte seine Flinte an einen Baum gelehnt und stand nun mit verschränkten Armen, die Umgebung betrachtend. Die Sonne hatte es heute nicht ein einziges Mal vermocht, den Wolkenschleier zu durchdringen, nur jetzt im Niedergehen färbte sie ihn mit hellerem Lichte. Am westlichen Horizont flammte ein gelber Schein, der fahl und ungewiß durch die Bäume schimmerte, und auf der Wiese begannen die Nebel aufzusteigen, die ersten Vorboten des herannahenden Abends. Der Wald sah schon recht herbstlich aus mit seinen halbentlaubten Bäumen und den dürren Blättern, die den Boden bedeckten. Da war auch nicht ein Hauch mehr von jenem frischen Lebensodem, der ihn im Frühling und Sommer durchweht, von jener mächtigen Lebenskraft, die dann in allen Adern und Pulsen der Natur zu pochen scheint – überall nur schwindendes Dasein, langsames, aber unaufhaltsames Vergehen.

Die Augen der jungen Gräfin hafteten wie in düsterem Nachsinnen auf dem Gesicht ihres Gefährten, als wolle und müsse sie dort irgend etwas enträthseln. Er schien die Beobachtung zu spüren, obgleich er abgewandt stand, denn er wendete sich plötzlich nach ihr um und sagte gleichgültig, wie man eine allgemeine Bemerkung hinwirft:

„Es ist doch etwas Trostloses um solch eine abendliche Herbstlandschaft.“

„Und doch hat sie ihre eigene schwermüthige Poesie,“ meinte Wanda. „Finden Sie das nicht auch?“

„Ich?“ fragte er herb. „Ich habe mit der Poesie von jeher wenig zu thun gehabt – das wissen Sie ja, Gräfin Morynska.“

„Ja, das weiß ich,“ versetzte sie in dem gleichen Tone. „Aber es giebt doch Augenblicke, wo sie sich unwillkürlich Jedem aufdrängt.“

„Romantischen Naturen vielleicht, unsereiner muß schon zusehen, wie er ohne diese Romantik und Poesie mit dem Leben fertig wird. Ausgehalten muß es ja doch einmal werden, so oder so.“

„Wie gelassen Sie das sagen! Das blos geduldige Aushalten war doch sonst gerade Ihre Sache am wenigsten. Ich finde, Sie haben sich in diesem Punkte merkwürdig verändert.“

„Nun, man bleibt doch nicht sein Lebenlang ein leidenschaftlicher ungestümer Knabe. Oder trauen Sie es mir nicht zu, daß ich über Knabenthorheiten hinauskommen kann?“

Wanda biß sich auf die Lippen; er hatte es ihr gezeigt, daß er darüber hinauskommen konnte.

„Ich zweifle nicht daran,“ erwiderte sie kalt. „Ich traue Ihnen sogar noch manches Andere zu, was Sie freilich nicht zu zeigen für gut finden.“

Waldemar wurde aufmerksam. Sein Blick streifte einen Moment lang scharf und prüfend die junge Dame, dann aber entgegnete er ruhig:

„Dann setzen Sie sich in Widerspruch mit ganz Wilicza. Man ist hier wohl so ziemlich einig darüber, daß ich eine gänzlich ungefährliche Persönlichkeit bin.“

„Weil Sie durchaus dafür gelten wollen. Ich glaube nicht daran.“

„Sie sind sehr gütig, mir ganz unverdientermaßen eine Bedeutung beizulegen,“ sagte Waldemar mit unverhehlter Ironie. „Aber es ist doch grausam von Ihnen, mir das einzige Verdienst nehmen zu wollen, das ich in den Augen meiner Mutter und meines Bruders überhaupt besitze – harmlos und unbedeutend zu sein.“

„Wenn meine Tante den Ton hören könnte, mit welchem Sie das sagen, so würde sie ihre Ansicht wohl ändern,“ erklärte Wanda, gereizt durch seinen Spott. „Für jetzt stehe ich mit der meinigen allerdings noch allein.“

„Und so wird es auch bleiben,“ ergänzte Nordeck. „Man läßt in mir den unermüdlichen Jäger, nach der heutigen Probe vielleicht auch den geschickten Reiter gelten, weiter nichts.“

„Jagen Sie denn wirklich, Herr Nordeck, wenn Sie so den ganzen Tag lang mit Flinte und Jagdtasche umherstreifen?“ fragte die junge Gräfin, ihn scharf fixirend.

„Und was sollte ich Ihrer Meinung nach denn sonst thun?“

„Ich weiß es nicht, aber ich vermuthe, daß Sie Ihr Wilicza inspiciren, sehr gründlich inspiciren. Es giebt nun wohl keine Försterei, kein Dorf, keinen noch so abgelegenen Hof in Ihrem Gebiete, wo Sie nicht bereits gewesen sind. Sogar den Pachtgütern haben Sie Besuche abgestattet, und Sie werden sich wohl überall dort ebenso schnell orientiren, wie in den Salons Ihrer Mutter, wo Sie auch nur sehr selten erscheinen und eine sehr gleichgültige Rolle spielen. Aber es entgeht Ihnen kein Wort, kein Blick, überhaupt Nichts, was geschieht. Sie scheinen unserer Gesellschaft gar keine Beachtung zu schenken, und doch giebt es nicht einen Einzigen darunter, der nicht bereits vor Ihnen die Musterung hätte passiren müssen und Ihrer Beurtheilung anheimgefallen wäre.“

Sie hatte ihm das Alles Schlag auf Schlag mit einer Sicherheit und Bestimmtheit entgegengeworfen, die darauf berechnet war, ihn in Verwirrung zu bringen, und für den Augenblick fehlte ihm auch wirklich jede Antwort. Er stand mit tiefverfinstertem Gesicht, mit fest zusammengepreßten Lippen da und rang augenscheinlich mit seinem Aerger. Aber so leicht war diesem Nordeck nicht beizukommen. Als er wieder aufsah, stand die Wolke zwar noch drohend auf seiner Stirn, aber aus seiner Stimme klang nur der schärfste Sarkasmus.

„Sie beschämen mich wirklich, gnädige Gräfin! Sie zeigen mir soeben, daß ich vom ersten Tage meines Hierseins an der Gegenstand Ihrer eingehendsten und ausschließlichsten Beobachtung gewesen bin – das ist in der That mehr, als ich verdiene.“

Wanda fuhr auf. Ein Blick sprühenden Zornes traf den Verwegenen, der es wagte, den Pfeil mit solcher Sicherheit auf sie zurückzuschleudern.

[643] „Ah, historische Studien!“ wiederholte der Assessor. „Da möchte ich Sie doch fragen, ob Sie nicht die große Autorität auf diesem Gebiete, den Professor Schwarz, kennen – er ist mein Onkel. Doch Sie kennen ihn jedenfalls; er ist ja an der Universität zu J. thätig, wo Herr Nordeck studirt hat.“

„Ich habe das Vergnügen,“ sagte Fabian kleinlaut, mit einem scheuen Blick auf das Zeitungsblatt.

„Wie sollten Sie auch nicht!“ rief der Assessor. „Mein Onkel ist ja eine Berühmtheit, eine Capacität allerersten Ranges; wir haben allen Grund stolz zu sein auf die Verwandtschaft, wenn auch unsere Familie sonst manchen Namen von gutem Klange aufweist. Nun, ich denke ihr auch keine Schande zu machen.“

Der Doctor stand noch immer ängstlich behütend vor seinem Schreibtische, als müsse er ihn gegen ein Attentat von Seiten des Assessors sichern, doch dieser hatte sich viel zu sehr vertieft in die Bedeutung seiner Familie im Allgemeinen und die seines berühmten Onkels im Besonderen, um den Schreibereien eines simplen Hauslehrers jetzt noch Beachtung zu schenken; gleichwohl fühlte er sich veranlaßt, diesem eine Artigkeit zu sagen.

