Zum Inhalt springen

Veitel Itzig’s Anfang und Ende

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Friedrich Hofmann
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Veitel Itzig’s Anfang und Ende
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 18, S. 289–291
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[289]

Die unheimlichste Stätte in Freytag’s „Soll und Haben“.
Nach der Natur aufgenommen von B. Mannfeld in Breslau.

[290]
Veitel Itzig’s Anfang und Ende.



Wenn eine Dichtung so zum Eigenthum einer Nation geworden ist, wie Gustav Freytag’s Roman „Soll und Haben“ den Deutschen, so darf man es schon wagen, Hauptpersonen derselben als allgemein bekannt genug anzunehmen, um sie zu Titel- Ueber- und Unterschriften zu benutzen. Vollständig gerechtfertigt ist dies bei unserer Illustration von Breslaus alter Ohle.

Noch vor wenigen Jahren floß fast durch die Mitte der schlesischen Hauptstadt ein Wasser von so nichtswürdigen Eigenschaften, daß Augen und Nasen unsäglich von ihm zu leiden hatten: die schmutzige Ohle, vom Zorn des Volkes mit dem Spottnamen „Stinkohle“ bezeichnet. Blut und Lungen mancher Generation braver Breslauer mögen durch den Pesthauch der Ohle vergiftet worden sein, aber dies geschah „von Rechtswegen“, so lange die Gerber an den Gestaden derselben ihr zunftgerechtes Gewerbe trieben. Damals sickerte sie jedoch nicht als ein elender Bach zwischen Schutthaufen hin, wie auf unserem Bilde, das sie an ihrer Mündung in einen Oderarm darstellt, sondern die scheußliche Fluth nahm die Hälfte des Brückenbogens ein, der hier vor uns steht.

[291] Es war die Hinterseite der Häuser, welche sich dieser Wasserstraße zukehrte, und gleich das erste Haus zur Rechten unserer Illustration mag das des Löbel Pinkus gewesen sein, in welchem wir den angehenden „Gründer“ s. Z., den jungen Veitel Itzig, nachdem es ihm gelungen, im Hause des Herrn Hirsch Ehrenthal seinen geschäftlichen Lebenslauf als Stiefelputzer, Laufjunge und Geschäftstheilhaber anzutreten, Nachtherberge suchen sehen. Wir vermuthen jedoch, daß er schon früher mit der Oertlichkeit in Vertrauen gekommen, denn wer sich im Finstern eine Treppe hinauf so gut zurecht zu finden weiß, wie Veitel an jenem denkwürdigen Abend, muß Herrn Pinkus’ Gelegenheit schon mehr genossen haben.

Nach Gustav Freytag’s Erzählung waren vor den kleinen Fenstern der hauslangen sogenannten Gast- und Schlafstube des Herrn Pinkus verblichene Rouleaux heruntergelassen und auf der gegenüberliegenden Langseite führte eine Thür auf eine hölzerne Galerie, welche längs der Außenseite des ganzen Hauses fortlief. Auf dieser Galerie fing Veitel die Aussicht zu bewundern an, nicht nur auf das Wasser, welches die Grundmauern der verfallenen hölzernen Gebäudereihe bespülte, sondern auch auf diese Gebäude selbst. Denn fast an jedem Hause, an jedem Stockwerk waren ähnliche hölzerne Galerien herausgebaut und durch gebräunte Balken gestützt, oft vierfach übereinander, so daß der Fußboden der obern als Regendach der untern diente.

Heute, wo er zum ersten Male allein an diesem Platze stand, bemerkte er, daß eine lange bedeckte Treppe vom Ende seiner Galerie bis hinunter an das Wasser führte; er sah, daß neben dieser bedeckten Treppe eine ähnliche am Nachbarhause hinablief, und schloß daraus, daß es möglich sein müsse, die eine Treppe hinunter- und die andere hinaufzusteigen, ohne sich mehr als die Schuhe naß zu machen; er entdeckte ferner, daß es bei dem niedrigen Wasserstande des Sommers möglich war, längs der Häuserreihe am Wasser weiter fortzugehen, und er überlegte, ob es Menschen geben könnte, welche bei Tag oder Nacht einen solchen Spaziergang für nützlich hielten. Nachtwächter und Polizeidiener wenigstens waren dort nicht zu fürchten.

Die Nutzanwendung, welche der Beobachter aus dieser Erkenntniß zog, ist in unserer Geschichte erzählt; vor Allem wissen wir, daß sie das Beste zu seinem Tode beigetragen hat.

