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Vernünftige Gedanken einer Hausmutter (18)

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Textdaten
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Autor: C. Michael
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Titel: Vernünftige Gedanken einer Hausmutter.
18. „Jeder ist sich selbst der Nächste“
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 29, S. 482-483
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Vernünftige Gedanken einer Hausmutter.
Von C. Michael.
18. „Jeder ist sich selbst der Nächste“.

Durch ihre einfachen Aufzeichnungen hat sich die „Hausmutter“ zu ihrer Freude das Vertrauen vieler „Gartenlauben“-Leser erworben, und aus allen Himmelsrichtungen sendet man ihr freundlich aufmunternde Briefe zu. Fast jedes dieser Schreiben enthält die Bitte, irgend ein darin bezeichnetes Thema demnächst zur Sprache zu bringen, und so ist es gekommen, daß die „Vernünftigen Gedanken einer Hausmutter“ immer wieder Stoff zu neuen Besprechungen empfingen.

Meist finden denn auch diese anregenden Briefe ein williges Echo im Herzen der „Hausmutter“, zuweilen aber kann sie ihre Ansichten nicht in Einklang bringen mit denen ihrer Leser, und ein solcher Fall tritt auch heute ein, wo ihr folgender Brief vorliegt:

„– – ‚Jeder ist sich selbst der Nächste‘, ist eine Redensart, die man in allen Kreisen hört, obgleich sie für das Bestehen der menschlichen Gesellschaft so verderblich ist.

Im Hinblick auf die Redensart: ‚Jeder ist sich selbst der Nächste‘, läßt der Sohn den Vater, die Tochter die Mutter, der Bruder die Schwester darben oder umkommen, sucht jeder Mensch den andern zu schädigen oder zu vernichten, obgleich Gesetz und Moral das Gegentheil lehren. Es ist dies nach meiner Ansicht ein Mangel an gegenseitiger Achtung, ein Mangel an Bildung, der nicht wenig Theil hat an den gegenwärtigen, so oft getadelten gesellschaftlichen Zuständen.

Ich kenne geachtete Menschen, die, durch unverschuldetes Unglück oder entschuldbares Versehen arm geworden, sich das Leben genommen haben, weil sie bei der Redensart: ‚Jeder ist sich selbst der Nächste‘, auf Hülfe der Menschen nicht rechneten, obgleich Hülfe durch Rath und That leicht möglich gewesen wäre.

Die Befolgung dieses egoistischen Grundsatzes in Fällen der Noth ist eine Eigenschaft des Menschen, die ihn dem Thiere gleich stellt“ etc.

Sollte dieses düstere Bild der Wahrheit entsprechen? Sollte es uns wirklich die allgemeine Regel vorführen und nicht vielmehr nur eine Reihe trauriger Ausnahmen?

Wohl läßt es sich nicht leugnen, daß die Zahl der Selbstmorde aus Verzweiflung in grauenhafter Weise zugenommen hat, aber trägt daran auch wirklich die Hartherzigkeit der Menschen im Allgemeinen Schuld und nicht auch ebenso oft die Muthlosigkeit oder falsche Scham jener Verzweifelnden?

Wir haben es uns zum Grundsatz gemacht, hier nur Selbsterlebtes und Selbstgeprüftes zur Darstellung zu bringen; in unserer eigenen Erfahrung aber ist der Fall nicht vorgekommen, daß ein Unglücklicher mit festem Muth und bescheidenem Sinn allenthalben vergeblich um Hülfe nachgesucht hätte. Freilich, wer den Glauben an die Menschheit so ganz verloren hat, daß er gar nicht erst den Versuch macht, Hülfe zu erbitten, oder wer schon bei dem ersten mißlungenen Versuch dazu den Muth verliert, der darf nicht die Welt und ihren Egoismus anklagen, wenn er zu Grunde geht – sich selbst hat er es zuzuschreiben.