„Es ist aber doch sehr anerkennenswerth, wenn auch Laien sich für solche Studien interessiren,“ meinte er herablassend. „Ich fürchte nur, Sie haben hier nicht die nöthige Muße dazu. Es ist wohl sehr unruhig im Schlosse? Ein fortwährendes Kommen und Gehen von den verschiedensten Persönlichkeiten, nicht wahr?“

„Das mag wohl sein,“ versetzte Fabian arglos und ohne jede Ahnung des Manövers, das sein Besuch sich erlaubte, „aber ich merke nichts davon. Waldemar hat die Güte gehabt, die einsamsten und ruhigsten Zimmer für mich auszusuchen, weil er meine Neigung kennt.“

„Natürlich, natürlich!“ Hubert stand jetzt am Fernster und versuchte von hier aus einen Ueberblick zu gewinnen. „Aber ich sollte doch meinen, solch ein jahrhundertealtes Gebäude wie dieses Wilicza mit seinen historischen Erinnerungen müßte auch für Sie von Interesse sein. All diese Säle, Treppen und Gänge! Und was für mächtige Kellergewölbe muß das Schloß haben! Waren Sie schon in den Kellern?“

„In den Kellern?“ fragte der Doctor auf’s Aeußerste betroffen. „Nein, Herr Assessor, was sollte ich denn dort thun?“

„Ich würde hineingehen,“ sagte der Assessor. „Ich habe eine Vorliebe für solche alte Gewölbe, wie überhaupt für alle Merkwürdigkeiten. – Dabei fällt mir ein, ist denn die große Waffensammlung des seligen Herrn Nordeck noch vollständig? Er soll eine höchst kostspielige Liebhaberei in dieser Hinsicht besessen und Hunderte der schönsten Büchsen und Gewehre aufgehäuft haben; ob sie wohl noch vorhanden sind?“

„Danach müssen Sie seinen Sohn fragen!“ Doctor Fabian zuckte die Achseln. „Ich gestehe, daß ich noch nicht im Waffensaale gewesen bin.“

„Er wird auf der andern Seite liegen,“ meinte Hubert, sich mit seinem berühmten Polizeiblicke orientirend. „Nach der Beschreibung Frank’s ist es ein düsteres, unheimliches Ding wie überhaupt das ganze Wilicza. – Haben Sie denn noch nicht davon gehört, daß es hier umgehen soll? Haben Sie auch des Nachts nie etwas Ungewöhnliches, Außerordentliches bemerkt?“

„Des Nachts schlafe ich,“ erklärte der Doctor ruhig, aber mit leisem Lächeln über den Gespensterglauben seines Besuches.

Der Assessor sandte einen anklagenden Blick zum Himmel. Dieser Mensch, den ein Zufall mitten in das Schloß hineingesetzt hatte, sah und hörte nicht, was um ihn her vorging. Er kannte die Keller nicht, er war noch nicht einmal im Waffensaale gewesen, und des Nachts schlief er sogar. Aus diesem harmlosen Bücherwurme war nichts herauszubringen – das sah Hubert ein, und so verabschiedete er sich denn nach einigen Höflichkeiten und verließ das Gemach.

Langsam schritt er den Corridor entlang; bei der Ankunft hatte ihn ein Diener in Empfang genommen und nach dem Zimmer des Doctors geführt; jetzt auf dem Rückwege war er allein, allein in dem „Verschwörungsneste“, das freilich am hellen Vormittage mit seinen teppichbelegten Gängen und Treppen so ruhig, so vornehm und ungefährlich aussah, wie das loyalste Schloß des loyalsten Gutsherrn. Aber der Assessor ließ sich durch diesen Anschein nicht täuschen; er witterte rechts und links die Verschwörung, die er leider nicht greifen konnte, und streckte die Nase hoch in die Luft. Da war eine Thür – sie kam ihm verdächtig vor. Sie lag im Schatten eines mächtigen Pfeilers und war auffallend tief und fest in die Mauer gefügt. Die kleine Pforte führte jedenfalls zu einer Seitentreppe, vielleicht in geheime Gänge, möglicher Weise sogar an die Keller hinab, welche die Phantasie Hubert’s sofort mit verborgenen Waffenlagern und ganzen Schaaren von Hochverräthern bevölkerte. Ob man es versuchte, wenigstens auf die Klinke zu drücken? Im schlimmsten Falle konnte man sich mit einem Irrthume, mit [644] einem Verirren in den Gängen des Schlosses entschuldigen; vielleicht lag hier der Schlüssel zu all seinen Geheimnissen. Da öffnete sich urplötzlich die Thür und – Waldemar Nordeck trat heraus. Der Assessor prallte zurück. Gerechter Gott! beinahe wäre er zum zweiten Male an den Herrn von Wilicza gerathen. Ein einziger Blick durch die offene Spalte zeigte ihm, daß es dessen Schlafzimmer war, das er für so gefährlich gehalten. Waldemar ging mit sehr kühlem Gruße an ihm vorüber nach den Zimmern des Doctor Fabian. Hubert sah, daß ihm trotz seiner Entschuldigung das „verdächtige Subject“ noch nicht vergeben war. Dieses Bewußtsein und die unerwartete Begegnung nahmen ihm für jetzt die Lust zu ferneren Entdeckungen, und als vollends ein Diener auf der Treppe erschien, blieb ihm nichts weiter übrig, als den Rückzug anzutreten.

Waldemar war inzwischen bei seinem Lehrer eingetreten, den er am Schreibtische fand, beschäftigt, die Bücher und Zeitungen, welche er vorhin vor den neugierigen Augen des Assessors in Sicherheit gebracht, wieder zu ordnen; der junge Gutsherr näherte sich gleichfalls dem Tische.

„Nun, was giebt es für Nachrichten?“ fragte er. „Sie haben Briefe und Zeitungen aus J. erhalten. Ich sah es, als ich Ihnen vorhin das Briefpaket herübersandte.“

Der Doctor blickte auf. „Ach, Waldemar,“ sagte er in beinahe schmerzlichem Tone, „warum haben Sie mich fast gezwungen, mit meinen stillen Studien und Arbeiten vor die Oeffentlichkeit zu treten! Ich sträubte mich von Anfang an dagegen, aber Sie ließen nicht nach mit Treiben und Drängen, bis ich das Buch erscheinen ließ.“

„Natürlich! Was nützt es Ihnen und der Welt, wenn es in Ihrem Schreibtische verschlossen bleibt? Aber was ist denn geschehen? Ihre ‚Geschichte des Germanenthums‘ wurde ja über alles Erwarten günstig in den betreffenden Kreisen aufgenommen. Gerade aus J. kam die erste Anerkennung vom Professor Weber, und ich dächte, dessen Name und Urtheil wäre doch von entscheidendem Gewichte.“

„Das glaubte ich auch,“ entgegnete Fabian niederschlagen. „Ich war so glücklich und stolz auf das Lob aus einem solchen Munde, aber gerade dies hat dem Professor Schwarz – Sie kennen ihn ja – Anlaß gegeben, in einer ganz unerhörten Weise über mich und mein Buch herzufallen. Lesen Sie nur!“