Schon zu Veitel Itzig’s sel. Zeiten war die Gerberzunft hier ausgewandert und hatte sich in ein milderes Klima der Stadt verzogen, und statt der Thierfelle hing nur die Wäsche armer Leute an den wurmstichigen Holzbalconen und Balkenköpfen. „Noch stach die weiße, rothe und blaue Farbe der Wäsche im Abendlichte seltsam ab von dem schwarzen Holzwerk, und das Licht brach sich auf wunderliche Weise an den Säulen und Vorsprüngen der Galerie, an den rohen Arabesken der Einfassung und an den dunkeln Pfählen, welche hier und da aus dem Wasser hervorragten. Es war ein unheimlicher Aufenthalt für jedes Geschöpf, außer für Maler, Katzen oder arme Teufel.“

Von da bis zum letzten Besuche Veitel’s allhier spielen sich die Menschenschicksale ab, welche Freytag mit so herzlicher Theilnahme uns Allen haarklein verrathen hat. Veitel Itzig hat es glücklich durch all die schmutzigen Gänge, welche an der Nachtseite der Gesellschaft hin zum Mammon oder zum Zuchthause führen, bis zum verfolgten Verbrecher gebracht, und Freytag läßt uns ihn in seinen letzten furchtbaren Augenblicken schauen, deren Schauerstätte in unserm Bilde verewigt ist.

Mit schlotterndem Gebein erreicht er die alte Herberge. Seine Hand erfaßt, in jedem Straßenschatten einen Häscher fürchtend, den geheimen Drücker, er schlüpft in’s Haus, zieht die Stiefel aus, huscht die Treppe hinauf, ergreift einen Schlüsselbund, gelangt zum Schlafsaale und durch ihn zur Galerie. Die Athemzüge schlafender Menschen schrecken ihn auf, er steht vor der Treppenthür, und wankend steigt er hinab, Stufe um Stufe, bis zum Wasserrande. Mit dem Fuße sucht er den Boden, das Wasser ist gestiegen, es reicht ihm über das Knie, ehe er den Grund gefunden. Finstere Nacht und rieselnder Regen außen, und innen alle Qual der Verdammten, so watet er vorwärts tastend den gehofften Rettungsweg, oft die schlüpfrigen Pfähle umklammernd, um nicht zu sinken. Endlich ist die Treppe des Nachbarhauses erreicht, er fühlt nach den Schlüsseln in seiner Tasche, noch ein Sprung um die Ecke, und sein Fuß berührt die ersehnten Stufen. Da – doch das Ende liest der Leser am schönsten in „Soll und Haben“ selber noch einmal. Hier nur kurz: Veitel Itzig wurde im ferneren Lebenswandel durch die Stinkohle unterbrochen, weil er in ihr ertrank.

Hatte die alte Ohle hiermit auch einmal ein gutes Werk vollbracht, so wog dies doch ihre Uebelthaten gegen die athemfrohen Menschen nicht auf. Aber erst mußte sie das Maß ihrer Schandthaten im Bunde mit der Cholera erfüllen, der sie im Jahre 1866 zu einem furchtbaren Siege über Gesundheit und Leben in Breslau verhalf, ehe auch hier einer der so schwer reifenden Entschlüsse zum Durchbruch kam, der Stinkohle ihren Weg unter der Erde anzuweisen. Es muß das ein allgemein deutsches Schicksal sein, denn wir kennen viele der Ohle verwandte „Gerbergräben", an deren Beseitigung mit ähnlicher Mühe und Noth gearbeitet ward und wird. In Breslau ist’s gelungen, und sicherlich höchstens zum Bedauern der „Maler, Katzen und armen Teufel“. Schon jetzt hat unsere Illustration nur noch geschichtliche Wahrheit. Die Romantik des „Seitenbeutels“ und am Ohleausfluß, unserm Gegenstande, ist dahin, das Ohlebett ist bis zur Brückenhöhe zugeschüttet, die Holzaltane und Galerietreppen sind zwecklos geworden und, viele gleich mit ihren baufälligen Häusern, verschwunden, neue treten an ihre Stelle, die alten ziehen ein neues Gewand an, und ehe noch ein Lustrum vergeht, wird eine freundliche Verkehrsstraße ihr Leben entfalten, wo Veitel Itzig sein schlammiges Ende gefunden.

Auch den kühnen Bau, das Häuschen, welches auf zwei dünnen Beinchen sich an die Hintermauer des Allerheiligen-Hospitals lehnt, sucht der Leser vergebens; das letzte Hochwasser der Oder hat es mitgenommen.

So könnte denn schier in jeder Beziehung die Unterschrift unseres Bildes auch heißen: Tempi passati.

Fr. Hfm.