Wahr ist es auch leider, daß gerade in den letzten Jahren Verbrechen verübt worden sind, die eine solche Tiefe menschlicher Verkommenheit und Entartung verrathen, daß unser Verstand erstarrt davor still stehen muß. Wiederholt ist es ja vorgekommen, daß Väter oder Mütter in der Noth ihre ganze Familie förmlich abgeschlachtet haben, ein Kind um’s andere. Aber diese Unseligen haben dann stets zuletzt auch die Hand an’s eigene Leben gelegt; auf sie also kann der Spruch: „Jeder ist sich selbst der Nächste“ keine Anwendung finden. Um ihn aber auf ihre Mitmenschen beziehen zu können, die ihnen aus so tiefer Noth nicht geholfen haben, müßte in jedem einzelnen Fall erst nachgewiesen werden, daß die Betreffenden auch wirklich in angemessener Weise menschliche Hülfe nachgesucht hatten. Und wäre dies geschehen, hätte kein Mensch ihnen helfen wollen, und sie wären in der That dem harten Spruch: „Jeder ist sich selbst der Nächste“ zum Opfer gefallen, so sind diese Geopferten, trotz ihrer anscheinend großen Zahl, doch immer nur eine sehr kleine Ausnahme, jenen Millionen anderer Unglücklicher gegenüber, welche durch werkthätige Nächstenliebe gerettet wurden.

Ist es nicht wahrhaft erstaunlich, welch große Summen jede mildthätige Sammlung für Verunglückte ergiebt, so oft sich auch dergleichen Aufrufe wiederholen? Und doch sind diese Summen sicherlich nur klein im Vergleich mit jenen anderen, welche, im Stillen gegeben, durch keine Zeitung bekannt werden.

Nein, wir können uns unmöglich zu dem Glauben bekennen, daß die Welt so schlecht ist, wie sie oft gemalt wird. Es geht darin kaum jemals ein Mensch verloren, der sich nicht selbst verloren gegeben hat, und wer sich von nichts als von Härte und Egoismus umgeben glaubt, dem trauen wir zu, daß er entweder ein gut Theil von beiden selbst in der Brust trägt oder daß er durch trübe Schicksale verstimmt und verbittert worden ist. Wer aber Schiffbruch gelitten hat am eigenen Seelenfrieden, der befindet sich in einem Ausnahmezustande; er denkt und fühlt nicht normal, und seine Ansicht kann keine maßgebende sein.

Gewiß giebt es auch Egoisten, die keine andere Sorge kennen, als jene um das eigene liebe „Ich“, die so fühllos bei der Noth ihrer Mitbrüder bleiben, daß sie den Verschmachtenden von ihrer reich besetzten Tafel ruhig fortzuweisen vermöchten; bei ihnen aber heißt es nicht mehr: „Jeder ist sich selbst der Nächste“, sondern: „Jeder ist nur sich selbst nahe“, und nicht die Schuld des alten Spruches ist es, wenn er mißdeutet und zum Deckmantel niedriger Gesinnungen genommen wird.

Ja, es giebt wohl auch solche traurige Ausnahmen, uns selbst aber sind ihrer kaum zwei oder drei im ganzen Leben vorgekommen; dagegen kennen wir Hunderte von Menschen, die gern und freudig zur Hülfe bereit waren, wo es Noth that, und eine große Anzahl Solcher, die aus warmer Nächstenliebe mehr der Opfer brachten, als sie vor sich selbst verantworten konnten.

Gewiß, die Zahl der Egoisten, welche Einsender des oben wiedergegebenen Briefes im Auge hatte, ist nicht so groß, wie man oft anzunehmen pflegt, und keinenfalls groß genug, daß sie erheblich zum Verfall der menschlichen Gesellschaft beitragen könnte, den wir vielmehr in dem Leichtsinn, der Genußsucht und der Großmannssucht Jener zu finden glauben, die sich durch diese Fehler erst zu Grunde richten und dann auch oft noch den falschen Stolz besitzen, sich lieber durch fremde Unterstützung als durch eigene ehrliche Arbeit helfen zu wollen.

So lange es Menschen giebt, hat es auch Neid, Bosheit und Egoismus unter ihnen gegeben, und der Kampf gegen die durch diese Fehler hervorgebrachten Leiden wird fortdauern bis an den jüngsten Tag. So lange die Welt steht, wird aber auch Güte, Milde und Liebe unablässig ankämpfen gegen diese und [483] andere Dämonen des Menschengeschlechtes und – nach unserer frohen und festen Ueberzeugung – siegreich dagegen ankämpfen.

