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Vetter Gabriel

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Autor: Paul Heyse
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Titel: Vetter Gabriel
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 19–22, S. 289–292, 305–309, 321–324, 337–340
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[289]
Vetter Gabriel.
Von Paul Heyse.


In einer rheinischen Stadt, die durch die Schönheit und Munterkeit ihrer Frauen und Mädchen berühmt ist, ging eines heiteren Septemberabends ein junger Mann mit hastigen Schritten die Hauptstraße hinab auf das ansehnlichste Privathaus zu, in welchem von allen Schönen die Schönste wohnte. Er war eben mit dem Dampfschiff, das rheinaufwärts fuhr, gelandet und hatte sich auf dem fliegenden Steg allen anderen Passagieren vorgedrängt, als könne er die Zeit nicht erwarten, bis er den Fuß auf festen Boden setzte. Trotz des frischen Abendwindes trug er den mit schwarzem Flor umwundenen Strohhut in der Hand; sein blondbärtiges Gesicht war stark geröthet, das lose geknüpfte Halstuch schien ihm noch immer den Athem einzuengen; gleichwohl sprach er im raschen Gehen abgerissene Sätze vor sich hin, stand dann wieder, wie um Luft zu schöpfen, und benahm sich überhaupt so wunderlich selbstvergessen, daß mancher Vorübergehende ihn im Verdacht hatte, er habe wohl bei irgend einer Mostprobe den Gehalt des heurigen Jahrganges zu gründlich untersucht. Damit that man ihm nun freilich schweres Unrecht. Wenn er berauscht war, war es nicht von jungem Wein, sondern von alter Liebe, seiner ersten und einzigen, deren Aufblühen in unvordenkliche Tage, in die übermüthige Knabenzeit, zurückdatirte und somit Muße genug gehabt hätte, auszugähren und zu einem gesunden Haustrunk heranzureifen. Aber mancherlei Schicksale hatten diese friedliche Entwickelung gehemmt, und wenn wir verrathen, daß in den letzten zwei Jahren und sieben Monaten der jugendliche Phantast die Straße, die zu seiner Schönen führte, mit keinem Fuß betreten hatte, obwohl er nur drei Stunden rheinabwärts auf seinem Weinberg haus’te, so wird es Niemand befremden, daß ihm jetzt bei dem hastigen Gang Herzklopfen und Beklommenheit übermächtig zu schaffen machten.

Auch blieb er, vor dem bewußten Hause, Nummer 27 in der Rheinstraße, angelangt, wohl fünf Minuten unten an der stattlichen Pforte stehen, ehe er den Muth fassen konnte, die breiten Sandsteinstufen zu betreten. Er betrachtete die schöngeschnitzten Löwenköpfe an den schweren ehernen Klopfern, als könnten sie Orakelsprüche aus ihren Rachen erschallen lassen. Dann sah er zum Balcon hinauf, dessen zierlich vergoldetes Geländer ganz mit Schlinggewächsen überhangen war. Auf dem hatte er manch liebes Mal gestanden, bei Tag und Nacht; es war ihm wie gestern, daß er der Straßenjugend von droben herab Confect und Früchte vom Nachtisch eines großen Schmauses zugeworfen hatte, den der Hausherr zu Ehren seiner schönen Tochter an ihrem Geburtstage gegeben. Dann war die achtzehnjährige Geliebte hinter ihn getreten und hatte gesagt: „Was machst Du wieder, Vetter? Du hast immer Possen vor. Wenn der Vater das sähe!“ – Und er hatte erwidert: „Soll das Gesindel da unten nicht auch was davon haben, daß Du auf der Welt bist, Bäschen?“ – Und nun hatte sie sich selbst von seinem Muthwillen anstecken lassen und alles Geld aus ihrer Börse unter die jauchzenden Buben und Mägdlein ausgeworfen und dann dem Tumult zugesehen mit einer Miene, wie eine Königin am Krönungstage; er aber war sich wie der König vorgekommen, und selbst die Dazwischenkunft des gestrengen Papas, der ihn trotz des Festtages noch einmal in’s Comptoir schickte, um einen dringenden Brief zu schreiben, hatte seine stolze Glückslaune nicht niederzuschlagen vermocht. Er war allerdings nur ein armer Commis, der von den Unterstützungen einer alten Tante lebte, und wenn ihn auch die Tochter des Hauses Vetter nannte, er selbst wagte es nicht, den Herrn des Hauses Onkel zu nennen. Besagte alte Tante war auch freilich nicht die Schwester, sondern nur eine weitläufige Cousine des reichen Kaufmannes, in dessen Haus und Geschäft ihr Neffe seit einigen Jahren aufgenommen war, und wenn der junge Mann sich nicht so brauchbar und unermüdlich gezeigt hätte, seinem Principal zu dienen, die Verwandtschaft und gar die Jugendfreundschaft mit dem Bäschen hätten ihm dieses vornehme Haus eher verschlossen als geöffnet. Bei alledem hatte er sich durch sein fröhliches Wesen und seine guten Manieren nach und nach so eingebürgert, daß selbst der einsilbige Herr Chef hinter seiner goldenen Brille dann und wann einen wohlwollenden Blick für ihn hatte, und keinem nichtigen Grunde und Niemand als sich selbst durfte er es zuschreiben, daß plötzlich dies Alles ein Ende mit Schrecken genommen.

Auch diese Erinnerung tauchte wieder in ihm auf, aber das Bittere daran war verschwunden in der Hochfluth seliger Hoffnungen, die jetzt durch sein Herz stürmten. Er nickte dem Portier, der ihn verwundert ansah, fast gönnerhaft zu und erstieg noch ganz so im Fluge wie sonst die teppichbelegte Treppe, mußte aber auf dem ersten Absatz ausruhen, um Athem zu schöpfen. Da brach er von einem mächtigen Oleanderbaume, der unter andern Tropengewächsen den Flur schmückte, eine Blüthe ab und steckte sie als Vorzeichen des Sieges in’s Knopfloch. Dabei kam ihm der Ring mit dem Smaragd, den er am kleinen Finger trug, vor die Augen. Er hatte ihn heute erst angesteckt und dachte ihn nicht lange zu tragen. Nun drehte er ihn am Finger herum, als könne er einen dienstbaren Genius damit heranbeschwören, zog aber, als nichts Wunderbares geschah, einen kleinen Kamm aus der Tasche, [290] um seinen dicken Haarbusch von der Stirn zurückzubändigen, und musterte sich dabei in dem hohen Spiegel neben den Blumen, der seine kraftvolle Gestalt vortheilhaft genug darstellte, um ihm alle Geisterhülfe bei seinem Vorhaben entbehrlich erscheinen zu lassen.

Er war, außer dem lichtgrauen Rock, ganz weiß gekleidet, das schwarzseidene Halstuch in einen flotten Knoten geschlungen, Alles in Allem eine schmucke Erscheinung, die sich selbst in diesem mit dem üppigsten Geschmack ausgestatteten Hause wohl sehen lassen durfte.

Eben wollte er die letzte Stufe ersteigen, als er aus der Thür, die in den Salon führte, eine Mädchengestalt treten sah, in Hut und Mantille, zum Ausgehen gerüstet. Das Gesicht sah er nicht sogleich, da die schöne Schlanke den Kopf zurückgewendet hatte, um einer Zofe einen Auftrag zu hinterlassen. Aber hätte er auch die Stimme nicht gehört, schon der Schatten dieser Gestalt hätte ihm verrathen, daß es die war, die er suchte. Mit einem Sprung war er oben. „Bäschen,“ rief er, „kennst Du mich noch?“

Sie wandte sich nach ihm um. „Mein Gott!“ sagte sie und trat, wie vor einem Gespenst erschreckend, einen Schritt zurück – „Du bist’s?“

„Kein Schlechterer, als meine arme Wenigkeit,“ versetzte er und versuchte zu lachen. Aber die Heiterkeit verging ihm schnell. Denn obwohl nur ein falber Rest von Tageslicht in dem Treppenflur herrschte, konnte er doch sehen, wie todtenblaß sie geworden war und in wie heftiger Bewegung sie an dem Pfosten der hohen Flügelthür einen Halt suchte.

Ein paar Minuten standen sie so einander gegenüber, jedes suchte nach einem gleichgültigen Wort, das den jahrelang zerrissenen Faden wieder anknüpfen sollte.

„Bäschen,“ sagte er endlich, „ist Dir nicht wohl? Ich habe Dich erschreckt, nicht wahr? Es war recht ungeschickt von mir, so aus dem Hinterhalt aufzutauchen. Ich hätte mich sollen ordentlich anmelden lassen; dachte freilich nicht, daß das Wiedersehen Dich so unliebsam überraschen könnte.“

„Es ist schon vorbei,“ sagte sie mit mühsam gewonnenem Athem. „Ich war allerdings nicht darauf gefaßt – es ist schon lange her – und ich dachte eben an ganz andere Dinge – auch bin ich etwas nervös geworden, mußt Du wissen, seit dem Einbruch hier im Hause, von dem Du vielleicht in der Zeitung gelesen hast. Verzeih’ mir, Vetter, daß ich Dich nicht besser empfangen habe. Es ist ja recht hübsch von Dir, Dich einmal wieder sehen zu lassen.“

Sie schwieg wieder und athmete tief. Er wartete vergebens, daß sie ihm eine Hand reichen würde. „Cornelie,“ sagte er, „Du hast ausgehen wollen. Laß Dich nicht stören. Ich komme ein ander Mal wieder.“

Schon verneigte er sich und setzte den Fuß auf die Treppe, als sie plötzlich ihrer Stimmung Herr geworden schien und eine kleine zierliche Hand im Handschuh ihm entgegenstreckte. „Wo denkst Du hin?“ sagte sie. „Du willst doch nicht im Ernst wieder fort, ohne die Eltern gesehen zu haben? Sie sind gerade ausgefahren, müssen aber jeden Augenblick zurückkommen. Und mit meinem Ausgang hat es nicht die mindeste Eile. Ich wollte nur über die Straße in die Musikalienhandlung, mir neue Noten zu holen. Komm, Vetter. Es ist ja eine halbe Ewigkeit, daß man nicht mehr die Ehre gehabt hat –“

Sie trat in den Salon zurück, und obwohl er ihre Hand nur flüchtig gedrückt hatte, zog es ihn doch willenlos wie in früherer Zeit ihr nach. Da war noch Alles, wie damals, der große Flügel mitten im Zimmer, die zwei hohen Palmen zur Seite der Balconthür, der Papagei auf seinem blanken Kletterbaum, der noch immer gurgelte: „Ach Gott, wird’s heute regnen?“ und über dem seidenen Divan die große spinatgrüne Alpenlandschaft mit der Schafheerde und der abendröthlichen Jungfrau im Hintergründe, in der seine Augen so oft spazieren gegangen waren, wenn große Gesellschaft war und das Bäschen sang. Alles noch auf dem alten Fleck, und nur die Hauptsache verrückt und verschoben. Denn war die ernsthafte junge Dame, die jetzt ihm gegenüber auf dem Divan saß, in Hut und Mantille, und mit der Spitze ihres Sonnenschirmchens das Teppichmuster nachzeichnete, war das sein Bäschen, mit dem er so oft in diesem Gemach die tollsten Kinderein getrieben hatte, daß die Palmenzweige von der Erschütterung der Luft durch ihr helles Gelächter erbebten und der Papagei immer ängstlicher dazwischenkreischte? Freilich, sie war indessen in die Zwanzig gekommen, und wer weiß, was sie Alles erlebt haben mochte, seit er sie nicht gesehen! Nachdenklich hätte sie immerhin sein dürfen. Aber warum so fremd und kühl, daß die eisgepanzerte Jungfrau auf der Landschaft, zumal in ihrem Alpenglühen, ihm wärmer vorkam als die Stirn des schönen Mädchens ihm gegenüber?

Er wußte auch wirklich anfangs nichts Anderes vorzubringen, als die landläufigsten Fragen nach ihrer Gesundheit und der ihrer lieben Eltern, und ob sie im Sommer verreist gewesen sei und noch fleißig Musik treibe, und wie Blanche, ihr kleines Windspiel, sich befinde, ob es noch so gern Biscuit esse. Auf all’ diese Fragen antwortete sie mit der freundlichsten Gleichgültigkeit und erkundigte sich ebenso ihrerseits nach der letzten Krankheit seiner guten Tante, die vor drei Monaten gestorben. Er hatte es ihr und den Ihrigen durch einen lithographirten schwarzgeränderten Brief angezeigt. Da erzählte er nun, während er den Flor seines Strohhutes glatt zupfte, wie schwere Zeit er mit der guten, fast tauben Alten durchgemacht habe, die ihn das letzte Jahr nicht einen Tag habe entbehren wollen. Er wurde bei aller aufrichtigen Trauer um seine Wohlthäterin ganz humoristisch, als er ihr Zusammenleben auf dem Weingut beschrieb, die allabendliche Rabouge, die er mit ihr spielen mußte, ihre Leidenschaft, die unerhörtesten neuen Gerichte zu erfinden, die sie dann trotz seines Protestes vorzüglich fand und in einem Kochbuch, an dem sie arbeitete, ausführlich beschrieb; ihre Wohlthätigkeit gegen das durchtriebenste Gesindel, das richtig immer die Stunde abzupassen wußte, wo der Herr Neffe nicht zu Hause war, endlich ihre wahrhaften Verdienste um den Weinbau, worin sie es mit dem kundigsten und geschultesten Manne aufnahm.

„So schwach sie sonst gegen mich war,“ schloß er seinen Nachruf, „in dem Punkte verstand sie keinen Spaß. Ein ganzes Jahr lang hat sie mich Chemie studiren lassen, um die Sache rationell und aus dem Grunde zu betreiben, und wie sie mich dann zu sich berief, um unter ihrer Leitung die Weinberge zu übernehmen, habe ich ein Examen bestehen müssen, – ich versichere Dich, Cornelie, mancher Professor wäre dabei in die Enge gerathen. Die Gute! Sie hat den heurigen Jahrgang nur noch in der Blüthe miterlebt. Aber fast ihre letzten Worte waren die Prophezeiung: ,Du sollst sehen, Gabriel, er wird alle Kometenweine übertreffen.’ Und das war ihre letzte Freude. Denn auf die Kometen war sie schlecht zu sprechen und hielt sie für himmlische Schwindler, die nicht das Geringste von der Weincultur verständen. Ich hätte ihr die Genugthuung wohl gegönnt, ihre Voraussage so glänzend bestätigt zu sehen!“

Darauf schwieg er und das Mädchen schien durchaus nicht geneigt, ihn seinen wehmüthigen Gedanken zu entreißen. Nur der Papagei[WS 1] krächzte ein paar Mal sein trockenes: „Ach Gott, wird's heute regnen?“ und nebenan hörte man die Zofe hantieren.

Er stand endlich auf, fuhr sich mit dem Taschentuch die Stirn, auf der trotz der Abendkühle, welche durch den offenen Balcon hereindrang, der Schweiß stand, und ging einmal durch den Salon, ehe er sich wieder dem Divan näherte.

„Bäschen,“ sagte er, mit einem plötzlichen Aufschwung all' seines Muthes, „man soll freilich Tod und Leben nicht so in einem Athem besprechen, aber es hilft nichts, ich merke schon, es kommt kein ordentliches Gespräch zwischen uns zu Stande, eh' ich nicht von der Hauptsache gesprochen habe. Sage einmal aufrichtig: Du bist mir bös, nicht wahr?“

„Ich?“ sagte sie mit mühsamer Stimme, während sie mechanisch eine Visitenkarte, die auf dem Tische lag, zwischen ihren Fingern auf und zu rollte. „Warum sollte ich Dir böse sein? Was hättest Du mir zu Leide gethan?“

„Ist das wahr?“ sagte er und trat ihr mit hastiger Freude näher. „Kann ich mich darauf verlassen, daß Alles noch so ist zwischen uns wie damals?“

„Und wie war es denn damals,“ erwiderte sie mit bebender Stimme, „daß es nicht mehr so sein sollte? Du hast einige Zeit nichts von Dir hören lassen; je nun, Du hattest andere Dinge zu thun. Menschen können nicht immer beisammen bleiben. Nun bist Du wieder da, dann ist ja Alles in Ordnung.“

„Nein, Bäschen,“ rief er und fuhr sich lebhaft in die Haare, „so ganz in Ordnung doch nicht. Gestehen wir es uns nur aufrichtig: ich hätte nicht leicht einen dümmeren Streich machen können, als daß ich damals am Morgen nach jenem Ball zu Deinem Vater ging und um Deine Hand bei ihm anhielt. Wenn ich jetzt [291] daran denke, ich weiß nicht, ob ich lachen oder mit den Zähnen knirschen soll vor Scham und Aerger. Lieber Gott, wer war ich denn? Der jüngste Commis, ein Hans Habenichts, der von einer guten alten Tante sein Taschengeld bekam und ihr seine Schneiderrechnungen zuschicken durfte! Und darauf hin werben um das schönste und reichste Mädchen der Stadt, bei dem Manne, der mich nie für voll angesehen hatte, weil ich in seinem Hause in unbewachten Augenblicken den alten Kindskopf aufsetzte und dann und wann, wenn Bankiersdiner war, unten am Tische den Quatorzième machen durfte! Die Zunge hätte ich mir eher abbeißen sollen, als vor diesen Mann hintreten mit leeren Händen und vollem Herzen, während er unter Grafen und Baronen das Aussuchen hatte. Aber gestehe, Bäschen, ein Stück Verantwortung für diese haarsträubende Kinderei kommt auf Deine Rechnung. Erstens, warum trugst Du auf jenem Ball das bewußte meergrüne Kleid, von dem ich Dir schon einmal gesagt hatte, daß es mich um meine fünf Sinne brächte? Und zweitens, als ich Dir sagte, Du seiest so reizend, daß ich auf einen Wink Deines kleinen Fingers die halsbrechendsten Dinge unternehmen würde, warum fragtest Du da mit so ungläubigem Lachen: ,zum Exempel?’

