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Verkümmerte Existenzen

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Textdaten
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Autor: Roderich Benedix
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Titel: Verkümmerte Existenzen
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aus: Die Gartenlaube
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[329]
Verkümmerte Existenzen.
Aus den Aufzeichnungen eines alten Wanderers.
mitgetheilt von Roderich Benedix.

Zwischen Reisen und Wandern ist ein großer Unterschied, und dieser wird täglich größer. Der Reisende wird jetzt meistens durch die Kraft des Dampfes befördert, der Wanderer ist auf den Dienst seiner Füße angewiesen und benutzt ausnahmsweise eine „Gelegenheit“ zum Weiterkommen. Der Reisende hat keine Mühe, als die des Aus- und Einsteigens, der Wanderer hat die Mühe, die jede körperliche Anstrengung verursacht. Der Reisende durchfliegt die Welt, der Wanderer durchschreitet sie.

Und doch ist, wenn man das Reisen und Wandern gegen einander abwägt, der Vortheil mehr auf der Seite des Letzteren. Es ist wahr, der Reisende durcheilt mühelos in unglaublich kurzer Zeit fast ganz Europa, während der Wanderer sich mit kurzen Strecken begnügen muß, die er kennen lernt. Allein was sieht der Reisende? Im Fluge durch die schönsten Gegenden eilend, von denen er nie einen bleibenden Eindruck erhält, sieht er die großen Städte und ihre todten Merkwürdigkeiten. Menschen lernt er nicht kennen, mit Ausnahme der Gastwirthe und Kellner, der Schaffner und Packträger, die in ganz Europa einander auffallend ähnlich sind.

Der Wanderer dagegen schaut mit bewundernden Augen, wie herrlich der alte Gott seine schöne Welt ausgeputzt hat mit Bergen und Thälern, mit Flüssen und Seen, mit Haide und Wald. Seiner Mühe Belohnung ist die Freude an der Herrlichkeit der Natur. Und mehr noch, er lernt Menschen kennen. Der Reisende kommt wohl hier und da mit der sogenannten guten Gesellschaft zusammen, aber nicht mit dem Volke. Die gute Gesellschaft hat aber in allen europäischen Ländern ziemlich dasselbe Aussehen. Die gute Gesellschaft ist wirklich unter einen Hut gebracht, wenn es auch leider der Pariser Cylinder ist, die gute Gesellschaft hat es wirklich zu der Verwischung des Volksthümlichen gebracht, von der einige „Kosmopoliten“ träumten, wenn auch die erlangte Gleichmäßigkeit nur im französischen Frack und der Crinoline besteht.

Aber das Volk, das der Wanderer kennen lernt, hat die allgemeine Uniform noch nicht angelegt. Das Volk bewahrt noch immer die Eigenthümlichkeiten des Volksthums, mit deren Verlust ein Volk aufhört ein Volk zu sein. Ist doch von jeher die Wiedergeburt der Staaten, der in sittlicher Fäulniß versunkenen Zeiten vom Volke ausgegangen. Man liebt es in gewissen Kreisen, die Wörter Volk und Pöbel für gleichbedeutend zu halten. Das aber ist der schmählichste Irrthum. Der Pöbel erstreckt sich durch alle Classen der Gesellschaft und ist in den höchsten oft am meisten vertreten. Denn Unsittlichkeit und Gemeinheit sind die unterscheidenden Kennzeichen des Pöbels. Ich bin ein alter Wanderer und liebe das Volk, und namentlich unser Volk, weil ich es kennen gelernt habe. Die Tugenden, die in höhern Kreisen nicht immer zu Hause sind, beim Volke habe ich sie oft gefunden. Und doch wie wenig wird das Volk gewürdigt, ja nur beachtet! Die Geschichte selbst kennt nur Massen, aus denen einzelne Geister hervorragen, Geister, die durch eigne Kraft oder durch geistige Stellung bedeutend sind. Die Geschichte kann nicht anders. Der Einzelne verschwindet eben in der Menge. Auch die Dichter liebten es vordem, die Großen der Erde durch ihre Dichtung zu verherrlichen, wie die andern Künste auch. Erst in neuerer Zeit hat man angefangen, dem Volke Beachtung zu schenken, und wie die Malerei immer mehr Genrebilder liefert, so steigen die Dichter auch in die Hütten der Armuth, um dort ihre darzustellenden Figuren zu holen. Und das mit Recht. Je weniger in der Geschichte der Einzelne beachtet werden kann, je mehr im Leben der Einzelne in der Menge verschwindet, desto mehr soll die Kunst dem Einzelnen zu der verdienten Geltung verhelfen.

Denn jeder Einzelne ist ein Mensch, der gelitten und sich gefreut hat, der des Lebens Noth und Lust gekostet, der gekämpft und gesiegt hat oder im vergeblichen Ringen untergegangen ist. Jedes Grab auf dem Kirchhofe deckt ein Herz, in dem Liebe und Haß, Hoffnung und Schmerz, Gutes und Böses gewohnt hat, das in freudigen Schlägen und in schmerzlicher Verzagtheit geklopft hat. Unaufhörlich dreht sich die Erde um die Sonne, die Zeit steht nicht still, unaufhörlich folgt Geschlecht auf Geschlecht, die Menschheit ist unsterblich. Der Einzelne aber stirbt, wird begraben und vergessen. Und doch habe ich viele Einzelne gekannt, die nicht vergessen zu werden verdienten. Ich will etwas von Diesem und Jenem aufschreiben – zu meiner eigenen Erinnerung oder für Freunde, denen meine Aufzeichnungen vielleicht einmal in die Hände fallen können.

Zu dichterischer Gestaltung wird sich nicht eignen, was ich aufschreibe. Es sind eben Eindrücke, die ich auf meinen vielfachen Wanderungen erhalten, Thatsachen, die ich erfahren habe. Darnach beurtheilt meine Aufzeichnungen, Ihr Freunde, wenn sie Euch jemals zu Gesichte kommen sollten. Vergeßt aber nicht, daß alles Thatsächliche, was Ihr finden werdet, wahr und selbst erlebt ist. Es wird meistens traurig sein, was ich aufschreibe. Giebt es so viel Trauer in der Welt, oder habe ich mich immer vorzugsweise zu den Leidenden hingezogen gefühlt? ich will es nicht untersuchen. So viel weiß ich, daß der Eindruck, den ein Leidender macht, tiefer und nachhaltiger ist, vielleicht schon darum, weil man über die Ursachen des Leidens nachdenkt, weil man sich klar zu werden sucht, wie viel der Leidende selbst verschuldet hat, oder wie viel die äußern Umstände die Ursache des Leidens sind.


1.

Mein Weg führte mich einst in eine der größern deutschen Hauptstädte. Man hatte mir dort ein Weinhaus gerühmt, in dem man ein Glas echten unverfälschten Getränks und deshalb viel und muntere Gesellschaft fände. Ich ging dahin. Neben einem größeren Zimmer waren zwei kleinere. Da das größere voll von Gästen war, suchte ich mir einen Platz in einem der kleinern. Hier mochte sich wohl jeden Abend eine bestimmte Gesellschaft versammeln, weshalb die übrigen Gäste dasselbe vermieden, wie sich in vielen Wirthshäusern für Stammgäste solche Bedingungen wie von selbst machen. Jeder der nach mir Eintretenden musterte mich mit einem befremdeten Blick, als wollte er sagen: Was machst du denn hier? Ich ließ mich aber nicht stören. Der Wein war wirklich gut, und ich betrachtete mir, da ich von meinem Platze das größere Zimmer bequem überschauen konnte, die einzelnen Trinker und ihre verschiedenen Manieren, was immer sehr ergötzlich für mich gewesen ist. Nach und nach füllte sich das Zimmer, in dem ich saß, und ich bemerkte bald, daß sich hier wirklich eine besondere, gewähltere Gesellschaft zu versammeln pflegte. Es wurde nicht blos getrunken, sondern auch gesprochen und gut gesprochen. Die Ereignisse des Tages in Kunst, Literatur, Politik wurden berührt, und manch treffendes Urtheil, manch gutes Witzwort kam dabei zum Vorschein. Offenbar hatte ich es hier mit künstlerisch und wissenschaftlich gebildeten Männern zu thun, und ich lauschte immer aufmerksamer auf die treffenden Bemerkungen, die von allen Seiten fielen.