Und ferner: wie viele gute und mitleidige Menschen giebt es, die erst nach und nach, durch unzählige böse Erfahrungen hart geworden sind, die für all ihre Opfer nichts als Undank geerntet haben, ja denen vielleicht geradezu in’s Gesicht gesagt wurde, daß sie durch ihre Milde und Güte nur Schaden angerichtet haben! Die Fälle sind nicht selten, wo sich Eltern für einen Sohn aufopfern, Schwestern für einen Bruder, der Freund für den Freund, und wo der so oft Gerettete, so reich Unterstützte doch nur Schande und Unglück über seine ganze Familie bringt.

„Ihr hättet ihn sich selbst überlassen, ihm nicht immer wieder beispringen sollen,“ heißt es dann. „Ihr habt ihn gehindert, die eigene Kraft zu entfalten. Ihr selbst seid es, die ihr ihn zu Grunde gericht habt, durch eure Hülfe.“

Kann es etwas Trostloseres geben, als solche Anklagen, wenn deren Begründung nicht zu leugnen ist? Und hat diesen armen Opfern treuester Nächstenliebe gegenüber der Spruch: „Jeder ist sich selbst der Nächste“, nicht seine volle Berechtigung?

All diesen düsteren Bildern wollen wir zum Schluß noch ein freundliches aus unserer Erfahrung anreihen: wir haben es erlebt, daß entzweite Geschwister sich seit Jahren zum ersten Mal wieder trafen im Hause gemeinsamer Verwandten, welche durch schweres Unglück an ihre Hülfe gewiesen worden waren. Anfangs scheu und fremd an einander vorübergehend, lernten sie bald in der gemeinsamen Sorge um die hülfsbedürftige Familie den eigenen Zwist vergessen, und kaum kann es ein ergreifenderes Bild geben, als ihre schließliche Versöhnung bot, alle Sonderinteressen begrabend im gemeinsamen Wirken für unverschuldetes Unglück. – Wer Solches erlebt hat, wem in schwerer Zeit freiwillig Hülfe geboten wurde, und oft von Seiten, wo er sie nie gesucht hätte, – der kann sich unmöglich der Ansicht anschließen, daß der Spruch: „Jeder ist sich selbst der Nächste“, die ganze Welt regiert, und ihre gesellschaftlichen Zustände untergräbt. Ja, wir müssen noch weiter gehen: wir müssen uns in gewissen Fällen sogar auf die Seite dieses hart klingenden Spruches stellen.

Gerade um seinem Nächsten zu rechter Zeit und in angemessener Weise helfen zu können, muß man auch – und vielleicht sogar zunächst – an sich selbst denken. Wie kannst du Mann und Kinder pflegen, wenn du nicht zunächst – ja, liebe Hausmutter, zunächst! – auf deine eigene Gesundheit achtest? Kein Egoismus, sondern nur die richtige Art der Fürsorge für deine Lieben ist es, wenn du unablässig auch für die Erhaltung deiner eigenen Körperkraft, für die Frische und Gesundheit deines Geistes sorgst.

Was nützt es deinem kranken Liebling, wenn du dich selbst aufreibst in seiner Pflege, wenn du, statt dich zuweilen für Stunden durch Andere vertreten zu lassen, dann zuletzt die Pflege ganz in fremde Hände legen mußt?

Oder wie kannst du Andere hülfreich durch Geldmittel unterstützen in bösen Zeiten, wenn du nicht zunächst für dich selbst gesorgt, das heißt, deine eigenen Mittel klug zu Rathe gehalten hast? Und endlich: Wie kannst du Anderen Freude und Frieden bringen, wie kannst du ein anderes Herz beglücken, wenn Freude, Friede und Glück dir im eigenen Herzen fehlen?

Alles was man – ob geistig oder materiell – seinem Nächsten spenden will, das muß man doch zuerst auch selbst besitzen, und in diesem Sinne aufgefaßt, scheint uns der Spruch: „Jeder ist sich selbst der Nächste“, nicht nur berechtigt – er enthält sogar in dieser seiner ursprünglichen Bedeutung gewiß ebenso viel Wahres, wie all unsere anderen guten alten Sprüche.