Zum Inhalt springen

Unter dem Dache

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor:
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Unter dem Dache
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 52, S. 845–850
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[845]
Unter dem Dache.
Eine Weihnachtsgeschichte.


Die Martergasse führte gerade auf die Stadtmauer zu. Sie war eng, wie die ältesten Straßen alter Städte fast ausnahmslos, und die oberen Stockwerke der schmalen Häuser kamen einander immer näher, als ob sie hinüber sagen wollten: Ich halte dich, Nachbar, wenn du den Schwindel des Alters bekommen und fallen solltest. Verräuchert und verstaubt waren alle diese Häuser bis an das Ende der Straße, wo das Mauergäßchen sich wie der Querbalken eines Kreuzes vor dieselbe legte.

Das Eckhaus links war ein ehemaliges Nonnenkloster, und es sah am allerschwärzesten aus, denn in der Nähe befand sich eine Bäckerei, deren dunkler Schornsteinqualm sich bei dem vorherrschenden Ostwind seit vielen Jahren auf den längst von den Nonnen geräumten Bau niederließ. „Die schwarze Ecke“ nannte man das Grundstück in der ganzen Martergasse, der es übrigens den Namen gegeben hatte; denn über dem Parterre war die Ecke abgeschrägt, und da war im sechszehnten Jahrhundert von einem Bildhauer ein Crucifixus in roher Sandsteinarbeit eingesetzt worden, den nun die Zeit zu häßlicher Unform zernagt hatte.

In der schwarzen Ecke wohnten kleine Leute; die Billigkeit des Miethzinses war das Einzige, was ein Menschenkind verlocken konnte, in dieser weltverlorenen Gegend zu wohnen, durch diese dicke, verwitterte Eingangsthür in die ägyptische Finsterniß eines feuchtkühlen, backsteingepflasterten Hausflurs zu treten, diese lebensgefährliche, ausgetretene Treppe aufwärts zu steigen, welche sich wie ein dünner Wurm unter das Dach wand. Auch die Treppe bewahrte eine Erinnerung an die Klosterzeit: das Lichtloch, welches sie in der Gegend des ersten Stockwerks zu erleuchten sich mühte, warf seinen Schein auf ein stark nachgedunkeltes Oelbild, einen Kopf des sterbenden Christus von so abschreckender Häßlichkeit, daß mehr als ein Besucher des Hauses hier, wo das Bild wie eine Vision im Treppendunkel auftauchte, entsetzt zurückgefahren war und Mühe gehabt hatte, einen Sturz zu vermeiden.

Unter dem Dache der schwarzen Ecke gab es vier bewohnbare Räume, in denen sich vier Parteien niedergelassen hatten: eine Näherin, ein alter Flickschneider, ein todtkranker Schriftsetzer im letzten Stadium der Schwindsucht, und die blutarme, mit vier Kindern gesegnete Wittwe eines Maurergesellen, welcher vor ein paar Jahren durch den Sturz von einem Gerüst um’s Leben gekommen war. Die Letztere ernährte sich kümmerlich durch das Sammeln von Abfällen auf den Straßen und in den Häusern, und die Kinder halfen ihr, soweit die Armenschule ihre Zeit nicht in Anspruch nahm.

Die Kinder waren das belebende Element unter dem Dache der schwarzen Ecke. Aber im Augenblick war nichts zu hören von ihrem frohen Lachen und Geplauder; sie streiften in den winterlichen Straßen der Stadt umher, zwischen den Buden des Weihnachtsmarktes, vor den großen Spiegelscheiben der Dorotheenstraße, im Gewühl der hastig durch einander fahrenden Menschen, welche im letzten Augenblick noch bestrebt waren, die Lücken ihrer Weihnachtseinkäufe zu ergänzen. Sie wollten Weihnachtsglanz, Weihnachtsschönheit sehen, und seit der eine im Gedränge des vorjährigen Heiligabends ein verlorenes Weihnachtsschaf gefunden, beglückte sie die stille Hoffnung, der Himmel könne dies Jahr eine ähnliche unvermuthete Bescherung für sie geplant haben.

Es war Weihnachten, auch für die schwarze Ecke und deren Dachquartiere, obschon nichts dahinauf drang von dem flammenden Leben der Stadt, von der Weihnachtsschönheit und dem Weihnachtsjubel, nicht einmal gedämpfte Laute aus der Nachbarschaft; denn es war bitter kalt draußen, und es war rathsam, die Fenster so fest wie möglich verschlossen zu halten. Aber die Leute droben empfanden in ihrer Weise die Thatsache des Festes. Der kranke Schriftsetzer war am besten dran; er lag im Bette, im Dunkeln; er konnte ganz ungestört durch das Fester in den sternklaren Winterhimmel, den Weihnachtsbaum der Armuth, sehen und konnte träumen. Er träumte von einer Stube voll Lichtglanz und springender Kinder und von einer Frau, die seine Frau war. Ja, so sollte es werden, wenn er erst gesund sein würde. Und er wurde gewiß gesund; es war ihm gerade heute so leicht in der Brust. Die Wittwe saß am Ofen und wartete der Kinder; sie hatte einen Kaffee gekocht, und auf dem Tische lagen Kuchenstückchen, Aepfel und Nüsse, sowie einige Paar neue Strümpfe. Der Flickschneider kauerte auf der Erde, gleichfalls in der nächsten Nähe seines Oefchens. Er hatte die Beine auf gut türkisch gekreuzt und pfiff vergnügt die Melodie:

