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Unterseeischer Tunnel zwischen England und Frankreich

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Titel: Unterseeischer Tunnel zwischen England und Frankreich
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aus: Die Gartenlaube, Heft 49, S. 671–673
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[671]
Unterseeischer Tunnel zwischen England und Frankreich.

Die Herstellung eines Verbindungsweges zwischen England und Frankreich, mit welcher man sich schon seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts beschäftigt, ist neuerdings, wo die Eisenbahnen in den Ländern gewaltige Bewegungen im Verkehre hervorgerufen, wieder ein Gegenstand des Nachdenkens geworden.

Die Schöpfung eines solchen Weges ist kein isolirter Gedanke: sie ist das ergänzende Bruchstück eines großen zwischen den Völkern circulirenden Stromes, der sich wie eine Ader über Europa verbreitet und in’s mittelländische Meer strömt, um seine Richtung nach dem Orient zu nehmen und Englands Besitzungen in Indien zu begrenzen.

[672] Und die Idee, England durch einen unterirdischen Weg mit dem Continente zu vereinen, ist auch nicht neu. Das älteste und zugleich merkwürdigste Project zu einem Wege über den Canal auf festem Grunde rührt von dem Berg-Ingenieur Matthieu her, welcher seiner Zeit im Departement du Nord angestellt war. Zu Ende des vorigen Jahrhunderts entworfen, wurde der Plan im Jahre 1802 dem neuen Consul vorgelegt und die Profile davon blieben Jahre lang, zuerst im Luxembourg-Palast, dann in der Bergakademie und nachher im Institute ausgestellt.

Es ist zu bedauern, daß der Krieg die Hoffnung vertagte, dieses kühne Project verwirklicht zu sehen. Ist sie nur ein Traum gewesen, so müssen wir anerkennen, daß es der Traum eines genialen Kopfes war, dessen Ideen den geistigen und physischen Kräften seiner Zeit vorausgeeilt waren.

Wenn ein Gedanke so im Keime hervortritt, um vor der Endprüfung gleichsam zur Probe in die erste Phase zu treten, so haben gewiß die Männer, welche darauf eingehen, ein Recht auf unsere Dankbarkeit. Wir erwähnen daher den Vorschlag des Dr. Payerne, welcher darin bestand, den Steingrund des Meeres, behufs der Herstellung eines gewölbten Weges, vermittelst der Taucherglocke zu nivelliren; ferner den der Herren Franchot und Tessié, dahin gehend, einen Weg durch einen auf dem Meeresboden angebrachten gußeisernen Canal zu führen, und endlich den des Herrn Favre, nach welchem ein unterseeischer Tunnel vermittelst Pumpbrunnen aus Eisenblech gegraben werden sollte.

Neuerdings ist nun wieder der Ingenieur Thomé mit einem neuen Plane hervorgetreten. Gestützt auf alle Resultate der geognostischen Wissenschaft, auf die Arbeiten seiner Lehrer, des Geologen L. Cordier, des kürzlich verstorbenen Mineralogen Dufrênoy, des beständigen Secretairs der Akademie der Wissenschaften, Elie de Beaumont, gestützt ferner auf unermüdliche Sondirungen und Terrainbohrungen, schlägt er die Anlage eines Tunnels durch die Juraschichte vor, der sich in der Nähe von Marquise, zwischen Boulogne und Calais in die Erde vertieft, unter dem Cap Gris-Nez weg den Meeresboden unterhöhlt, mitten im Canal seine tiefste Curvenschwingung macht und den englischen Boden beim Cap Eastware, zwischen Dover und Folkestone erreicht. Dieser Tunnel hat eine cylindrische Form, ist in Stein gewölbt, im oberen Bogen 9 Meter breit und 7 hoch; das untere Segment enthält einen Lüftungsconduct unterhalb des doppelten Schienenweges. Zwei Estraden für Fußgänger laufen auf den Seiten her. Das Stück Einfahrt von der Mühle Rouges-Bernes bei Marquise bis zur See hat 8800 Meter Länge; auf der englischen Seite beträgt die Ausfahrt von Eastware nach einer Vorstadt von Dover 5500 Meter. Die Grenzstationen unter Gris-Nez und Eastware befinden sich auf dem Grunde zweier ungeheurer Thürme, von denen der französische 54, der englische 30 Meter unter die Oberfläche des Meeres hinabgeht; in beide Thürme steigt man vermöge einer Treppe hinunter.