Er reichte ihm das Zeitungsblatt hin. Nordeck nahm es und las es ruhig durch. „Das sind ja allerliebste Bosheiten; besonders der Schluß läßt darin nichts zu wünschen übrig: ‚Wie wir hören, war diese von Herrn Professor Weber ganz neu entdeckte Berühmtheit längere Zeit Hauslehrer bei dem Sohne eines der ersten Grundbesitzer unseres Landes, mit dessen Erziehung sie aber durchaus kein glänzendes Resultat erzielte. Trotzdem mag der Einfluß dieses vornehmen Zöglings das Seinige gethan haben zu der maßlosen Ueberschätzung eines Werkes, mit dem ein ehrgeiziger Dilettant es versucht, sich in die Reihe von Männern der Wissenschaft zu drängen.‘“

Waldemar warf das Blatt auf den Tisch. „Armer Doctor, wie oft werden Sie wohl noch büßen müssen, mich Ungethüm erzogen zu haben! Freilich ist Ihre Erziehung so unschuldig an meiner Unliebenswürdigkeit wie mein Einfluß an der Weber’schen Kritik Ihres Buches, aber den Hauslehrer vergiebt man Ihnen nun einmal nicht in jenen exclusiven Kreisen, und sollten Sie auch später selbst den Professorenstuhl besteigen.“

„Mein Gott, wer denkt daran!“ rief der Doctor, förmlich erschreckt von dieser Idee. „Ich doch gewiß nicht, und eben deshalb kränkt es mich so tief, daß mir Ehrgeiz und unberechtigtes Eindrängen vorgeworfen wird, weil ich ein einfaches wissenschaftliches Werk geschrieben habe, das sich streng an die Sache hält, Niemand beleidigt, Niemandem zu nahe tritt –“

„Und nebenbei ausgezeichnet ist,“ fiel Waldemar ein. „Ich dächte, das müßten Sie endlich glauben, nachdem Weber so entschieden Partei dafür ergriffen hat. Sie wissen, er läßt sich nicht beeinflussen, und er war Ihnen doch sonst eine unbestrittene Autorität, zu der Sie bewundernd emporblickten.“

„Professor Schwarz ist auch eine Autorität.“

„Ja, aber eine schwarzgallige, die keine Bedeutung außer der eigenen gelten läßt. Mein Gott, warum mußten Sie auch gerade mit dem Germanismus hervortreten! Das ist sein Fach, darüber hat er geschrieben, und wehe dem, der sich noch sonst darin zu regen wagt – sein Urtheil ist von vorn herein gesprochen. Sehen Sie doch nicht so muthlos aus! Das schickt sich nichts für die entdeckte Berühmtheit. Was würde Onkel Witold mit seiner souveränen Verachtung des ‚alten Heidengerümpels‘ wohl zu dieser Entdeckung gesagt haben! Ich glaube, Sie wären daraufhin in Altenhof etwas respectvoller behandelt worden, als es leider der Fall war. Es war ein Opfer von Ihnen, bei mir auszuhalten.“

„Sprechen Sie doch nicht so, Waldemar!“ sagte der Doctor mit einem Anfluge von Unwillen, „ich weiß doch am besten, auf wessen Seite jetzt das Opfer ist. Wer bestand denn hartnäckig darauf, mich bei sich zu behalten, obgleich ich ihm gar nichts mehr nützen konnte, und weigerte sich doch stets, die kleinste Rücksicht anzunehmen, die mich von meinen Büchern entfernte? Wer gab mir die Mittel, mich jahrelang einzig dem Studium hinzugeben und mein zerstreutes Wissen zu sammeln und zu ordnen? Wer zwang mich fast, ihn auf der Reise zu begleiten, weil das angestrengte Arbeiten meine Gesundheit erschüttert hatte? Mir ist jene Stunde, in der Ihr Normann mich verwundete, zu großem Segen geworden; sie hat mir Alles gegeben, was ich vom Leben hoffte und wünschte.“

„Da wünschen Sie wahrhaftig sehr wenig,“ unterbrach ihn Waldemar ungeduldig – er war offenbar bemüht, das Gespräch von diesem Punkte abzulenken. „Aber noch eins: ich begegnete ja vorhin im Schlosse dem genialen Vertreter des Polizeidepartements von L. Er kam von Ihnen, und auch drüben auf dem Gutshofe sehe ich ihn jede Minute auftauchen. Uns können doch seine Besuche nicht mehr gelten, seitdem wir uns als unverdächtige ‚Subjecte‘ ausgewiesen haben. Was macht er denn noch fortwährend in Wilicza?“

Fabian sah mit großer Befangenheit zu Boden. „Ich weiß es nicht, aber ich vermuthe, daß seine häufige Anwesenheit in der Familie des Administrators einen durchaus persönlichen Grund hat. Mir machte er vorhin einen Besuch.“

„Und Sie empfangen ihn auch ganz freundschaftlich? Herr Doctor, Sie sind ein Mann nach der Lehre des Christenthums. Wenn man Ihnen die rechte Wange schlägt, reichen Sie geduldig die linke hin. Ich glaube, Sie würden sich nicht einen Augenblick bedenken, dem Professor Schwarz den größten Freundschaftsdienst zu erweisen. Aber nehmen Sie sich in Acht vor diesem verhaftungswüthigen Assessor! Er ist sicher wieder auf der Jagd nach Verschwörern, und so beschränkt er auch ist, der Zufall könnte ihm doch einmal die rechten in die Hände spielen – hier in Wilicza ist das nicht schwer.“

Die letzten Worte wurden in so grollendem Tone gesprochen, daß der Doctor den ersten Band seiner „Geschichte des Germanenthums“, den er in der Hand hielt, schnell niederlegte.

„Sie haben unangenehme Entdeckungen gemacht?“ fragte er. „Schlimmere noch, als Sie erwarteten? Ich dachte es mir, wenn Sie mir auch bisher wenig genug darüber sagten.“

Waldemar hatte sich niedergesetzt und stützte den Kopf in die Hand. „Sie wissen ja, ich spreche nicht gern von Widerwärtigkeiten, deren ich noch nicht Herr geworden bin, und überdies brauchte ich Zeit, um mich zu orientiren. Wer stand mir denn dafür, daß der Administrator nicht auch ein Interesse hatte, die Sache so darzustellen, wie er es that, daß er nicht wenigstens übertrieb und entstellte? In solchen Dingen darf man nur dem eigenen Urtheile vertrauen, und ich habe das meinige in diesen letzten Wochen gebraucht. Leider bestätigt sich jedes Wort, das Frank mir geschrieben hat; so weit seine Machtvollkommenheit reicht, herrscht Ordnung, und es mag ihm schwer genug geworden sein, sie zu halten und zu vertheidigen, auf den anderen Gütern aber, auf den Pachthöfen und vollends in den Forsten – ich war auf Schlimmes gefaßt, aber solch ein Chaos hätte ich denn doch nicht erwartet.“

Fabian schob seine Bücher und Zeitungen jetzt gänzlich bei Seite und folgte der Schilderung Waldemar’s mit ängstlicher Theilnahme. Die düstere Miene seines ehemaligen Zöglings schien ihn zu beunruhigen.