“O du fröhliche,
O du selige,
Segenbringende Weihnachtszeit.“

Er war, obwohl er offenbar emsig zu arbeiten hatte, zufrieden mit dem Weihnachtsfest; in der That, er war stolz; denn er hatte einen ganzen Rock fertig zu stellen, der am morgenden Festtag Kirchenparade machen sollte. Das war doch einmal etwas anderes, als das ewige Nähtebessern, Stopfen und Flickenaufsetzen: eine rechtschaffene Meisterarbeit, und die Nadel flog nur so auf und nieder.

In dem Stübchen der Näherin war es am behaglichsten. Natürlich: Sie hatte ebenso dringend zu thun, wie der Schneider, oder vielmehr noch dringender; ein Kleid mußte in der halben [846] Stunde fertig gebügelt sein, ein Kleid mit unzähligen Falbeln und Fälbelchen, das noch auf den Weihnachtstisch gelegt werden sollte. Die Plättstähle glühten schon seit zwei Stunden ununterbrochen im Ofen, und dieser Ofen glühte selber, daß der feine Dunst der versengten Stäubchen sich mit demjenigen mischte, welcher dem zarten Mull des Kleides entstieg.

Die Näherin war eine ziemlich große, saubere, aber dürftig gekleidete Person, hager und altjüngferlich. „Verblüht“, stand auf ihrer Stirn. Drüben aber, über dem kleinen Spiegel zwischen den Dachfenstern, da stand etwas anderes geschrieben. Es war mit großen Buchstaben in Canevas gestickt und von Glas und Rahmen eingefaßt:

“Lieber darben, als ducken!“

Seltsam! War das der Wahlspruch des alternden Mädchens, welches diese Dachkammer der schwarzen Ecke bewohnte? Es ist etwas Ungewöhnliches, bei einer ärmlichen Näherin einen Wahlspruch, und noch dazu einen von so männlich energischem Ausdrucke, zu finden. Aber sie sah nicht einmal so männlich energisch aus, so trotzig, wie jener Spruch klang. Ihre Haltung war etwas vornüber geneigt; ihre Züge hatten das Gepräge einer gewissen Erschlaffung. Nur waren sie intelligenter, als ihre Thätigkeit sie erwarten ließ, und wer genau in diese zumeist verschatteten, gesenkten Augen sah, welche die mühselige Arbeit überwachten, der mußte bemerken, daß dieselben hart und müde zugleich blickten.

Müde – das war es. Müde von der Arbeit, dem Nähen, dem gedankenlosen Glätten, welches doch so viele Aufmerksamkeit erforderte. Vielleicht auch müde vom Leben, welches sie in dieses Joch spannte.

Sie bügelte noch eine Weile, ohne den Kopf zu erheben, ganz bei der Sache. Da hörte das Pfeifen drüben auf, eine Thür ging, und es klopfte.

„Herein!“ sagte sie kräftig, und einen Moment spielte ein wohlwollendes Lächeln um ihre Lippen.

„Guten Abend, Fräuleinchen!“ erscholl die Stimme des alten Schneiders. „Will 'mal ein Viertelstündchen Weihnachten machen; ich habe eben den zweiten Aermel eingesetzt. Gottes Donner, was ist's hier nett warm! Mein Kanönchen wird nicht mehr lange vorhalten. Krieg' ich nachher das Bügeleisen?“

„Natürlich, Herr Fendel! Bitte, nehmen Sie Platz!“

Man war offenbar sehr höflich unter’m Dache der schwarzen Ecke. –

Der Schneider zog sich einen der tief ausgesessenen Rohrstühle in die Nähe des Ofens und rieb sich die Hände.

„Da wäre denn wieder einmal Weihnachten, Fräuleinchen! Sehen Sie, es ist doch alles auf der Welt nichts weiter, als was ich so ‚Illusion‘ oder Einbildungskraft nenne. Ich habe auch ’mal geglaubt, zum Weihnachten gehören ein Christbaum und Lichter und Geschenke. Jetzt bin ich vergnügt, wenn ich Tannenholz zum Feuermachen und Oel für meine grüne Schirmlampe habe, und geschenkt hat mir schon lange Niemand etwas, außer der Himmel jetzt einen ganzen Rock zu machen. Wenn ich nicht wüßte, daß andere Leute Tannen kaufen und behängen und sich beschenken, dächte ich, Weihnachten könnte gar nicht anders gefeiert werden, als wie ich es feiere. Und wenn’s nicht im Kalender stünde, daß morgen erster Feiertag ist, und der Schulmeister oder Pastor nicht den Leuten sagte, daß es Weihnachten giebt, dann lebten wir auch ohne Weihnachten. Das ist, was ich eine ‚Illusion‘ oder Einbildungskraft nenne.“

Das „Fräulein“, wie die schwarze Ecke sie hieß, seufzte, aber sie lächelte zugleich, als sie einen Augenblick aufsah.