Mittlerweile war die Zeit vorgerückt, die „Bürgerglocke“, wie man sagt, hatte geschlagen, das größere Zimmer war nach und nach ziemlich leer geworden. Da trat plötzlich noch ein später Gast ein, der mir sogleich merkwürdig auffiel. Er war ziemlich groß von Gestalt, seine breiten Schultern, seine hoch gewölbte Brust verriethen einen kräftigen Körper. Seinen großen Kopf umwallte dichtes, langes, etwas in Locken fallendes Haar, das man mit einer Löwenmähne vergleichen konnte. Sein Gesicht war groß, von scharf ausgeprägten Zügen, mit lebendigem Mienenspiel. Seine großen Augen waren unruhig und feurig, die hohe Stirn, die starke, etwas gebogene Nase verriethen geistige Bedeutung. Bald erfuhr ich, wer der Ankömmling war, ein berühmter Schauspieler, den ich Egidius nennen will.

Rasch trat er ein, schritt auf das kleinere Zimmer zu und rief guten Abend. Ein lebhaftes Willkommen tönte ihm von allen Seiten entgegen. „Franz,“ rief er dem Kellner, „ein Dutzend Flaschen Chambertin!“

„Was giebt’s, was giebt’s?“ rief einer der Anwesenden, „wenn Sie gleich mit einem Dutzend anfangen, werden wir wohl mit einem Eimer aufhören!“

„Wenn wir einen Eimer bewältigen können,“ rief Egidius, „ich gebe ihn zum Besten.“

Ich kam mir jetzt wie ein Eindringling in diesem Zimmer vor und wollte mich entfernen. Allein Egidius hielt mich bei den [330] Schultern fest, drückte mich auf meinen Sitz nieder und sagte: „Dageblieben, edler Unbekannter! Sie sehen aus wie ein anständiger Mensch und als ob Sie ein Glas Guten nicht verschmähten. Ich aber habe einen Trinkspruch auszubringen, und Sie müssen mithalten.“ Es lag so viel Gutmüthigkeit in den lachenden Zügen des Sprechenden, daß ich die etwas derbe Art, zurückgehalten zu werden, nicht übel nehmen konnte und blieb.

Der Kellner brachte den bestellten Wein, die Gläser wurden gefüllt, und Egidius hob das seinige empor, indem er rief: „Angestoßen, Kinder, der König soll leben!“ Man trank, hier und da verwundert, zögernd, doch Egidius rief: „Wieder eingeschenkt und schaut mich nicht so dumm an. Ihr möchtet wissen, wie ich darauf komme, diesen Trinkspruch auszubringen. Ich bemerke an Einigen von Euch leises Kopfschütteln, ich weiß auch, daß Einige von Euch demokratische und republikanische Gelüste hegen, aber „ich werde nächstens unter Euch treten und fürchterlich Musterung halten.““ Die letzten bekannten Worte Karl Moor’s sprach er mit blitzenden Augen, mit drohendem Gesichte und mit solcher Donnerstimme, daß ich unwillkürlich zusammenfuhr. Lautes Gelächter antwortete ihm von der andern Gesellschaft. „Wer lacht da?“ rief Egidius im Tone des Odoardo Galotti, „ich glaube, ich war es selbst.“ Die letztern Worte sprach er mit so eigenthümlichem innern Schauder, daß Alle einen Augenblick still wurden, dann fuhr er fort: „ich bringe es auch noch ein Mal, der König soll leben, denn –“ fuhr er mit einem eigenthümlich schaurigen Geflüster fort: „Se. Majestät haben heute zum zweiten Male geruht – meine Schulden zu bezahlen.“

Ein donnerndes Gelächter, ein lustiges Hochrufen folgte diesen Worten. „Es mag ein anständiges Sümmchen gewesen sein.“ rief neckend ein alter Herr mit weißem Kopfe.

„Hm, hm,“ sagte Egidius, „hinten standen drei Nullen, die vordere Zahl habe ich vergessen, geht Euch auch nichts an.“

„War nicht eine kleine Strafpredigt bei der guten Nachricht?“ sagte der alte Herr.

Egidius schüttelte seine wilden Locken, daß sie nach hinten fielen und das Gesicht ganz frei ließen, er kroch in sich zusammen, seine Mienen nahmen einen unübertrefflichen Ausdruck von Dummheit und Hochmuth an, und mit feinem Tone lispelte er: „Mein lieber Egidius, Se. Majestät wollen noch ein Mal Sie aus Ihrer betrübten Lage reißen, lassen Sie aber auffordern, von Ihrer Verschwendung abzustehen, denn wenn Sie wieder in Schulden geriethen, würden Sie sich die allerhöchste Ungnade Sr. Majestät zuziehen.“

Alles lachte, und ich erstaunte, denn Egidius hatte einen bekannten Kammerherrn des Königs auf das täuschendste nachgeahmt. Ein Anderer aus der Gesellschaft nahm das Wort und sagte: „Das war Hülfe in der Noth, nicht wahr, Egidius?“

Dieser erwiderte: „Hülfe? Ja! Noth? Nein!“

„Keine Noth?“ fragte der Andere, „ich weiß doch, daß Sie bis über die Ohren d’rin steckten, daß Wechsel auf Sie liefen und Ihnen der Schuldthurm drohte. Was hätten Sie thun wollen, wenn der König nicht half?“

„Durchgehen,“ sagte Egidius ruhig, „„ein jeder Wechsel schreckt den Glücklichen,“ und mich hätte er von hier weggeschreckt. Es giebt noch viele Theater in Deutschland, und Egidius ist überall willkommen, „die Blinden in Genua kennen meine Tritte.““

„Die Gläubiger würden Sie überall verfolgt haben,“ sagte ein Dritter.

„Verfolgt, aber nicht erwischt,“ sagte Egidius. „Ehe man mich anderwärts hätte fassen können, mußten eine Menge Formalitäten erfüllt werden, Requisitionen von einem souveränen Staate zu dem andern, daß ich Zeit genug hatte, an einem andern Orte ein Jährchen zu bleiben – und im schlimmsten Fall wieder durchzugehen. Ehe man in Deutschland nur überall herumkommt, hat man sein Leben vollendet – und dem letzten Wechselarrest sechs Fuß tief unter der Erde entgeht doch kein Mensch.“

„Was schwatzt ihr so obenhin über die mögliche Entfernung des Egidius?“ sprach ernst ein junger Mann mit blondem Lockenhaar, „sein Verlust wäre unersetzlich für die ganze Stadt und für uns in’s Besondere. Also zum dritten Male ein Hoch dem Könige, der ihn uns erhalten hat!“

Man stieß an, es wurden neue Flaschen gebracht, die Männer wurden erregter, das Gespräch immer lebendiger, Anekdoten wurden erzählt, witzige, geistreiche Bemerkungen flogen hin und her, die Seele der ganzen Gesellschaft aber war Egidius. Dinge, die so unbedeutend sind, daß ein Anderer sie gar nicht mittheilen würde, erzählte er mit einem Ausdruck in Ton und Mienen, daß sie lautes Gelächter oder auch Schauder erregten. Er wußte Jeden zu necken und auf keine Neckerei die Antwort schuldig zu bleiben, er traf mit jeder Bemerkung den Nagel auf den Kopf. Mit einem Worte, er sprühte von Geist und Leben. Endlich brachen wir auf. Es war fünf Uhr Morgens. Ich kann mich nicht besinnen, daß mir jemals die Stunden so verflogen sind. –

Neun Jahre später weilte ich einige Tage in einer kleinen Residenzstadt Thüringens. Es war großer Markt in dem Orte und während desselben regelmäßig Theater. Eine reisende Gesellschaft, die die großen Städte der umliegenden Länder besuchte, spielte in der Residenz und wurde vom Fürsten immer ansehnlich unterstützt. Die Gesellschaft war gut, sie hatte tüchtige Kräfte und leistete mehr als manches stehende Theater. An ihrer Spitze stand ein in der Geschichte des deutschen Theaters rühmlich bekannter Mann. Das ganze Unternehmen war ein durchaus anständiges, nicht zu vergleichen mit den kleinen reisenden Truppen, die zuletzt in Dörfern die Kunst mißhandeln.