„Onkel Witold hat immer gemeint, meine polnische Herrschaft ließe sich aus der Ferne regieren und verwalten,“ fuhr Nordeck fort, „und er hatte leider auch mich in diesem Glauben erzogen. Ich liebte Wilicza nicht. Für mich wurzelten hier nur bittere Erinnerungen an das unheilbare Zerwürfniß meiner [645] Eltern, an meine ersten freudlosen Kinderjahre; ich war gewohnt, Altenhof als meine Heimath anzusehen, und später, als ich hätte hierherkommen sollen, herkommen müssen, da – war es etwas Anderes, was mich zurückhielt. Das rächt sich jetzt. Die zwanzigjährige Beamtenwirthschaft, die mein Vormund duldete, hat schon Unheil genug gestiftet, aber das Aergste haben die letzten vier Jahre unter dem Baratowski’schen Regimente gethan. Freilich, es ist meine Schuld allein. Warum habe ich mich nie um mein Eigenthum gekümmert, warum machte ich die leidige Gewohnheit des Onkels, jedem Berichte zu glauben, der auf dem Papiere stand, zu der meinigen? Jetzt stehe ich wie verrathen und verkauft auf meinem eigenen Grund und Boden.“

„Sie waren ja noch so jung damals, als Sie mündig gesprochen wurden,“ begütigte der Doctor. „Die drei Jahre auf der Universität waren wirklich dringend nothwendig für Ihre Ausbildung, und als wir dann noch ein Jahr auf Reisen waren, ahnte ja Niemand, wie die Dinge hier standen. Wir sind sofort umgekehrt, als Sie den Brief des Administrators erhielten, und Sie mit Ihrer Energie sind doch sicher auch den schlimmsten Verhältnissen gewachsen.“

„Wer weiß!“ sagte Waldemar finster. „Die Fürstin ist meine Mutter, und sie und Leo sind gänzlich von meiner Großmuth abhängig – das ist es, was mir die Hände bindet. Wenn ich es zu einem ernstlichen Zerwürfnisse kommen lasse, so müssen sie Wilicza verlassen. Rakowicz ist dann ihre einzige Zuflucht, und einer solchen Demüthigung will ich wenigstens meinen Bruder nicht aussetzen. Und doch muß ein Ende gemacht werden, besonders mit dem, was hier im Schlosse geschieht. Sie ahnen noch nichts davon? Ich glaube es, aber ich weiß desto mehr. Ich wollte nur erst klar in der Sache sehen – und nun werde ich mit meiner Mutter reden.“

Es trat eine längere Pause ein. Fabian wagte keine Erwiderung; er wußte, daß, wenn das Gesicht des jungen Schloßherrn so aussah wie jetzt, es sich nicht um Kleinigkeiten handelte, endlich oder trat er doch auf ihn zu und legte die Hand auf seine Schulter mit der leisen Frage:

„Waldemar, was ist denn gestern auf der Jagd vorgefallen?“

Waldemar blickte auf. „Auf der Jagd? Nichts! Wie kommen Sie darauf?“

„Weil Sie so grenzenlos verstimmt zurückkamen. Ich hörte freilich bei Tische einige Andeutungen über einen Streit zwischen Ihnen und dem Fürsten Baratowski –“

„Nicht doch!“ sagte Nordeck gleichgültig. „Leo war allerdings empfindlich, weil ich sein Lieblingspferd beim Reiten etwas unsanft behandelte, die Sache ist aber von gar keiner Bedeutung und bereits ausgeglichen.“

„Dann war es also etwas Anderes.“

„Ja – etwas Anderes.“

Es folgte ein erneutes secundenlanges Schweigen, dann begann der Doctor wieder:

„Waldemar, die Fürstin nannte mich neulich Ihren einzigen Vertrauten; ich hätte ihr entgegnen können, daß Sie überhaupt keinen Vertrauten haben. Etwas stehe ich Ihnen vielleicht näher, als alle Anderen, aber Ihr Inneres schließen Sie auch mir niemals auf. Müssen Sie denn durchaus Alles allein tragen und durchkämpfen?“

Waldemar lächelte, aber es war ein kaltes, freudloses Lächeln. „Sie müssen mich schon nehmen, wie ich nun einmal bin. Aber wozu denn die Besorgniß? Ich habe doch wohl bei all den Sorgen und Widerwärtigkeiten, die hier auf mich einstürmen, Grund genug, verstimmt zu sein.“

Der Doctor schüttelte den Kopf. „Das ist es nicht. Dergleichen reizt und erbittert Sie höchstens, aber die Stimmung, die Sie jetzt beherrscht, ist eine andere. So habe ich Sie nur einmal gesehen, Waldemar, damals in Altenhof, als –“

„Herr Doctor, ich bitte, verschonen Sie mich mit diesen Erinnerungen!“ unterbrach ihn Waldemar so rauh und ungestüm, daß Fabian zurückwich, aber er besann sich sofort wieder. „Es thut mir leid, daß auch Sie unter dem Aerger leiden müssen, den dieses Wilicza mir verursacht,“ fuhr er mit bedeutend gemilderter Stimme fort. „Es war überhaupt egoistisch von mir, daß ich Sie mit hierher nahm. Sie hätten nach J. zurückkehren sollen, wenigstens so lange, bis ich hier Ordnung geschafft habe und Ihnen ein ruhiges Asyl bieten kann.“

„Ich hätte Sie unter keiner Bedingung allein gelassen,“ erklärte Fabian mit seiner sanften Stimme, die aber diesmal etwas ungewöhnlich Bestimmtes hatte.

Waldemar reichte ihm wie zur Abbitte die Hand. „Das weiß ich ja, aber nun quälen Sie sich auch nicht länger mit meinen Sorgen, oder ich bereue es wirklich, offen gegen Sie gewesen zu sein. Sie haben genug mit Ihren eigenen Angelegenheiten zu thun. Wenn Sie nach J. schreiben, so sagen Sie dem Professor Weber einen Gruß von mir, und ich wäre eben dabei, Ihr Werk in’s Praktische zu übersetzen und meinen urslavischen Gütern etwas von der ‚Geschichte des Germanenthums‘ aufzuprägen; es thäte Noth hier in Wilicza. – Leben Sie wohl!“

Er ging. Doctor Fabian blickte ihm nach und seufzte. „Undurchdringlich und starr wie ein Fels, sobald man es versucht, diesem einen Punkte nahe zu kommen, und ich weiß doch, daß er bis auf den heutigen Tag noch nicht damit fertig geworden ist und es niemals werden wird. Ich fürchte, der unglückselige Einfluß, um dessen willen wir Wilicza so lange mieden, fängt wieder an, seine Kreise zu ziehen. Mag Waldemar es leugnen, wie er will, als er gestern von der Jagd zurückkam, habe ich es gesehen – er ist wieder in dem alten Bann.“


Es war am Abend desselben Tages. In Wilicza herrschte die vollste Ruhe und Stille im Gegensatz zu gestern, wo alles von Gästen schwärmte. Nach der Rückkehr von der Jagd hatte noch ein großes Souper stattgefunden, das sich bis in die Nacht hinein ausdehnte, und die meisten der Eingeladenen hatten erst am heutigen Morgen das Schloß verlassen. Auch Graf Morynski und Leo waren zum Besuch eines der Gutsnachbarn abgereist; sie beabsichtigten erst in einigen Tagen heimzukehren. Wanda war zur Gesellschaft ihrer Tante zurückgeblieben.

Die beiden Damen befanden sich also heute Abend allein im Salon; er war bereits erleuchtet, und die Vorhänge waren überall herabgelassen; man merkte hier drinnen nichts von dem rauhen Novembersturm, der draußen tobte. Die Fürstin saß auf dem Sopha, während die junge Gräfin von ihrem Sitze aufgestanden war; sie hatte den Sessel wie im Unmuth zurückgestoßen und ging unruhig im Zimmer auf und nieder.