„Das ist alles ganz schön, Herr Fendel, aber man weiß doch nun einmal, daß Weihnachten ist, und man hat doch nun einmal die Erinnerung voll Licht und Pracht und Tannenduft – und man gehörte doch gern zu den Glücklichen.“ Ihre Augen nahmen einen starren, sehnsüchtig träumerischen Ausdruck an, ehe sie wieder zu einer Falbel griff und das Eisen ansetzte.

„Zu den Glücklichen, sagen Sie, Fräuleinchen; ganz recht, ganz recht!“ fuhr der Schneider unbeirrt fort, indem er, Daumen gegen Zeigefinger gepreßt, durch die Luft fuhr, als zöge er seine Gedanken aus wie einen Zwirnsfaden. „Warum sind die Menschen nicht glücklich? Weil sie zu viel auf ihre Einbildungskraft geben. Wenn einer darauf etwas giebt, so schießen gleich allerlei Wünsche wie Pilze auf, und wenn einer seine Wünsche nicht erfüllt kriegt – das ist das Unglück.“

Ein tiefer Schatten flog plötzlich über das Antlitz der Näherin, und sie senkte den Kopf tiefer.

„Es ist wahr,“ sprach sie tonlos, sich gewaltsam überwindend. „Wünschen, das ist das Unglück.“

„Nicht wahr, Fräuleinchen?“ fuhr der Schneider freudig fort. „Sehen Sie, ich lasse meine Einbildungskraft gar nicht aufkommen. Weihnachtsbaum – Unsinn! sage ich zu mir. Hättest du nie einen gesehen, würdest du nie glauben, daß man einen Weihnachtsbaum nöthig hat, um glücklich zu sein. Kuchen, Torten, Lichter – ebenso. Alles andere ebenso, meine Nothdurft ausgenommen. Also ist alles das, was sich die Menschen wünschen, eigentlich nichts; also brauche ich es nicht zu wünschen. Und sehen Sie: weil ich es nicht wünsche, bin ich glücklich. Alles Unglück kommt von der Einbildungskraft und von den Wünschen, und das ist die Moral von der Sache.“

Ein Gepolter auf der Treppe, von hastig aufwärts stolpernden Füßen verursacht, dazwischen lustiges Kindergeplauder unterbrachen die philosophischen Betrachtungen des Schneiders.

„Da kommen ja unsere Rangen,“ schmunzelte er gutmüthig. „Sie scheinen guter Laune zu sein, Fräuleinchen; ich will doch ’mal zur Brenner hinüberhorchen. Es sind wirklich recht gutartige Kinder, unsere Kinder.“

„Ich will mitkommen, Herr Fendel; ich bin fast fertig. Ich thue Ihnen nachher gleich ein Eisen in den Bügel.“

Sie stellte ihr Werkzeug auf die Seite und schrob die Lampe etwas herunter. Dann gingen sie.

„Fräulein, Fräulein, wir haben einen Christbaum geschenkt gekriegt!“ empfing sie eine vergnügte Kinderstimme aus dem lustigen Gekrabbel drüben.

„Und Kuchen und Aepfel und Nüsse auch, und schöne Strümpfe.“

„Den Donner ja, wo habt Ihr denn das Zeug her?“ fragte der Schneider und betrachtete das kleine, mit grünem Papiergeschnitzel umwundene Gestell, an welchem es im Glanze einiger brennender Wachslichter von Rauschgold flimmerte. „Das giebt ja eine richtige Bescherung bei Euch.“

„Ein Mann hat’s uns gekauft, als wir vor einem Stande mit solchen Christbäumen stillhielten.“

„Eine Tasse Kaffee, Fräuleinchen – hier, Herr Fendel; natürlich, das lasse ich mir nicht nehmen!“ fiel die Wittwe ein. „Ich habe dem armen Menschen, dem Zeidler drüben, auch schon eine gegeben. Solch ein armer Teufel ist recht schlimm daran, der so sterbenskrank liegt und auf der Gotteswelt Niemand hat, der sich um ihn kümmert. Mir ist das Liebste am ganzen Weihnachten, daß wir gesund sind.“

„Da sehen Sie die Freude, wenn man etwas kriegt, das man gar nicht gewünscht hat, Fräuleinchen! Wenn man sich erst müde und ärgerlich gewünscht hat, macht es fast gar keinen Spaß mehr, wird’s einem endlich erfüllt. Ich sage immer: nichts wünschen!“

Und der Schneider zeigte voll Selbstgefühl auf die vier Kinder, welche ihre Strümpfe anprobirten, dabei jedes einen Apfel im Munde hatten und mit den blitzenden Augen glückselig auf den Christbaum blickten.