Und als ich fortfuhr: zum Exempel konnte ich mir ein Herz fassen, morgen früh vor Deinen Vater hinzutreten und zu sagen: Machen Sie mich zu Ihrem Schwiegersohn und ich will Ihnen zweimal sieben Jahre dafür Comptoirfrohne thun, wie ein Neger im Zuckerrohr!’ – warum lachtest Du da noch ungläubiger und sagtest blos: ,Vetter, Du bist ein Narr!’? Du kanntest mich doch hinlänglich, Cornelie, um zu wissen, daß ich wirklich ein Narr war und ein Hitzkopf dazu, und daß der Schwur, den ich Dir auf Deinem Ballfächer leistete, morgen früh, sei’s lebend oder todt, zu Deinem Vater zu gehen, mir aus dem Herzen kam. Und doch lachtest Du nur immer unbarmherziger, als wenn es Dir eben recht wäre, mich den Hals brechen zu sehen. O Bäschen, wie ich dann am andern Tage, in ein wahres Nichts verflüchtigt durch drei kurze Worte meines gestrengen Chefs, die Treppe hinunterschlich, aus dem Haus und dem Geschäft weggewiesen wie ein Mensch, dem nach solcher Majestätsbeleidigung und Tempelschändung Alles zuzutrauen ist: da hätte ich gern vorher noch bei Dir angeklopft, um zu fragen, ob Du nun zufrieden seiest, oder ob ich noch ’was Dümmeres begehen solle, um Dir meine Ergebenheit auf Tod und Leben zu beweisen. Aber da kam mir Dein gottloses Lachen wieder in den Sinn, und zum ersten Mal blitzte mir der Gedanke durch den Kopf: Herrgott, sie hat am Ende gar kein Herz, wenigstens nicht für dich, und Alles, was du zu deinen Gunsten ausgelegt hast, war nur spitzbübische Schadenfreude, dich recht vernarrt zu machen, um dich dann auszulachen. Und da, Cornelie, ging der Hitzkopf wieder einmal mit mir durch. ,Gut,’ sagte ich, ,ich gehe; ich betrete dieses Haus nicht eher wieder, als bis ich ein gemachter Mann bin und mich der Herr Vater nicht mehr von oben bis unten mustern kann, um mir dann den Rath zu geben, ich möchte mich in eine Heilanstalt verfügen. Und bis ich so weit bin, will ich mir alle Gedanken an sie aus dem Sinn schlagen, und sie soll gar nicht mehr wissen, ob ich auf der Welt bin!’“

Er hatte die letzten Worte in so leidenschaftlichem Ton gesprochen, daß er jetzt plötzlich selbst vor dem Schall seiner Stimme erschrak.

„Da siehst Du nun,“ sagte er lächelnd, indem er sich wieder setzte und von Neuem die Stirn trocknete, „wie stürmisch es damals in meiner armen Seele zuging, daß die bloße Erinnerung mich wieder ganz rabiat macht. Und ich bin doch seitdem, Dank der Rabouge meiner guten Tante, ein ganz gesetzter Mensch geworden, mit einer wahren Lammesgeduld, der sich zu einem der musterhaftesten Hausväter und Ehemänner dieses Jahrhunderts qualificirt.“

Dabei sah er ihr gespannt in das zartgefärbte Gesicht, als erwarte er, daß nun sie das Wort ergreifen und seine lange Beichte mit einer ähnlichen Herzensergießung erwidern werde. Unbewußt drehte er dabei den Ring mit dem Smaragd um den Finger und athmete tief auf, als sei die Last, die er jahrelang getragen, jetzt von ihm abgefallen. Sie aber sah ihn nicht an, obwohl ihre schönen braunen Augen nahe genug an ihm vorbeistreiften, immer auf die Palme geheftet, die jetzt ganz im Schatten stand. Ihr Gesicht hatte einen seltsam düsteren Ausdruck, weit über ihre Jahre, und wäre er minder von seinen Hoffnungen verblendet gewesen, er hätte erschrecken müssen vor dem leidenschaftlichen Zucken ihres Mundes, als sie ihn jetzt öffnete, um ganz gelassen zu sagen:

„Ich gratulire Dir zu Deiner Geduld. Auch ich habe Gottlob in dritthalb Jahren Manches gelernt und bin mit Manchem fertig geworden, sogar mit mir selbst. Dazu lebt man ja.“

„Gewiß,“ erwiderte er, ohne recht zu wissen, was sie gesagt hatte, denn er sann im Stillen darüber nach, wie er nun vorbringen sollte, was er auf dem Herzen hatte. Plötzlich entschloß er sich, Alles von der heitersten Seite zu nehmen, und lachte mitten in seiner Beklommenheit. „Bäschen,“ sagte er, „das meergrüne Kleid ist wohl indessen grau geworden. Aber das thut nichts. Am Ende war’s doch wohl nicht das Kleid, was mir damals eine so wahnsinnige Courage machte. Wenigstens finde ich, das braune, das Du da anhast, könnte mich ebenso weit treiben, nur mit dem Unterschiede, daß das Wagestück heute nicht mehr so groß wäre, wie damals.“

„Findest Du?“ sagte sie und warf ihm einen raschen Blick zu, vor dem er die Augen niederschlug. „Du hast seltsame Begriffe, muß ich gestehen.“

„Nun,“ erwiderte er zögernder, „die Sachen haben sich doch stark geändert. Oder meinst Du nicht, Bäschen?“

„Ja wohl,“ sagte sie und nickte hastig mit dem Kopfe. „Es ist Alles sehr anders geworden.“

„Und darum, wenn ich morgen früh – oder warum könnte es nicht gleich heute Abend sein? – Deinem Vater wieder gegenüberträte und ganz dieselbe Rede an ihn hielte, die damals ein Narrenstreich, eine rechte Fanfaronade war, meinst Du nicht, daß er jetzt eine etwas höflichere Antwort darauf hätte?“

Sie stand auf, blieb aber, mit der Hand sich aus den Marmortisch stützend, am Divan stehen, zitternd am ganzen Leibe. „Das ist zu viel,“ sagte sie mit halb erstickter Stimme. „Es wäre besser, Gabriel, Du gingest, eh’ ich Worte finde, die Dich endlich darüber aufklären, wie ich von Deinem Betragen denke, gleichviel, was mein Vater für eine Antwort hätte.“

„Aber um Gotteswillen, Cornelie,“ rief er und sprang nun ebenfalls auf, ich begreife nicht –“

„Noch immer nicht?“ unterbrach sie ihn rasch, während ihr die Thränen in die Augen traten. „Muß ich es wirklich selbst sagen, wie unerhört ich es finde, daß Du nach dritthalb Jahren, wo ich für Dich nicht existirt habe, eben nur daran denkst, was mein Vater Dir antworten würde, als verstände sich’s ganz von selbst, daß die Tochter indessen keinen anderen Gedanken gehabt hätte, als wann der verehrte Herr Vetter sich einmal wieder melden würde? Das gute Kind hat sich vielleicht etwas gelangweilt in den Jahren, seit ihr Tänzer auf jenem Ball ihr allerlei närrische Dinge gesagt hat. Dafür wird sie nun königlich belohnt; er hat seine Tante beerbt, er ist eine gute Partie geworden, das Bäschen wird überglücklich sein, wenn er jetzt plötzlich wieder erscheint und um ihre Hand anhält. Denn er könnte ja auch die erste beste Andere heimführen, die ihm vielleicht inzwischen, bei seinem lustigen Leben in Berlin und Wien, weit besser gefallen hat; aber die Genugthuung kann er sich nicht versagen, nun als ein gemachter Mann vor seinen Schwiegervater hinzutreten und ihn zu beschämen durch die Mittheilung, daß er jetzt so viel Tausende jährlich einnimmt, wie damals Hunderte. Auf diesen Augenblick hat man sich ja so lange gefreut und, um die Wirkung noch brillanter zu machen, jahrelang sich um das Bäschen nicht von fern bekümmert, da dieses gute Wesen einem ja doch sicher war. Aber es thut mir leid, Vetter, daß ich es sagen muß: ich verdiene die gute Meinung nicht, die Du von mir gehabt hast. Ich bin nicht mit der Lammesgeduld begabt, wie Du sie mir ohne Zweifel zugetraut hast, und wie gesagt, wenn es damals ein dummer Streich war, aus einem Ballscherz Ernst zu machen, so würde ich es jetzt für eine Beleidigung halten, wenn Du meinem Vater die nämliche Rede hieltest, wie an jenem Morgen, und würde diesmal selbst antworten, wie er damals gethan, auf die Gefahr hin, daß Du wieder einige Jahre für uns verschollen wärst!“

Sie trat von ihm weg an das nächste Fenster und kehrte ihr Gesicht, das über und über glühte, von ihm ab, der in sprachloser Betäubung an dem Tische lehnte. „Steht es so?“ sagte er endlich dumpf vor sich hin; „das hab’ ich freilich nicht gedacht. Ich dachte, es könne sich auch hier nichts verändert haben, weil in mir Alles nur allzusehr beim Alten blieb. Nun freilich –“

„Und wie war es damals?“ unterbrach sie ihn, ohne sich umzuwenden. „Hast Du Dich schon damals viel darum bekümmert, wie es etwa in meinem Herzen aussah? Nahmst Du nicht immer stillschweigend an, daß ich Niemand anders je lieber haben könne, als Dich, und wenn ich Dich darüber auslachte und Dich [292] einen eingebildeten Herrn der Schöpfung nannte, bestärkte Dich nicht auch das in dem Glauben an Deine Unfehlbarkeit? Und dennoch, hätte ich damals gedacht, Du würdest den Uebermuth wirklich so weit treiben und zum Vater gehen, so hätte ich Dich gewarnt und mir’s ernstlich verbeten, um Dir eine Beschämung zu ersparen. Denn ich war Dir herzlich zugethan, Gabriel, und wahrhaftig, Dein Weggehen, Dein Verstummen, die Todtenstille zwischen uns, das Alles hat mich anfangs geschmerzt. Ich hätte auf einen Brief von Dir freundlicher geantwortet, als Du verdientest. Hernach, als Monat auf Monat verstrich und wir nur aus dritter Hand hörten, Du seiest durchaus nicht in den Rhein gesprungen, sondern genössest Dein Leben mehr als je, – nun, da habe ich mir einen Vers darüber gemacht und bin, wie gesagt, wie mit manchem Anderen, auch damit fertig geworden, ganz und gar und für immer!“ – –

Sie schwieg, und sehr zur rechten Zeit. Denn unwillkürlich ausbrechende Thränen drohten zu verrathen, daß sie nicht an Alles glaubte, was sie sagte, und nicht mit Allem so fertig war, wie sie ihm und sich selbst einreden wollte. Er aber stand wie vernichtet und fand keine Worte, sich zu rechtfertigen. Ein paar Mal lag es ihm auf der Zunge, ihr zu sagen, daß er all’ die stummen Jahre hindurch nur von der Hoffnung gelebt habe, er sei durch ein unzerreißbares Band mit ihr verbunden, sie könne so wenig je einem Anderen gehören, wie er ein Glück ohne sie zu denken vermöge. Aber eben diese Zuversicht machte sie ihm ja zum Verbrechen! Und hatte sie nicht auch Recht? Worauf durfte er seinen felsenfesten Glauben bauen? Was hatte sie ihm je gesagt oder gethan, das über die vertrauliche Munterkeit eines verwandtschaftlichen Verkehrs hinausging?

Aus dieser armsünderhaften Stimmung, in der er jede Strafe gern über sich hätte ergehen lassen, schreckte ihn plötzlich der scharfe Ton der Hausglocke auf, der einen Besuch ankündigte. „Ich will gehen, Cornelie,“ sagte er. „Ich thue besser, die Eltern nicht abzuwarten. Ob ich überhaupt wiederkomme, weiß ich noch nicht. Es scheint mir in diesem Augenblick sehr überflüssig, da ich nun über Vieles anders denke. Indessen will ich es nicht verschwören. Niemand weiß, wie weit seine Kräfte reichen.“

„Gabriel,“ sagte sie mit plötzlich besänftigter Stimme und wandte sich nach ihm um, „es thut mir leid, daß ich Dir das habe sagen müssen. Aber es war mir so um’s Herz und ich war Dir die Wahrheit schuldig. Gieb mir nun die Hand und laß das Alles zwischen uns wie nicht gesagt und geschehen sein. Wir fangen eben von vorn miteinander an, ich bin Dein Bäschen, Du mein Vetter; bist Du das zufrieden?“

Er sah ihr mit einem tieftraurigen Ausdruck in die Augen, als ob er, ehe er in ihre Hand einschlug, erforschen wolle, wie sie es meine; da, noch ehe er darüber in’s Klare gekommen war, öffnete sich die Thür, und ein eleganter junger Mann trat mit heiterer Sicherheit, wie wenn er hier zu Hause wäre, ein, verneigte sich gewandt vor Cornelien, der er die Hand küßte, und begrüßte den Fremden mit einem etwas kühlen Seitenblick. Cornelie stellte ihn dem Vetter als einen Freund des Hauses vor, den Sohn eines Geschäftsfreundes ihres Vaters aus Bordeaux, der, um deutsche Verhältnisse kennen zu lernen, seit einigen Monaten sich hier aufhalte. Gabriel beobachtete sie unverwandt. Jede Spur des aufgeregten Gesprächs schien aus ihrem Gesicht wie weggeweht, sie führte im muntersten Französisch die Unterhaltung mit dem geistvollen jungen Franzosen, und als sie merkte, daß Gabriel stumm dabei saß, schlug sie plötzlich vor, die provençalischen Volkslieder mit ihm zu singen, die der Gast ihr neulich gebracht habe. Sogleich setzte sie sich an den Flügel, sich selbst zu begleiten, aber die Stimme gehorchte ihr nicht wie sonst. Die verschluckten Thränen rächten sich. Nun drang sie in den Franzosen, allein zu singen, während sie ihn begleitete, und ließ sich vor jedem Liede die Worte, die ihr fremd waren, übersetzen, mit einem Eifer, als lägen ihr diese Sprachstudien wunder wie sehr am Herzen. Der Fremde schien es durchaus nicht für nöthig zu halten, seiner lebhaften Verehrung für das schöne Mädchen irgend Zwang anzuthun, weil ein stummer Dritter zugegen war. Er enthielt sich jeder directen Galanterie in Worten; aber jede Geberde, jeder Blick, der Ton seiner Stimme, das Lachen, mit dem er auf ihre Scherze einging, sprachen alle nur das Eine aus: Ich bin überglücklich in Deiner Nähe zu sein; mache mit Deinem Sclaven was Du willst!

[305] Dergleichen war Gabriel nichts Neues. Er hatte sich früh gewöhnen müssen, das schöne Mädchen von den ausgesuchtesten Huldigungen umringt zu sehen, und hätte Jeden, der in ihrer Nähe gleichgültig geblieben wäre, für einen armseligen Stockfisch gehalten. Aber damals, im heimlich ihm zugesicherten Alleinbesitz, wie er glaubte, dieses vielbegehrten Kleinods, schmeichelte es ihm nur, zu beobachten, wie Andere, minder Glückliche ihre Mühe verschwendeten. Heute zum ersten Mal war es ihm eine unerträgliche Qual, da er sie für immer verloren zu haben dachte. Nicht gegen den jungen Fremden wendete sich sein Groll. Der oder irgend ein Anderer, das war ihm vollkommen gleichgültig. Aber sie, die doch fühlen mußte, wie ihm zu Muthe war nach allen gegenseitigen Eröffnungen, wie konnte sie das Herz und die Stirn haben, in seiner Gegenwart zu klimpern und zu lachen, wie wenn sie selbst nicht das Geringste dabei empfunden hätte, als sie ihn so tief zu Boden schmetterte! Dieses Lachen, das war noch ganz dasselbe, vor dessen schadenfrohem Uebermuth er sich den Morgen nach dem Ball gefürchtet hatte. Nichts war inzwischen geändert, nur eine noch vollendetere Weltdame aus ihr geworden, die drittehalb Jahre lang kaltblütig an die Stunde gedacht hatte, in der sie das getreueste Herz mit einem Tritt ihres kleinen Fußes in den Staub treten könnte!

Wie er so saß und von Minute zu Minute Grimm und Gram in seiner Brust wachsen fühlte, faßte er den Entschluß, nie wieder diese Schwelle zu betreten. Die Einsicht, die vorher in ihm aufgegangen war, daß man wohl Ursache habe, sich auch über ihn zu beklagen, ging völlig unter in dem Gefühl der bittersten kaltherzigsten Vergeltung, die man an ihm geübt. „Gut denn!“ sagte er für sich; „wenn wir denn quitt sind, wollen wir uns nicht ferner lästig fallen. Wieder anfangen mit einander, wieder Vetter und Bäschen spielen, nur damit Einer mehr sei, den Hofstaat der jungen Hoheit zu completiren – dazu sind wir denn doch zu gut! Und wenn ich gefehlt und mich selbst betrogen habe – war ich nicht bereit, Alles wieder gut zu machen, mich auf Gnade und Ungnade lebenslänglich ihr auszuliefern? Und was ist der Bescheid? Eine Chanson, so kalt und seelenlos, wie des guten Lori Sprüchlein. Nicht doch, zum Verzweifeln und Vergrämen ist das Leben zu kostbar. Machen wir hier ein Ende und fangen in frischer Luft von Frischem an!“

Er benutzte die nächste Pause im Gesang, um sich dem Flügel zu nähern, seinem Bäschen, die plötzlich erblassend zu ihm aufsah, die Fingerspitzen zu bieten und mit dem ungezwungensten Ton, den er zu erschwingen vermochte, sich bis auf Weiteres von ihr zu beurlauben. Auf die hastige Frage, ob sie den Eltern für morgen seinen Besuch ankündigen solle, erwiderte er achselzuckend, er wisse nicht, ob er Zeit finden werde, verneigte sich gegen den Franzosen und verließ den Saal.