„Ich bitte Dich, Wanda, verschone mich mit diesen Kassandrawarnungen!“ sagte die ältere Dame. „Ich wiederhole Dir, daß Dein Urtheil vollständig von Deiner Antipathie gegen Waldemar beeinflußt wird. Muß er denn nothgedrungen unser Aller Feind sein, weil Du fortwährend mit ihm auf dem Kriegsfuße stehst?“

Wanda hemmte ihren Schritt, und ein finsterer Blick flog zu der Sprechenden hinüber. „Vielleicht bereust Du es noch einmal, Tante, daß Du nur Spott für meine Warnungen hast,“ erwiderte sie. „Ich bleibe dabei, Du täuschest Dich in Deinem Sohne. Er ist weder so blind noch so gleichgültig, wie Du und Ihr Alle glaubt.“

„Willst Du mir statt all dieser dunkeln Prophezeiungen nicht lieber klar und deutlich sagen, was Du eigentlich fürchtest?“ fragte die Fürstin. „Du weißt, ich gebe in solchen Dingen nichts auf Meinungen und Ansichten – ich verlange Beweise. Woher kommt Dir der Verdacht, an dem Du so hartnäckig festhältst? Was hat Dir Waldemar eigentlich gesagt, als Du gestern mit ihm auf der Försterei zusammentrafest?“

Wanda schwieg. Dieses Zusammentreffen am Waldsee – nicht auf der Försterei, wie sie für gut gefunden hatte, ihrer Tante zu sagen – bewies doch im Grunde nichts für ihre Behauptungen, denn Waldemar hatte ihr gegenüber nicht das Geringste zugegeben, und sie hätte um keinen Preis der Welt die Einzelheiten ihres Gespräches mit ihm hier wiederholt. Sie konnte nichts anführen, als jenen seltsamen Instinct, welcher sie von Anfang an geleitet hatte bei der Beurtheilung eines Charakters, der sich sogar dem Scharfblick der Fürstin verhüllte, aber sie wußte sehr gut, daß sie Ahnungen und Instincte nicht geltend machen durfte, ohne ein Spottlächeln auf die Lippen ihrer Tante zu rufen.

„Wir sprachen nur wenig miteinander,“ entgegnete sie endlich, „aber es war genug, um mich zu überzeugen, daß er bereits mehr weiß, als er wissen sollte.“

„Das ist möglich,“ versetzte die Fürstin mit vollkommener Ruhe, „und darauf mußten wir früher oder später gefaßt sein. Ich zweifle zwar, daß Waldemar selbst Beobachtungen angestellt [646] hat, aber man wird ihm das Nöthige wohl drüben auf dem Gutshofe eingeflüstert haben, wo er mehr verkehrt, als mir lieb ist. Er weiß eben, was der Administrator weiß, und was auch in L. kein Geheimniß mehr ist, daß wir zu den Unseren halten. Ein tieferer Einblick ist ihm so wenig möglich wie den Anderen; danach haben wir unsere Maßregeln genommen. Uebrigens beweist seine ganze bisherige Haltung, daß ihm die Sache vollkommen gleichgültig ist, und sie kann es ihm auch sein, da sie ihn persönlich nicht im Mindesten berührt, in jedem Falle aber besitzt er Anstandsgefühl genug, seine nächsten Blutsverwandten nicht zu compromittiren. Ich habe das erprobt, als es sich um die Entlassung Frank’s handelte; sie war ihm unangenehm – das weiß ich, und doch zögerte er nicht, sich auf meine Seite zu stellen, weil ich bereits zu weit gegangen war, als daß er noch hätte widerrufen können, ohne mich preiszugeben. Ich werde sorgen, daß ihm auch in ernsteren Fällen keine Wahl bleibt, wenn er wirklich einmal Lust zeigen sollte, den Schloßherrn oder den Deutschen herauszukehren.“

„Du willst nicht hören,“ sagte Wanda resignirt. „So mag denn die Zukunft entscheiden, wer von uns Beiden Recht hat. – Jetzt noch eine Bitte, liebe Tante! Du hast wohl nichts dagegen, wenn ich morgen früh nach Hause zurückkehre?“

„So bald schon? Es war ja ausgemacht, daß Dein Vater Dich hier abholen sollte.“

„Ich bin einzig hier geblieben, um eine ungestörte Unterredung mit Dir über diesen Punkt zu haben; sonst hätte mich nichts in Wilicza zurückgehalten. Es war umsonst, wie ich sehe, – also laß mich fort!“

Die Fürstin zuckte die Achseln. „Du weißt, mein Kind, wie gern ich Dich um mich sehe, aber ich gestehe Dir offen, nach dem heutigen Zusammensein bei Tische habe ich nichts gegen Deine beschleunigte Abreise einzuwenden. Du und Waldemar, Ihr wechseltet ja auch nicht eine Silbe miteinander; ich mußte fortwährend den Doctor Fabian in’s Gespräch ziehen, um nur einigermaßen die Pein dieser Stunde zu überwinden; wenn Du Dich bei den doch nun einmal unvermeidlichen Begegnungen nicht mehr beherrschen kannst, so ist es wirklich besser, Du gehst.“

Trotz des sehr ungnädigen Tones, in welchem die Erlaubniß ertheilt wurde, athmete die junge Gräfin doch auf, als sei damit eine Last von ihr genommen.

„So werde ich den Papa benachrichtigen, daß er mich bereits in Rakowicz findet und nicht erst den Umweg über Wilicza zu nehmen braucht,“ sagte sie rasch. „Du erlaubst mir wohl auf einige Minuten Deinen Schreibtisch?“

Die Fürstin machte eine zustimmende Bewegung; diesmal hatte sie in der That nichts gegen die Abreise ihrer Nichte einzuwenden, denn sie war es müde, fortwährend zwischen ihr und Waldemar stehen zu müssen, um eine Scene oder gar einen vollständigen Bruch zu verhüten, mit dem Eigensinn der Beiden ließ sich nun einmal nichts anfangen. Wanda ging in das anstoßende Arbeitscabinet ihrer Tante, das nur eine halbgeöffnete Portière von dem Salon trennte, und setzte sich an den Schreibtisch. Sie hatte jedoch kaum die ersten Worte geschrieben, als ein rasches Oeffnen der Salonthür und ein fester, sicherer Schritt, der sogar auf dem weichen Teppich hörbar wurde, sie innehalten ließ. Gleich darauf ertöne Waldemar’s Stimme nebenan. Langsam legte die Gräfin die Feder nieder; man konnte sie hier im Cabinet unmöglich bemerken, und sie fühlte keine Veranlassung, ihre Gegenwart kund zu thun, sondern verharrte unbeweglich, den Kopf auf den Arm gestützt; es entging ihr kein Wort von dem, was im Salon gesprochen wurde.

Auch die Fürstin sah beim Eintritt ihres Sohnes überrascht auf. Er pflegte sie um diese Zeit niemals aufzusuchen. Waldemar brachte die Abende stets auf seinen eigenen Zimmern zu, in der ausschließlichen Gesellschaft des Doctor Fabian. Heute aber schien ein Ausnahmefall stattzufinden, denn er nahm nach kurzer Begrüßung an der Seite seiner Mutter Platz und begann von der gestrigen Jagd zu sprechen.

Einige Minuten lang drehte sich die Unterhaltung um gleichgültige Dinge. Waldemar hatte ein auf dem Tische liegendes Album mit Aquarellzeichnungen ergriffen und blätterte darin, während die Fürstin sich in die Sophakissen zurücklehnte.