Auf dem Theaterzettel fand ich den Namen Egidius. Ich erstaunte und fragte meinen Wirth, ob das derselbe Egidius sei, der früher an den großen Hoftheatern zu D., B., W. und K. gewesen. Es war derselbe. Mich überschlich ein eigenthümliches Bedauern. Den Mann, den ich in D. im sprudelndsten Lebensgenuß kennen gelernt hatte, der Liebling von Fürsten und dem Publicum der größten Städte – war ein wandernder Schauspieler geworden! Und war diese Gesellschaft auch eine anständige, so konnte eine Stellung bei ihr doch keinen Vergleich aushalten mit einer bei großen stehenden Theatern. Das Einkommen eines Schauspielers bei einer kleinen Gesellschaft erreicht nicht den vierten Theil von dem eines Hofschauspielers. Egidius war an reichen Lebensgenuß gewöhnt, wie mochte er sich fühlen, da ihm die Mittel dazu entzogen waren!

Er spielte an dem Abend. Ich sah ihn, ich sah ihn noch zwei Mal. Unvergeßlich wird mir der Eindruck seiner Vorstellungen bleiben. Er war ein Meister im vollsten Sinne des Wortes. Niemals war er Egidius, der schön spielte, er war immer die Person, die er darstellte. Man kannte ihn in den verschiedenen Rollen kaum wieder. Jeder Ausdruck des Mienenspiels stand ihm zu Gebote, jedes Ausdrucks durch das Wort in Stimme und Tonfarbe war er Herr. Er rührte bis zu Thränen und erregte das brausendste Gelächter. Dabei besaß sein Spiel eine Feinheit, eine Schicklichkeit, wie man sie selten sieht. Niemals ging er über die Grenze, welche die künstlerische Schönheit vorschreibt, niemals übertrieb er. Der Mann, den ich zuerst in toller, ausgelassenster Laune gesehen hatte, war auf der Bühne der feinste, anständigste Schauspieler.

Ich traf nicht mit ihm zusammen während meines Aufenthalts in R–, geradezu aufsuchen mochte ich ihn nicht. Meine Bekanntschaft in D. mit ihm war ja nur eine flüchtige gewesen, ich konnte kaum vermuthen, daß er mich wieder erkenne. Am Abend vor meiner Abreise kam ich bei dem Nachtessen mit einem Manne in’s Gespräch, der viel vom Theater redete und mit Allem, was dasselbe betraf, genau bekant war. Ich fragte ihn nach Egidius, von dem er mit begeistertem Lobe gesprochen hatte, und nach dessen Verhältnissen. Er erzählte mir, was ich halb und halb wußte, daß Egidius bei mehreren der ersten Hoftheater angestellt gewesen, daß mehrmals für ihn Schulden bezahlt worden waren, daß er aber fortwährend neue gemacht habe, bis die Last derselben ihn fortgetrieben. So war er von einem Theater zum andern gekommen, von größeren zu kleineren, und überall von Gläubigern verfolgt, endlich zu dieser reisenden Gesellschaft. „Es ist merkwürdig,“ schloß der Mann seine. Mittheilungen, „Egidius ist eigentlich kein Wüstling im schlimmsten Sinne des Worts. Er liebt den Wein, ohne ein Trinker zu sein, man sieht ihn nicht leicht betrunken. Er spielt, ohne ein Spieler zu sein, denn er sucht das Spiel nie, geht ihm aber nicht aus dem Wege, wenn er es findet, weil ihm die Aufregung Vergnügen macht. Er ist kein Cato in der Liebe, aber doch auch kein Ausschweifling. Ich glaube, er hat nie ein weibliches Wesen unglücklich gemacht, außer seine Frau, die, schon wenige Jahre nach ihrer Verheirathung von ihm geschieden, seit Jahren bei ihren Verwandten lebt. Zu einem Ehemann, der doch wenigstens etwas häuslichen Sinn besitzen muß, sei es noch so wenig, paßt er [331] allerdings nicht. Was Egidius liebt, ist die Aufregung lustiger Gesellschaft, wie sie bei Wein und Spiel sich zusammenfindet. Vielleicht ist ihm diese Aufregung unentbehrlich geworden. In seinem Kopfe sprudelt und gährt es von Einfällen, Witz, Laune, dafür sucht er einen Ableiter, ihm ist Mittheilung Bedürfniß. Die Welt urtheilt hart über ihn. Man nennt ihn liederlich, unsittlich. Ob dieses Urtheil ganz gerechtfertigt ist, mag ich nicht untersuchen. Schlecht ist Egidius nicht, denn er thut Niemandem Böses. Gut kann man ihn auch nicht nennen, denn er lebt nur für sich, ohne sich um das Wohl Anderer zu bekümmern. Daß er gutmüthig ist und gern giebt, mit Anderen theilt, kann ihm nicht so hoch angerechnet werden. Aber eins ist er gewiß, leichtsinnig, bodenlos leichtsinnig.“

„Wie aber hält er ein solches aufregendes Leben aus,“ frug ich, „das jeden Anderen in wenig Jahren zerrütten müßte?“

„Sehen Sie sich seine kräftige Gestalt an,“ erwiderte der Fremde, „diese festen, markerfüllten Glieder. Sein Körperbau ist auf die Dauer eines Jahrhunderts angelegt. Er wird durch seine Art und Weise vielleicht die Hälfte seines Lebens vergeuden, aber fünfzig bis sechszig Jahre hält er aus.“

Als ich am andern Morgen R. verließ, kam ich bei Egidius’ Wohnung vorbei. Ich warf einen Blick nach dem kleinen Hause, in dem er lebte. Er lag im offenen Fenster, das Hemd geöffnet und den Kragen zurückgeschlagen und badete seine offene Brust in der kühlen Morgenluft. Sie mochte ihm wohl thun nach durchschwelgter Nacht. Als ich eben vorbeiging, warf er sein reiches Haar zurück, das ihm in’s Gesicht fiel, wie es seine Gewohnheit war, und noch einmal sah ich mit Wohlgefallen den herrlichen ausdrucksvollen Kopf des berühmten Schauspielers. Ein Bildhauer hätte kein schöneres Modell finden können. –

Fünf Jahre später war ich in Norddeutschland auf einer Wanderung. Ein anhaltender Regen hinderte mich eines Tages, mein bestimmtes Ziel zu erreichen, und zwang mich, in einem kleinen Städtchen zu übernachten, das von einem Dorfe sich nur durch den Namen unterschied. Eine wandernde Schauspielertruppe hatte ihren augenblicklichen Sitz hier aufgeschlagen. Der Wirth machte mich darauf aufmerksam und überreichte mir einen Theaterzettel. Derselbe war geschrieben und enthielt unten die Bemerkung: „Dieser Zettel wird wieder abgeholt.“ Und wieder fand ich auf ihm den Namen Egidius. Ich erschrak. So tief war der herabgesunken, der einst von Fürsten gehätschelt worden! Doch vielleicht war dieser Egidius ein anderer! Ich ging in den Saal und sah eine aus Bierfässern errichtete Bühne. Roh gemalte Leinwandfetzen stellten Decorationen vor, blecherne Kasten mit Salz gefüllt erleuchteten qualmend und trübe den elenden Schauplatz, schmierige Kleider hüllten die Menschen ein, die hier die Worte der Dichter dem Volke durch Darstellung vermittelten. Auf diesen Bretern im eigentlichsten Sinne des Wortes, in diesem trüben flackernden Lichte, in diesen schmierigen Kleidern erschien auch Egidius. Er war es. Ja, das war noch der herrliche Kopf, das große rollende Auge, aber die Stimme war es nicht mehr. Matt und gebrochen tönte sie aus der Brust hervor, er spielte nachlässig, mit Unmuth, wie ein Arbeiter, der zu einem ihm widerwärtigen Geschäft gezwungen wird. Mir war dieser Anblick peinlich, und nach wenigen Minuten verließ ich den Saal.