Die Näherin trank ihre Tasse leer. „Ich will doch auch nach dem Zeidler sehen.“

Sie nickte und ging leise hinaus. Eine schwach erleuchtete Scheibe, zu dem nur einen Bretterverschlag darstellenden Unterkunftsraum des Kranken gehörig, und ein von dorther tönendes Hüsteln zeigten ihr im Dunkeln den Weg.

Ein Nachtlicht brannte neben dem Bett; die Wittwe mochte es angezündet haben.

„Wie geht es Ihnen, Herr Zeidler?“

„Ich danke, Fräulein. Ich habe keine Schmerzen, und es ist mir so recht leicht und selig, nur – – das Sprechen wird mir noch sauer. Sie glaubne doch auch, daß ich gesund werde?“

„Ich hoffe es.“

„Ich auch.“

Der Kranke schwieg eine Weile. Dann richtete er die Fieberaugen groß zu der Näherin auf und winkte schwach mit einer Hand.

„Fräulein!“

Sie kniete neben dem Bette nieder.

„Sprechen Sie nur, aber leise; strengen Sie sich nicht an!“

„Ich wollte Ihnen etwas sagen. Als ich krank wurde, da [847] hatte ich eine Braut. Sie ging dazumal nähen und wohnte Nummer elf in der Bäckergasse bei ihrer Mutter. Sophie Fiedler hieß sie. Es war ein schönes Mädchen. Nachher meinte alles, ich hätte die Schwindsucht und käme wahrscheinlich nicht durch; da sprach sie eines Tages, sie hätte gehört, die Schwindsucht stecke an, und wir wollten das mit der Verlobung einstweilen sein lassen. Dazu konnte ich natürlich nichts sagen. Ich glaube aber jetzt ganz bestimmt, daß ich gesund werde. Wollen Sie nicht einmal nach ihr sehen und ihr das mittheilen? Es wäre doch möglich, daß sie sonst einen Anderen heirathete.“

Er hatte mit längeren Pausen gesprochen, mühsam ringend und fast verschämt.

„Ich will es gern thun,“ versicherte zögernd die Näherin. Es war ein trüber Auftrag: sie wußte, das Mädchen war seit einem Vierteljahr verheirathet; indeß wer hätte den Muth gehabt, ihm das zu sagen?

„Wollen Sie gehen? Aber nicht vergessen! Gute Nacht!“

Sie war plötzlich aufgestanden und schritt über knarrende Dielen in ihr Zimmer, so eilig, als hätte sie dort etwas versäumt. Aber sie ließ die Lampe weiter dämmern; sie griff nicht zu dem Kleide. In einem Korbstuhl, der am Ofen stand, ließ sie sich nieder und schlug beide Hände vor das Gesicht.

Der Wind wirthschaftete im Reste des Feuers und brummte und hauchte und zischelte, als hätte er der Flamme die neuesten Neuigkeiten aus der Weihnachtswelt zu erzählen und nicht viel Zeit dabei zu verlieren. Dumpf waren die Stimmen der Kinder, des Schneiders, der Wittwe nebenan zu vernehmen; sonst alles still, bis auf die tickende Wanduhr. –

Die Wanduhr, ihr Herz und ihre Gedanken!

„Sie sind alle zufrieden. Sie freuen sich; sie lassen sich genügen; sie hoffen. Nur ich nicht; ich nimmermehr!“

Und nach einer Weile:

„Er hatte eine Braut, und sie verließ ihn und nahm einen Andern,“ sagte sie wie im Fieber vor sich hin. „Sie verließ ihn und nahm einen Andern.“

Sie hielt noch immer die Hände vor die Augen gepreßt.

„Und heute ist Weihnachten! Das Christkind schenkt, und es läßt sich von allen Zungen besingen; mir hat es Alles genommen, Alles! – Der Schneider hat Recht: von der Einbildung und von den Wünschen, den thörichten Wünschen – davon kommt das Unglück.“

Als sie die Hände in den Schooß fallen ließ, waren ihre Augen so starr, als hätte sie nichts mit ihrer Umgebung zu thun. Die dürftige Beleuchtung vertiefte ihre Züge und ließ die Sitzende älter erscheinen, als sie in Wirklichkeit war.

Ihr Herz pochte schneller und ihre Gedanken trugen sie fort. Sie sah ihre Jugend, die sorglose Jugend der Waise im Hause der reichen Tante, welche sie mit dem einzigen Töchterchen erzog. Das hatte frohe Weihnachten gegeben!

Weg damit!

Sie sah ihn, den sie auf einem Balle kennen gelernt, den geistreichen, eleganten Referendar mit dem Kneifer im Auge, der ihm so keck ließ. Die Cousine war unwohl zu Hause geblieben, konnte nicht zusehen, wie er ihr den Hof machte. Sie fühlte seinen Arm, seine Brust im wogenden Tanze; sie hörte sein Geplauder. Wie rasch es gegangen war! Nur ein paar Abende später hatte er sie aus dem Theater nach Hause begleitet, hatte ihr die Hand – den Mund geküßt.