„Hast Du schon gehört, daß Dein Administrator beabsichtigt, selbst Gutsherr zu werden?“ warf sie im Laufe des Gespräches hin. „Er geht ernstlich damit um, sich in der Nachbarschaft anzukaufen. Die Stellung in Wilicza muß doch sehr einträglich gewesen sein, denn so viel ich weiß, besaß Frank kein Vermögen als er hierher kam.“

„Er hat aber zwanzig Jahre lang ein sehr bedeutendes Einkommen gehabt,“ meinte Waldemar, ohne von den Blättern aufzusehen. „Nach der Art, wie sein Haushalt eingerichtet ist, kann er kaum die Hälfte davon verbraucht haben.“

„Und nebenbei wird er auch wohl seinen Vortheil wahrgenommen haben, wo und wie es nur anging. Doch das bei Seite – ich wollte Dich fragen, ob Du schon an einen Ersatz für ihn gedacht hast?“

„Nein.“

„So möchte ich Dir einen Vorschlag machen. Der Pächter von Janowo vermag das Gut nicht mehr zu halten; er ist durch unverschuldete Unglücksfälle zurückgekommen und genöthigt, sich wieder in Abhängigkeit zu begeben. Ich glaube, daß er sich für die Stellung in Wilicza ganz außerordentlich eignen würde.“

„Ich glaube es nicht,“ sagte Waldemar sehr ruhig. „Der Mann ist den ganzen Tag betrunken und hat seine Pachtung durch eigene Schuld und in der unverantwortlichsten Weise zu Grunde gerichtet.“

Die Fürstin biß sich auf die Lippen. „Wer hat Dir das gesagt? Der Administrator jedenfalls.“

Der junge Gutsherr schwieg, während seine Mutter in etwas gereiztem Tone fortfuhr:

„Ich denke begreiflicher Weise nicht daran, Dich in der Wahl Deiner Beamten zu beeinflussen, aber in Deinem eigenen Interesse möchte ich Dich doch warnen, den Verleumdungen Frank’s so unbedingten Glauben zu schenken. Der Pächter ist ihm als Nachfolger unbequem und deshalb intriguirt er gegen ihn.“

„Schwerlich,“ versetzte Waldemar mit derselben Gelassenheit wie vorhin, „denn er weiß bereits, daß ich ihm keinen Nachfolger zu geben gedenke. Für die Details der Wirthschaft genügen die beiden deutschen Inspectoren vollkommen, und was die Oberleitung betrifft, so werde ich sie selbst in die Hand nehmen.“

Die Fürstin stutzte. Es war, als ob ihr etwas plötzlich den Athem raube. „Du selbst?“ wiederholte sie. „Das ist mir neu.“

„Das sollte es doch nicht sein. Es ist ja stets die Rede davon gewesen, daß ich meine Güter einmal selbst übernehmen würde. Der Universitätsbesuch und die Reisen haben das wohl verzögert, aber doch nicht aufgehoben. Die Land- und Forstwirthschaft kenne ich genügend, dafür hat mein Vormund als mein Erzieher gesorgt. Ich werde allerdings einige Mühe haben, mich in die hiesigen Verhältnisse hineinzufinden, aber bis zum Frühjahre bleibt mir ja noch Frank zur Seite.“

Er warf das Alles mit einer Gleichgültigkeit hin, als sage er ganz selbstverständliche Dinge, und schien dabei so vollständig in die Betrachtung einer Aquarellzeichnung vertieft zu sein, daß er die Bestürzung seiner Mutter gar nicht gewahrte. Diese hatte sich aus ihrer nachlässigen Stellung aufgerichtet und sah ihn forschend und unverwandt an, aber sie machte dieselbe Erfahrung wie gestern ihre Nichte – aus diesem Antlitze ließ sich nichts herauslesen.

„Es ist doch seltsam, daß Du nie ein Wort über diesen Entschluß hast fallen lassen,“ bemerkte sie. „Du ließest uns Alle nur an einen kurzen Besuch glauben.“

„Er war auch anfangs beabsichtigt, aber ich sehe, daß den Gütern die Hand des Herrn fehlt. Uebrigens,“ fuhr er nach einer Pause fort, „habe ich mit Dir zu reden, Mutter.“

Er schloß das Buch und warf es auf den Tisch. Jetzt zum ersten Mal kam der Fürstin der Gedanke, der „Instinct“ Wanda’s könne doch richtiger gesehen haben als ihr eigener sonst so untrüglicher Blick; sie sah den Sturm kommen, aber sie war auch sofort bereit, ihm zu begegnen, und der Ausdruck von Entschlossenheit in ihrem Gesichte ließ keinen Zweifel darüber, daß es ein schwerer Kampf sein werde, den der Sohn mit ihr zu bestehen hatte.

„So sprich!“ sagte sie kalt. „Ich höre Dir zu.“

[674] und wollte man ihnen auch ausweichen – es geht nicht; denn die allgemeine Aufregung hat sich auch der Rosse bemächtigt. So geht es dahin im wilden Laufe über Stock und Stein, über Wurzeln und Gräben, hier einen abschüssigen Hang hinab, dort wieder hinauf. Hussa und Hörnerklang hallt durch den weiten Wald. Durch das Gezweige leuchten überall, gleich fliegenden rothen Streifen, die bunten Jagdkleider.

Nun haben die Hunde den Keiler aufgespürt und erreicht; einige hängen sich an seine Ohren, um seine Flucht zu hemmen. Vergeblich sucht das gehetzte Thier die Meute von sich zu schütteln; – schon sind auch die Reiter auf seinen Fersen. Lautes Hallali wiederhallt im Forste und verkündigt das Ereigniß der Jagdgesellschaft. Während diese sich alsdann rings um den Prinzen versammelt, wird der todte Eber auf den Wagen gehoben und mit Laub und Tannenzweigen bedeckt. Jeder der Jagdgenossen, welcher dem Hallali beiwohnt, empfängt aus den Händen des Prinzen einen grünen Zweig. So geschmückt, treten die Reiter, dem Wagen folgend, unter fröhlichem Hörnerklang den Zug nach dem Jagdschlosse an, wo ein einfaches waidmännisches Mahl eingenommen wird.

[675] doch hoffentlich keiner Rechtfertigung. Du bist mein Sohn, so gut wie Du der Deines Vaters bist, und das Blut der Morynski fließt auch in Deinen Adern.“

Waldemar fuhr auf, als wolle er mit vollster Heftigkeit gegen diese Behauptung protestiren, aber noch siegte in ihm die Selbstbeherrschung.

„Es ist wohl das erste Mal in Deinem Leben, daß Du mir überhaupt einen Antheil an diesem Blute zugestehst,“ antwortete er schneidend. „Bisher hast Du in mir immer nur den Nordeck gesehen und – verachtet. In Worten freilich zeigtest Du mir das nie, aber denkst Du, ich verstehe es nicht, Blicke zu deuten? Ich habe oft genug gesehen, mit welchem Ausdruck die Deinigen sich von Leo oder Deinem Bruder auf mich wandten. Du hast die Erinnerung an Deine erste Ehe wie an eine Schmach und Erniedrigung von Dir geworfen, hast an der Seite des Fürsten Baratowski, in der Liebe Deines Jüngstgeborenen nicht nach mir gefragt, und als die Verhältnisse Dich zwangen, Dich mir wieder zu nähern, da war ich wohl das Letzte, was Du suchtest. Ich mache Dir keinen Vorwurf daraus, mein Vater mag ja Vieles an Dir gesündigt haben, so viel, daß Du seinen Sohn unmöglich lieben konntest, aber eben deshalb wollen wir uns auch nicht auf Gefühle und Beziehungen berufen, die zwischen uns nun einmal nicht existiren. Ich werde Dir in der nächsten Zeit wohl beweisen müssen, daß ich auch nicht einen Tropfen von dem Blute der Morynski in mir habe. Auf Deinen Leo magst Du es vererbt haben – ich bin aus anderem Stoffe gemacht.“

„Ich sehe es,“ sagte die Fürstin tonlos, „aus anderem, als ich dachte. Ich habe Dich nie gekannt.“