Meine Stube lag gerade über der allgemeinen Gaststube. Als die Vorstellung beendigt war, wurde es unten wie lebendig. Es wurde laut gesprochen, zuweilen gelacht. Ob Egidius mit da unten sein mochte? Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, mich davon zu überzeugen. Ich trat in’s Zimmer. Die gewöhnlich einzeln stehenden Tische waren zusammen gerückt und bildeten eine einzige lange Tafel, um welche dicht gedrängt eine große Anzahl von jungen und alten Bürgern saß – mitten unter ihnen Egidius. Ein abgetragener Sammtrock, unter dem keine Weste befindlich, bildete seinen Anzug. Die Gäste hatten Bier, er ein Glas dampfenden Grogs vor sich stehen. Er führte das Wort, er erzählte Schnurren und Anekdoten, er gab Einzelne der Gesellschaft durch Neckereien dem Gelächter der Anderen Preis, die vor Vergnügen förmlich wieherten. Wiederholt hörte ich die Bemerkung: „es ist doch ein Teufelskerl, der Komödiant.“ Ich sah ihn jetzt genauer, ohne Schminke. Er war sehr gealtert. Tiefe Falten durchfurchten sein Gesicht, seine Haare begannen sich grau zu färben, nur die Augen hatten noch das alte Feuer, wenigstens jetzt beim Glase starken Gekänks. Das erste Mal, wo ich den Mann sah, saß er auch in munterer Gesellschaft und riß Alles zu tollem Jubel hin durch die sprühenden Funken seines Geistes. Und jetzt kitzelte er das Zwerchfell ungebildeter Bauern. Welch’ ein Abstand von damals und jetzt! –

Ein Jahr darauf las ich in einer Zeitung, daß in einem Lustwäldchen der Leichnam des bekannten Schauspielers Egidius gefunden worden sei. War die Kraft seines Körpers vor der Zeit zu Ende gewesen und hatte die Natur ihn oder er sich selbst getödtet? Ich habe nichts Genaueres erfahren. Die Welt hat ihm ihr Verdammungsurtheil mit in’s Grab gegeben.

Ist aber die sittliche Kraft, die dem Leichtsinn im Charakter die Wage hält, nicht auch angeboren oder durch Erziehung angebildet? Und wenn das Gleichgewicht zwischen sittlicher Kraft und Leichtsinn bei einem Menschen kein günstiges ist, wer mag ihn für ganz zurechnungsfähig erklären? Es ist eine gewichtige Frage, die der Zurechnungsfähigkeit! Sie urtheilt nach den äußeren Erscheinungen und ist immer geneigter, den Stab über einen armen Sünder zu brechen, als ihn zu entschuldigen. Aber die Welt hat andere Fragen zu lösen. Egidius trug sein Verdammungsurtheil mit in die Grube – und er ist jetzt vergessen.


[622]
2. Die Nähterin.

Es war in einer Stadt mittlerer Größe in Thüringen. Ich saß beim Frühstück in der Gaststube eines alten Wirthshauses. Ein tüchtiges Gewitter hatte am Abend des vorherigen Tages die ganze Natur erfrischt, und ein herrlicher Lenz lachte zum Fenster herein, als wollte er mich einladen zur Wanderung in die lieblichen Gegenden, welche die Saale durchströmt. Plötzlich war es mir, als hörte ich ungewöhnliches Geräusch auf der sonst stillen Straße der wenig belebten Stadt. Ich blickte durch’s Fenster und gewahrte, daß gleich mir aus allen Fenstern der Nachbarschaft neugierige Köpfe schauten und daß in den Hausthüren überall Menschen standen, die auf etwas zu warten schienen. Es war nichts Angenehmes, dieses Etwas, wenn es auch nichts Seltenes ist. Dem Wirthshaus gegenüber stand eine Bahre, auf welche eben ein Sarg gestellt worden, und Leichenträger waren beschäftigt, ihn mit dem schwarzen Tuche zu bedecken, das die letzte Hülle für alle Sterblichen ist. Die Männer ordneten sich, hoben die Bahre auf und schritten langsam mit ihr die Straße hinab. Ein schwarzgekleidetes Frauenzimmer folgte ihnen mit langsamem Schritt. Sie drückte ihr Taschentuch an die weinenden Augen, daß ich ihre Züge nicht erkennen konnte. Das Plaudern an den Fenstern und Thüren der Nachbarschaft hörte auf, als der ärmliche Leichenzug vorbeischritt – [623] dieses Schweigen war der einzige Zoll der Achtung, der dem Wanderer auf seinem letzten Wege mitgegeben wurde.

Der einfache Vorgang hatte auf mich einen eigenen wehmüthigen Eindruck gemacht – ich wandte mich in das Zimmer zurück und gewahrte die Wirthin, die mittlerweile eingetreten war. Ich fragte sie, ob sie wisse, wer da eben begraben würde, und ob sie die Leidtragende kenne, die den Sarg begleitet habe. Sie wußte ausführlich Bescheid und erzählte Folgendes. Die Leidtragende war Jungfer Leisker, eine arme Nähterin, die in der ganzen Stadt bekannt war und von allen Leuten wegen ihres stillen, fleißigen Wesens gelobt wurde. Die Todte dagegen war deren Schwester. Alle Welt betrachtete es als ein großes Glück für die Nähterin, daß diese Schwester endlich gestorben war. Etwas verwachsen und kränklich, hatte diese Schwester seit dreißig Jahren das Haus, seit fünfzehn Jahren das Bette nicht mehr verlassen können. „Die arme Jungfer Leisker,“ schloß die Wirthin ihren Bericht, „hat dreißig Jahre für die Kranke gesorgt und es ihr an nichts fehlen lassen. Und doch mußte sie jeden Bissen mühselig mit der Nadel verdienen. Sie wird Gott danken, daß sie diese Last los ist, jetzt kann sie doch einmal frei aufathmen.“

Ich fragte weiter, ob die Nähterin keine Verwandten habe. Sie hatte keine. Seit ihre Eltern todt waren, stand sie mit ihrer Schwester allein in der Welt.

Mich berührte das seltsam. Ein armes schwaches Mädchen hat Niemanden in der Welt, als eine kranke Schwester, die sie dreißig Jahre lang pflegen und mit ihrer Hände Arbeit ernähren muß. Die Wirthin hatte Recht, das war eine Last, eine schwere Last auf schwache Schultern gelegt. Wie mochte sie die Bürde getragen haben? War sie ihr nicht manchmal zu schwer geworden? Hatte nicht zuweilen Unmuth sie übermannt? Hatte sie nicht zuweilen mit bitterm Neide an die Glücklichen gedacht, die, mit Vermögen begabt, leichter durch das Leben gehen konnten? War sie nicht manchmal ermattet unter der schweren Bürde und hatte die Ungerechtigkeit des Schicksals angeklagt, das ihr so viel Schweres auflud und ihr Niemanden sandte, der ihr tragen geholfen hätte? Ich gestehe, daß mich der Unmuth überfiel, als ich mich in ihre Lage dachte, daß ich in ihrer Seele die Ungerechtigkeit des Schicksals anklagte.