„Morgen komm’ ich.“

Er war gekommen; die Cousine war dabei gewesen, als er der Tante seinen Besuch gemacht. Noch schwebte ihr sein Blick vor, der so unruhig gewesen, als er der Gespielin ansichtig geworden. Aber er hätte doch unmöglich den Verrath begehen können, wenn sie – die Verrätherin, nicht gewesen wäre. Und die Träumerin im Korbstuhl hob wieder die Hände und preßte sie fest gegen die Brust, als litte sie noch einmal die Qualen dieser Wochen. –

Dann war ja Weihnachten gekommen, das furchtbare Weihnachtsfest, wo er sie in eine Ecke geführt und ihr im Flüstertone eröffnet hatte: sie solle verzeihen, er habe sich in seinem Empfinden getäuscht, er liebe die Cousine und habe sich soeben mit dieser verlobt. Die reiche Cousine –! Natürlich, das war eine andere Partie für den armen Referendar, den Streber, der genießen wollte und der vorwärts wollte. Er war auch vorwärts gekommen. Vor einem Jahre war er als Gerichtspräsident in der Provinz gestorben. O, er hatte eine glänzende Carrière gemacht, und die Cousine hatte sicher zahlreiche vornehme Diners und Soupers und Soiréen gegeben. Und nun war sie wieder in die Residenz gezogen mit ihren Kindern; sie lebten beide wieder am selben Orte. Ja, sie hatte ihr sogar wieder einen Brief geschrieben, einen Versöhnungsbrief –

Fort damit! Lieber darben, als ducken!

Und die Träumerin erwachte für einen Augenblick, und die starren Augen richteten sich wie triumphirend auf die Stelle über dem kleinen Spiegel zwischen den tiefen Dachfensterhöhlen. Da stand es, ihr Wahlspruch: Lieber darben, als ducken!

Er stand auch über ihrem Leben, ihrem einsamen, verlorenen Leben.

Ein Schauer ging über sie; wozu den alten Jammer aufstören? Sie erhob sich hastig: das Kleid mußte ja fertig werden, jeden Augenblick konnte ein Mädchen kommen, um dasselbe abzuholen. So schrob sie denn die Lampe wieder hellauf und trug sie in das Fenster neben der Thür. Dort stand die Nähmaschine; es gab noch etwas nachzubessern an dem Kleide, und sie holte es herüber, und ließ sich auf den Stuhl nieder.

Aber sie hatte ja keine so große Eile. Das Verbessern war rasch gemacht. Es war immer noch Zeit, um weiterzuträumen. Und sie mußte weiterträumen, ob sie wollte oder nicht.

Lieber darben, als ducken! Wie hätte sie den Golgathaweg gehen können bis zum Aufstieg unter das Dach der schwarzen Ecke ohne jenes Wort? Das erste Stück hatte freilich hoffnungsvoller ausgesehen. Ein freundliches Stübchen hatte sie nach der heimlichen Flucht aus dem Hause der Tante aufgenommen; die Visitenkarte einer verstorbenen Freundin hatte vor der Thür geklebt, und keine Nachforschung sie gefunden. Die Tante war auch bald gestorben, die Cousine nach der Hochzeit dem Gatten in die Provinz gefolgt. Sie hatte gestickt und genäht und eine Gouvernantenstellung gesucht. Der Ertrag der Arbeit war jämmerlich, eine Stellung lange nicht zu finden: sie war zu anspruchsvoll, zu hübsch, sie war nicht musikalisch, hatte keine Zeugnisse – lauter schwerwiegende Gründe. Endlich war sie doch Gouvernante geworden – in einem hochadligen Hause, und das konnte sie nicht vertragen. Damals hatte sie ihren Wahlspruch gestickt und war wieder in die Residenz gegangen, von Wohnung zu Wohnung, von Arbeit zu Arbeit.

Müde und mürbe war sie gewesen, als sie das Dachstübchen der schwarzen Ecke bezogen hatte. Nicht einmal, daß die „Einbildungskraft“, wie der Schneider es nannte, sie noch gequält hätte: wie ein Nebel lag die Jugend hinter ihr. Sie nähte heute und bügelte morgen, dafern man ihr etwas in’s Haus brachte. Sonst nicht – in fremde Häuser ging sie nicht, dazu war sie doch noch stolz genug.

Das letzte Jahr hatte sie aufgerüttelt; sie war ihrer Cousine begegnet und hatte sie erkannt; sie hatte auch von deren Wiederansiedelung in der Residenz erfahren, und da war es wieder in ihr aufgeflammt: Lieber darben, als ducken! Kein Wiedersehen, keine Versöhnung, unter keiner Bedingung!

Sie hob den Kopf und lauschte. Auf der Treppe raschelten Schritte und knisterte es wie von einem Korbe. Kam man, um das Kleid zu holen? Aber das waren zweierlei Schritte, leichtfüßig die einen, hart und schwer die andern. Und doch klopft es an ihre Thür.