Er schien den Einwurf nicht zu beachten. „Du begreifst es also wohl, daß ich die Verwaltung der Güter jetzt in meine eigene Hand nehme,“ begann er wieder. „Und nun noch eine Frage – was waren das für Conferenzen, die gestern nach dem Souper bei Dir stattfanden und sich bis in den Morgen hinein ausdehnten?“

„Waldemar, das geht mich allein an,“ erklärte die Mutter mit eisiger Abwehr. „In meinen Zimmern werde ich doch wenigstens noch Herrin sein.“

„Unbedingt, sobald es sich um Deine Angelegenheiten handelt; für Parteizwecke gebe ich Wilicza nicht länger her. Ihr haltet hier Eure Zusammenkünfte – von hier aus gehen die Befehle über die Grenze und kommen die Botschaften von dort; die Keller des Schlosses liegen voll Waffen. Ihr habt ein ganzes Arsenal da unten zusammengehäuft.“

Die Fürstin war bei den letzten Worten todtenbleich geworden, aber sie hielt auch diesem Schlage Stand. Nicht eine Muskel ihres Gesichtes zuckte, als sie erwiderte: „Und weshalb sagst Du mir das Alles? Weshalb gehst Du nicht nach L., wo man Deine Entdeckungen sehr bereitwillig aufnehmen wird? Du hast ja ein so ausgezeichnetes Talent zum Spion bewiesen, daß es Dir nicht viel Ueberwindung kosten kann, nun auch noch zum Denuncianten zu werden.“

„Mutter!“ Es war ein Aufschrei der leidenschaftlichsten Wuth, der von den Lippen des jungen Mannes fuhr, und seine geballte Hand fiel mit zerschmetterndem Schlage auf die Lehne des Sessels nieder. Die alte Wildheit brach wieder hervor und drohte all die mühsam errungene Selbstbeherrschung der letzten Jahre mit sich fortzureißen. Er bebte am ganzen Körper, und sein Aussehen war derart, daß die Mutter unwillkürlich die Hand an die Klingel legte, als wollte sie Hülfe herbeirufen, aber gerade diese Bewegung brachte Waldemar wieder zu sich. Er wendete sich stürmisch ab und trat an das Fenster.

Es vergingen einige stumme peinliche Minuten. Die Fürstin empfand bereits, daß sie sich zu weit hatte fortreißen lassen, sie, die Kalte, Besonnene, ihrem Sohne gegenüber. Sie sah, wie furchtbar er mit seinem Jähzorne rang und was dieses Ringen ihm kostete, aber sie sah auch, daß der Mann, der mit so eiserner Energie eine unglückliche Naturanlage, das verhängnißvolle Erbtheil seines Vaters, niederzuzwingen wußte, ein ebenbürtiger Gegner war.

Als Waldemar zu ihr zurückkehrte, war der Anfall vorüber. Er hatte die Arme übereinandergeschlagen, als müsse er sich gewaltsam zur Ruhe zwingen; seine Lippen zuckten noch, aber seine Stimme klang schon wieder beherrscht.

„Als Du damals in C. die Zukunft meinem Bruders meiner ‚Großmuth‘ übergabst, da dachte ich nicht, daß sie mir das eintragen würde. Spion! Weil ich mich unterfing, die Decke von den Geheimnissen meines Schlosses zu heben! Ich könnte Dir ein anderes Wort entgegensetzen, das noch schlimmer klingt. Wer genießt das Gastrecht in Wilicza, Du oder ich, und wer hat es gebrochen?“

Die Fürstin sah finster vor sich nieder. „Wir wollen nicht darüber streiten. Ich habe gethan, was mir Recht und Pflicht hieß, aber es wäre nutzlos, Dich davon überzeugen zu wollen. Was gedenkst Du zu thun?“

Waldemar schwieg einen Moment lang, dann sagte er mit gesenkter Stimme, aber jedes einzelne Wort betonend: „Ich reise morgen ab. Ich gehe in Geschäften nach P. und kehre erst in acht Tagen zurück. Bis dahin wird Wilicza frei sein von Allem, was es jetzt Ungesetzliches birgt; bis dahin werden all die Verbindungen abgebrochen sein, soweit sie das Schloß berühren. Verlege sie nach Rakowicz oder wohin Du willst, aber mein Gebiet bleibt frei davon. Unmittelbar nach meiner Rückkehr findet hier eine zweite größere Jagd statt, der auch der Präsident und die Officiere der Garnison von L. beiwohnen werden. Du hast wohl die Güte, als Repräsentantin des Hauses Deinen Namen mit unter die Einladungen zu setzen?“

„Nein!“ erklärte die Fürstin energisch.

„So unterzeichne ich die Briefe allein. Geladen werden die Gäste jedenfalls; es ist nothwendig, daß ich endlich einmal Stellung nehme in der Frage, die jetzt die ganze Provinz beschäftigt. Man muß in L. wissen, auf welcher Seite man mich zu suchen hat. Es steht Dir allerdings frei, an dem betreffenden Tage krank zu sein oder zu Deinem Bruder zu fahren, ich gebe Dir aber zu bedenken, ob es gut ist, wenn das Zerwürfniß zwischen uns öffentlich und damit unwideruflich wird. Noch bleibt uns Beiden die Möglichkeit, diese Stunde und dieses Gespräch zu vergessen. Ich werde Dich nicht wieder daran erinnern, sobald ich mich überzeuge, daß meine Forderungen erfüllt sind; es steht also bei Dir, was Du thun willst. Ich habe Leo’s Entfernung abgewartet, weil sein heißes Temperament eine solche Scene nicht ertragen hätte, und weil ich ihm und dem Grafen Morynski die Demüthigung ersparen wollte, das, was doch nun einmal durchaus gesagt werden muß, aus meinem Munde zu vernehmen; von Dir werden sie es eher hören können. Ich bin es nicht, der den Bruch will.“

„Und wenn ich nun den Befehlen, die Du mir so tyrannisch zuschleuderst, nicht nachkäme?“ fragte die Fürstin langsam. „Wenn ich Deinem anerkannten Erbrechte das meinige entgegensetzte, ich, die Wittwe Deines Vaters, die nur ein ungerechtes, unerhörtes Testament von dem Orte vertrieb, der von Rechtswegen ihr Wittwensitz hätte sein sollen? Vor den Gesetzen werde ich allerdings nichts damit ausrichten, aber mir giebt es die Ueberzeugung, daß ich Dir auf diesem Boden nicht zu weichen habe, und ich weiche Dir nicht. Die Fürstin Baratowska müßte nach dem, was Du ihr soeben anzuhören gegeben hast, mit ihrem Sohne gehen, um nicht zurückzukehren – die einstige Herrin von Wilicza behauptet ihr Recht. Sei auf Deiner Hut, Waldemar! Ich könnte Dich eines Tages vor die Nothwendigkeit stellen, entweder Dein Herrscherwort von vorhin zu widerrufen oder Deine Mutter und Deinen Bruder dem Schlimmsten preiszugeben.“

„Versuche es,“ sagte Waldemar kalt, „aber mache mich nicht verantwortlich für das, was dann geschieht!“

Sie standen einander gegenüber, Auge in Auge, und es war seltsam, daß gerade jetzt eine Aehnlichkeit zwischen Beiden hervortrat, die bisher noch Allen entgangen war, eine Einzige ausgenommen. „Die Stirn mit der seltsam gezeichneten blauen Ader hat er von Dir,“ hatte Wanda einst zu ihrer Tante gesagt, und in der That, es war dieselbe hohe machtvolle Wölbung, derselbe eigenthümliche Zug an den Schläfen. Auch bei der Fürstin prägte sich jetzt in der äußersten Erregung die blaue Ader deutlich aus, während sie bei Waldemar so gefahrdrohend anschwoll, als wolle das emporstürmende Blut sich dort einen Ausweg suchen. Und auf Beider Antlitz stand der gleiche Ausdruck, eine unbeugsame Entschlossenheit, ein eiserner Wille, der bereit ist, Alles an seine Ausführung zu setzen. Jetzt, wo sie einander den Kampf auf Leben und Tod ankündigten, zeigte es sich zum ersten Male, daß sie wirklich Mutter und Sohn waren; vielleicht fühlten sie es auch zum ersten Male.