Eine alte Ruine, die dicht bei dem Städtchen liegt, wurde von allen Reisenden angesehen, und ich hatte den Vormittag dazu bestimmt, sie auch zu besuchen. Der Weg führte mich an dem Kirchhof vorbei. Es war still auf demselben. Der reinste blaue Himmel strahlte auf die Landschaft hernieder, die Bäume, Büsche, Felder prangten im herrlichsten Grün des Frühlings; mit dieser lieblichen Umgebung stand der stille, ernste, einsame Kirchhof in seltsamem Widerspruch. Mir war nicht so frisch und froh zu Muthe, wie sonst, wenn ich an einem herrlichen Frühlingsmorgen meine Wanderung antrat, mir lag das Schicksal der armen Nähterin immer in Gedanken. Auch die Dahingeschiedene war elend und unglücklich gewesen. Dreißig Jahre an das Krankenlager gefesselt! Heißt das leben? Es zog mich zu dem Kirchhof hin. Ich wollte das frische Grab sehen, wollte ein paar Blumen brechen und sie darauf stecken. Ich meinte, mir würde dann leichter werden.

Der Kirchhof war nicht groß. Frische Spuren im Sande leiteten mich, bald hatte ich das Grab gefunden. Doch plötzlich stockte mein Schritt. Ich war nicht allein auf dem Kirchhof. Dort am Grabe kniete eine schwarze weibliche Gestalt. Sie war mit den Armen auf den frischen Hügel gesunken und barg ihr Gesicht in den Händen. Der letzte Zoll der schwesterlichen Liebe floß wohl in Thränen auf das Grab. Konnten diese Thränen so recht aus tiefster Seele fließen? War die Verstorbene nicht eine Last für die arme Nähterin gewesen? War sie nicht vielleicht das Hinderniß gewesen, daß das Schicksal der Schwester sich glücklicher gestaltete? Die Knieende regte sich nicht. Ich stand wartend wohl zehn Minuten still; keine Bewegung zu sehen. War sie ohnmächtig? Ich trat näher. Ich rief erst leise. Keine Antwort. Ich rief lauter, ich faßte die Knieende am Arme – da hob sie ihr Gesicht und schaute mich an wie Jemand, der aus einem tiefen Schlafe plötzlich zu sich kommt. Ich fragte, ob ihr etwas fehle; sie starrte mich verwundert an, strich mit der Hand über das Gesicht und schüttelte mit dem Kopfe. Sie war nicht ohnmächtig; aber sie war angegriffen und matt. Vom Schmerze? Es war ja ein Glück für sie, daß die Schwester gestorben, sagten die Leute. Ich hob sie auf, sie schwankte, sie zitterte. Ich bot ihr meinen Arm. Einen Augenblick zuckte sie, als wolle sie nicht von dem Grabe weg, dann ließ sie sich wie willenlos von mir führen.

Eine Zeit lang schritt sie, auf mich gestützt, dahin, ohne daß sie ein Wort sprach. Wir erreichten die Stadt. Am Thore stand sie still, verbeugte sich dankend und wollte allein weiter gehen. Allein ihr wankender Schritt überzeugte mich, daß sie einer Stütze bedurfte und daß sie nur aus Bescheidenheit meine fernere Begleitung abgelehnt hatte. Ich eilte ihr nach und indem ich ihren Arm wieder faßte, sagte ich: „Verschmähen Sie die Stütze nicht, die Ihnen noth thut.“ Sie sah mich dankbar an und ging ruhig mit mir weiter. Wir kamen an ihr Haus, sie trat ein, und unwillkürlich folgte ich ihr, als verstände sich das von selbst. Einen Augenblick war sie stehen geblieben, als erwarte sie, mich fortgehen zu sehen; als ich aber blieb, ging sie durch den Hausflur, öffnete ein Zimmer, das nach hinten hinaus lag, und ließ mich eintreten. Kaum war sie selbst im Zimmer, als sie laut zu weinen anfing und vor einem Bette in die Kniee sank, in dessen Kissen sie ihren Kopf barg.

Ich wußte nicht, sollte ich gehen oder bleiben. Vielleicht wäre es schicklich gewesen, zu gehen, und doch war mir wieder, als dürfe ich das arme, von Schmerz gebeugte Mädchen nicht allein lassen. So zweifelnd blieb ich stehen und sah mich im Zimmer um. Es war Alles, was ich sah, einfach, sehr einfach, aber doch so sauber, so ordentlich, daß es nicht ärmlich erschien. Die schmalen Vorhänge vor den beiden kleinen Fenstern waren weiß und sauber, das Hausgeräth stand so geordnet, daß man sogleich fühlte, es stehe Alles an seinem richtigen Platze. Auf dem Ruhkissen am Fenster lag eine Bibel aufgeschlagen.

Das Mädchen erhob sich nach kurzer Zeit von den Knieen, trocknete die Augen und sagte dann mit weicher, etwas zitternder Stimme: „Ich danke Ihnen herzlich, mein Herr, daß Sie mich heimgeleitet, ich bedurfte wirklich einer Stütze. Verzeihen Sie, daß ich meiner Thränen nicht gleich Herr werden konnte, es wird aber doch vorübergehen.“

„Sie sind so allein,“ erwiderte ich, „haben Sie denn Niemanden, der Sie tröstet, der Sie zu zerstreuen sucht, der Ihren Schmerz theilt?“

„Niemanden,“ sagte sie leise, „den einzigen Menschen, der mich liebte, habe ich eben zum Grabe begleitet.“

„Man sagte mir,“ fuhr ich fort, „Ihre nun verstorbene Schwester sei lange krank gewesen. Sie ist also von schwerem Leid erlöst und ihr ist wohl.“

„Ihr ist wohl,“ erwiderte sie eintönig.

„Und Sie sind doch auch einer großen Sorge, beinahe einer Last überhoben,“ sagte ich weiter.

Sie hob den Kopf, sah mich befremdet an und entgegnete: „Last? Sorge?“

Mir war es gegangen, wie es meist geht, wenn man trösten will – ich hatte etwas Dummes gesagt. Für den Schmerz um einen Dahingeschiedenen giebt es eben keinen Trost, als die Zeit, die den Kummer nach und nach lindert. Will man trösten, so weine man mit dem Weinenden, man gehe auf seinen Schmerz ein. Alle Versuche, Gründe gegen den Schmerz aufzustellen, sind thöricht und verfehlen immer ihres Zweckes. Der Schmerz will keinen Trost, er will weinen, das ist seine Berechtigung.

Ich fühlte, daß ich etwas Ungeschicktes gesagt hatte, und fuhr fort: „Verzeihen Sie, wenn ich Sie verletzt haben sollte, man sagte mir eben, daß die Verstorbene Jahre lang das Bett nicht habe verlassen können und daß Sie ebenfalls als ihre Pflegerin an sie gefesselt waren.“

„So ist es,“ erwiderte sie ruhig, „es mag Vielen als eine Last erschienen sein, vielleicht war es auch eine, aber ich liebte doch meine Schwester – und jetzt bin ich ganz allein. Hannchen war schon als Kind etwas verwachsen, kränklich und ziemlich hülflos. Da habe ich sie auf den Armen getragen und behütet und bewacht. Als meine Mutter vor dreißig Jahren starb, ich war kaum sechszehn alt, sagte sie mir: ,Verlaß Deine Schwester nicht, sie hat Niemanden als Dich.’ Sie hätte das nicht zu sagen brauchen, es verstand sich von selbst. Damit war mir die Aufgabe meines Lebens vorgezeichnet, und je länger ich sie erfüllte, desto lieber wurde sie mir. Und nun ist mir diese Aufgabe genommen.“ Sie schwieg, mir war es als hätte sie sagen wollen: „Was soll ich nun noch im Leben?“

„Aber man sagte mir,“ fuhr ich fort, „daß Sie neben der [624] anstrengenden Krankenpflege noch mühsam arbeiten mußten, daß Sie noch außerdem Noth und Sorgen getragen haben!“

Sie schüttelte leise den Kopf und erwiderte: „Noth habe ich wohl nicht gekannt, denn wir hatten alle Tage unsere warme Suppe. Sorgen habe ich wohl zuweilen gehabt, aber ich trug sie für meine Schwester und in dem Gedanken fühlte ich mich gestärkt und meine Kräfte angespornt.“

„Sie waren so einsam und verlassen,“ sagte ich wieder, „haben Sie nie Groll gefühlt gegen die hartherzigen Menschen, die Ihnen keine Hülfe gewährten?“

„Die Menschen sind nicht so hartherzig, wie Sie glauben,“ antwortete sie, „man gab mir überall gern Arbeit und war freundlich gegen mich. Was sollten die Leute mehr thun? Geschenke brauchte und begehrte ich nicht. Und doch bot man mir einmal an, meine sieche Schwester in’s Krankenhaus aufzunehmen. Der Vorsteher, der mir das sagte, sprach freundlich, redete mir zu und setzte mir auseinander, daß es mir zu schwer werden würde die Last allein zu tragen. Da warf ich einen Blick auf meine kranke Schwester, die gespannt den Worten des Mannes zuhörte. Ihre Lippen waren fest aufeinander gepreßt, ihre Züge wie verzerrt, in ihren Augen sprach sich eine ungeheuere Angst aus. Da fühlte ich, es wäre ihr Tod gewesen, wenn man sie von mir getrennt hätte, und ich lehnte das Anerbieten ab.“

„Dann war die Schwester wohl recht dankbar und sanft gegen Sie?“ fragte ich wieder.