„Herein!“

Laternenschein auf dem Bodenflur – in dem Rahmen der Thür eine jugendlich schmiegsame Gestalt, winterlich in Pelz gehüllt; ein süßes, blühendes, winterfrisches Gesichtchen sah sie mit lächelndem Gruß an.

„Der Weihnachtsengel,“ sagte es und nickte. „Gieb her, Friedrich!“ Und es griff in den Flur hinaus und brachte mit drolliger Vorsicht einen kleinen Weihnachtsbaum zum Vorschein. Das sah allerliebst aus, so anmuthig, daß die Näherin die Hände zusammenschlug und sagte:

„Das ist ja ein Märchen!“

Die Kleine ging in das Zimmer hinein und stellte den Baum auf den Tisch. „So bring doch das Uebrige, Friedrich!“ rief sie ungenirt über die Schulter.

In der Thür, die noch offen stand, wurde ein livrirter Diener sichtbar, welcher schwer an einem Korbe trug. Er stellte denselben [848] mit derbem „Guten Abend!“ in das Zimmer, worauf er sich auf den Bodenflur zurückzog und die Thür hinter sich schloß. Die Näherin war wieder ernst geworden. Sie blickte auf das Mädchen wie auf ein Räthsel.

„Ich weiß nicht,“ brachte sie endlich heraus, „was soll das bedeuten? Was wünschen Sie?“

„Ich? Wünschen? Gar nichts, als daß Sie mich nicht so verlegen machen. Ich bin, glaube ich, schon ganz roth geworden. Nicht wahr, ich darf Ihnen eine Weihnachtsfreude bereiten?“

Sie sagte das mit reizender Befangenheit und doch so drollig munter!

„Kann ich nicht vor Allem Ihren Namen erfahren?“

„Nein – nein!“ wehrte die Kleine hastig ab. „Weihnachtsengel haben keinen Namen. – Ach Gott,“ seufzte sie dann und athmete tief, „ich hätte nicht gedacht, daß es so schwer wäre, Weihnachtsengel zu sein. Aber nicht wahr“ – und sie trat zutraulich näher, daß der Lampenschimmer sie goldig verklärte – „nicht wahr, das thun Sie mir nicht an, daß Sie mich mit meinem Korbe wieder fortschicken?“

„Ich danke Ihnen, liebes Kind! Ich weiß nicht, welcher Armenbescherungsverein auf mich verfallen ist, noch wie das geschehen ist, aber ich habe noch nie in meinem Leben Almosen angenommen.“

Die Näherin sprach ruhig, mit einem Anflug von Ironie. Aber im Augenblick schlug ihr flammende Röthe in das Gesicht; es kam ihr vor, als wäre ihre ganze Jugenderziehung im Hause der Tante doch ein einziges großes Almosen gewesen.

Die Kleine stand ganz erschrocken. Sie war blässer geworden, und um ihren vollen kleinen Mund zuckte es, wie von plötzlich verhaltenem Weinen, als sie rührend wehmüthig sprach:

„Das ist bitter, das ist viel bitterer, als wenn man etwas gespendet haben möchte und es heißt so recht böse: Nein! Es ist ja gar nicht von einem –“ Sie stockte. „Mein Gott, mein Gott,“ murmelte sie dann, „wenn ich Sie nun recht von Herzen bitte, so recht von Herzen: nehmen Sie es dann wirklich nicht?“

„Ich kann nicht. Es wäre das erste Mal.“

Das reizende Geschöpf hatte plötzlich Thränen in den Augen und griff schnell zum Batisttuche. Es giebt Menschen, welche unwiderstehlich sind, wenn sie weinen, und das junge Ding da gehörte zu ihnen.

„Ach, liebes Fräulein – es ist so dumm, daß ich weine –“

In der Brust des alternden Mädchens aber quoll es heiß auf in Mitleid; es war ihr, als habe sie ein Verbrechen an dieser holden; anmuthigen Kinderseele begangen, und sie hielt ihre Hand hin, die so deutliche Spuren schwerer Arbeit trug.

„Ich danke Ihnen, ich will behalten, was Sie mir gebracht, aber unter der Bedingung, daß ich davon wieder verschenken darf, soviel ich will. Es wohnt noch mehr Armuth hier im Hause.“

„Ach!“ sagte die Kleine naiv, durch Thränen lächelnd. „Man merkt so wenig davon, daß es viele arme Leute giebt. Ich muß doch einmal mit Mama sprechen.“

„Haben die Weihnachtsengel auch Mamas?“ scherzte die Näherin.

Die Kleine schlug sich leicht auf den Mund und flüchtete mit einer graziösen Bewegung zur Thür. „Adieu, und vielen Dank – ich will nur gehen, sonst verplappere ich mich ganz und gar. Glückselige Weihnacht!“

Und draußen war sie; durch die Thürspalte aber sah die Näherin für einen Moment die ganze Brenner’sche Familie sammt dem Schneider um den Diener versammelt; dann klinkte das Schloß wieder ein.