Draußen vor der Thür mußte er einen Augenblick still stehen, das Herz schlug ihm bis in die Fußspitzen hinunter. Es war plötzlich Alles um ihn her stumm und dunkel geworden, der Kopf brannte ihm, er strich sich mit der eiskalten Hand über die Stirn und seufzte tief auf. Hinter sich glaubte er den Franzosen lachen zu hören, und jetzt gar das Bäschen. Aber nein, das war eine Täuschung. Er hörte nur ihre Stimme, die aber riß ihn aus seiner Erstarrung auf. Er wollte kein Wort von ihr erlauschen; was sie ihm gesagt hatte, war gering und übergenug. So stieg er mit schwankenden Schritten die Treppe hinab, die er so voll Freuden hinaufgeflogen war. Eben zündete ein Bedienter unten den Gascandelaber an. Er erkannte den tiefsinnig herabsteigenden jungen Herrn nicht, so wenig wie der Portier. Es waren neue Gesichter, denen der Vetter fremd war. „Alles ist neu und fremd geworden in diesem Hause,“ dachte er bei sich selbst; „das Wohlbekannteste am fremdesten. Was widerstände auch der Macht der Zeit? Es soll freilich Mancherlei geben, was selbst zwei Jahre und sieben Monate überdauert, z. B. Liebe und Treue, aber wenn es dergleichen giebt, in diesem Hause wenigstens sucht man es vergebens. Ha nun, um so besser! Man muß sich nur danach einrichten. Und wenn ich’s recht bedenke: ist es denn in mir noch vorhanden? Wie ich diese Treppe hinaufstieg, dachte ich nicht, ich könne ohne dieses Mädchen nicht leben? Und jetzt lebe ich doch noch und befinde mich sogar ganz wohl dabei, in der That, noch wohler, als vorher. Es drückt und engt mich nichts mehr hier auf der Brust; mir ist so frei und leicht, wie seit Jahren nicht! Ich Narr! Ich hätt’ es längst so gut haben können, wenn ich mir nicht eingebildet hätte, ich sei es ihr schuldig, ein schweres Herz um sie zu haben. Nun will ich mich wohl hüten, je wieder in diese Kinderkrankheit zu verfallen!“

In diesen ingrimmig resoluten Gedanken schritt er die Straße hinunter, ohne den Kopf nur einmal umzuwenden nach dem Balcon, den er bei seinem Kommen so fröhlich begrüßt hatte. Ein schöner, eleganter Wagen rollte ihm entgegen, er erkannte von fern die Livrée des Oheims und trat in den Schatten eines Thorwegs, um ihn erst vorbeizulassen. Auf dem offenen Rücksitz saßen die Eltern, wenig verändert, seit er sie nicht gesehen, der Vater mit [306] dem vornehmen Profil nur noch kühler und strenger, wie es ihm wenigstens vorkam, die Mama, eine kleine, schüchterne, sehr einfache Frau und nur der Schatten ihres Mannes, noch um etwas gedrückter in ihrer Haltung, als sonst. „Cornelie hat keinen Zug von ihr, sie ist die Tochter ihres Vaters,“ murmelte er vor sich hin. „Und ich habe mir jemals einbilden können, diese kühle Statue wäre eine Frau für mich? Gottlob, daß mir noch bei Zeiten die Schuppen von den Augen gefallen sind!“

Der Wagen war längst vorübergerollt, und noch stand der einsame Späher unter dem Thorweg und starrte ihm nach. Wohin sollte er sich auch wenden? Wenn er noch zeitig genug an den Rhein kam, um den Dampfer zu erreichen, der stromab fuhr, zu Hause mochte er sich noch nicht wieder sehen lassen. Er hatte gegen seinen alten Verwalter, ein Erbstück von der seligen Tante, allerlei Winke fallen lassen, daß er wohl zu Zweien wiederkommen würde, und schämte sich, nun so unverrichteter Sache als ein trübseliger Korbträger heimzukehren. Es blieb nichts übrig, als in der Stadt zu bleiben und die Sache vorerst zu beschlafen. Nur graute ihm davor, in einen der großen Gasthöfe zu gehen, in denen er aus früherer Zeit bekannt war und wohl auch am Wirthstische Bekannte getroffen hätte. Endlich fiel ihm ein kleines, spießbürgerliches Weinstübchen ein, „zum Mäusethurm“, dessen Wirth neben dem Weingeschäft eine bescheidene Herberge hielt. Er hatte vor Zeiten, als sein Beutel noch schmal war, dann und wann hier eingesprochen und jüngst ein Faß von seiner besten Lage an den Wirth verkauft, ohne ihn persönlich dabei kennen zu lernen. Da hoffte er wenigstens einen unverfälschten Schlaftrunk und einen stillen Winkel zu finden, wo er ungestört dem Groll um verlorene Liebesmühe nachhängen könnte.

Auch fand er, als er eintrat, daß er sich nicht getäuscht hatte. In den großen vorderen Zimmern saßen an blankgescheuerten Tischen lauter Stammgäste in behäbigen Jahren, rauchend, spielend und von der Zeitung schwatzend. Dahinter war noch ein kleineres Cabinet, nur durch ein einarmiges Gaslämpchen erleuchtet und die beiden Tische darin ganz leer. Der Wirth, ein rühriger kleiner Mann mit spärlichem Haupthaar und buschigem Backenbart, der selbst den Kellner machte und jeden Schoppen frisch vom Faß heraufholte, complimentirte den jungen Gast in dies Hinterstübchen, mit dem Bedauern, daß an den anderen Tischen kein Platz frei sei.

Gabriel nickte zerstreut und warf sich auf einen Stuhl am Fenster, eine Flasche von seinem eigenen Gewächs bestellend. Indessen ging der Mond auf und beleuchtete den Wandkalender, der in der Fensternische hing, und warf den Schatten eines großen Geraniumtopfes zierlich auf die weiße Tischplatte, auf der ein Vorgänger des einsamen Zechers in einer unbewachten halben Stunde zwei verschlungene Initialen eingeschnitten hatte, um sie herum ein Herz mit einer großen Flamme. Ob ihm wohler dabei war, als unserm Freunde? Wer konnte es sagen! Gabriel aber seufzte tief, als er diese Fährte eines angeschossenen Wildes entdeckte. Er wechselte den Platz, um sie nicht immer vor Augen zu haben, ließ das volle Glas unberührt vor sich stehen und vertiefte sich, die Augen zugedrückt und das Gesicht in beide Hände gestützt, in seine bitterbösen Gedanken.

„Haben Sie Zahnweh, Herr?“ hörte er plötzlich eine muntere Stimme dicht neben sich fragen.

Er blickte in die Höhe und sah ein Mädchen vor sich stehen, etwa achtzehnjährig, das runde Gesicht ganz vom Monde versilbert, der zierliche Kopf mit dicken, blonden Zöpfen umwunden. Welche Farbe die Augen hatten, konnte er nicht unterscheiden. Jedenfalls erschienen sie dunkel gegen die zarte, fast kinderhafte Stirn und Wange, und das Ganze hätte nach einem blonden Puppenkopf ausgesehen, wenn nicht der Mund mit den etwas derben, rothen Lippen Kraft und Leben geathmet hätte.

„Wie kommst, Du zu der Frage, Mädchen?“ erwiderte Gabriel, nachdem er sie eine Weile starr angesehen hatte. „Ich wollt’, es gäbe nichts Schlimmeres unter dem Monde, als Zahnweh.“

„Sie hielten sich die Backe so, daß ich meinte, Sie hätten Schmerzen,“ sagte das Mädchen. „Nun, desto besser. Ich zwar kenne es nicht,“ und dabei lachte sie, daß sie ihre sämmtlichen weißen Zähne zeigte, „aber die Pathe leidet oft daran und wird dann wie unsinnig vor Wehleid. Wollen Sie etwas zu Nacht speisen?“

„Ich danke Dir. Ich habe keinen Appetit.“

„Ei nun, man sagt l’appétit vient en mangeant.“

„Kannst Du auch Französisch?“ fragte er.

„Nur, was ich so aufgeschnappt habe,“ versetzte sie und strich sich dabei ein krauses Löckchen zurück, das ihr über die Stirn fiel.

„Wir hatten hier einmal einen Kellner aus der Schweiz, der parlirte den ganzen Tag. Schreiben aber kann ich kein Wort.“

„Und wenn ich was essen wollte, was könntest Du mir empfehlen?“ fragte er.

„Je nun,“ sagte sie mit einem lustigen Zwinkern ihrer feinen Nasenflügel, als röche sie schon im Geist den Duft eines Lieblingsessens, „Jeder räth eben, was er selber gern ißt. Ich weiß aber nicht, ob dem Herrn sein Geschmack und meiner zusammenstimmen.“

„Das käme auf die Probe an,,“ sagte er. „Was würdest Du für Dich selbst aussuchen?“

„Ich mag kleine Vögel am liebsten essen,“ antwortete sie flink. „Sie knarpsen so hübsch zwischen den Zähnen, wenn man die Knöchelchen zerbeißt, und darum bleiben sie uns gewöhnlich übrig. Denn bei dene grauhärige Herre da drin steht’s nicht mehr zum Besten mit ihrem Zahnwerk. Sie aber, da Sie kein Zahnweh haben, können, schätz’ ich, einem paar Krammetsvögeln noch alle Ehr’ anthun, und wir haben gerade heut’ sehr gute und ein frisches Kraut dazu.“

„So bringe sie in Gottes Namen. Und höre, noch Eins: Wie heißest Du?“

„Gertraud. Der Wirth heißt mich Traud, und die Wirthin, was meine Frau Path’ ist und eine Kölnerin, nennt mich Drückchen, wie sie ’s dort aussprechen. Nun haben Sie die Auswahl, Herr!“

Damit flog sie davon und nach der Küche, das Verlangte zu bestellen. Fast hätte er ihr nachgerufen, sie solle es nur bleiben lassen; denn er hatte einen so bittern Geschmack auf der Zunge, daß es ihm unmöglich schien, einen Bissen hinunterzubringen. Er dachte, wie sie jetzt in dem schönen Hause in der Rheinstraße um den mit Silber gedeckten Tisch sitzen und die Bedienten in weißen baumwollenen Handschuhen die Speisen serviren würden. Und er, statt, wie er sich eingebildet, den Ehrenplatz einzunehmen zwischen der Frau vom Hause und dem schönen Bäschen, er saß jetzt in einem halbdunkeln Schenkenwinkel vor ungedecktem Tisch mutterseelenallein. Freilich, so eine Kellnerin hätte Manchem ein Dutzend Livreebedienten aufgewogen. Aber ihm, – was waren ihm alle Mädchen auf und ab am ganzen Rhein? Falsche Schlangen, glatte Ungeheuer, lächelnde Basilisken! Das Weib soll die Krone der Schöpfung sein? Jawohl, aber eine Dornenkrone! Wer mit ihr gekrönt wird, hat erst einen langen Passionsweg durchzuwandeln, um zu guter Letzt an ein Hauskreuz geschlagen zu werden. Und er wollte sich noch beklagen, daß sein gutes Glück ihn vor diesem Loose bewahrt hatte? Thorheit! Der Wein ist zu edel, um ihn mit überflüssiger Galle zu vergiften. Es lebe die Freiheit und die Jugend und der Genuß! Vielleicht lachen sie jetzt eben in dem Speisesaal des Hauses in der Rheinstraße über den gutherzigen Narren, den Vetter Gabriel, und dem jungen Herrn aus Bordeaux wird die Geschichte erzählt, wie er das erste Mal aus dem Hause kam und seitdem nicht klüger geworden ist. Aber nur Geduld; wer zuletzt lacht, lacht am besten! Nur die Lese noch vorübergelassen, dann hält uns hier nichts mehr, dann gehen wir nach Paris und London und in die neue Welt, und wenn wir gelegentlich in einer deutschen Zeitung lesen: ,Fräulein Cornelie und Monsieur tel el tel empfehlen sich als ehelich Verbundenes zünden wir uns eine frische Havanna an und bringen dem Gott der Freiheit ein duftendes Rauchopfer! – –

In solchen heroischen Gedanken hatte er schon das zweite Glas geleert, als das Mädchen aus der Küche wieder hereinkam, das Gericht auf sauberem Teller sorgfältig vor sich her tragend, die Augen fest auf die kleinen Vögel geheftet, die so appetitlich in dem weißlichen, feingeschnittenen Kraut lagen, wie ein paar Zwillinge in der Wiege. Sie stellte den Teller mit einem stolzen Schmunzeln vor Gabriel hin, als wollte sie sagen: „Hab’ ich nicht gut gerathen?“ sprach das übliche „Wohl bekomm’s!“ und blieb dann am Tische stehen, wie um abzuwarten, ob der Gast ihre Leibspeise loben würde.

„Höre,“ sagte er, „Du mußt aber mithalten. Komm’, hol’ Dir einen Teller. Wir machen Halbpart.“

„Ich dank’ schön,“ gab sie lachend mit einem muntern Knix [307] zur Antwort. „Da ist gar nichts abzugeben für eine Mannsperson in Ihren Jahren, denn so ein Krammetsvogel ist ja kein Vogel Strauß. Oder riecht’s Ihnen etwa nicht lecker genug?“

„O nein,“ erwiderte er, „das Essen ist gut, nur der Esser taugt nicht viel. Und es ist auch ein leidig Ding, allein zu tafeln.“

„Muß freilich besser schmecken, wenn die Frau Gemahlin mit am Tisch sitzt.“

„Was, Gemahlin!“ brummte er. „Ich bin ein lediger Mensch und denk’ es mein Lebtag zu bleiben. Aber komm’, Traud, ich erstick’ an dem Bissen da, wenn Du mir nicht hilfst, denn wenn ich allein bin, muß ich noch meine Gedanken mit hinunterwürgen, und die sind nicht sehr verdaulich.“

„Nun, so schneiden Sie mir meinetwegen einen, Flügel ab. Ich hab’s doch einmal schon verrathen, daß es mein Leibessen ist.“

Hurtig schnitt er den einen Vogel mitten durch und bot ihr den Teller an. Sie sah sich verstohlen nach dem andern Zimmer um, ob Niemand zuschaue, ehe sie die eine Hälfte säuberlich am Knöchlein ergriff und mit einem „Schönen Dank!“ vom Teller nahm. „Der Pathe würde zanken,“ sagte sie, „wenn er mich hier zugreifen sähe, und es ist doch nichts Unrechts dabei, außer daß ich mit den Fingern esse; aber was soll ich machen? Ich kann doch nicht zwei Bestecke für Einen Gast holen!“

Nun fing sie an, vor ihm stehend, mit ihren scharfen Zähnchen den Vogel zu bearbeiten, daß es eine Lust war, ihr zuzusehen. Besonders gefiel ihm, wie die Flügel des schlanken Stumpfnäschens leise zitterten, während sie schmauste, und wirklich, das „Knarpsen“, von dem sie gesprochen hatte, klang allerliebst. Sie kam ihm mit jeder Minute hübscher vor. Unwillkürlich verglich er ihr heiteres, zutrauliches Wesen, das ihn warm anmuthete, mit dem frostigen Hauch, der eben gegenüber der Schweizerlandschaft und der eisgepanzerten Jungfrau über all’ seine Hoffnungsblüthen hingefahren war.

„Nun mußt Du auch trinken,“ sagte er, als sie nach einigem Zureden auch mit dein andern halben Vogel fertig geworden war und sich Lippen und Finger sorgfältig an einer Serviette abgeputzt hatte. „Koste einmal diesen Wein; der ist auf meinem Grund und Boden gewachsen.“

„Was nicht gar!“ rief sie. „Das ist ja unsere beste Sorte. Sind Sie denn ein Weinbergsbesitzer?“

„Freilich, Traud. Und erst den heurigen solltest Du kosten! Der hat noch ganz ein anderes Feuer. Aber Du nippst ja kaum?“

„Ich danke schön, ich darf nicht mehr, es geht nur gleich in’s Blut. Aber was ich sagen wollte: sind Sie denn nicht mehr Kaufmann?“

Er sah ihr erstaunt in die Augen. „Woher weißt Du denn in aller Welt, das; ich’s überhaupt war? Kennst Du mich denn? So viel ich weiß, sehen wir uns heut’ zum ersten Mal.“

„Das will ich wohl glauben, daß Sie mich vergessen haben,“ erwiderte das Mädchen und lachte geheimnißvoll in sich hinein. „Ich sah mir auch noch gar nicht ähnlich damals, während Sie - Sie haben sich nicht besonders verändert, nur daß Sie etwas breiter und voller geworden sind. Wissen Sie aber gar nicht mehr, daß Sie vor drei Jahren hier einen Frühschoppen getrunken haben mit noch ein paar jungen Herren, und Sie sprachen von nichts, als von Buchhaltung und Wechselrechnung und so Sachen, und ich war eben aus der Schul’ heimgekommen und hatte einen Preis gekriegt, mein letzter, denn hernach mußt’ ich gleich der Frau Path’ in der Wirthschaft helfen, und was ich noch nicht gelernt hatt’, sollt’ ich auch nimmer lernen. Nun weiß ich nicht, wie es kam, daß Sie mich bemerkten und ausfragten, und ich, ein dummdreist Dingelchen wie ich war, mußt’ auch Alles herausplappern, auch von dem Schulpreis, und das Buch herzeigen. Darauf haben Sie in die Tasche gegriffen und zwei große Apfelsinen herausgeholt und sie mir geschenkt und ganz ernsthaft eine Rede dazu gehalten, und die Andern haben sehr gelacht. Ich war aber plötzlich so verschämt, das; ich mich mit Gewalt losgemacht hab’ und hinausgelaufen bin, und draußen die Küchenmägd’ haben mich erst recht ausgelacht. Nun, wenn Sie es auch vergessen haben, ein Mädchen vergißt’s nicht so leicht, wenn es sich einmal geschämt hat, und darum hab’ ich Sie gleich wieder erkannt, als ich Sie vorhin hier sitzen sah.“

Ihm war die Geschichte gänzlich entfallen.

