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Verhängnißvoller Augenblick

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Textdaten
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Autor: M. H.
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Titel: Verhängnißvoller Augenblick
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 20, S. 329, 340
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[329]

Verhängnißvoller Augenblick.
Nach einer Zeichnung von Mathias Schmid.

[340] Verhängnißvoller Augenblick. (Zu dem Bilde S. 329.) Aus dem Bergdorfe, das am rauschenden Gletscherbach zwischen Matten und Felshängen liegt, will sie hinaufsteigen zu ihrer Alm, die schlanke, wetterbraune Sennerin. Der schmale Steig, den sie eingeschlagen hat, ist eigentlich ein verbotener, weil er über den Bahndamm führt an einer Stelle, wo derselbe nicht betreten werden sollte. Es ist überhaupt eigentlich gar kein Steig, sondern man gewahrt nur einzelne Tritte, die an der steilen Geröllhalde hinaufführen, nur gangbar für die schwindelfreie Aelplerin. Und nun, wie sie den Schienenweg erreicht hat und elastischen Schrittes darüber hinwegeilen will, um an der Bergwand weiter hinan zu klimmen, sieht sie auf dem schwarzen Eisengestänge einen reichlich zentnerschweren Gneißblock liegen, der aus der Höhe herabgerutscht und zuletzt, vielleicht vor einer Stunde erst, auf die Schiene herabgestürzt ist. Oder haben ihn verruchte Hände hingewälzt, um ein entsetzliches Unheil herbeizuführen, ein Unheil, das krachend und dröhnend mit zerberstenden Wagen, mit zerklirrenden Maschinentheilen und mit dem Todesschrei von Hunderten in den Abgrund hinunter donnern sollte?

Gleichviel, wie er dahin kam – der Stein gehört nicht dahin, so denkt sich das brave Mädchen; mit ruhiger Entschlossenheit setzt sie den eisenbeschlagenen schweren Bergstock an, um mit seiner Hebelkraft den Felsblock vom Geleise zu rücken. Sie strengt sich noch nicht an; aber in der nächsten Sekunde schon wird sie das Dröhnen des Postzuges vernehmen, der unfern aus der dunklen Mündung des Tunnels hervor kommt. Und dann – dann faßt sie mit beiden Händen den Stein; die Muskeln ihrer Arme spannen sich an, als wollten sie zerspringen; – eine riesenhafte Anstrengung – aber im nächsten Augenblick rollt der Fels über den Damm hinaus, um in mächtigen Sätzen den Steilhang hinunterzukollern, bis er mit einem letzten Sprung in den Gletscherbach unten stürzt, dessen Wellen über ihm zusammenschlagen.

Die wackere Sennerin aber hat gerade noch ein paar Sekunden Zeit, um ihren Stock wieder zu ergreifen und mit einem Satze vom Bahndamm wegzuspringen – fast, daß ihr wehendes Gewand noch von den Puffern der herantosenden Lokomotive berührt wird. Dann aber läßt sie lächelnd den Zug an sich vorüber donnern; wie Märchengestalten erscheinen ihr die schwarzen Männer auf der Lokomotive, die Köpfe der Reisenden an den Fenstern. Keiner von denen, die da herausschauen, ahnt es wohl, daß die schlichte Magd im Bauernkittel, die da, auf ihren Bergstock gelehnt, nach der Wagenreihe hinaufblickt, wenige Sekunden vorher als Schutzgeist eine That vollbrachte, die ein grauenhaftes Unglück verhütet hat.

Und der Lärm des Zuges verhallt hinter dem nächsten Felsvorsprung. Die Sennerin aber klettert ihren steilen schmalen Weg weiter empor zwischen Fels und Krummholz. Erst eine Viertelstunde später, wie sie ein sonniges Rasenfleckchen erreicht hat und in schwindelnder Tiefe unter sich den Bahnzug noch einmal sieht, der unterdessen in meilenlanger Schlangenwindung ganz ins Thal hinabgekommen ist und langsamer nun der Station zufährt: erst da hält sie still. Auf ihren Bergstock gelehnt, läßt sie die braunen Augen hinunterschweifen ins Thal und hinüber nach Ost und West, wo sie ferne Schneehäupter flimmern sieht. Und dem hohl klagenden Pfiff, den das Eisenungethüm unten am Bahnhof ausstößt, antwortet hoch auf luftigem Bergvorsprung ein heller freudiger Jauchzer, den aber niemand vernimmt, als der harzduftende Bergwald und das sonnenbeglänzte Gestein. M. H.