Das Kolossalste aber, wenn es nach dem Bisherigen noch einen Superlativ gibt, ist die Zwischenstation mitten im Canal, auf der Sandbank Varne angebracht; hier soll ein Thurm in Form eines Ellipsoid, 92 Meter tief bis zur Eisenbahn hinab, eingemauert werden, ebenfalls mit einer sehr sanft fallenden Treppe. Der innere Raum des Thurmes begreift an der Basis einen Flächenraum von 17 Hektaren Bodens; oben sind vier Quais für Dampf- und Segelschiffe zum Landen angebracht. Ein Sicherheitshafen von 7 Hektaren Raumes, beständig zugänglich, ist zum Mittelpunkte der Seecorrespondenz zwischen England, Holland, Deutschland, der Ostsee und beiden Indien bestimmt. Ein Leuchtthurm erster Classe wird am Haupteingange des Hafens stehen. Vermöge der inneren Treppe wird hier jede Aus- und Einladung jeder beliebigen Quantität Waare möglich sein.

Die Zeit der Ausführung dieses Riesenwerkes berechnet Hr. Thomé auf sechs Jahre; im ersten Jahre werden blos 13 künstliche Inselchen erhoben und Schachte gegraben; im zweiten Jahre die fünf leitenden Sectionen gebrochen; in den vier folgenden Jahren der Tunnel vollendet. Die Kosten sind also veranschlagt: Unterseeischer Weg 1121/2 Mill. Fr., Einfahrten 21,450,000 Fr., Zweiglinien 10,050,000 Fr., Stationen 12 Mill., Material zur Ausbeutung 8 Mill., Verwaltung 6 Mill., Summa 170 Mill. Fr. Indem Herr Thomé die Einnahmen auf den 33 Kilometer unter See auf das Dreifache der gewöhnlichen Eisenbahntarife ansetzt, was noch 65 pCt. hinter den Dampfbootpreisen zurückbliebe, und 800,000 Reisende jährlich annimmt, erhält er

an Personengeld 9,600,000 Fr.
an Uebergewicht der Bagage, 12000 Tonnen 1,200,000 Fr.
an Frachten, 80,000 Tonnen, große Geschwindigkeit 6,400,000 Fr.
an Frachten, 750,000 Tonnen, kleine Geschwindigkeit 9,000,000 Fr.
  Summa 26,200,000 Fr.
20 pCt jährlicher Ausbeutungskosten abgezogen 5,240,000 Fr.
  bleibt Reingewinn 20,960,000 Fr.

Da nun das Gründungscapital durch sechsjährige Arbeitsfrist um 38 Mill. Fr. angeschwollen ist, so wäre der Ertrag von 208 Mill. ein jährlicher Reingewinn von 20,960,000 Fr. oder 10 pCt.

Der Kaiser Napoleon, bei dem Herr Thomé eine längere Audienz im Jahre 1856 hatte, interessirt sich persönlich für den Plan; Herr Rouher, Minister der öffentlichen Arbeiten, hat eine Commission ernannt, welche die Aussetzung von 500,000 Fr. beantragt, die zu Bohrversuchen verwendet werden sollen.

Sehen wir uns also das Project des Herrn Thomé etwas genauer an. Nach seinen bisherigen Mittheilungen besteht dasselbe aus einem gewölbten unterirdischen cylindrischen Tunnel, dessen oberer Bogen einen Durchschnitt von 9 Meter Breite und 7 Meter Höhe hat. Im unteren Segment des Cylinders befindet sich eine in einer Bruchsteinmauerung angebrachte Luftreinigungsröhre, worüber eine doppelte Eisenbahn geht, und zu beiden Seiten des Tunnels gehen zwei erhabene Fußsteige zu Dienstverrichtungen.

Nach der vorliegenden Zeichnung soll der Tunnel vom Cap Gris-Nez nach Eastware, welches zwischen Dover und Folkestone liegt, gehen, und zwar durch die Sandbank Varne, wo die See- und Eisenbahnstation des Tunnels (Etoile du Varne) projectirt ist.

Der Zugang zum Tunnel von englischer Seite ist ein Souterrain von 5500 Meter, welches bei der Vorstadt Saint-Mary in Dover anfängt und nach Eastware geht, wo es unter der Dover-Folkestoner Eisenbahn wegführt, um sich dem unterseeischen Tunnel unter einem oben offenen Thurme, welcher die Grenzstation von Eastware bezeichnet, anzuschließen.

Der Zugang von französischer Seite besteht in einem Souterrain von 8800 Meter, welches von der bei Marquise am Fuße der Hügel von Bazinghen gelegenen Mühle Rouges-Bernes ausgeht und nach dem Cap Gris-Nez führt, wo es sich ebenfalls unter einem oben offenen Thurme, welcher die Grenzstation von Gris-Nez bezeichnet, an den unterseeischen Tunnel anschließt.

Das Souterrain von Bazinghen selbst steht wieder mit der Nordbahn durch zwei Zweigbahnen in Verbindung, wovon unser Bild die Richtung im Allgemeinen angibt. Eine davon geht von Bazinghen über Marquise nach Boulogne, wo sie sich an die Eisenbahn von Boulogne nach Amiens anschließt; das ist der directe Weg von London nach Paris. Die andere geht nach Marquise und nimmt ihre Richtung über Guines auf die Eisenbahn von Calais nach Paris; das ist der Weg von England nach Belgien und Deutschland.