Himmel, das Kleid! Es war noch nicht fertig! Und sie setzte die Nähmaschine in Bewegung. Ein sonniger Glanz füllte noch ihr Herz, als wäre wirklich ein Weihnachtsengel erschienen und hätte ihr den Korb gebracht. Was mochte darinnen sein? Ihr war ein Weihnachten gekommen – ihr! seit Jahren zum ersten Mal – sie wußte kaum, seit wieviel Jahren.

Es war auch gar nicht Zeit, auszurechnen, denn wieder knisterte draußen ein Korb, und diesmal kam in der That eine Dienstperson, um das Kleid zu holen, und hinter dem Mädchen drückte sich fast schüchtern der Schneider herein.

„Warten Sie, Herr Fendel, Sie bekommen gleich Ihr Eisen!“

Das Kleid ward verpackt; der Alte, dessen Augen zwischen dem brennenden Christbaum und dem Korbe hin und her wanderten, bekam sein Eisen – noch war kein Wort weiter zwischen diesem und der Näherin gewechselt.

„Sie haben ja beschert bekommen?“ fragte der Alte im Gehen.

„Ach so – ja, das ist eine merkwürdige Geschichte, aber lassen Sie mich jetzt allein; jetzt dürfen Sie nicht sehen, was in dem Korbe da ist – es wäre ja möglich, daß das Christkind Sie auch mit bedacht hätte.“

„Oho, mich?“ lachte der Schneider. „Aber Wünsche habe ich nicht, das sage ich im Voraus.“

Sie war allein, hob den Korb auf den Tisch und stöberte flüchtig Gegenstand um Gegenstand auf – theure Stoffe, weibliche Handarbeiten, die sicher viel Fleiß gekostet hatten, Toilettengegenstände, Linnenzeug, Wolle – – ha, da, auf dem Boden des Korbes, lag eine Karte. Sie stieß einen Schrei aus, als sie den Namen auf der Karte las, einen heiseren, zornigen Schrei.

„O, Frau Präsidentin, so haben wir nicht gewettet.“

Und hastig deckte sie das weißpunktirte blaue Kattunstück wieder über den ganzen Inhalt des Korbes, schlüpfte in einen alten Regenmantel, schlang ein gewirktes Capuchon um den Kopf und trug den Korb zur Thür.

„Lieber darben, als ducken!“

Aber der Weihnachtsbaum! Sie ließ den Korb nieder, ging zu dem Tische zurück und stand unschlüssig davor. Es war doch unmöglich für sie, ihn noch neben dem Korbe zu tragen; so mochte er denn bleiben und die Kinder drüben erfreuen. Sie hatte inzwischen soviel Ruhe gewonnen, um auch die Lampe noch herunterzuschrauben, bevor sie den Korb wieder aufnahm.

Als sie mit der nichts weniger als bequemen Last die Treppe hinunter stieg, vorsichtig, um nicht zu stürzen, öffneten die Wittwe Brenner und der Schneider gleichzeitig die Thüren.

„Sind Sie’s, Fräuleinchen?“

„Ja; ich komme bald wieder. Mit der Bescherung war es leider nichts,“ klang es bitter herauf.

Der Schneider lachte. „Sehen Sie, wie gut es war, daß ich keine Wünsche hatte!“

Mühsam wand sie sich hinunter auf die Straße, stellte den Korb einen Augenblick in den Schnee und begann dann ihre Wanderung durch die klare, schneidig kalte Winternacht.

Eine Weile schritt sie schnell und stetig in dem knirschenden Schnee dahin; die Aufwallung zornigen Stolzes stählte sie. In der Martergasse flammte schon hier und da der angezündete Christbaum durch die Fensterscheiben und vergoldete haußen ein Fleckchen Straßenschnee. Zuweilen klang es wie Singen und heller Jubel rechts oder links von der Erregten, welche kaum Auge und Ohr dafür hatte. Schon nach Minuten begann sie zu frieren; die Finger, welche den Korbrand umklammerten, erstarrten und drohten den Dienst zu versagen. Oefter und öfter blieb sie stehen, den Korb niederzulassen und die Hände zu reiben; immer eisiger drängte sich die Luft durch die dünne Kleidung an ihren Körper; immer kühler und gleichgültiger wurde sie innerlich. Nur mechanisch verfolgte sie zuletzt noch den Weg zu ihrem Ziele, und als sie die Portierklingel vor dem stattlichen Hause zog, in welchem die Präsidentin wohnte, hatte sie kaum noch ein Gefühl von der inneren Nothwendigkeit ihrer Handlungsweise. Nur Eines empfand sie: daß sie sehr unglücklich sei.

Im Hausflur mußte sie sich erst sammeln. Wieder rieb sie sich schauernd die Hände, wärend sie überlegte, was sie eigentlich thun wollte. Nun: sie wollte vor der Thür zur Wohnung schellen; eine Dienstperson würde ja wohl öffnen, und dieser wollte sie ohne weitere Erklärung den Korb übergeben. „An die Frau Präsidentin zu anderweiter Verfügung,“ das würde genügen.

