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Vernünftige Gedanken einer Hausmutter (4)

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: C. Michael
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Titel: Vernünftige Gedanken einer Hausmutter.
4. Man muß von zwei Uebeln das kleinere wählen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 3, S. 55-56
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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4. Man muß von zwei Uebeln das kleinere wählen

und über diese Wahl sich so rasch wie möglich klar werden – das ist die größte Lebenskunst, die wichtigste und unentbehrlichste; das ist eine Fertigkeit, welche wir unsern Kindern nicht früh genug lehren und einprägen können. Der einfache Fall, wo wir zwischen zwei Handlungen zu wählen haben, von denen die eine offenbaren Vortheil, die andere ebenso unleugbaren Nachtheil im Gefolge hat, ist leider sehr selten. Es versteht sich von selbst, daß hier auch dem beschränktesten Verstande die Wahl leicht fallen wird. Mehr Klugheit aber gehört dazu, und oft große Geistesgegenwart, scharfes und klares Urtheilsvermögen, um, wenn nach beiden Seiten hin sich Nachtheile zeigen, sofort zu entscheiden, welche von beiden die kleineren sind. Es ist merkwürdig, daß man dieses Erkennens, dieses freiwilligen Ergreifens eines kleinen Uebels, um dadurch ein größeres zu vermeiden, fast stündlich bedarf, ja, ich möchte kühn behaupten, die Hauptaufgabe unseres Lebens ist: von zwei Uebeln das kleinere zu wählen. Ich will mit den kleinen, ganz unscheinbaren Vorkommnissen des häuslichen Lebens beginnen.

Ich öffne früh die Augen und meine erste, fast instinctive Wahl ist die zwischen der noch vorhandenen Schlaflust und dem Versäumen dieses oder jenes Geschäftes durch zu spätes Aufstehen. Die Entscheidung wird getroffen, der Schlaf abgeschüttelt, und ich stehe auf. Ich erwarte an diesem Vormittag mit ziemlicher Gewißheit Besuch, habe aber auch verschiedene Arbeiten in der Wirthschaft vor, die ein besseres Kleid verderben könnten, also: Was soll ich anziehen? Das Uebel, von dem Besuch im Wirtschaftscostüm überrascht zu werden, ist das kleinere und wird demnach gewählt. Nun trete ich hinaus in die Küche. Die nachlässige Magd hat sich daraus entfernt, und der große schwere Suppentopf für das Hofgesinde ist im Begriff überzukochen. Hier darf die Wahl zwischen beschmutzten, vielleicht verbrannten Fingern auf der einen Seite, und häßlichem Geruch durch’s ganze Haus nebst Verlust an Milch auf der andern Seite nur eine Secunde dauern. So geht es fort, Stunde für Stunde, Tag für Tag; es ist leicht ersichtlich, daß man solcher Beispiele, je nach Stand, Geschlecht und Alter der Menschen wechselnd, Millionen anfuhren könnte.

Der Fälle will ich noch gar nicht gedenken, wo die Wahl so selbstverständlich ist, daß sie keine Ueberlegung erfordert. Wer [56] wird nicht gern die bittere Arznei schlucken, um einer Krankheit ledig zu werden? Wer wird sich scheuen, Kleid und Schuhe naß zu machen, um ein Kind aus dem Wasser zu retten? Aber andere ernste Lebensfragen treten oft an uns heran, wo beide „Uebel“ so gleich groß scheinen, daß die Entscheidung zugleich eine schwere Verantwortung in sich birgt und von unserm „Wählen“ Glück oder Unglück für uns oder unsere Lieben abhängt. Da gilt es mit fester, klarer Erkenntniß wählen und entscheiden.

Ich behaupte aber, wer es gelernt hat, rasch und sicher zwischen zwei kleinen Uebeln zu wählen, dem wird auch die Entscheidung minder schwer fallen, wenn es heißt: Soll ich die Quälerei eines ungerechten Vorgesetzten noch länger dulden oder eine sichere Stellung aufgeben? Soll ich mich in die Ehe meiner Tochter einmischen oder einen Rath unterdrücken, der vielleicht viel Unheil verhüten könnte? Soll ich mein Kind den Gefahren fremder Erziehung aussetzen oder denen einer mangelhaften im Hause? Soll ich einen Fehltritt meines Sohnes mit der vollen Strenge auffassen, die mir möglicherweise sein Vertrauen entzieht, oder mit der Milde, die seinen Leichtsinn bestärken würde?

O, wer vermöchte es, die Legion der großen und kleinen Uebel aufzuzählen, zwischen denen jeder Mensch immer und immerfort zu wählen hat, von der ersten „Wahl“ des Säuglings zwischen Hunger und der aufgedrungenen Nahrung an bis zu jener letzten schrecklichsten Wahl des Selbstmörders zwischen Tod und Weiterleben!

(Schluß folgt.)