„Schau,“ sagte er, „so bin ich ja bei alten Bekannten, ohne es zu wissen. Aber was so ein kleiner Kopf Alles behält, und ich dachte, er beherberge so wenig einen Gedanken lange Zeit, wie der Mäusethurm einen Gast.“

„Ja wohl,“ versetzte sie rasch, „es giebt aber auch Stammgäste, die immer wieder einkehren.“

„Und so einer wäre ich gewesen?“

Sie bedachte plötzlich, was für ein verfänglicher Sinn aus ihren Worten herauszuhören sei, und wurde dunkelroth. Um sich’s nicht merken zu lassen, bückte sie sich ein wenig, als bemerke sie jetzt erst den schönen Ring an seinem Finger.

„Tausend,“ sagte sie, „das ist einmal ein Staatsring! So einen hab’ ich meiner Lebtag nicht gesehen.“

„Möchtst Du ihn haben, Traud?“

„Ich? Ja das wär’ auch ein Ring für mich, damit in’s Spülfaß zu greifen oder den Besen anzufassen. Nein, so einer – und sie zeigte ein kindisches dünnes Reifchen mit drei kleinen Granatsplittern, das sie an der Linken trug der ist für ein Bauernkind. Der Ihrige gehört für ein vornehmes Fräulein, das am Wochentag in Seide geht.“

Corneliens seidnes Kleid fiel ihm ein und die ganze bange Stunde, in der er es hatte knistern und rauschen hören, während er in wechselnden Gefühlen den Ring hin und her gedreht hatte.

Er schien ihm plötzlich am Finger zu brennen. Hastig zog er ihn ab und hielt ihn dem Mädchen hin. „Nimm Du ihn,“ sagte er, „mir hat er kein Glück gebracht. Ich mag ihn nimmer.“

Sie lachte hell auf. „Sie wollen mich zum Besten haben,“ sagte sie. „Aber ich bin kein so dummes Schulkind mehr, und ein Ring ist keine Apfelsine.“

„Du behältst ihn nun einmal,“ rief er, sich ereifernd, und faßte ihre beiden Hände. „Ich möchte doch wissen, wer mich hindern wollte, Dir so viel Ringe zu schenken, wie ich will, und so viel seidne Kleider, als mir einfiele, und wenn sich alle vornehmen Mädchen in der Stadt darüber ärgerten, desto besser!

Halt’ Dein Fingerchen her, daß ich ihn Dir anprobire! Willst Du wohl stillhalten?“

„Lassen Sie mich gehen,“ flüsterte sie und versuchte lebhaft ihre Hände aus den seinen loszumachen. „Ich will ihn nicht, ich darf ihn nicht nehmen. Was würden die Leut’ denken?“

„Was sie wollen; daß ich Dich gern hab’, daß Du mir lieber bist, als manches hochmüthige Fräulein, und ich wollt’, es sähe eine Gewisse zu, wie ich Dir jetzt diesen Ring anstecke, und dächte sich dabei noch viel mehr, als wir Beide, und wenn es sie nachträglich doch verdrösse, um so besser! Komm’, sei vernünftig. Da an den Goldfinger!“

„Ich will nicht!“

„Du mußt!“

„Meine ganz gehorsamste Gratulation, Jungfer Traud!“ erscholl plötzlich hinter ihnen eine behagliche Summe. „Schau, schau, ist das Vögelchen endlich doch in die Sprenkel gegangen! Nu, nu, es kommt für Jedes einmal seine Zeit. Aber hier scheint’s schnell gegangen zu sein. Oder wär’s schon eine alte Liebschaft, und man hätte nur mit dem Herrn Onkel so lange Versteckens gespielt? Ei, ei, Jüngferchen, das sind mir schöne Geschichten!“

Mit diesen Worten zupfte der eben Eingetretene das über und über erglühende Mädchen am Ohrzipfel und gab ihm dann mit dem Rücken der Hand einen sanften Schlag auf die Wange. Aber im Nu machte sich die Traud sowohl von ihm wie von dem verdutzten Gabriel los, warf den Ring hastig auf den Tisch und stand in hellem Zorn, mit den Thränen kämpfend, zwischen den beiden Männern.

„’s ist nicht wahr!“ rief sie mit halberstickter Stimme, „und ich will ihn nicht und ich hab’ ihn nicht gewollt, und das ist schändlich von Ihnen, Herr Rentmeister, daß Sie aus einem dummen Spaß Ernst machen und so Reden führen, daß man sich in den Erdboden hineinschämen möchte, und nun sagen Sie’s nur dem Herrn, daß ich zu gut dafür bin, so Gespött und Kurzweil mit mir treiben zu lassen, und daß er sich Andere suchen mag, ihnen seine Ringe und seidene Kleider anzubieten, und wenn ich mit ihm gespaßt hab’, weil ich ihn für einen rechtschaffenen Herrn gehalten habe, nun thut mir’s von Herzen leid, denn ich sehe wohl, er ist nicht besser, als Alle. Gute Nacht!“

Sie war mit einem Sprunge hinaus, ehe noch Einer der Beiden ein Wort erwidern konnte.

[308] „Purrrrr! –“ machte der neuhinzugekommene Gast, ein solider Fünfziger mit kleinen goldnen Ringen in den Ohren, einem vergnügten glattrasirten Gesicht, aus dem ein paar kleine vergißmeinnichtblaue Augen unter röthlichen Wimpern hervorblinzelten, und einem Anzug, der vor zehn Jahren die neueste Mode gewesen war, nämlich enganschließenden Nankinghosen und einem blauen Frack mit goldenen Knöpfen. Er stellte seinen hohen grauen Filzhut auf einen Stuhl und fing an mit einem Taschenkämmchen seine etwas schiefgerückte blonde Perrücke zu frisiren. Dabei beobachtete er den jungen Fremdling scharf von der Seite, offenbar im Zweifel, was er aus ihm machen solle.

„Denken Sie nichts Unrechtes, Herr,“ sagte Gabriel nach einer Pause. „Das wunderliche Kind hat einen sehr harmlosen Scherz mißverstanden und mir nun selbst durch ihr Davonlaufen die Erklärung abgeschnitten.“

„Hm, hm!“ brummte der Andere, und seine Mienen wurden wieder ganz menschenfreundlich, „mir wär’ auch gar nicht bange, daß Einer den Scherz mit der Traud zu weit treiben könnte. Die hat Haare auf den Zähnen und weiß sich zu wehren. Und doch wünscht’ ich ihr, daß einmal der Rechte käme, dem es Ernst mit ihr wäre. Ja, ja, so ein Mädel! Der bravste Mann könnte Gott danken, wenn er sie kriegte. Hm, hm! Eine Prise gefällig?“

Gabriel nahm Anstandshalber ein paar Körnchen des grauen Schneebergers aus der silbernen Dose und rückte, die Höflichkeit zu erwidern, einen Stuhl für den Stammgast zurecht. „Sie sind ihr Onkel, wenn ich recht verstanden?“ fragte er.

„Nicht doch,“ erwiderte der Andere. „Ich wollt’ ich wär’s, dann nähm’ ich sie heute noch hier aus dem Mäusethurm weg und in meine Junggesellenwirthschaft, und wenn ich stürbe, wäre sie meine Erbin. Es ist nur so ein Spaß zwischen uns, daß ich mich ihren Onkel nenne, wissen Sie. Vorm Jahr um diese Zeit – nu, Sie werden keinen Gebrauch davon machen – da hab’ ich alter Narr mir wahrhaftig noch eingebildet, sie sollte mich mit einem ganz anderen Namen nennen. Sie war gescheiter als ich und hat mich ausgelacht, und da hab’ ich ein paar Tage gebrummt und bin weggeblieben. Aber hernach hab’ ich mich besonnen, daß das noch närrischer sei, mit ihr trutzen zu wollen, und hab’s auch nicht recht aushalten können zu Hause, und wie ich wiedergekommen bin, hab’ ich ihr gesagt: ,Darum keine Feindschaft, Traud; zehn Jahre hast Du Zeit, Dich anders zu besinnen, so lange bleibe ich Dir aufgehoben, Du brauchst nur zuzugreifen; aber drüber hinaus steh’ ich für nichts, und so lange will ich Dein Onkel sein, und versprich mir nur, daß Du mir’s zuerst klagen willst, wenn Du etwa einen Kummer hast? Nun, daran fehlt’s keinem Mutterkind, und so hatt’ ich bald genug was zu trösten; denn Sie müssen wissen – es bleibt aber unter uns – schon vor zwei Jahren, als sie noch sechzehnjährig war, hatte sie sich mit einem jungen Landwirth aus ihrem Dorf so gut wie versprochen, und nun heirathete der plötzlich eine reiche Bauerntochter, und auf den Brief, den sie ihm bei dem ersten Gerücht davon schrieb, hat er nicht einmal geantwortet. Seitdem ist sie nimmer die Alte, und obwohl es ihr hier an nichts fehlt – denn ihre Pathe hält die größten Stücke auf sie, und Jeder, der sie kennt, und ich selbst muß sagen, da ich nun seit fünf Jahren hier aus und ein gehe, es ist kein ungutes Fädchen an dem ganzen Mädchen – aber so recht von Herzen froh ist sie nicht mehr geworden. Hm, ja, wissen Sie!“

Er trank tiefsinnig das erste Glas von dem Schoppen, den ihm der Wirth, ohne zu fragen, gebracht hatte. Dann seufzte er und fuhr sich mit der Hand über die Stirn und unter sein Toupet, als würde es ihm zu warm darunter.

„Sie ist noch so jung,“ sagte Gabriel, den die zutrauliche Redseligkeit seines neuen Bekannten wohlthätig von seinem eigenen Sinnen ablöste. „Sie wird sich mit der Zeit trösten und nicht als eine Klosterfrau sterben.“

„Gewiß nicht, Herr,“ sagte der ,Onkel’. „Ich hab’ sie einmal darüber befragt. ,Wenn ein braver Mensch kommt’, hat sie gesagt, ,der mir nicht zuwider ist und sein Auskommen hat, warum sollt’ ich ihn nicht nehmen? So lieb wie den Lorenz kann ich freilich nie wieder einen Menschen haben. Aber was hat mir meine große Liebe geholfen? Unglücklich hat sie mich gemacht, und ich seh’ wohl, es ist nicht gescheit, einen Menschen so heftig zu lieben, daß man meint, ohne ihn müsse man das Leben hassen. Wenn er uns im Stich läßt, so sitzen wir recht erbärmlich da und haben das Nachsehen. Nein, sagte sie, ,ich will ihm den Gefallen nicht thun, um seinethalb mein bischen Leben zu vertrauern!’ – Sehen Sie, so sind unsere Mädchen hier am Rhein. Es geht ihnen wohl auch Alles nah, wie Anderen; aber wenn’s eben nicht sein kann, so kann’s eben nicht sein, und wer nicht alle Neun schiebt, kann immer noch einen Kranz werfen, wissen Sie. Darum ist mir auch für Traud gar nicht bange, desto mehr für mich und uns Alle, die wir uns nun seit Jahren an das liebe Gesicht gewöhnt haben. Hm, ja! ’s ist ein Kreuz.“

„Was meinen Sie damit?“

„Je nun, sie will mit Gewalt aus dem Haus, nicht etwa nach ihrem Dorf zurück, nur so zum Besuch; denn ihre Mutter hat noch sechs jüngere Kinder und ist eine Wittfrau und froh, die Traud hier bei der Pathe so gut aufgehoben zu wissen. Weiß Gott, wer dem eigenwilligen Ding in den Kopf gesetzt hat, sie müsse endlich auch einmal etwas Anderes sehen und thun, als was in einem Weinhaus zu erleben ist, und nun hat sie einen Dienst angenommen als Hausmädchen bei reichen Leuten. Sie wird sich wundern, wie ihr das vorkommen wird nach dem ungebundenen Leben hier, wo Alles sich um sie gedreht hat. Indessen, es muß eben Jeder durch Schaden klug werden. Aber was fang’ ich an, als Onkel ohne Nichte? Alle Gemüthlichkeit ist weg aus dem Mäusethurm, und was hilft nur die gute Küche der Frau Wirthin, wenn die Traud nicht mehr, Wohl bekomm’s!’ dazu sagt?“

Der Arme stützte dabei den Kopf so heftig in die Hand, daß das Toupet noch einen Zollbreit von der Stirn zurück rutschte, und schloß eine Weite die Augen, als könne er der öden, unheimlichen Zukunft nicht in’s Gesicht sehen. Gabriel fühlte ein lebhaftes Mitleiden.

„Wenn es nicht unbescheiden ist, zu fragen,“ sagte er: „warum haben Sie, mit Ihrem Bedürfniß nach Häuslichkeit und Menschen, für die Sie sorgen könnten, nicht geheirathet, Herr Rentmeister? Und da Sie noch in den besten Jahren sind, warum thun Sie es nicht noch jetzt, lieber heut’ als morgen?“

Der Gefragte öffnete schwermüthig die Augen und sagte: „Lieber Herr, warum ist der Mensch ein Thor, eh’ er zur Vernunft kommt? Sehen Sie, ich dachte, wie so Viele denken: die Beste wäre gerade gut genug für mich, und das ist der pure Unsinn. Die Erste Beste, wenn sie nur nicht übel ist, wird endlich die Allerbeste, wenn sie einem gut ist und man sich zwanzig Jährchen an sie gewöhnt hat. Ich hab’ mir Wunder was eingebildet, so lang’ ich ein junger Sausewind war, wie Sie – nichts für ungut! – und Die war mir nicht schön genug, und Jene nicht gebildet, und eine Dritte zu fromm, und Nummer Vier zu weltlich, und so fort. Und jetzt, wo das Spiel quarte-sept steht und, wenn ich nicht endlich zugreife, ich mit leeren Händen stehen bleiben werde bis an den jüngsten Tag, jetzt mein’ ich wieder, accurat wie die Traud müsse das Weib aussehen, mit dem ich glücklich werden sollte. Ein alter Esel bin ich, das weiß ich wohl – ganz unter uns gesagt –; denn was hilft mir mein bequemes Häuschen und Hab’ und Gut und Alles? Wenn Andere sich des Abends an einen Tisch setzen, wo so ein halb Dutzend Rangen herumsitzen und eine liebe Frau, bleibt mir nichts übrig, als in ein Weinhaus zu schleichen und mit anderen mißvergnügten alten Knaben ein einfältiges Spiel zu machen um ein paar Batzen. Und komm’ ich dann nach Haus, – statt im Dunkeln ein paar schlafende Kinderköpfe zu streicheln und noch ein paar Worte mit meinem Weibe zu wechseln über Dies und Das, hör’ ich nur meinen Kater schnurren auf seinem Stuhl am Ofen, und wenn ich die Nacht wegsterbe, – meine alte Köchin oder der Stiefelputzer fragen vor Allem danach, ob ich ihnen ein Legat ausgesetzt habe, und hier im Mäusethurm trinkt keiner den nächsten Abend einen Schoppen weniger, außer ich selber. Ja, ja, das ist das goldene Junggesellenleben, von dem die Ehemänner sprechen oder die jungen Herren, die’s nicht probirt haben. Zugreifen, so lang’ es noch Zeit ist, und nicht in der Suppe herumlöffeln, bis sie einem kalt geworden ist, das ist die wahre Weisheit, wissen Sie. Aber um Vergebung, daß ich Sie mit solchen Reden gelangweilt habe. Man ruft da drinnen nach mir. Es scheint, es fehlt ein vierter Mann. Hat mich sehr gefreut, Ihre werthe Bekanntschaft – und was ich geschwatzt habe, bleibt unter uns nicht wahr? Hm, ja, – guten Abend!“

[309] Damit stand der Biedermann auf und überließ Gabriel seinen Gedanken.

Oder was man so Gedanken nennt, zwischen dem vierten und fünften Glase, mit dem man sich Groll und Gram von der Seele zu waschen sucht, ohne zu merken, daß sie, anstatt heller, nur trüber davon wird. Der Winkel, wo der Einsame saß, war auch gar zu freudlos, der Geraniumtopf roch so süßlich und altjüngferlich, wie der Potpourri, den seine alte Tante auf ihrem Porcellanschrank stehen hatte, der Mond sah immer kälter und zudringlicher durch’s Fenster auf den weißen Tisch, und nebenan das biedere Gurgeln, Räuspern und Auftrumpfen der alten Herren, ihre stehenden hundertjährigen Spielwitze – Alles beklemmte ihm den Athem, daß er immer hastiger trank, immer wilder sich durch das Haar fuhr und endlich aufsprang, um in der Nachtkühle draußen ein paar freiere Athemzüge zu thun.