„O ja,“ antwortete das Mädchen, „dankbar war sie, sanft eben nicht immer. Sie hatte viele Schmerzen und dann oft böse Stunden, wo sie ungeduldig wurde und ich ihr nichts recht machen konnte. Aber das ging vorüber, dann war sie wieder ruhig.“

Ich erstaunte immer mehr über die einfachen und schlichten Antworten, die ich erhielt. Ich konnte mir nur denken, daß eine recht tief eingewurzelte Frömmigkeit dies Mädchen befähigt habe ein Loos zu tragen, das jedem Dritten als ein hartes erscheinen mußte. Ich fragte sie auch darnach, fragte sie, ob sie nicht in der Kirche sich Trost und Kraft geholt habe. Sie schlug die Augen nieder und sagte leise: „In die Kirche bin ich seit vielen Jahren nicht gekommen. Meine Schwester hatte häufig Krampfanfälle. Nur ich wußte diese zu behandeln, wußte ihr die Lage zu geben, die sie erleichterte, und wußte ihr die Mittel zu reichen, die mildernd wirkten. Da konnte ich mich nicht Stunden lang von der armen Kranken entfernen und sie Gefahr laufen lassen in meiner Abwesenheit ihren Anfall zu bekommen, und so mußte ich die Kirche aufgeben. Der Herr Pfarrer hat das sehr hart aufgenommen und mich bitter getadelt, auch öffentlich über meine Versäumniß der Kirche ungünstig von mir gesprochen. Darum kam er auch nicht zum Begräbniß meiner armen Schwester – und das hat mir sehr weh gethan, denn auch die Nachbarn haben es gescheut den Sarg zu begleiten, weil sie die Vorwürfe des Herrn Pfarrers fürchteten, der ein strenger und eifriger Mann ist.“

Darum also war sie allein hinter dem Sarge hergewankt. Daß sie die christlichsten aller christlichen Tugenden im vollsten Maße übte, galt dem frommen Pfarrer nichts, daß sie aber seine Predigten versäumte, konnte er nicht verzeihen! Ich war ergriffen. Mich drängte es hinaus, um meine Bewegung zur Ruhe kommen lassen. „Die Zeit wird Ihren Schmerz lindern,“ sagte ich, „leben Sie wohl.“

„Glauben Sie das?“ fragte sie einfach, „ich denke nicht. Bin ich doch nun ganz allein. Wenn ich da saß und nähte, sprach ich hier und da ein paar Worte mit Hannchen, ich stand zuweilen auf, um ihr das Kissen zurecht zu legen oder ihr etwas zu reichen, ich begrüßte sie freundlich des Morgens, ich saß bei ihr, bis sie Abends entschlafen war; das Alles ist nun vorbei. Jetzt werde ich Niemanden am Morgen begrüßen, ich werde für Niemanden sorgen können, der Abend wird mir schaurig einsam sein. Davor fürchte ich mich. Es war nur ein armen, gebrechliches Wesen, mein gutes Hannchen, aber ich hatte sie lieb, – nun ich sie verloren habe, bin ich ganz allein, und die Welt kommt mir recht leer und öde vor.“ Sie trocknete ihre wieder hervorquellenden Thränen, ich drückte ihr die Hand und entfernte mich.

Es ist ein herrliches, liebliches Thal, das Saalthal, und lachte mir in voller Frühlingspracht entgegen, als ich es nach allen Seiten durchstrich. Aber oft bei den schönsten Stellen fiel mir die arme Nähterin ein, der ein kummervolles Loos gefallen war und die es nicht nur mit Seelenstärke, die es mit argloser Zufriedenheit trug. Sie meinte, es sei eben recht so wie es war. Ihr blieb Alles versagt, was die Menschen sonst Glück nennen – und sie vermißte es nicht einmal. Kein Neid, kein Groll wohnte in ihrem einfachen Gemüthe, sondern nur die Liebe, und zwar eine Liebe, wie sie nur in einem weiblichen Herzen vorkommt.

So schmerzlich mich die Begegnung berührte, so gehört doch das Bild der armen alten Nähterin zu meinen liebsten Erinnerungen, die nur lebte um ihre Pflicht zu erfüllen, die dieser harten Pflicht ihre schöne Seite abzugewinnen wußte und den bittersten Schmerz empfand, als diese Pflicht ihr abgenommen wurde und sie dabei auch ihre Liebe verlor. „Ich bin ja nun ganz allein und habe Niemanden mehr.“

Ich werde diese Worte niemals vergessen.

[474]
3. Halbes Talent.

Man hat gesagt, der Lorbeerkranz eines Dichters sei eine Märtyrerkrone, man hat umgekehrt diesen Ausspruch als unrichtig angegriffen. Je schärfer man von einer Seite das Loos des Dichters als ein Märtyrerthum zu schildern versucht hat, destomehr ist man von anderer Seite beflissen gewesen, diese Schilderungen in’s Lächerliche zu ziehen, und namentlich hat man bestritten, daß Dichter und Künstler andere Ansprüche an’s Leben zu machen hätten und anders beurtheilt werden müßten, als andere Leute. Die Wahrheit mag hier wohl wie immer in der Mitte liegen. Allerdings hat der Dichter und der Künstler Kämpfe zu bestehen, die Leute in anderer Lebensstellung gar nicht oder nicht in dem Maße kennen, Kämpfe gegen Mißgunst, Gleichgültigkeit des Publicums, Vernachlässigung, der deutsche Dichter insbesondere noch die Kämpfe des leidigen Broderwerbs, und oft mögen diese Kämpfe bittere, bittere Stunden erzeugen. Allein auf der andern Seite hat der Dichter und Künstler gewiß auch Stunden der Erhebung, des Schaffens, die ihm einen Genuß gewähren, welcher durch Nichts zu ersetzen ist. Hier wird also wohl Eines das Andere ausgleichen, und demnach ist das Geschenk des Genies oder der bedeutenden schaffenskräftigen Kunstbegabung eines der schönsten und edelsten, das die Natur einem Menschen verleihen kann. Ein gefährliches, ein unglückliches Geschenk aber ist das eines halben Talents.

Ein halbes Talent ist eine mehr als gewöhnliche Empfänglichkeit für die Kunst, der aber die Fähigkeit des Erzeugens mangelt; ein halbes Talent ist die Lust, ja der Drang Etwas zu schaffen ohne die Kraft dazu. Solcher halben Talente giebt es viele, sehr viele, mehr als man gewöhnlich glaubt. Sie mühen sich ab, sie schaffen, sie erzeugen, aber ihren Erzeugnissen fehlt nicht nur der Stempel der Vollkommenheit, es fehlt ihnen meistens das, was das Talent überhaupt kennzeichnet. Seitdem in den Künsten die erlernbare Fertigkeit (Technik) so ungemein ausgebildet ist, seitdem in Bezug auf die Dichtkunst unsere Sprache die hohe Stufe der Bildung erreicht, die wir der classischen Zeit unserer Dichtung verdanken, ist das Erzeugen an sich viel leichter geworden. Menschen mit halbem Talent werden durch diese Leichtigkeit wiederum weit mehr zum Erzeugen angeregt, fast möchte man sagen verführt, als es sonst der Fall sein würde. Wenn nun halbe Talente irgend einen Beruf, ein Amt des bürgerlichen Lebens haben und nur in den Mußestunden, zu ihrem Vergnügen sich mit der Kunst beschäftigen, wenn sie nur Dilettanten sind und nichts weiter sein wollen, so mag sich ihnen durch die Kunst das Leben vielfach verschönern und es mögen sich ihnen Genüsse bieten, die edler und reiner sind als die gewöhnlichen Vergnügungen. Sobald indeß solche Menschen auf ihr halbes Talent ihre Lebensstellung gründen wollen, sobald sie als Künstler von Fach auftreten und eben durch die Kunst auch den Lebensunterhalt erwerben wollen, entsteht ein trauriges Mißverhältniß.