Die unterseeische Linie des Tunnels findet ihre Ausgangspunkte in dem Grunde offener Thürme, welche die Grenzstationen bilden. Der Thurm von Gris-Nez ist 54 Meter und der von Eastware nur 30 Meter tief. Zu diesen Stationen gelangt man von einer breiten spiralförmigen Treppe, welche an der Wand des Thurmes befestigt ist. Der horizontale Durchschnitt dieser Thürme ergibt eine Ellipse, wovon der große Durchmesser 108 Meter und der kleine nur 60 Meter beträgt.

Die Thürme dieser Stationen, welche zuerst zu errichten sind, dienen beim Durchbruch des Tunnels als Zugangswege, ferner zum Fortschaffen des Schuttes und zum Zubringen der Baumaterialien, so wie zur Ausziehung des Wassers und zum Einführen des Luftzuges.

Die bereits oben erwähnte Zwischenstation mit einem ähnlichen Thurme, jedenfalls das großartigste Werk des ganzen Projects, wird auf der im Meere gelegenen Sandbank Varne errichtet und theilt den Canal in zwei gleiche Theile. Der Thurm dieser Station ist ebenfalls elliptisch gebaut und geht 92 Meter bis zum Niveau der Eisenbahn hinab.

[673]

Der unterseeische Tunnel zwischen Frankreich und England.
1. Der Canal. – 2. Folkstone. – 3. Dover. – 4. See- und Eisenbahnstation Etoile de Varne. – 5. Kleine Inseln. – 6. Leuchtthurm.

Derselbe steht auf einem vermauerten rautenförmigen Walle, dessen vier diagonale Radien sich in kleinen vorspringenden Außenwerken verlängern und nach den vier Himmelsgegenden vier außerhalb zum Verkehr dienende Quais schützen, wo die Dampf- und Segelschiffe theils zur Einnahme von Erfrischungen, theils zur Annahme und Abgabe der nach allen Welttheilen gehenden Güter und Reisenden einlaufen.

Die Etoile du Varne enthält unter Anderm einen innern Ruhehafen von sieben Hektaren Flächenraum. Die Lage dieses immerwährend zugänglichen Hafens, in der Mitte der frequentesten Seestraße, seine directe Verbindung mit London und dem Continent, so wie der Umstand, daß er für England, Holland, Deutschland und die Ostseeländer auf dem Wege nach Indien gelegen, sprechen zur Genüge für die Wichtigkeit, welche er als Central-Verkehrspunkt haben wird. Der gemauerte Wall und die Quais, welche einen Flächenraum von 10 Hektaren einnehmen, bekommen Decken von Steinkalksteinen oder Granit, und werden mit aus dem Tunnel kommenden Schütte ausgefüllt. Ein Leuchtthurm erster Classe ist auf dem Arme des Walles angebracht, welcher sich am Haupteingange des Hafens befindet.

Um den Eingang des Hafens von innen und außen bei allen Winden zugänglich zu machen, kann ein zweiter Eingang im entgegengesetzten Winkel des Vierecks angebracht werden, ein Vortheil, der für die Schifffahrt unschätzbar ist, und welchen nur die isolirte Lage des Baues bieten kann. Ferner dürfte die Erbauung von Wohnungen und Niederlagen in der Länge der Quais, welche das innere Becken umgeben, diesen Hafen zu einem angenehmen Zufluchtsorte machen.

Die Etoile du Varne soll auf einem Grunde von 8 Meter zur Zeit der Ebbe errichtet werden. Der große Werkplatz zum Aufbau derselben wird vom Meere vermittelst provisorischer Holzdämme abgeschlossen werden, welche mit Hülfe gegossener Schraubenpfeiler von Saunders und Mitchell angebracht, und im Innern durch Thondämme und ein Blendwerk von Bohlen geschützt werden. Auf diese Weise erhält der Werkplatz, sobald er von dem eingeschlossenen Wasser durch Schöpfmaschinen befreit ist, das Aussehen einer großen leeren Insel.

Die Ausdehnung des Tunnels dürfte eine permanente Beleuchtung vermittelst mehrerer an den verschiedenen Zugängen angebrachter Gasometer erheischen. Tausende von Gasflammen würden dann das unendliche Gewölbe erleuchten, sofern man aus Gesundheitsrücksichten nicht vorziehen sollte, den neuerdings mit Erfolg angewendeten photo-elektrischen Reflector in Anwendung zu bringen, und die auf dieselbe Weise beleuchteten Quais erschienen den Schiffern als leuchtende Masse, in welche der große Leuchtthurm seine Strahlen ergösse.

Eine Prüfungscommission von competenten Männern der Wissenschaft ist zusammengetreten, um die Regierung für das Unternehmen zu gewinnen und den zur Ausführung der Arbeiten nöthigen Credit zu erzielen.