[676] Waldemar trat unmittelbar neben die Fürstin, und seine Hand legte sich schwer auf ihren Arm.

„Meiner Mutter habe ich den Rückzug offen gelassen,“ sagte er bedeutsam. „Der Fürstin Baratowska verbiete ich die Parteiumtriebe auf meinen Gütern. Geschieht es dennoch, treibt Ihr mich zum Aeußersten, nun denn, so schreite ich auch dazu und müßte ich Euch Alle –“

Er hielt plötzlich inne. Die Mutter fühlte, wie er zusammenzuckte, wie seine Hand, die mit so eisernem Drucke die ihrige festhielt, sich auf einmal löste und machtlos niedersank; mit äußerster Befremdung folgte sie der Richtung seines Blickes, der wie gebannt an der Thür des Arbeitscabinetes hing – dort auf der Schwelle stand Wanda. Sie war, unfähig sich länger zurückzuhalten, hervorgetreten, und die heftige Bewegung, mit der dies geschah, hatte ihre Gegenwart verrathen.

Ein Blitz des Triumphes schoß aus den Augen der Fürstin. Endlich war die verwundbare Stelle im Herzen ihres Sohnes gefunden. Wenn er sich auch im nächsten Momente wieder zusammenraffte und starr und unzugänglich dastand wie vorhin, es war zu spät – der eine unbewachte Augenblick hatte ihn verrathen.

„Nun, Waldemar?“ fragte sie, und es vibrirte wie leiser Hohn in ihrer Stimme. „Es verletzt Dich doch nicht, daß Wanda Zeuge unseres Gespräches geworden ist? Es galt ja zum großen Theile auch ihr. Jedenfalls bist Du ihr und mir noch die Fortsetzung schuldig. Du wolltest uns Alle –?“

Waldemar war einen Schritt zurückgetreten. Er stand jetzt im Schatten, sodaß sein Gesicht sich jeder Beobachtung entzog.

„Da Gräfin Morynska Zeuge des Gesprächs war, bedarf es keiner Erklärung; ich habe nichts hinzuzufügen.“ Er wandte sich zu seiner Mutter. „Ich reise morgen in aller Frühe. Du hast acht Tage Zeit, Dich zu entscheiden. Es bleibt dabei.“ Damit verneigte er sich abgemessen wie gewöhnlich vor der jungen Gräfin und ging.

Wanda hatte während der ganzen Zeit auf der Schwelle gestanden, ohne den Salon zu betreten; erst jetzt trat sie vollends ein, und sich ihrer Tante nähernd, fragte sie leise, aber mit eigenthümlich bebendem Tone:

„Glaubst Du mir nun?“

Die Fürstin war in das Sopha zurückgesunken. Ihr Auge haftete noch am der Thür, durch die ihr Sohn sich entfernt hatte, als wolle und könne sie das eben Geschehene nicht fassen.

„Ich habe ihn immer nur nach seinem Vater beurtheilt,“ sagte sie, wie mit sich selber sprechend, „der Irrthum rächt sich schwer an uns Allen. Er hat mir gezeigt daß er – nicht wie sein Vater ist.“

„Er hat Dir wohl noch mehr gezeigt. Du warst stets so stolz darauf, Tante, daß Leo Deine Züge trägt; von Deinem Charakter hat er wenig geerbt – den mußt Du bei seinem Bruder suchen. Das war Deine Energie, die Dir vorhin so drohend gegenüberstand, Dein unbeugsamer Wille; das war sogar Dein Blick und Ton – Waldemar ist Dir ähnlicher, als es Leo je gewesen.“

Es lag etwas in der Stimme der jungen Gräfin, das die Fürstin aufmerksam machte. „Und wer lehrte denn gerade Dich diesen Charakter mit solcher Sicherheit enträthseln?“ fragte sie scharf. „War es Deine Feindseligkeit gegen ihn, die Dich so tief schauen ließ, wo wir Alle getäuscht wurden?“

„Ich weiß es nicht,“ versetzte Wanda, den Blick senkend, „es war wohl mehr Ahnung als Beobachtung, die mich leitete, aber ich wußte es vom ersten Tage an, daß wir in ihm einen Feind hatten.“

„Gleichviel!“ erklärte die Fürstin mit Entschiedenheit. „Er ist und bleibt mein Sohn. Du hast Recht, er hat mir heute zum ersten Male gezeigt, daß er es wirklich ist, aber eben darum wird seine Mutter ihm wohl gewachsen sein.“

„Was willst Du thun?“ fiel Wanda ein.

„Den Kampf aufnehmen, den er mir bietet. Denkst Du, ich werde seinen Drohungen weichen? Wir wollen doch abwarten, ob er wirklich zum Aeußersten schreitet.“

„Er schreitet dazu – verlaß Dich darauf! Rechne nicht auf irgend eine Weichheit oder Nachgiebigkeit bei diesem Manne! Er opfert Dich, Leo, uns Alle schonungslos dem, was ihm Recht heißt.“

Die Fürstin streifte mit einem langen forschenden Blicke das erregte Antlitz ihrer Nichte. „Mich und Leo vielleicht,“ entgegnete sie, „ich kenne aber jetzt die Stelle, wo seine Kraft erlahmt; ich weiß, was er nicht opfert, und es soll meine Sorge sein, ihm das im entscheidenden Augenblicke entgegenzustellen.“

Wanda sah ihre Tante an, ohne sie zu verstehen. Sie hatte nichts weiter bemerkt als Waldemar’s plötzliches Verstummen, das sich natürlich durch ihr unerwartetes Erscheinen genug erklärte, und dann wieder seine starre, abweisende Haltung ihr und der Mutter gegenüber; sie konnte also nicht errathen, wohin diese Worte zielten, und die Fürstin ließ ihr auch keine Zeit, darüber nachzudenken.

„Wir müssen einen Entschluß fassen,“ fuhr sie fort. „Vor allen Dingen muß mein Bruder benachrichtigt werden. Da Waldemar morgen früh abreist, fällt der Grund zu Deiner beschleunigten Rückkehr fort. Du bleibst also und rufst Deinen Vater und Leo unverzüglich nach Wilicza zurück. Was sie auch vorhaben mögen, es handelt sich hier um das Wichtigste. Ich lasse Deinen Brief noch heute durch einen Eilboten abgehen und morgen Abend können sie hier sein.“

Die junge Gräfin gehorchte. Sie kehrte in das Arbeitscabinet zurück und setzte sich wieder an den Schreibtisch, vorläufig noch ohne Ahnung, welche Rolle sie auf einmal in den Plänen ihrer Tante spielte. Die längst abgethane und vergessene „Kinderei“ gewann eine ganz andere Bedeutung, seit man wußte, daß sie eben nicht abgethan und vergessen war, hatte sie doch schon einmal geholfen, die Herrschaft über Wilicza zu erobern. Die Fürstin konnte es ihrem Sohne nicht vergessen, daß er sich so entschieden und beleidigend weigerte, das Blut der Morynski in seinen Adern anzuerkennen. Nun denn, so sollte er dafür an einer Morynska scheitern – wenn es auch nicht seine Mutter war.