Die Kämpfe, die dem begabteren Künstler nicht erspart sind, der Unmuth über das Mißlingen, die Verbitterung über den Mangel an Anerkennung hat der ungenügend begabte Mann doppelt und dreifach durchzumachen. Die Folge davon ist, daß Neid, Verbitterung, tiefer Unmuth sich seiner bemächtigen. Und sonderbar ist es, daß die Fehler, die man den Künstlern, einigen mehr, andern weniger, mit Recht vorwirft, Selbstüberschätzung, Eitelkeit etc., bei den wenig Begabten immer im vollsten Maße sich vorfinden. Der Mangel an Anerkennung ist ein Wurm, welcher am Gemüthe nagt und die edelsten Blüthen desselben zerstört. Wenige sind ehrlich genug, kennen sich selbst genug, um die Ursachen dieser mangelnden Anerkennung in der Schwäche ihrer Werke zu suchen, die meisten – und dazu gehören alle Menschen von halbem Talent – suchen sie in der Ungerechtigkeit des Publicums, in dem Vordrängen anderer Mitstrebender, in deren Neid und Ränken, kurz überall, nur nicht da, wo sie liegen.

Ich habe viele derartige Menschen gekannt, die in dem fruchtlosen Streben, Künstler sein zu wollen, zu Grunde gingen, indem sie entweder zur tiefsten Verbitterung gelangten, oder auch gar dem Kampfe mit Mangel und Noth erlagen. Ich will eines dieser Beispiele aufzeichnen.

Als ich im Anfange der vierziger Jahre nach **** kam, fand ich eines Tages im Feuilleton der dortigen Zeitung eine kleine Ballade im niederdeutschen Dialekt, die mich ungemein ansprach. Im echten Volkston, kurz und bündig, stellte sie eine kleine geschichtliche Anekdote dar, und zwar war Alles in ihr, Ton, Darstellung, Form, so treffend, daß ich mich nicht enthalten konnte sie als ein Meisterstück in ihrer Art zu betrachten. Ich fragte nach dem Verfasser. Er war in **** ziemlich bekannt und nicht schwer war es, ihn kennen zu lernen. Bei einem Glase Maitrank traf ich zuerst mit ihm zusammen. Mittelgroß, etwas beleibt, war Holder eine anspruchslose Persönlichkeit. Leicht erregt, mit vielem Sinn für Kunst war er lebhaft im Gespräch, und wenn er auch seine Meinung standhaft verfocht, war er doch harmlos gutmüthig und weit entfernt Jemanden zu beleidigen. Ich ward rasch mit ihm bekannt und besuchte ihn bald darauf. Dabei zeigte er mir mehrere kleinere lyrische und epische Dichtungen, die indessen jener Ballade sehr weit nachstanden. Nur ein Vaterlandslied machte eine Ausnahme, das voll Feuer und Schmerz den besten Liedern dieser Art an die Seite zu setzen war, an denen jene Zeit so reich sich erwies. Jene Ballade und dieses Lied halte ich noch heute für ein paar Perlen deutscher Dichtung. Sie hatten damals nicht nur mir, sondern allgemein gefallen, Holder bekam viel Schmeichelhaftes darüber zu hören, sie wurden componirt, gesungen, in vielen Zeitschriften nachgedruckt, kurz, Holder’s Name wurde damals genannt. Das war sein Unglück.

Einige Monate nach unserer ersten Bekanntschaft kam Holder eines Tages zu mir und begehrte meinen Rath zu hören. Er theilte mir mit, daß er ein kleines Geschäft besäße, das ihm wenig Arbeit mache und ihn, wenn auch nicht glänzend, doch anständig ernähre. Allein er fühle sich nicht behaglich in seinem Wirkungskreise, die Dichtkunst sei es, die ihn anziehe. Nun wisse er wohl, daß es ihm an classischer Bildung fehle. Diesem Mangel müsse er allerdings abhelfen, ehe er wirklich Schriftsteller werden könne, das fühle er wohl. Indessen müsse das gehen, obwohl er schon dreißig und etliche Jahre alt wäre. Er wolle sein kleines Geschäft verkaufen, mit dem dafür erhaltenen Gelde nach Heidelberg gehen und dort studiren.

Ich erschrak über diesen Vorsatz. Lebenslustig wie er war, besaß er durchaus nicht die Ausdauer, um in seinem vorgerückten Alter nachzuholen, was er an wissenschaftlicher Bildung in der Jugend versäumt hatte. Ich sagte ihm das offen. Ich stellte ihm [475] vor, wie unendlich schwer es für einen Mann wäre, durch schriftstellerische Arbeiten sich seinen Lebensunterhalt zu erwerben. Man könne das nur durch größere dramatische Arbeiten oder erzählende Schriften, oder auch als geistreicher Publicist und Feuilletonist, wozu aber unbedingt Leben und Bewegen in einer großen Stadt gehöre. Mit kleinen Gedichten, und wären sie noch so schön, ließe sich nicht viel verdienen. Ich bat ihn, sich zu prüfen, ob er glaube, größeren Arbeiten gewachsen zu sein; ich bat ihn geradezu, sich nicht dadurch verleiten zu lassen, daß ihm ein paar hübsche Gedichte gelungen seien. Diese bewiesen noch nichts für die Nachhaltigkeit seines Talents. Ich erinnerte ihn an Schiller’s trefflichen Ausspruch:

„Weil ein Vers dir gelingt in einer gebildeten Sprache,
Die für dich dichtet und denkt, glaubst du schon Dichter zu sein.“

Holder hörte mich an, widersprach, gab zu, widersprach wieder und schied endlich von mir etwas empfindlich, aber von meinen Worten nicht überzeugt.

Bald darauf erfuhr ich, er habe seinen Vorsatz ausgeführt, sein Geschäft verkauft und sei nach Heidelberg gegangen, um dort zu studiren.

Nach einigen Jahren kam er zurück. Anfangs vermied er mich, ich erfuhr nur von Andern, daß er wieder da sei und nach seiner alten Gewohnheit fleißig „kneipe“. Indessen suchte er mich bald auf. Er brachte mir ein Lustspiel in zwei Aufzügen und bat mich um meine Vermittelung bei der Theaterdirection, daß es zur Aufführung käme. Aus seinen halben Andeutungen entnahm ich, daß er das Geld, welches er für sein Geschäft erhalten hatte, in Heidelberg glücklich verstudirt habe und daß ihm viel an dem Erfolge seines Stückes läge – da er eine Einnahme brauche. Ich las das Stück. Es war tief unter der Mittelmäßigkeit, es konnte keinen Erfolg haben. Zu den unangenehmsten Aufgaben im Leben gehört es, von einem Autor zur Beurtheilung eines seiner Werke aufgefordert zu werden und dasselbe tadeln zu müssen.