[321] Als Gabriel unter die Hausthür trat und in die enge Gasse hinaussah, über der der prachtvollste Mondhimmel funkelte, erleichterte sich sofort sein eingeschnürtes Herz unter dem Hauch der reinen Herbstlüfte, die er, wie ein Verdurstender ein Glas Wasser, begierig einsog. Jetzt hinauswandern, immer dem Monde nach, immer in der silbernen Dämmerung über Länder und Meere, nie zurücksehen, nie unter Menschen kommen, die ein Tagewerk treiben – wenn das möglich wäre! Aber im Grunde, was käme dabei heraus? Ist nicht dummer Weise die Erde rund, und fände man sich nicht endlich wieder am alten Fleck, nicht klüger, nicht froher, als man ausgegangen? Nein, hier bleiben, hier gute Miene zum bösen Spiel machen, und endlich, mit Geduld und Trotz, alle Schicksalstücke unter die Füße zwingen, daß man Jedem in’s Gesicht sehen und sich seines Lebens freuen kann!

Eben bog ein nachtschwärmendes Paar um die Ecke, ein Soldat mit seinem Mädchen, beide zwar an der mondhellen Seite, aber die Gesichter so dicht einander zugekehrt und so in ihr Geplauder vertieft, daß sie sich wie zwei Blinde langsam mit den Füßen weitertasteten. Sie kamen an Gabriel vorbei, ohne ihn gewahr zu werden. Er aber sah deutlich, daß es nur ein häßliches Schätzchen war, was der schmucke Bursche sich ausgesucht hatte, mit langen Armen, breiten Füßen und schmächtigen Schultern. Aber er hielt sie darum nicht minder sorgsam und angelegentlich umfaßt, und wie sie so mit überm Nacken verschlungenen Armen in einander vertieft dahingingen, überkam den Zuschauer doch etwas wie Neid. Der Bursche da, sagte er bei sich selbst, wird wenigstens nicht nöthig haben, dermaleinst Abend für Abend in ein ödes Quartier heimzukehren und mit dem Geschnurr des Katers am Ofen vorlieb zu nehmen. Er hat zugegriffen, zur rechten Zeit; hernach merkt er vielleicht, daß er sich vergriffen hat; je nun, darauf hin muß es ein Jeder wagen. Aber das schlimmste Loos zu Zweien ist doch erträglicher, als Niemand anzugehören und mitten unter den wimmelnden Menschenpaaren nur mit seinem unfruchtbaren Ich verheirathet zu sein!

Er war eben bei diesem etwas gewagten Satze angelangt und wandte sich mit einem tiefen Seufzer in den dunklen Hausflur zurück, um sein schweres Haupt und sein noch schwereres Herz zu Bette zu tragen, als ein artiges Bild, das eben wie für ihn hingemalt aus dem schwarzen Rahmen der hintern Thür hervorglänzte, seine müden Sinne plötzlich ermunterte. Die Thür nämlich am andern Ende des Hausganges öffnete sich in den Hof. Da stand mitten im Mondschein am fließenden Brunnen ein Mädchen, das er zwar nur vom Rücken sah, aber sogleich für die Traud erkannte. Sie hatte die Aermel bis an die Schultern zurückgestreift, neigte sich über den steineren Trog und wusch sich mit sichtlichem Behagen die nackten Arme, die sie dann, wie ein badender Vogel seine Flügel, hoch in der Luft schüttelte, daß die Tropfen im Monde blitzend um sie herumsprühten. Als sie das eine Weile so getrieben hatte, bückte sie ihr Gesicht unter den Wasserstrahl und ließ sich über und über berieseln, fuhr dabei mit den Händen über Stirn und Hals und achtete es nicht, daß ihre Zöpfe losgingen und zur guten Hälfte in’s Wasser hinabtauchten. Endlich richtete sie sich wieder auf und schwenkte und schüttelte nun auch den Kopf, wie vorher die Arme, und hielt dabei die fest zugedrückten Augen gegen den Mond, als wollte sie sich von seinen Strahlen abtrocknen lassen. Aber plötzlich riß sie sie weit auf und sah sich erschrocken um. Ein Arm hatte sich zutraulich um ihren schlanken Leib gelegt, eine Stimme ihren Namen genannt.

„Sie sind es?“ rief sie erschrocken. „Was nehmen Sie sich heraus? Den Augenblick lassen Sie mich los, oder ich bespritze Sie so, daß kein trockner Faden an Ihnen bleibt!“

„Sei still, Kind,“ sagte er, indem er ihre Hände zu fassen suchte. „Ich habe mit Dir zu reden.“

Sie aber wand sich wie ein Fisch aus seinem Arm, trat ein paar Schritte vom Brunnen weg und sagte mit zornig blitzenden Augen, während sie ihr nasses Gesicht mit dem Schürzchen abwischte: „Ist das auch Manier, Herr, einem nachzuschleichen und heimtückisch zu überfallen, wenn man an nicht Arges denkt? Ich seh’ wohl, Sie haben es darauf abgeseh’n, mir allen Tort anzuthun, und ich hab’s Ihnen vorhin noch nicht deutlich genug gesagt, daß ich so nicht mit mir spaßen lass’. Schämen Sie sich! Sie sind ’s gar nicht werth, daß ich freundlich zu Ihnen war, Sie haben gleich schlimme Gedanken, und ich will gar nichts mehr mit Ihnen zu schaffen haben. Haben Sie mich verstanden?“

Dabei schlang sie sich so heftig die losgegangenen Flechten wieder um den Kopf, daß das herumsprühende Wasser ihn in’s Gesicht traf. Aber er ließ sich nicht einschüchtern, sondern trat ihr näher und sagte mit seinem ernsthaftesten Ton:

„Traud, Du thust mir Unrecht, jetzt und schon vorhin. Ich mein’ es sehr gut mit Dir und bin nur gekommen, Dir eine bessere Meinung von mir beizubringen. Wir Zwei kennen uns noch nicht lange, aber man braucht keinen Scheffel Salz mit einander zu essen, um zu wissen, ob man einander vertrauen kann; dafür hat man ein Gefühl in sich, das klüger ist, als alle Erfahrung [322] und wenn Dir das Deine anfangs gesagt hat, daß ich ein rechtschaffener Mensch sei, so hat es Dich, weiß Gott! nicht betrogen. Ich sage Dir, Kind, Menschen, die man von Jugend auf zu kennen gemeint hat und lieb und theuer gehalten hat, die können einen plötzlich so fremd ansehen, daß es einem eiskalt übers Herz läuft.“

„Ja wohl,“ unterbrach sie ihn plötzlich und sah ebenfalls sehr ernsthaft vor sich nieder, „das kenn’ ich, das hab’ ich auch schon erlebt.“

„Nun siehst Du,“ fuhr er eifrig fort und bemächtigte sich ihrer kühlen feuchten Händlein, die sie ihm jetzt unbedenklich überließ; „also was soll der Mensch thun, dem so was begegnet ist? Wenn er irgendwo einen andern Menschen findet, zu dem er plötzlich so ein recht volles, herzhaftes Zutrauen faßt, daß er ihn nie betrügen werde, soll er den nicht festhalten mit beiden Händen und fragen, ob er nicht bei ihm bleiben und Freud’ und Leid mit ihm theilen wolle?“

Sie sah ihm mit einem großen, staunenden Blick gerade in’s Gesicht. „Mein Gott,“ sagte sie, „ist das nun wieder Spaß, oder spricht der Wein aus Ihnen?“

„Keins von beiden, Kind, sondern mein guter, ehrlicher Ernst. Ich weiß, daß Du ein braves und getreues Herz hast und daß Du jeden Mann glücklich machen wirst, den Du recht lieb hast, und ich, wenn ich mich auch nicht rühmen will, ich weiß auch von mir, daß Eine, die es mit mir wagen wollte, es nicht zu bereuen hätte, und wenn es mir schon einmal quer gegangen ist, ich denk’, ich verdiene es wohl, daß es mir nun desto besser gehe, und werden nicht auch Ehen im Himmel geschlossen? Also, dächt’ ich, wir sollten uns ein Herz fassen und, ohne uns lange zu besinnen, einander die Hand geben, um sie nie wieder loszulassen.“

Während er so sprach, verrieth keine Miene ihres Gesichts, welchen Eindruck seine Worte auf ihn machten. Sie stand mit herabhängenden Armen, die Augen ruhig auf seine Hand mit dem Ringe gesenkt, als erzähle ihr Jemand eine unverständliche Geschichte, die sie aber aus Höflichkeit nicht zu unterbrechen wage. Uebrigens war sie ihm nie so reizend erschienen, als eben jetzt, da ihr Gesicht ganz blaß geworden war, und die breiten Augenlider mit den langen Wimpern ihre runden Wangen beschatteten.

„Ich hätte eine Bitte,“ sagte sie jetzt leise und sah ihn forschend an, ob er es ihr auch nicht übel nähme: „wenn Sie mir den Ring da auf fünf Minuten leihen wollten; es sollte Ihnen nichts daran geschehen.“

„Nimm ihn,“ sagte er. „Er ist Dir ja zugedacht, und ich hab’ es schon vorhin ganz ernstlich gemeint, daß ich ihn nicht mehr am Finger leiden wolle.“

„Nein, nein, nein!“ erwiderte sie rasch. „Es ist nur, um etwas zu probiren.“

Sie nahm das blanke Reifchen behutsam zwischen Daumen und Zeigefinger und flog damit in’s Haus hinein.

Nach fünf Minuten, die er, am Brunnenrande stehend, wie im Traum verbrachte, kam sie wieder, jetzt langsam und mit einem geheimnißvollen, schüchternen Lächeln.

„Schon geschehen?“ fragte er.

Sie nickte.

„Und Alles in Richtigkeit?“

Die Röthe stieg ihr bis an die Schläfen. „Es ist wohl dummes Zeug,“ sagte sie. „Ich glaub’ selber nur so halb daran. Es heißt, wenn man von einer Person wissen will, ob sie ’s ehrlich mit einem meint, braucht man nur einen Ring von ihr zu nehmen, an ein Fädchen zu binden und in ein leeres Glas zu halten. Wenn er dann von selber zu schwingen anfängt und an’s Glas anklingt, so ist ’s recht und richtig.“

„Und der meine da? Hat er seine Schuldigkeit gethan?“

„Auf dem Fleck, kaum daß ich ihn hineingehängt hatte, und geklingelt, als ob das Glas zerspringen sollt’.“

„Nun siehst Du,“ rief er und ergriff ihre Hand mit dem Ringe, indem er mit aufglühender Freude das Mädchen an sich zog, „so wirst Du’s nun glauben, nicht wahr, und Dich entschließen, mit mir zu gehen und meine kleine Frau zu werden?“

Sie machte sich mit einer scheuen Geberde von ihm los. „Ich bitte gar schön,“ flüsterte sie. „So darf mich kein Mensch anfassen, als mein Bräutigam, und ich kann’s noch immer nicht glauben –“

„Was?“

„Daß wir Zwei zusammentaugen, ein studirter Herr, wie Sie, und ein armes Bauernkind. Seh’n Sie, das ist, wie unsere zwei Ringe neben einander; der meine da hat zehn Batzen gekostet, auf’s Höchste, und Ihnen Ihrer Gott weiß wie viele Gulden! Ich hab’ auch sonst gar nichts Ihnen zuzubringen, als meine gesunden Arme und mein gutes Gewissen. Es könnt’ Sie doch einmal reuen, wenn Ihnen später so ein recht gelehrtes, vornehmes Fräulein begegnete, das auch brav Geld hätt’ und zu schwätzen wüßt’ und Klavier spielen und Alles.“

Sie hatte eine so liebliche Art, das Alles zu sagen, daß er ihr am liebsten statt aller Antwort um den Hals gefallen wäre, um jeden Zweifel an seiner zärtlichen Neigung auf ihren Lippen zu ersticken. Aber er kannte sie nun schon genug, um einzusehen, wie wenig diese Art der Freiwerbung nach ihrem Sinn gewesen wäre.

„Setz’ Dich da einmal her zu mir,“ bat er, und führte sie zu einem Bänkchen, das im Schatten eines alten Baumes stand. – Sie that es und saß nun, die Hände in ihrer Schürze schlicht zusammengelegt, die jugendliche Brust etwas vorgebeugt, in der rührendsten Haltung von Unschuld und Hingebung ihm gegenüber, wie ein Kind, dem ein Märchen erzählt werden soll. Während er sprach, ließ sie kein Auge von ihm, ihr Athem ging ruhig aus und ein, und nur das Zittern ihrer feinen Nasenflügel verrieth dann und wann den Antheil, den sie an seinen Worten nahm. Er erzählte ihr ein gut Stück von seinen Schicksalen, beschrieb ihr das schöne Haus, das die Tante ihm hinterlassen, sein Leben und Treiben auf dem Gut, wie friedlich unbeschrieen sie dort hausen würden, und daß er nichts Anderes sei und sein wolle, als ein Weinbauer, zu dem ein Bauernkind, wenn es nur ein feines Herz und einen geraden Sinn habe, tausendmal besser tauge, als ein Stadtfräulein mit allem Schnickschnack, den man in der Pension lernt. Das Alles redete er so treuherzig an sie hin, daß er jedenfalls sich selbst vollständig überzeugte, er habe nie in seinem Leben etwas Gescheiteres gesagt und gethan als in dieser Stunde.

Als er endlich schwieg, stand sie ruhig auf und sagte: „Das ist Alles recht, und ich glaube Ihnen jedes Wort, aber Heirathen ist kein Kinderspiel, und Sie müssen mir schon erlauben, daß ich mich bedenk’ und Sie auch noch ein Paar Mal seh’ und spreche. Sie kennen mich ja auch erst seit drei Stunden. Es könnt’ doch sein, daß ich ein rechter Drach’ wäre und Sie kämen schlimm mit mir an.“

„Was Dich betrifft,“ sagte er, „so ist das meine Sache, und ich verlang’ nichts weiter von Dir zu wissen, als was meine zwei Augen mir gesagt haben. Wenn Du Dich aber bedenken willst, kann ich Dir ’s nicht wehren. Nur bedenk’ auch, daß ich morgen früh wieder nach Hause gehe, und was bis dahin nicht zu Stande kommt, ist ein für alle Mal aus und vorbei. Ich will Dich nicht weiter drängen. Ich nehm’ ein Zimmer hier im Haus und sag’ Dir gute Nacht. Morgen früh, eh’ ich fortreise, hol’ ich mir den Bescheid. Bist Du’s zufrieden, Schatz?“

Sie besann sich. Ein reizend nachdenkliches Fältchen zwischen Nase und Augenbrauen kam dabei zum Vorschein; er konnte sich nicht enthalten, es mit einem tüchtigen Kusse zu glätten.

„Darf ich der Frau Path’ Alles sagen?“ fragte sie erröthend.

„Nein! Ich will nicht, daß Du thust oder lässest, was ein Fremdes Dir eingiebt. Deinem Herzen sollst Du folgen. Wenn das für mich ist, kannst Du Dich getrost auf das verlassen, was es Dir räth. Ich möcht’ auch nicht,“ fuhr er fort, „daß die Sache beschwatzt und ausposaunt würde, eh’ wir zum Pfarrer gegangen wären. Die Menschen haben keine größere Freude, als Andern ihre zu verderben.“

„Das ist wieder wahr,“ sagte sie. „Nun also, schlafen Sie wohl, Herr ... wie heißen Sie aber?“

„Gabriel heiß’ ich. Ist der Name Dir recht?“

Sie lachte. „Wenn ein Erzengel damit zufrieden ist,“ sagte sie, „kann er einem armen Mädle wohl recht sein. Also gute Nacht, Herr Gabriel. Auf morgen früh!“

Sie reichte ihm herzlich die Hand, sah ihm noch einmal halb liebevoll, halb mit ungläubigem Staunen über das ganze Abenteuer in die Augen und verschwand dann, da man eben im Hause nach ihr rief, hurtiger, als ihm lieb war, von seiner Seite.

Er fühlte jetzt, daß der Tag für ihn zu Ende war. Auch hatte er sich seinen Schlaf wohl verdient nach so anstrengender Arbeit. Zwei Brautwerbungen im Verlauf eines einzigen Abends [323] sind selbst für den Rüstigsten keine Kleinigkeit. Also ließ er sich von dem Wirth ein Zimmer anweisen, warf, sobald er sich allein sah, die Kleider ab und ging zu Bette. Eine Weile lag er noch, mit offenen Augen nach der Decke starrend, wo die Hand eines geistreichen Stubenmalers sich in tollkühnen Arabesken verewigt hatte.

Es that ihm wohl, in dies Gewirr von krausen Schnörkeln und Zackenwerk zu blicken, bei denen sich nicht das Geringste denken ließ; denn so zufriedenen Schrittes er in sein Zimmer hinausgegangen war, so wenig geheuer war ihm doch in der Stille vor seinen eigenen Gedanken. Zuletzt seufzte er tief auf, löschte das Licht und kehrte sich nach der Wand, um zu schlafen.

Aber er mochte sich alle Mühe geben und die weisesten Selbstgespräche über die Nothwendigkeit der irdischen Geschicke vor sich hin phantasiren, es gelang ihm doch nicht, das unbequeme Etwas in sich einzuschläfern, das immer das letzte Wort behielt und ihm zuzuraunen sich unterstand: von den zwei Brautwerbungen dieses Tages sei die zweite noch um Vieles übereilter und halsbrechender gewesen, als die erste. Er hielt in Gedanken eine lange Rede an seine gute selige Tante, als ob sie noch lebte, um ihr klar zu machen, wie zweckmäßig er gehandelt habe. Dabei sah er aber immer ihr Haubenband wackeln, wie in alter Zeit, wenn sie ihm über einen seiner dummen Streiche auf ihre kurze und trockene Manier ihre Meinung sagte. Er brachte endlich ein Argument auf’s Tapet, das zwar vor der Tante nicht viel mehr Gnade fand, als alle übrigen, ihn selbst aber gar sehr beruhigte, nämlich: er sei es sich schuldig, zu zeigen, daß er kein Knabe mehr sei, der sich in den Winkel stellen lasse, wenn er sich nicht ganz nach Wunsch aufgeführt habe. Man werde doch curiose Augen machen, wenn man in der Rheinstraße Nr. 27 erfahre, der Vetter sitze keineswegs untröstlich im Schmollwinkel, sondern habe sich eine allerliebste kleine Frau genommen, von geringer Herkunft freilich, aber das unbescholtenste, munterste, liebenswürdigste Kind im ganzen Ländchen, das in dem schönen neu hergerichteten Hause mitten im Weingut sich ausnehme wie die Perle im Golde.

