Verschollene Klänge
„Wie mag die Musik geklungen haben, die in diese Zeichen eingeschlossen ist?“
Die Frage wurde vor kurzem hier gestellt anlässlich des Berichtes über die Ausstellung altfranzösischer Musik in der Bibliothéque nationale. Ihre Beantwortung war in dem nach jeder Richtung hin musterhaften Plan dieses Unternehmens bereits vorgesehen: durch drei Konzerte, in denen eine Auswahl der in der Ausstellung gezeigten Werke zu Gehör kam. Es gab ein Orgelkonzert in St-Gervais auf der historischen Orgel der Couperins, dazu zwei Konzerte mit Vokal- und Instrumentalwerken vom 13. bis zum 17. Jahrhundert im Ausstellungsraum, der historischen Prachtgalerie Mazarine selbst.
Solche gelegentliche Wiedererweckung alter Musik ist als Idee gewiss begrüssenswert, aber schwierig zu verwirklichen. Schon die Entzifferung älterer, vor Einführung unserer heutigen Notenschrift geschaffener Musik ist eine umstrittene Angelegenheit. Die genaue Feststellung der Tonhöhen, der rhythmischen Werte, der Takt- und Periodengruppierung bleibt oft zweifelhaft. Die alte Musik arbeitet mit Vorstellungen und Begriffen, die uns verloren gegangen sind. Und was weiss man über den Vortrag? Der heutige Ausführende vermag kaum ohne Espressivo, also ohne An- und Abschwellen der Tonstärke zu musizieren. Für die alte Musik dagegen ist der dynamische Wechsel allenfalls als Echokontrast vorhanden. Veränderungen der Dynamik mögen sich natürlich jederzeit bemerkbar gemacht haben, aber die eigentliche grosse Espressivo-Bewegung der Musik setzt erst im 18. Jahrhundert ein.
Aehnliche Probleme bietet die Koloristik. Die Instrumente des Mittelalters, an sich vielleicht zahlreicher und mannigfaltiger als die unsrigen, sind ungleich weichere und zartere Organismen. Der Klang der Gambe etwa verhält sich gegenüber unserer, erst im 18. Jahrhundert zur Alleinherrschaft gelangten Violine wie der einer Flöte gegenüber einer Trompete. Denken wir uns noch alte Kirchenchöre von Knabenstimmen gesungen, wo heut Frauenstimmen klingen, so spüren wir den kaum überbrückbaren Unterschied.
Gesetzt aber, es wäre möglich, alle diese Schwierigkeiten zu überwinden – was bedeutet dann für uns selbst diese Musik, die da aus lebensfernen Welten herüberklingt? Ist sie mehr, als eine nur historische Rekonstruktion, die wir anstaunen oder verstandesmässig bewundern? Kann sie uns überhaupt mehr sein? Müssten dann nicht wir selbst uns zurückverwandeln in die Menschen, zu denen diese Klangvorstellungen gehören? Ist das möglich, ohne dass es bei einer geistigen Maskerade bleibt?
Das ist die Grundfrage. Die einen sagen: es ist niemals möglich, also übertragen wir alles in zeitgenössischen Klang und Vortrag. Die anderen sagen: es ist wohl möglich, aber wir müssten historisch getreu sein. Also machen wir nach genauster Forschung alles, wie es vor Jahrhunderten war.
Das zu versuchen, war der Sinn der drei Ausstellungskonzerte. Ihr aussergewöhnlich starker Besuch zeigt, wie sehr das Publikum sich für diese Lösungsmethode interessiert. Ist es der Wunsch nach Flucht aus der Gegenwart, die Sehnsucht nach dem seelischen Dasein einer früheren Zeit, das aus verschollenen Klängen wie durch magische Beschwörung lebendig spürbar wird?
In St. Gervais spielt Paul Brunold auf der Orgel der Couperins, jener grossen Künstlerfamilie, die ähnlich wie die Bachs in Deutschland Generationen von Musikern hervorgebracht hat. Der bedeutendste ist François Couperin, genannt der „Grosse“, der jüngere Zeitgenosse Louis XIV. und Lullys. An dieser Orgel hat er gesessen. Seit 1500 steht sie in der Kirche, seit 1629 auf der heutigen Tribüne. Nach Couperins Tode, 1733, ist sie nur noch einmal, 1768, um einige Register vermehrt worden. Eine künstlerische und zugleich historische Sehenswürdigkeit: die einzige völlig erhaltene altfranzösische Orgel von Paris. Ein herrliches Werk. Wie klar, wie charaktervoll in der Farbe klingen diese Stimmen, wie durchsichtig heben sie sich gegeneinander ab. Dynamisiert wird nur durch den Klangkontrast, ohne die mindeste Schwellvorrichtung, das Grundübel der neuzeitlichen Orgel. Ein Roman liesse sich schreiben nur aus dem sphärischen, gleichzeitig so naiv realistischen Klangspiel dieses Instrumentes. Die eingekratzten Inschriften hinten an der engen Chortreppe, von den Bälgeziehern der alten Zeit stammend (auch der des grossen Couperin ist darunter) steuern allerlei Anekdoten bei.
Brunold ist ein meisterhafter Spieler, er liebt sein Instrument und lebt in ihm. Er schreibt die Geschichte der Orgel von St. Gervais, und aus dieser fanatischen Hingabe des Spielers erstehen Klanggebilde, die auch den fremden Hörer verzaubern. Liegt doch überhaupt ein geheimnisvoller Reiz in dieser alten Klangwelt. Mit zunehmender Intensität erfasst sie jeden, der sich ihr hingibt. Da ist eine kleine, mit tadelloser Präzision singende, begeisterte Gesangsvereinigung, „Psallette de Notre-Dame“ nennt sie sich. Mondain dirigiert sie und wirbt für die alte Vokalkunst. Yves Tynaire, ein ausgezeichneter Vortragskünstler, singt eine Totenklage Perotins (13. Jahrhundert), für eine Stimme allein, ohne Begleitung, ein merkwürdig packendes, fast ergreifendes Stück, an dem man wieder die Herkunft aller Musik aus der Sprache erkennt. Es könnte auch aus einer Tragödie des Aeschylos stammen, so formbildend ist die Kraft der Deklamation.
Nun tritt Lully auf, der grosse Hofmusikant Louis XIV. Violinen, Gamben, Clavicembalo intonieren eine rauschende und doch wie auf Samt schreitende Fest-Ouvertüre für Versailles. Oder in Klängen von Schnabelflöten und Lauten naht der Trauerzug zur Klage um Psyche heran – und mit ihm steigt das ganze Scenarium der alten Oper auf. Es ist anders als man meist denkt und behauptet: viel sauberer, wahrhaftiger, es hat eine stille, feierliche Grösse, vor der man den Atem anhält. Sehen wir oder hören wir? In jedem Fall: es ist etwas lebendig geworden, ein ferner Schatten hat plötzlich Stimme und Körper gewonnen aus dem Klang seiner Zeit.
Man sollte diese Konzerte wiederholen. Sie gehören zu dem Eindrucksvollsten, was in solcher Art geboten werden kann. Sie zeigen die tiefe Einheit von Musik und Kultur: wie eines aus dem anderen kommt und wieder dahin zurückkehrt.