Will man sich nicht mit allgemeinen Redensarten durchhelfen, will man redlich sein und seine volle Ueberzeugung aussprechen, so erwirbt man sich regelmäßig einen Feind. Ich konnte mich dennoch nicht entschließen, Holder meine Meinung vorzuenthalten – er hat mir meinen Tadel später niemals vergessen. Indessen im Augenblick bedurfte er meiner Vermittelung, er unterdrückte seine Empfindlichkeit und bat mich trotz meines ungünstigen Urtheils das Meinige zu thun, um das Stück auf die Bühne zu bringen. Holder war ein bekannter Mann in ****, seine Name auf dem Zettel versprach ein besuchtes Haus, das kleine Stück war leicht zu geben und so ging die Theaterdirection auf seinen Wunsch ein. Der Erfolg bestätigte mein Urtheil. Das Stück fiel durch.

Es verging darnach längere Zeit, in der ich Holder nicht sah. Es kam das Jahr 1848. Auch in **** waren Aufregung, Unruhe, kurz alle die Erscheinungen, die jene Zeit bot. Da begegnete ich eines Tages Holder. Er ging dicht an mir vorüber, maß mich von oben bis unten mit verächtlichem Blicke und grüßte mich nicht. Ich war erstaunt, doch das Räthsel seines Benehmens war leicht gelöst. Holder gehörte der äußersten Linken an und war, obschon kein guter Sprecher, doch einer der lebhaftesten Agitatoren. Die Bewegungen in **** hatten eine entschieden communistische Färbung. „Bei der Theilung bekommt Jeder achtzehntausend Thaler,“ war das Axiom, an das ein zahlreiches Proletariat glaubte, wie an das Evangelium. Im Sinne dieser communistischen Partei erschien ein kleines Sudelblatt, das eine rothe Fahne als Vignette trug und in cynischer Weise zum tausendsten Male wiederkäute, was zum Ueberdruß schon neunhundert neunundneunzig Mal gesagt worden war. Von Geist, von Phantasie, von eigenen Gedanken war in dem Blättchen nicht die Rede, nur vom Nachbeten dessen, was andere große Zeitungen in besserer Form gaben.[1]

Der Redacteur und Herausgeber jenes Blättchens war Holder. Seltsamer Umschwung! Holder, ein Mann, der sich nie um den Staat, um Politik gekümmert hatte, der ohne alle Kenntniß der Geschichte war, der bis dahin nichts wollte und konnte, als mit guten Gesellen beim Näpfchen sitzen, der harmlose, gutmüthige Mensch, dessen frühere Lieder nach ganz andern Richtungen gingen, war ein rother Communist der cynischsten Art geworden. Hätte er sein kleines Geschäft noch gehabt, ich bin überzeugt, die Politik wäre ihm fern geblieben oder er wäre nicht zu dieser Partei gerathen. Aber so war er arm, er war von seinem Talent überzeugt, er fühlte sich zurückgesetzt, verkannt, er war durch und durch verbittert, und so kehrte sich sein Unmuth gegen die Besitzenden. Diese verkannten ihn ja, diese zollten ihm nicht den Tribut, den er zu verdienen meinte, diese waren demnach seine Feinde. Und so schloß er sich denen an, die den Besitzenden gleichfalls feindlich waren und die ihm als einem der Führer der Partei Geltung gewährten. Denn Geltung zu gewinnen ist das Streben aller halben Talente, mag es zuletzt sein in welcher Richtung es wolle.

Die Zeit der Aufregung ging vorüber, die Reaction gewann die Oberhand, jenes kleine Blättchen war schon früher verschwunden. Die Proletarier wollten wohl theilen, aber sie wollten die Kraftergüsse Holder’s nicht bezahlen, deren sie genug umsonst in jeder Volksversammlung hören konnten.

Wieder mochten einige Jahre vergangen sein, in denen ich von Holder nichts hörte, ihn nicht sah. Seine Pläne für die Laufbahn eines Schriftstellers blieben unausgeführt. Kein Gedicht, keine Erzählung, kein Drama kam von ihm zum Vorschein. Da fand ich eines Tages in der Zeitung einen kleinen Aufsatz mit einem Vorschlage – über Sprachverbesserung. Der Aufsatz war so geistlos, so albern, so ohne alle Sprachkenntniß, daß ich mich ärgerte, ihn in der sonst so trefflichen Zeitung zu finden. Als ich ausging, traf ich den Redacteur des Blattes und fragte ihn, von wem der Aufsatz sei. Er erwiderte mir: „Von Holder.“ „Aber wie können Sie etwas so Albernes aufnehmen?“ frug ich weiter.

Der Redacteur zuckte mit den Achseln und entgegnete nur: „Je nun, er brauchte die paar Thaler Honorar.“

Es war ein braver Mann, der Redacteur, der keine Beleidigung nachtrug, denn er besonders war von Holder in jenem Sudelblättchen mit Schmutz und Koth beworfen worden. Ich ging weiter. Als ich um die nächste Straßenecke bog, stieß ich auf Holder. Es war im kalten Winter. Er trug einen dünnen Sommerrock, seine Stiefeln waren zerrissen, er war mager geworden und sah blaß und elend aus. Ich stutzte und blieb unwillkürlich stehen, ich wollte ihn anreden. Doch ohne mich anzusehen, zog er höflich seinen Hut ab und ging an mir vorüber. Ich begriff jetzt, warum der Redacteur jenen Aufsatz abgedruckt hatte. Welch ein Abstand! Als ich Holder das erste Mal sah, war es im Kreise munterer Gesellen. Eine Bowle Maitrank bildete ihren Mittelpunkt. Heiter und fröhlich flog das Gespräch von Munde zu Munde. Alle Anwesenden waren in Verhältnissen, die ihnen eine Behaglichkeit des Daseins gewährleisteten. Und jetzt begegnete mir Holder hungernd und frierend! Ich forschte nach seinen Verhältnissen, ich besprach mich mit Andern, ob ihm nicht zu helfen wäre. Da rief mich plötzlich ein Antrag von **** weg. Holder kam mir aus dem Gedächtnisse. Nur noch einmal wurde ich wieder an ihn erinnert, als ich ein paar Jahre später in der Zeitung las, er sei im Armenhause gestorben.

Und seltsam: an demselben Tage, wo ich diese Nachricht fand, kam ein mir sehr nahe stehender Mann zu mir, der mir, genau wie Holder siebenzehn Jahre früher, seinen Plan mittheilte, Schriftsteller werden zu wollen. Ich redete ihm ab, ich erklärte ihm offen, daß sein Talent, das ich wohl kannte, durchaus unzureichend sei, ich bat und beschwor ihn, von seinem Vorsatze zu lassen, ich erzählte ihm Holder’s Geschichte und zeigte ihm die Nachricht von dessen Ende im Armenhause. Was war die Folge? Er ging beleidigt von mir hinweg und am andern Tage schrieb er mir einen groben Brief – und brach jede Beziehung mit mir ab. Ein halbes Talent ist die unglücklichste Gabe, welche die Natur einem Menschen verleihen kann!



  1. Das Jahr 1848 brachte neben vielem anderen auch das Gute mit, daß es unter den obengeschilderten halben Talenten – namentlich unter den Journalisten und Publicisten gründlich aufräumte. Vor achtundvierzig ersetzte bei vielen Schriftstellern die Gesinnung, was ihnen an Talent abging. Man half sich mit Ausfällen, mit banalen Angriffen auf Persönlichkeiten und einzelne Behörden, spielte den Märtyrer und entschuldigte die Massenhaftigkeit der Phrase mit der Censur, die das Beste unterdrücke und das Talent nicht zur freien Entwickelung kommen lasse. Als endlich durch die Erhebung des Volkes die polizeilichen Censurschranken fielen und der „freien Entwickelung“ nichts mehr im Wege stand, als es nunmehr galt nicht mit Gesinnung allein, sondem auch ein klein wenig Talent zu haben, d. h. die Gesinnung mit Talent zu vertreten, und die Entschuldigung der Censurstriche ein Unsinn geworden, da wurden über Nacht viele dieser „Talente“ ihres Heiligenscheines beraubt und ihre innere Gehaltlosigkeit trat glänzend zu Tage. Es ist einer der segensreichsten Erfolge der freien Presse, daß sie das wahre Talent in der eklatantesten Weise heraufgefördert und dem halben Talent alle Entschuldigung genommen hat.
    D. Red.