Die Genugthuung, die er hierüber empfand, hatte ihn nun wohl in Schlaf lullen können; auch war unten im Hause längst jedes Geräusch verstummt. Nur die große Uhr auf dem Gange vor seinem Zimmerchen tickte so hart und beschwerlich wie ein böses Gewissen und schlug mit heiser schnarrender Zunge die Viertelstunden. Es überkam ihn zuletzt eine Art von persönlicher Erbitterung gegen das alte Hausgeräth, als wäre Alles in bester Ordnung, wenn der verwünschte Pendel nur nicht beständig den Frieden störte. Ganz erbos’t stand er endlich auf, schlich im Dunkeln hinaus und tastete an dem Werk herum, bis er’s zum Stehen gebracht hatte. Darauf empfand er eine große Erleichterung, legte sich wieder nieder und schlief nun auch fest und traumlos ein. –

Um dieselbe Stunde war in einem Zimmer der Rheinstraße Nr. 27 noch Licht. Eine kleine blasse Frau sagte einem schönen schlanken Mädchen gute Nacht und küßte sie mütterlich aus Stirn und Augen. „Dein Kopf ist so heiß, Kind“ sagte sie; „es thut mir leid, daß ich gerade heute davon gesprochen habe, aber einmal mußte es doch geschehen, und da ich wußte, daß Dein Herz dabei nicht betheiligt ist, dacht’ ich, es würde Dich nicht sehr aufregen. Nun, schlaf’ Dich aus und denke, daß auch Dein Vater keinen andern Wunsch hat, als Dich glücklich zu sehen.“

Was hatte die Mutter mit der Tochter zu reden gehabt? Es war eben nichts Unerhörtes, und dies Gespräch nicht das erste seiner Art. Daß der Vater des jungen Bordelesers an ihren Vater geschrieben, wie es sein und seines Sohnes lebhaftester Wunsch sei, die alte Geschäftsverbindung der beiden Häuser durch ein noch innigeres Band zu befestigen, und wie der Sohn es als sein höchstes Lebensglück ansehe, die Neigung der schönen Cornelie zu gewinnen; und dann die Bitte, seinen ernstlichen Bewerbungen wenigstens nicht hinderlich in den Weg zu treten, falls das Herz ihrer Tochter noch frei sei: das hatte die kluge Mutter geglaubt ihrem Kinde eröffnen zu müssen, damit es auf der Hut sei und die Hoffnungen des jungen Hausfreundes nicht ermuthige, falls es sie nicht endlich zu erfüllen gedachte.

„Nimmermehr!“ hatte Cornelie gesagt. „Ich schätze ihn gewiß, aber ich kann überhaupt den Gedanken nicht fassen, wie ich fort sollte von Dir und dem Vater.“

„So lange Du das nicht kannst,“ hatte die Mutter erwidert, „ist es freilich nicht der Rechte. Ich möcht’ aber nur wissen, Du seltsames Kind, wie der einmal aussehen soll!“ –

Darauf hatte Cornelie geschwiegen, aber der Mutter war es auch eben nicht um eine Antwort zu thun; sie kannte ihre Tochter bis zum letzten Grunde ihrer schweigsamen Seele und hatte wohl gemerkt, als sie heut’ nach Hause gekommen, daß irgend etwas vorgefallen sein mußte, und weiter nicht gefragt, als Cornelie mit erzwungener Gelassenheit berichtete, der Vetter sei da gewesen. Sie wartete immer, bis ihr Kind selbst das Bedürfniß fühlte, sich gegen sie auszusprechen. Heut’ war das noch nicht zu hoffen; darum ließ sie sie allem. Aber sie horchte in ihrem Zimmer nebenan, ob das Kind zur Ruhe komme. Das geschah erst nach Stunden. Das Fenster war geöffnet worden, als wäre es nebenan zu schwül gewesen. Das Stühlchen am Schreibtisch hatte sie rücken hören, und der stand so nah am Fenster; das unbedachte Kind wird doch nicht an der rauhen Luft sich heiß geschrieben haben? Und doch wehrte ihr ein gewisses Zartgefühl, noch einmal hineinzugehen; als ob sie sich in ein Geheimniß eindrängte, das man ihr vorenthalten wolle. Endlich wurde das Fenster geschlossen und Alles still. Aber am frühen Morgen schon trieb es das unruhige Mutterherz aus dem Bette, um nach ihrem Liebling zu sehen. Es war noch sehr dunkel im Zimmer, aber sie erkannte doch die glühenden Wangen und den fieberhaften Glanz in den Augen, als Cornelie sie überwacht und traurig zu ihr aufschlug. Nun machte sie sich Vorwürfe, daß sie nicht schon in der Nacht dem Unverstand gewehrt hatte, und beruhigte sich nur halb, als der eilig gerufene Arzt erklärte, es habe nichts zu bedeuten. –

Noch ein wenig früher erwachte im Mäusethurm ein uns wohlbekannter junger Mann, der nach viel unbesonneneren Nachtschwärmereien dennoch den Schlaf des Gerechten geschlafen hatte. Der Rausch aber, in den ihn gestern Abend sein bitteres Herzeleid, der edle Wein und der alte Freund phantastischer Thorheiten, der Mond, hineingelockt hatten, war jetzt verflogen, und in der nüchternen grauen Nebelfrühe, als er sich plötzlich auf Alles zurückbesann, überkam ihn ein so klägliches, so mitleidswürdiges Gefühl, wie er es nach den tollsten Gelagen und den schlechtesten Weinen nie erlebt hatte. Er stützte sich im Bette auf und sah in den Hof hinaus, wo die entblätterten Aeste des Baumes, unter dem er gestern mit der Traud gesessen, nicht mehr wie Silber schimmerten, sondern schwarz und feucht in die falbe Luft hinaufstarrten. Er hätte viel darum gegeben, wenn er den Abend aus seiner Erinnerung hätte wegwischen können, wie eine falsche Rechnung auf einer Schiefertafel. Aber um so aufdringlicher kam ihm jedes Wort zurück, das er gesprochen hatte, und so unmöglich es ihm jetzt schien, so gewiß und unzweifelhaft war es: er hatte wie ein leichtsinniger Spieler sein Lebensglück auf eine verdeckte Karte gesetzt. Wo war nun der bittere Trotz, der ihm gestern Abend zugeraunt, er sei es sich schuldig, zu beweisen, daß er sich nicht so leicht niederschlagen lasse? Nichts dachte er jetzt, als daß er einer der unglücklichsten Menschen auf Erden sei, und daß ihm unter der Erde wohler sein würde. Die alte Liebe trat wieder dichter an sein Herz, daß er hätte aufschreien mögen, da er sich gestehen mußte, wie schwer er sich an ihr versündigt hatte. Es schien ihm noch Alles ganz so hoffnungslos, wie Tags zuvor, ja noch weit schlimmer, da er nach dem, was vorgefallen, sich noch weniger getraut hätte, in dem Hause in der Rheinstraße wieder anzuklopfen, als müsse ihn Jedermann darin, vom Hausherrn bis zum Portier, auf das Abenteuer im Mäusethurm ansehen. Aber besser in ewiger Einsamkeit seine verlorenen Hoffnungen begraben, als vorlieb nehmen mit dein ersten besten Ersatz.

Und doch, so klar ihm das Alles war, so peinlich war ihm der Gedanke, das nun geradezu dem guten Mädchen zu erklären, dem er gestern die treuherzigsten Geständnisse gemacht hatte. Was sollte sie davon denken? Was hatte sie ihm über Nacht zu Leide gethan, um sie nun ebenso kurzangebunden abzudanken, wie er sie ohne viel Besinnen an sein Herz gezogen hatte? Wie vernünftig und überzeugend hatte er ihr Alles vorgestellt und jede ihrer Einreden entkräftet! wie feierlich betheuert, daß er ihres Vertrauens werth sei! Und jetzt sollte er sich mit der Weinlaune entschuldigen oder gar ihr gestehen, daß sie ihm nur gerade gut genug gewesen sei, da eine Bessere ihn abgewiesen?

Er war in einer so verzweifelten Stimmung, daß er hundertmal sein Leben verwünschte.

Aber etwas mußte geschehen, und wie er jetzt aus dem Bette sprang und, nachdem er lange genug tiefsinnig in die Stiefelschäfte gestarrt hatte, endlich entschlossen hineinfuhr, schien ihm aus dem [324] Boden eine geheime Kraft zuzuströmen. Er wollte das Haus, dessen Bewohner hoffentlich noch schliefen, ohne Weiteres verlassen, nach Hause fahren und dort einen ausführlichen, sehr liebevollen und sehr herzbewegenden Brief an die Traud schreiben, um ihr sein treuloses Davonschleichen auf die schonendste Weise zu erklären. Vielleicht auch hatte sie selbst, nachdem sie sich’s beschlafen, sich in ihrer ersten Meinung bestärkt, daß sie doch wohl nicht für einander taugten, und es kam ihr nur gelegen, wenn er ihr das halbe Wort, das sie ihm gegeben, zurückgab.

Hastig fuhr er in die Kleider und öffnete leise die Thür. Im Hause schien wirklich noch Niemand wach zu sein und er nahm sich in Acht, die Treppenstufen nicht zum Knarren zu bringen. Als er aber glücklich unten war und sich eben, behutsam schreitend, der Thür des Gastzimmers näherte, öffnete sich diese und die Traud stand vor ihm. Sie schien an seinem Schleichen kein Arg zu haben, sondern es eher für einen Beweis ihres zärtlichen Einverständnisses zu halten. Um so beschämender war es ihm nun selbst, so gleichsam auf Diebeswegen ertappt zu sein, und er brachte nicht einmal den Morgengruß über die Lippen. Auch sie sagte nichts, nickte ihm nur mit vertraulichem Lächeln zu und zog ihn an der Hand sich nach über die Schwelle. Drinnen brannte eine einzelne Kerze, deren ungewisser Schein die Röthe auf seinen Wangen nicht verrieth. Aber das arglos heitere Gesicht des Mädchens sah er deutlich genug, um plötzlich allen Muth zu einer unumwundenen Erklärung zu verlieren. Es soll nicht sein! murmelte er vor sich hin. Du entrinnst deinem Schicksal nicht. Die Strafe für deinen Leichtsinn soll dir nicht geschenkt werden. Und da sie Niemand trifft, als dich selbst, so ergieb dich darein, statt noch dies unschuldige Herz zu kränken, dem alles Vertrauen auf Menschen plötzlich schwinden würde, wenn du sie so grausam enttäuschen könntest.

In diesen unglückseligen Gedanken schritt er das Zimmer auf und ab, wie ein Gefangener, der sich endlich in seine Unfreiheit ergiebt. Er sah ihr dabei durch die offene Thür zu, wie sie in der Küche geschäftig über dem hellen Feuer ihm den Kaffee kochte und dann Alles zu seinem Frühstück zusammholte. Dabei nahm sie sich in ihrem weißen Häubchen und dem sauberen Kattunröckchen ganz wie eine reizende kleine Hausfrau aus, und wenn er sich dachte, daß sie so an seinem Heerde schalten und walten sollte, schien ihm sein Loos noch immer gnädig genug. Sie fragte ihn ein paar Mal unbedeutende Sachen, wie er geschlafen habe, ob er wirklich schon fort müsse. Ihre muntere Stimme that ihm, so wund sein Inneres war, dennoch wohl. Es war etwas von dem Klange darin, wie am dunkeln Morgen die Vögel in den Bäumen zu zwitschern anfangen, was ein Kranker gern hört.

Als sie ihm dann das Frühstück auftrug, brachte er es über’s Herz, sie freundlich anzublicken und ihr mit seiner heißen Hand sanft über das blonde Haar zu streichen. Eine liebliche Röthe stieg ihr in die Wangen, sie sagte aber nichts, und auch er fand noch immer kein unbefangenes Wort. Erst als er den Zucker nachdenklich in der Tasse umgerührt hatte, wobei sie ihm am Tische stehend so ernsthaft zusah, wie ein Student einem merkwürdigen chemischen Experiment, gewann er es über sich, von der Hauptsache anzufangen.

„Nun, Traud?“ sagte er.

Sie schien nur darauf gewartet zu haben.

„Ich habe mir’s die halbe Nacht überlegt,“ sagte sie mit sicherem Ton, ehrlich und wacker, wie wenn sie in der Kinderlehre ihr Glaubensbekenntniß aufsagen müßte. „Wenn es wirklich Ihr Ernst ist, so wird es ja wohl mein Glück sein. Nur müssen Sie ein bischen Geduld mit mir haben, denn ich habe wohl guten Willen, aber ich bin noch jung und weiß nicht viel, und Sie werden es in manchen Stücken anders gewöhnt sein. Lieb haben werd’ ich Sie können, das fühl’ ich schon jetzt, und treu werd’ ich Ihnen auch sein. Ich bin noch Niemand untreu geworden, der’s nicht mir wurde, und auch dann hat mich’s Herzweh genug gekostet. Hier haben Sie meine Hand darauf. Wir wollen recht gut miteinander hausen, Herr Gabriel.“

Er nahm ihre Hand und sah ihr mit wehmüthigem Ernst in die Augen. Ihre schlichten Worte hatten das Letzte gethan, seinen Entschluß zur Reife zu bringen. „Ich glaube Dir, Traud,“ sagte er, „und es wird ja, denk’ ich, Gottes Wille sein, daß wir glücklich miteinander leben. So viel an mir liegt, soll geschehen, Dir ein gutes Leben zu bereiten, und Du sollst Dich nicht in mir getäuscht haben. Ein Vierteljahr freilich, oder etwas länger, wird es wohl noch dauern, bis ich Dich heimführen kann. Aber bis dahin komm’ ich ab und zu und besuche Dich, und wir schreiben uns auch und besprechen Alles, was noch nöthig ist, und vorläufig, nicht wahr? erfährt kein Mensch davon.“

Sie nickte und legte die Hand auf’s Herz.

„Und noch Eins,“ sagte er. „Du hast in einen Dienst gehen wollen. Das darfst Du nun nicht mehr thun, hörst Du wohl? sondern mußt hier im Hause bleiben bei Deiner guten Frau Pathe. Meine Braut soll keine Magddienste thun bei fremden Leuten. Versprichst Du mir das?“

„Es wird aber schwer halten,“ sagte sie nachdenklich. „Denn ich soll ja auch den Grund nicht sagen. Indessen, es sind noch drei Tage bis zum Ziel, da wird mir schon was einfallen, und am Ende ist’s meinen Leuten hier gerade recht, wenn mich’s wieder reut und ich sag’, ich will nicht weg von ihnen.“

„Abgemacht!“ sagte er und stand auf. „Und hier ist der Ring, mein liebster Schatz, den magst Du tragen oder aufheben, wie Du willst. Streck Dein Fingerchen aus, daß ich ihn Dir anstecke.“

Sie wurde über und über roth und schlug die Augen nieder. Dann streifte sie ihr eigenes Ringelchen mit den Granaten vom Finger und bot es ihm mit einer Zaghaftigkeit, die ihn herzlich rührte. „Er hat keinen Werth,“ sagte sie, „aber ein treues Herz hängt daran, und Sie werden’s wohl nicht verschmähen.“

Da umfaßte er das liebliche Kind und küßte es auf den Mund, der seinen Lippen freundlich entgegenkam. Gleich darauf machte sie sich wieder los und zog unter ihrem Fürtuch ein Büchelchen hervor. „Ich hab’ Sie gestern Abend doch angelogen,“ sagte sie mit einem lustigen Gesicht. „Ich hab’ gesagt, ich wär’ arm wie eine Kirchenmaus, um erst zu sehen, ob Sie es dennoch nicht gereuen würde. Es ist aber nicht gar so schlimm. Sehen Sie, das ist mein Sparcassenbuch, da stehen hundertundsechszig Gulden darin, und die Interessen lass’ ich immer beim Capital stehen, so wächst es mit der Zeit. Das hab’ ich mir Alles zusammengespart von Trinkgeldern und Neujahrsgeschenken, und auch ein bischen Aussteuer bring’ ich Ihnen zu, daß Sie sich meiner nicht so gar arg zu schämen brauchen.“

Sie sah ihn triumphirend an und tupfte mit dem Finger auf die Zahlen in ihrem Büchlein, daß er lachen mußte.

„Schau,“ sagte er, „da mach’ ich ja eine gute Partie. Am Ende hat mir’s Einer gesteckt, und ich nehm’ Dich nur des Geldes wegen?“

Er umfaßte sie wieder und führte sie ein paar Mal das Zimmer auf und ab. Sie verabredeten, daß sie ihm zuerst schreiben sollte, und seine Antwort sollte er poste restante adressiren, und in acht Tagen wollte er wiederkommen, und wo sie sich dann treffen wollten, daß sie sich ohne Zeugen aussprechen könnten. Je länger ihn die Heimlichkeit dieser Morgenstunde umfing, je mehr verließ ihn seine Beklommenheit, und als er endlich, da es im Hause lebendig wurde, Abschied nahm mit einem herzlichen Kuß und Händedruck, und in das kühle Morgenroth hinauseilte, glaubte er wirklich, er habe nichts zu bereuen und es werde ihm nicht schwer fallen, dieses Mädchen als seine kleine Frau sein Leben lang werth zu halten und auch so glücklich mit ihr zu werden, als es ihm überhaupt noch möglich sei, nachdem er seiner Jugendliebe habe entsagen müssen.

Diese Stimmung blieb ihm auch treu, während er auf dem raschen Dampfer den Rhein hinunterfuhr. Nur wie er sein Haus, auf stattlicher Terrasse nahe am Landungsplatz gelegen, aus dem grünen Hintergründe der Weinberge hervorschimmern sah, fiel es wie ein plötzlicher Nebel über seine Zukunftsgedanken. Wie anders hatte er wiederzukommen gedacht! Das kleine Ringlein von seinem Schatz konnte er plötzlich nicht mehr am Finger leiden.

Er streifte es ab und steckte es in die Westentasche. Im nächsten Augenblick schämte er sich dieser Schwäche und steckte es wieder an. Aber als ihm am Eingang seines Besitzthums der Verwalter entgegentrat und ihn mit einem fragenden, verschmitzten Schmunzeln bewillkommnete, hatte er nicht das Herz, ihm in die Augen zu sehen, sagte nur, ein plötzliches Geschäft sei daran schuld, daß er so geschwind zurückkehre, ließ sich zerstreut über den Fortgang der Lese berichten und ging in’s Haus, mit dem Befehl, daß man ihn nicht stören solle, da er zu schreiben habe.

[337] Drinnen in seiner Wohnung aber sollte Gabriel erst vollends unheimlich zu Muthe werden. Denn in der Hoffnung, nächster Tage mit Cornelie und ihren Eltern dieses Haus zu betreten, um das Fest der Weinlese zugleich mit seiner Verlobung zu feiern, hatte er fast in jedem Zimmer eine Ueberraschung für das Bäschen vorbereitet, hier den Flügel, den er ihr schenken wollte, dort einen großen vergoldeten Käfig mit ihren Lieblingsvögeln, eine hübsche Handbibliothek der besten Dichter, deutscher und englischer, in einem zierlich geschnitzten Schrank, ein kleines Cabinet ganz mit hellblauer Seide tapezirt und möblirt, da sie noch auf jenem letzten Ball davon gesprochen, in ihr Boudoir dürfe keine andere Farbe kommen, und endlich in seinem eigenen Zimmer, wie eine Weihnachtsbescheerung auf einem Tischchen aufgebaut, all’ die kleinen Geschenke, die er im Lauf der Jahre von ihr erhalten, von dem ersten Serviettenband aus blauen Perlen gestickt bis zu einem schönen zweiarmigen Leuchter aus grüner Bronze, den er wie ein Heiligthum auf allen Reisen mit sich geführt hatte, in der Hoffnung, daß er einst sein häusliches Glück beleuchten werde. Wie er dies Alles wiedersah, fuhr ihm ein Krampf an’s Herz, daß er in einen Sessel zurückfiel und eine Weile in tödtlicher Beklemmung dalag, bis die unselige Angst und Ohnmacht sich in einen Strom von Thränen auflöste.

Als sie endlich zu fließen aufhörten, fühlte er, daß er es sich selber schuldig sei, ein für alle Mal einen Strich unter die Vergangenheit zu machen. Er räumte zunächst mit seinen Erinnerungszeichen auf, verschloß das blaue Cabinet und ließ die Vogelhecke, unter dem Vorwande, sie schmetterten ihm zu laut, von der Verwalterin in ein Hintergebäude übersiedeln. Dann stellte er sich im Wohnzimmer vor das Bücherschränkchen, nahm ein Buch nach dem andern heraus, blätterte darin und stellte es wieder zurück. Warum soll sie mit der Zeit nicht auch daran Gefallen finden? sagte er vor sich hin. Und wenn nicht, was schadet’s? Haben nicht Jahrhunderte und Jahrtausende sich ganz wohl befunden, ohne etwas von Goethe und Shakespeare zu wissen? Leben wir denn nur von Lesen und Schreiben, und ist ein unverfälschtes Naturgefühl nicht tausend Mal beglückender als die sogenannte Bildung, die im besten Fall nur eben auf glänzende Formeln bringt, was sich für ein gesundes Menschenwesen von selbst versteht? Natur – Natur ist Alles! Wenn ich auf einer Robinsonsinsel hauste, was läge mir daran, ob meine Frau eine Beethoven’sche Sonate herunterstümpern könnte? Und was hindert mich, hier auf meinem Grund und Boden mich so einzurichten, daß ich nach keinem Menschen zu fragen brauche, und um mein häusliches Glück einen Zaun zu ziehen, den keiner von diesen überfeinerten Weltmenschen durchbrechen kann? So will ich es machen! schloß er seinen Monolog. Und es müßte wunderlich zugehen, wenn dieses liebenswürdige gute junge Geschöpf mir nicht endlich mehr werth werden sollte, als Alles was ich früher für ein Lebensbedürfniß angesehen habe!

Nach dieser unter solchen Umständen sehr zweckmäßigen Moralisirung seines eigenen Innern wurde es still und fast heiter in ihm. Er ging in die Weinberge hinaus, sah überall nach dem Rechten, redete noch freundlicher als sonst mit den Arbeitern und legte sich am Abend todmüde zu Bette, um neun Stunden zu schlafen. Nicht schlimmer ging es auch die folgenden Tage. Er rief sich jede ihrer Geberden, jedes ihrer Worte in’s Gedächtniß zurück, und fing an ein Verlangen zu fühlen, ihren Kopf wieder zwischen seine Hände zu nehmen und ihre unschuldigen Lippen zu küssen. Besonders zwischen den Reben überkam ihn ordentlich eine Art Bräutigamsstimmung. Wie artig müßte sie sich hier ausnehmen, Trauben abschneidend oder mit ihren flinken Händen die edelsten Beeren abpflückend für den Auslesewein! Natur! seufzte er vor sich hin; Natur ist das Erste und Letzte! – Dabei trank er ungewöhnlich viel Most und war so gesprächig, daß sich die Frau des Verwalters anfing Sorgen zu machen, er habe wohl gar etwas im Kopf; ihr Mann tröstete sie, deutete auf’s Herz und sagte: „Wenn er was hat, so hat er es hier'!“

Endlich am vierten Tag kam ein Brief, der dem neugierigen Ehepaar zu rathen aufgab, da die übrigens ganz richtige Adresse nach einer unbehülflichen Kinderhand aussah, auch Papier und Siegel eher einen Bettelbrief vermuthen ließen. Unter dieser kopfschüttelnden Bezeichnung überreichte ihn der Verwalter seinem Herrn und erstaunte nicht wenig, als dieser ihm den Brief hastig aus der Hand riß, in sein Zimmer eilte und die Thür hinter sich abschloß. Dort aber konnte er noch eine ganze Weile sich nicht entschließen, das Siegel zu brechen. Er zündete sich eine Cigarre an, ging heftig dampfend im Kreise um den Tisch herum, auf welchem dieser erste Liebesbrief neben einer Broschüre über die Traubenkrankheit lag, und mußte sich künstlich durch die Erinnerung an jenen Mondscheinabend am Brunnen Muth einflößen, um endlich, den Brief in der Hand, sich auf den Divan zu strecken und das Couvert zu öffnen.

Da las er, in derselben kindisch verlegenen Handschrift wie die Adresse, Folgendes:

[338]
„Hochedelgeborner Herr!
Werthgeschätzter Herr Bräutigam!

„Obgleich es noch nicht lange her ist, daß ich mich Ihres Umgangs zu erfreuen habe, so hat mir doch derselbe Gelegenheit verschafft, mich von Ihren vortrefflichen Eigenschaften vollkommen zu überzeugen. Ihr holdseliges Wesen machte, als ich das erste Mal in Ihrer Gesellschaft war, sogleich einen bezaubernden Eindruck auf mein Herz, und Ihren süßen, schmachtenden Augen, sowie den nachtigallähnlichen Flötentönen Ihrer Stimme konnte ich, ach, nicht widerstehen. Dahin ist es nunmehr gekommen, Liebenswürdigster der Sterblichen, daß an meinem Himmel ewige Mitternacht ist, wenn die Pollarsterne (sic) Deiner („braunen“ war ausgestrichen und „blauen“ darüber geschrieben) Augen mir nicht zulächeln. Ich habe also das Geständniß meiner innigsten Neigung für Sie offen dargelegt. Aber Liebe ohne Gegenliebe ist Höllenpein. O stoßen Sie mich nicht, unempfindlich gegen die Ergießungen eines jungfräulichen Herzens, von sich weg! Schon einige Worte des Trostes werden mich unendlich beglücken. Und wie der Dichter sagt:

Wandle auf Rosen und Vergißmeinnicht,
Der Kranz, den uns die Liebe flicht,
Soll blühen, bis das Auge bricht,

so schließe ich mit dem Gefühle dankbarer Verehrung und Zärtlichkeit

Ihre geliebte Braut               
Gertrud Wendelin.“

Er hatte in einer Art Betäubung halblaut bis zu Ende gelesen; erst als er den Namen aussprach, schien das Bewußtsein zu erwachen: das Alles sei an ihn gerichtet. Eine Weile erlag er dem vernichtenden Eindruck. Dann befreite ein Lachkrampf sein gepreßtes Herz. Er schleuderte den Brief weit von sich, wälzte sich auf dem Divan und lachte, bis ihn die Seiten schmerzten und die Thränen ihm über das Gesicht liefen. Noch in diesem verzweifelten Humor sprang er plötzlich auf, rannte zu einem Schrank, wo er allerlei Kram verwahrte, und zog aus einem Fach ein Büchlein hervor, sehr vergilbt und zerlesen, in dem er eifrig zu blättern begann. Es war ein uralter „Briefsteller für Liebende“, den ihm lustige Cameraden, um ihn mit seiner Unempfindlichkeit gegen das schöne Geschlecht zu hänseln, vor Jahren verehrt hatten. Nicht lange brauchte er zu suchen, als er richtig in gedruckten Lettern die zärtliche Herzensergießung fand, die er soeben in unbehülflich großen geschriebenen Buchstaben gelesen hatte. Von Neuem schlug er ein fieberhaftes Gelächter auf, brach aber plötzlich ab, hob den weggeworfenen Brief vom Boden auf und fing an ihn in ganz kleine Stücke zu zerpflücken. Die warf er eins nach dein andern, mit einer Bedachtsamkeit, als wenn ihm dies Geschäft eine große Befriedigung gewährte, in seinen Aschenbecher und zündete das Häuflein an. Als das letzte Fünkchen verglommen war, fiel ihm ein, daß noch das Couvert vorhanden sei. Wie er es aber aufhob, fand er noch einen Zettel darin, den er erst übersehen hatte. Darauf standen von derselben Hand, aber in sichtbarer Eile und sehr unorthographisch, während der eigentliche Brief in diesem Punkte nichts zu wünschen übrig ließ, die folgenden Zeilen:

„Ich hab’ nun doch in das Haus müssen, wo ich mich vermietet hab’, aber nur auf ein paar Tag’ und Sie werden mir gewiß nicht böse sein, wenn Sie den Grund erfahren, den ich Ihnen sagen werde, wenn wir uns sehen und das ist am Sonntag, wenn Sie Wort halten, und ich bin die Sie liebende und hochschätzende Traud.“ – „Nachschrift. Das Hausnummro ist Nummer 27 in der Rheinstraß’, falls Sie mich lieber dort aufsuchen wollten, als wo wir abgeredt haben. Es ist ein vornehmes Haus und Sie brauchen wegen meiner nicht zu sorgen, daß ich schlecht gehalten würde. Ich bin nur um das Fräulein hier, Fräulein Cornelie heißt sie, und sie ist krank, und darum konnt’ ich’s nicht abschlagen, wenigstens auf eine Woche einzutreten, weil sonst keine dagewesen wär’ zur Pfleg’, und nun wissen Sie’s und werden gewiß nichts dagegen haben. Leben Sie recht wohl und denken an Ihren Schatz.“

Er sprang in die Höhe und rannte wie ein Unsinniger, sein Haar zerwühlend, in heller Verzweiflung durch das Zimmer. Das war zu viel der Schicksalstücken auf Einmal, und das Lächerliche zu dicht an das Tragische gerückt, um noch seiner Sinne Herr zu bleiben. Er glaubte vor Beschämung und Kummer ersticken zu müssen, stürzte auf die Terrasse’ hinaus, und als es ihn auch dort nicht duldete, rannte er in den Stall hinunter, sattelte sich selbst sein Pferd und sprengte, barhaupt wie er ging und stand, auf die Landstraße hinunter, die dort in großen Windungen neben dem Flusse hinläuft.

Der Verwalter, der ihm seinen Strohhut nachbringen wollte, kam zu spät und sah seinen Herrn nur gerade noch um die nächste Ecke verschwinden. Noch mehr hatte er Ursache den Kopf zu schütteln, als er den Tag überhaupt nicht wiederkam, am folgenden Tage statt seiner nur ein Briefchen mit dem Mittagsdampfer, man solle ihn nicht erwarten, er wisse selbst nicht, wie lange er ausbleibe, – und dann vier bis fünf Tage nichts mehr, da doch seine Anwesenheit während der Lese besonders nöthig gewesen wäre. Endlich am sechsten Tage – der Frühnebel lag noch dicht und zähe über Fluß und Hügeln, und die Sonne schien ihn heute nicht bezwingen zu können – erklang Hufschlag am Terrassenthor, und die Winzer sahen den jungen Gutsherrn langsam heraufreiten, Roß und Reiter sichtbar ermüdet und der Pflege bedürftig. Aber auch jetzt noch erhielt der besorgt sich erkundigende Verwalter keine Auskunft. Als er die Briefe überreichte, die inzwischen eingelaufen, glaubte er zu bemerken, daß der Herr mit einer gewissen Angst die Adressen überflog, ob keine von jener geheimnißvollen Hand darunter sei, und zufrieden aufathmete, da es nur Geschäftsbriefe waren. Dann mußte er den Herrn allein lassen, der auch sogleich sich an seinen Schreibtisch setzte, um einen Brief zu schreiben, über dessen Fassung er nun lange genug gebrütet hatte.

Er hatte aber kaum die Anrede geschrieben „Liebe Gertrud!“ und wollte eben anfangen, alles Herzliche und doch so Schmerzliche, was er ihr zu sagen hatte, auf’s Papier zu bringen, als der Verwalter an die verschlossene Thür pochte und hineinrief, der Herr möge entschuldigen, aber es sei ein junges Mädchen draußen, das durchaus mit ihm sprechen müsse; sie sage, der Herr kenne sie schon, und sie sei eben mit dem Dampfschiff gekommen, um ihm etwas Wichtiges mitzutheilen.

Mit zitternder Hand schloß er auf und sah richtig draußen im Flur die Traud, reisefertig angethan, in Tuch und Strohhütchen, ein schmales Bündel unterm Arm. „Ist’s erlaubt?“ sagte sie und trat ohne seine Antwort abzuwarten in sein Zimmer, dessen Thür er hastig zuwarf; doch schloß er nicht ab; man sollte nichts Nachtheiliges von dem Mädchen denken.

„Traud,“ sagte er, als sie mitten im Zimmer einander gegenüberstanden, „Du bist selbst gekommen? Siehst Du, ich war eben dabei, Dir zu schreiben.“

Sie antwortete nicht, als ob sie nicht wisse, wo sie anfangen solle. Sie sah ihn nicht an, sondern zum Fenster hinaus in den Nebel, dessen obere Schicht die Sonne eben zu vergolden begann. Er aber spähte mit gespannter Unruhe auf ihrem blassen Gesichtchen nach einer Miene, die ihre Stimmung verriethe.

„Traud,“ sagte er wieder, „soll ich Dir ein Glas Wein bringen lassen und einen Imbiß? Willst Du Dich nicht setzen? Du wirst müde sein.“

„Ich dank’ Ihnen,“ sagte sie in ihrem gleichmüthig freundlichen Ton. „Ich hab’ auf dem Schiff gesessen und will auch nicht lange bleiben. Ich bin nur gekommen –“

„Da sieh,“ unterbrach er sie und hielt ihr das Blatt hin, auf dem er eben ihren Namen geschrieben hatte, „das wäre heute Abend in Deinen Händen gewesen, wenn Du mir nicht zuvorgekommen wärst.“

„Es ist so besser,“ erwiderte sie. „Es hätte doch nicht mehr gepaßt, ich meine: mich hätte es doch nicht mehr gefreut, wenn Sie mir auch endlich einen Liebesbrief geschrieben hätten. Sie lieben ja doch eine Andere, die es auch mehr verdient, und so waren wir doch alle Zwei unglücklich geworden.“

„Wer hat Dir gesagt -?“ rief er in höchstem Erstaunen.

„Gesagt hat mir’s eigentlich erst die Lisbeth, aber geschwant hat mir’s schon von selber. Ich hab’ auch Ihren Ring nicht ansehen können, ohne ganz traurig zu werden, denn es schien mir immer, als sei er doch für ein Bauernkind tausend Mal zu schön. Aber dann dacht’ ich wieder an all’ Ihre guten Worte und Ihr gutes Gesicht und sagte mir: am Ende ist es doch Gottes Wille. Wie ich dann der Frau Pathe erklärt hab’, ich wollt’ nicht aus dem Haus, war sie’s ganz zufrieden, und ging gleich zu der Herrschaft, zu bitten, daß sie mich losgeben möchten, und den [339] Miethsgulden zurückzubringen. Es wär’ auch wohl gegangen, nur daß das Fräulein plötzlich krank geworden war – Sie können ganz ruhig sein, jetzt ist sie wieder auf der Besserung – und da wollten die Eltern ein recht braves und verlässiges Mädchen, wofür sie mich hielten, keine so hergelaufene, die sie nur aus Noth hätten nehmen müssen. Ich mußt’ also hin und hab’s Ihnen ja auch geschrieben. Ich dank’ Gott, daß es so gekommen ist; sonst wußt’ ich wohl noch heute nicht, woran ich bin. Die ersten zwei Tag hab’ ich freilich noch nichts gemerkt; Fräulein Cornelie lag ganz still zu Bette, und wenn gegen Abend das Fieber kam und sie so wirre Sachen sagte, würd’ ich daraus nicht klüger. Nur, daß sie einen geheimen Kummer haben müßte, dahinter kam ich bald, denn auch in den guten Stunden war sie sterbensbetrübt, dabei wie ein Engel zu mir und zu allen Leuten, und faßte ein solches Vertrauen gegen mich, daß sie mir einmal in der Nacht sagte: ‚Wenn ich sterben sollte, Traud, so versprich nur, den Brief, der da zu oberst in meiner Schreibmappe liegt, auf die Post zu tragen und Keinem was davon zu sagen. Ich weiß, daß Du mich nicht verrathen wirst?’ - Das versprach ich ihr denn und dachte mir nichts dabei und das war vorgestern, gerade als es am schlimmsten mit ihr war. Und noch spät am Abend kam der Doctor und verschrieb ihr was Neues, und ich mußte mit dem Recept in die Apotheke laufen. Wie ich’s eben heimtrage, begegnet mir die Lisbeth, die vor mir da gedient hatte, und ich kannt’ sie ein bisle, und darum hatte sie mich auch in das Haus empfohlen. Nun, sie hatte auch gehört, daß unser Fräulein krank war, und fragte, wie es stehe, und ich sagt’ es ihr, so und so.

,Ha’, sagte sie und lachte dazu, ,mit so Tränkle und Apothekerzeugs ist die Krankheit nicht zu curiren. Man muß erst wissen, woher sie das Fieber hat, und das weiß ich ganz genau,’ sagte sie.

,Wenn Du so gescheid bist,’ sag’ ich, ,warum hältst Du mit Deiner Weisheit hinterm Berg?’

,Ja,’ sagt sie, ,da könnt’ ich mir schön das Maul verbrennen, und übrigens geschieht’s ihr auch ganz recht. Mich hat sie nicht länger um sich leiden wollen, weil ich mir gern ein bisle die Cour schneiden lasse, und sie selbst hat ihren Liebsten kurz halten wollen, und wie der keinen Spaß verstanden, sondern ihr den Laufpaß gegeben hat, da ist’s ihr wieder leid geworden und nun mag sie’s haben,’ sagte sie, ‚sterben wird sie nicht gleich davon.’

Nun fragt’ ich sie, woher sie’s denn wisse, und da erzählte sie mir, eines Abends sei er gekommen, sie habe ihn nicht weiter gekannt, aber es sei ein ganz schmucker junger Herr gewesen und habe das Fräulein Bäschen genannt, und sie ihn Vetter. Und da habe sie durch die Thür die ganze Unterredung mit angehört, und erzählte sie mir, so viel sie noch wußte, und hernach, wie der Vetter fortgewesen sei, und auch der andere Herr, der Franzose, da sei sie wieder in den Salon gekommen und habe das Fräulein im Sopha liegen sehen, ihr Sacktuch vorm Gesicht, und das sei naß gewesen zum Ausringen.“

Hier hielt die Traud einen Augenblick inne und sah mitleidig zu Gabriel hinüber, der sich in einen Stuhl geworfen hatte und von ihr abgewendet zu Boden starrte. „Nehmen Sie sich’s nicht so zu Herzen,“ sagte sie, „es ist ja nun Alles überstanden. An jenem Abend freilich war’s noch recht schlimm, und wie ich nach Hause kam, fand ich das Fräulein im hitzigsten Fieber. Aber auf die Medicin wurde es besser, und um Mitternacht ging der Arzt und sagte, die ,Gries’ sei eingetreten, womit er wohl den Schweiß meinte, und sie schlafe jetzt in die Gesundheit hinein. Alles ging zu Bett im Hause, nur ich blieb auf, und da konnt’ ich nicht widerstehen nicht aus Neugier, sondern weil ich dacht’, am Ende kann es nützlich sein, wenn man dem Vetter nur so einen Wink giebt – und gehe ganz sacht an ihren Schreibtisch und mache die Mappe auf. Da lag richtig der Brief im versiegelten Couvert; wie ich ihn aber umdreh’, um die Adresse zu sehen, ich meinte, der Blitz schlage bei mir ein, so erschrak ich, als ich Ihren Namen las. Da auf einmal wurde mir Alles klar, und wie es gekommen war, daß Sie sich so rasch an die Erste Beste gehängt hallen, nur um einen Trost zu finden für Ihren Liebesschmerz, und nun sah ich wohl ein, warum Sie mir auf meinen Brief nicht haben antworten können, weil Sie doch immer noch die alte Lieb’ im Herzen haben und mir nicht gern eine Lüge schreiben wollten.“

Da sprang er auf, ergriff ihre Hände und sah ihr mit überströmenden Augen in’s Gesicht. „Traud,“ sagte er, „Du hast das beste goldenste Herz unter der Sonne, und wenn ich Dir damals sagte, daß ich Dich von Herzen lieb hätte, – Gott weiß, ich brauche es auch heute nicht zurückzunehmen. Und Du hast Recht: Dich zu betrügen wäre ich nicht im Stande gewesen. Auf dem Papier da hättest Du es zu lesen bekommen, daß ich eine Andere noch lieber habe, als Dich, und Dich darum bäte, mir’s nicht nachzutragen, wenn ich mein Wort zurückforderte, denn Zwei, die sich heirathen, sollen Niemand anders im Herzen haben, als einander selbst. Nun hast Du mir’s entgegengebracht und mich nur um so mehr beschämt.“

Er drückte ihre Hände ein Mal über das andere und wandte sich dann ab, seine Erschütterung zu verbergen.

„Da ist nichts zu schämen,“ sagte sie. „Liebe macht den Klügsten zum Narren, heißt’s im Sprüchwort. Sie haben mir auch gar nichts zu Leide gethan; denn obwohl ich Sie recht gern gehabt hab’, ich sterb’ eben nicht daran, daß ich Sie nicht krieg’. Ich hab’ schon einmal einen Schatz gehabt, und wie der eine Andere genommen hat, nur um’s Geld, hab’ ich gemeint, es bringt mich um, und hernach ist mir das Leben doch wieder lieb geworden. Nun aber machen Sie nur, daß das Fräulein bald wieder ganz gesund wird; denn deshalb bin ich hergekommen. Gleich gestern wußt’ ich, was ich zu thun hätt’, und hab’ freilich eine Nothlüge sagen müssen, nämlich meine Mutter hätt’ mir geschrieben, ich müßt’ auf der Stell’ zu ihr kommen, sie hätt’ wegen einer Erbschaft mit mir zu reden. Lieber Gott, von Erbschaften ist bei uns nicht die Rede, aber mir fiel gerade nichts Anderes ein. Da hab’ ich denn heute früh Erlaubniß bekommen, auf drei Tage nach Hause zu gehen; daß ich nie wieder das Haus betreten würde, dachten sie freilich nicht, als ich Abschied nahm. Aber wenn das Fräulein gesund ist und eine Braut, wer wird da an ein armes Mädle denken, ob sie da ist oder nicht! Ich geh’ nur eine halbe Stunde weit zu einer Base in F., da bleib’ ich bis morgen, und dann fahr’ ich vollends nach Hause, und Sie brauchen weiter keine Sorge um mich zu haben, die Mutter sperrt mir ihre Thür nicht zu, sie hat längst gewollt, ich soll sie einmal besuchen. So! und nun bin ich fertig. Und da und sie zog etwas in Papier Gewickeltes aus der Tasche und legte es auf den Tisch – da ist auch der Ring. Geben Sie mir den meinen zurück; ich sehe, Sie haben ihn auch nicht tragen mögen.“

„Laß ihn mir noch,“ sagte er. „Ich schicke ihn Dir ganz gewiß, und schreibe Dir dabei Alles, was ich Dir in diesem Augenblick nicht sagen kann. Und glaube mir, Traud, Du sollst es nicht zu bereuen haben, daß Alles so gekommen ist. Wenn Du einen Bräutigam verloren hast, hast Du einen Bruder dafür gewonnen, der sein Leben lang Dich nicht im Stich lassen wird. Ich kann jetzt nicht mehr sagen, es würde Dich auch kränken, als wollt’ ich Dir einen Ersatz anbieten. Ich rede Dir auch nicht zu, hier zu bleiben,“ sagte er, als sie sich zum Gehen wandte. „Mir selbst eilt es, dahin zu kommen, wo ich jetzt am nöthigsten bin. Ich schreibe Dir aber schon morgen, wie Alles steht, und nun behüt’ Dich Gott, liebstes Kind, und gebe Dir noch einmal ein rechtes Glück, liebe Schwester, daß wir, wenn wir alt und grau geworden sind, von alle dem sprechen können, wie von einer Geschichte, die mehr zum Lachen als zum Weinen war, und Gott danken, daß sie so ausgegangen ist.“

Er drückte ihre Hand, dann küßte er sie mit brüderlicher Herzlichkeit auf den Mund und stand am Fenster, ihr nachzusehen, wie sie mit flinken, zierlichen Schritten auf der Landstraße hinwanderte, noch einmal umsah und mit einem Gesicht zurückwinkte, das schon wieder von aufglimmender Heiterkeit geröthet war.




Die Lese war längst vorüber, die letzten braunen Blätter von den Reben abgeweht, die Tage des Jahres herangekommen, die Niemand gefallen, außer glücklichen Liebesleuten, die nach Wind und Wetter nicht fragen, weil sie sich selber Regen und Sonnenschein machen. In dem Kamin des uns wohlbekannten Salons in der Rheinstraße Nr. 27 brannte ein helles Feuer, aber die Balconthüren standen noch offen und die beiden Palmen waren nur ein wenig tiefer in’s Innere zurückverpflanzt. Wieder war es gegen Abend und wieder saßen Gabriel und sein Bäschen beisammen, diesmal aber nicht fremd und förmlich sich gegenüber, sondern unter der grünen Landschaft mit der Schafheerde einträchtig [340] Hand in Hand auf dem Sopha, damit beschäftigt, einen ganzen Berg von glückwünschenden Briefen zu öffnen, der sich im Laufe des Tages angesammelt hatte. Es ist nicht zu leugnen, daß es viele Korrespondenzen giebt, die inhaltsreicher und mannigfaltiger sind; aber ebenso ist es Erfahrungssache, daß wenige Briefe von den Empfängern mit größerer Befriedigung gelesen werden.

Plötzlich zog Cornelie einen Brief aus der Menge hervor, der sehr von den anderen abstach. „Sieh nur, Gabriel,“ sagte sie, „da ist ein Bettelbrief, der die gute Gelegenheit benutzt hat, sich hier einzuschmuggeln, weil man weiß, daß zwei glückliche Menschen keine Bitte abschlagen können. ,An das hochedelgeborene Fräulein Cornelie –’ eine Hand, die mir ganz unbekannt ist, und die wohl schwerlich mehr als zwei Briefe im ganzen Jahre schreibt.“

Sie hielt ihrem Verlobten lachend den Brief hin, ohne es zu beachten, daß er in ihre Heiterkeit nicht einstimmte, sondern nach einem flüchtigen Blick auf die Schrift aufstand, als sei ihm plötzlich zu warm geworden. Und freilich konnte ihm diese Handschrift das Blut nach dem Kopfe treiben. Denn seit jenem unseligen Tage, wo er sie zum ersten Male gesehen, war sie ihm ganz aus den Augen gekommen. Er hatte zwar pünktlich am Tage nach dem Wiedersehen mit dem guten Mädchen ihr einen langen, gar herzlichen Brief geschrieben. Als der aber ohne Antwort blieb, hatte sich seine brüderliche Liebe dabei beruhigt, das brave Kind sei ja gut aufgehoben und werde ihn nicht weiter vermissen, da sie nicht einmal antworte. Auch nahm ihn seine alte Flamme so ausschließlich in Beschlag, erst die Zeit ihrer Genesung, hernach das Glück des Sichwiederfindens nach aller Gefahr des Verlierens, daß er nicht dazu kam, wie er vorhatte, selbst nachzusehen, wie die Traud lebe und ob er ihr irgend hülfreich sein könne. Er stand jetzt am Flügel und sah in großer Verwirrung in den Abendhimmel.

„Höre nur, Gabriel, das ist allerliebst,“ sagte jetzt Cornelie, die den Brief überflogen hatte, „Du mußt nämlich wissen, gerade wie ich krank war, kam ein neues Mädchen in’s Haus, in das ich mich, so übel mir zu Muth war, gleich in der ersten Stunde verliebte; das flinkste, bescheidenste, reizendste Landkind, das mir je vorgekommen, und um mich bemüht wie eine Milchschwester. Ich hätte sie nimmermehr fortgelassen und es sogar darauf gewagt, daß sie auch Dir gefährlich werden möchte. Aber das wunderliche Ding, plötzlich kam sie und bat, nach Hause reisen zu dürfen zu ihrer Mutter, nur auf ein paar Tage. Wir schlugen es ihr nicht ab, gerade weil sie uns so lieb war, aber statt daß sie Wort gehalten hätte, kam ihre Pathe, die Frau eines hiesigen Weinwirths, und entschuldigte sie, die Mutter lasse sie nicht wieder in die Stadt, und wir konnten nicht recht dahinter kommen, was sie so plötzlich fortgetrieben. Nun merk’ ich’s wohl, obgleich sie es nicht eingesteht, es steckt eine alte Liebe dahinter. Höre nur, was sie schreibt:

,Liebes gnädig Fräulein!’ – die Orthographie ist nicht ihre starke Seite – ,ich hab’ in der Zeitung gelesen, daß Sie sich verlobt haben, und weil Sie so gut zu mir gewesen und ich auch nur ungern von Ihnen gegangen bin, nun so hab’ ich gedacht, gnädig Fräulein werden es nicht übel nehmen, wenn ich schreib’ und meine unterthänig herzlichsten Glückwünsch’ und daß Sie mit Ihrem Herrn Bräutigam recht viel Glück und Segen vom Himmel beschert bekommen, Ihnen wünsch’. Ich hör’ ja, der Herr Bräutigam soll ein so braver und auch recht studirter Herr sein und Sie sollen ihn schon lange kennen. Nun, das ist ja wohl das Beste; und wenn man sich lange kennt, kann man sich besser ineinander schicken. Und so muß ich gnädig Fräulein auch erzählen, daß ich mich am heiligen Dreikönigstag verheirathen werd’ mit Einem, den ich auch schon lang kenne, der nämlich schon eine Frau gehabt hat, und sie ist ihm gleich wieder gestorben, und das arme Würmle, das sie ihm geboren, hat nun keine Mutter, und weil wir uns früher gut gewesen sind und er die Andere, die Geld hatte, nur seinem Vater zu Lieb’ genommen hat, hat er mich gefragt, ob ich noch jetzt ihn haben wollt’, und ich hab’ Ja gesagt, denn er hat sein gutes Auskommen und alte Liebe rostet nicht, und auch das herzig klein Würmle hat mich gedauert, das ein Jahr alt ist und den ganzen Kopf voll blonder Härchen hat und heißt Franz. Nun leben Sie recht wohl, und auch meine Mutter empfiehlt sich Ihnen, und daß ich damals weggeblieben bin, wahrhaftig, es ist mir hart angekommen, es ging aber nicht anders. Und denken Sie manchmal an Ihre, die Sie nie vergessen wird,

ergebene Dienerin               
Gertraud Wendelin.

Ns. An Ihren Herrn Bräutigam unbekannt mich zu empfehlen, bitt’ ich Sie auch noch, wenn Sie’s nicht für allzu dreist halten.’“

Das schöne Mädchen hatte den Brief wieder zusammengefaltet und schien zu warten, was ihr Geliebter dazu sagen würde.

„Nun?“ fragte sie endlich. „Du scheinst wenig Interesse für meine kleine Pflegerin zu haben. Wenn Du sie nur gesehen hättest! Schreiben ist eben nicht ihr Talent. Sie ist ein rechtes Naturkind.“

„Cornelie,“ sagte er, und wandte sich jetzt zu ihr um, „dieses Naturkind hat Dich angeführt. Sie ist feiner und diplomatischer, als Du denkst.“

„Wie das, Gabriel?“

„Sie läßt mich unbekannter Weise grüßen, die kleine Heuchlerin? Und wir sind uns doch nur zu gut bekannt! Aber auch das macht ihr alle Ehre, und wenn ihr Briefstil nicht der glänzendste ist: was sie sagen und was verschweigen muß, weiß sie ganz genau. Komm, geliebtes Herz! Es ist hier gerade dunkel genug, daß ich Dir beichten kann, ohne mein schamrothes Gesicht dabei sehen zu lassen.“

Er setzte sich zu ihr, zog sie fest an sich und drückte ihren Kopf an seine Schulter, daß sie ihm nicht in die Augen sehen sollte.

So erzählte er ihr Alles.

Ob sie dem Sünder eine strenge Buße auferlegte, davon ist uns nichts bekannt. Wir wissen nur, daß drei Tage später eine große Kiste mit den mannigfaltigsten Hochzeitsgeschenken, wie sie auf’s Land passen, an die Adresse der glücklichen Braut abging, und obenauf in einem Schächtelchen lagen zwei Briefe voll herzlicher Grüße und Wünsche und in einem zarten Seidenpapier zwei Ringe, einer von Cornelie, den sie selbst früher getragen, zum Andenken, daneben ein unscheinbarer schmaler Goldreif mit kleinen Granaten, und ein Zettel dabei: „Meinem lieben Schwesterchen ihr brüderlich gesinnter Freund Gabriel“.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Pagagei