Sie stieg die Treppe hinauf, über weiche Teppichläufer, an einem vergoldeten Geländer mit rother Sammetlehne hin. Natürlich; es war ja die „reiche“ Cousine, welche hier wohnte. Und wieder schöpfte sie Athem, bevor sie an den Knopf der elektrischen Klingel drückte. „Lieber darben als ducken!“ sagte sie, während sie innerlich zitterte.

Jetzt!

Es klirrte langgezogen drinnen; Schritte nahten – ein Mädchen öffnete. Die dürftig umhüllte Gestalt vermochte kaum die begleitenden Worte für die Korbübergabe zu stammeln, und das Mädchen sah sie erstaunt an.

„So? Bitte, stellen Sie doch den Korb herein!“

Die Näherin that rasch ein paar Schritte in den hell erleuchteten

[849]

Weihnachten unter dem Dache.
Original-Zeichnung von A. Woltze.

[850] Corridor hinein. Da öffnete sich eine Zimmerthür, ein prachtvoller Christbaum schimmerte; Gestalten bewegten sich drinnen – –

„Mein Gott!“ sagte die Arme, und der Korb fiel ihr knisternd aus den Händen auf die Diele nieder.

„Ach!“ machte eine silberklare, wohlbekannte Stimme in der Thür – „o weh, sie bringt den Korb zurück – Mama, es ist schrecklich, das arme Fräulein bringt den Korb wieder. Nein, das dürfen Sie nicht. Laura, schließen Sie rasch den Corridor, oder warten Sie –“

Und leichtfüßig flog die glänzende Gestalt auf die Thür zu, schloß sie, drehte den Schlüssel um und zog ihn ab.

„Mathilde!“ sagte Jemand, weich und schmerzlich, und zwei schlanke Frauenhände streckten sich der starr und fast besinnungslos Dastehenden entgegen. „Gehen Sie in die Küche, Laura, und Du, Luise, laß mich einen Augenblick allein mit dem Fräulein! Ich will selbst mit ihr reden.“

Das junge Mädchen trat zögernd in das Zimmer zurück; die Dienerin schlüpfte den Gang hinunter und verschwand, nicht ohne einen neugierigen Blick zurückzuwerfen.

Die beiden Cousinen standen einander allein gegenüber.

„Nicht hier, Mathilde!“ begann die Präsidentin. „Nicht mit der Fremden auf dem Corridor will ich reden. Folge mir –“

„Ich bedaure, Frau Präsidentin – ich bin eine Fremde; die arme Näherin hat in Ihren Zimmern nichts zu suchen,“ klang es herb unterbrechend zurück. „Haben Sie die Güte, mich zu entlassen!“

„So nicht, so bei Gott nicht, Mathilde! Ich will so lange nach Deiner Hand fassen, bis Du sie mir überläßt. Komm, wir reden ohne Zeugen und ohne Lauscher; sage mir, was Du willst, aber nicht hier!“

Das war die alte, weiche, bestrickende Stimme. Aber sie wollte sich nicht bestricken lassen – um keinen Preis! Nun gut; – sie hatte mit dieser Frau zu rechten: – warum nicht in einem Zimmer?

„So führen Sie mich!“

„Sie schritten schweigend den Corridor hinab, und die Präsidentin öffnete eine Thür. Ein elektrisches Feuerzeug flammte auf, dann die Gasflamme einer Lampe. Ein reizendes Zimmerchen, wohl ein Damenboudoir – schwellende französische Möbel, mit bordeauxrothem Wollatlas überzogen, ein wundervoller geschnitzter Tisch mit Intarsia-Arbeit – ah, was ging die Näherin diese Pracht an?

Sie ließ die Aufforderung, sich zu setzen, unbeachtet.

„Was befehlen Sie, Frau Präsidentin?“ sagte sie ironisch.

„Mathilde – und keine Saite Deines Herzens hat noch einen Klang für mich? Unser Groll soll nicht über Sonnenuntergang währen, und Du hast den Deinen festgehalten über lange Jahre? Klingt kein Lied aus unserer Jugend, kein Liebeswort mehr in Dir nach, das sich durch die Verbitterung in Dir, Du Trotzige, bis auf diesen Tag gerettet?“

„Nein!“ war die rauhe Antwort.

„Nicht – o mein Gott, was kann ich dafür, daß ich ihn liebte, daß ich zu spät erfuhr, wen ich mit meiner Liebe beraube? Hast Du mir je ein Wort gesagt, um mich aufzuklären, was Ewald Dir war? Erst als Du verschwunden, wie von der Erde verschlungen warst, kam mir eine Ahnung, und er hat mir gestanden, daß er sich für Dich interessirt hätte, bevor er mich gesehen, und daß Du das gemerkt haben möchtest –“

Die Näherin lachte bitter auf. „Ob ich das gemerkt habe? Freilich, es wäre ja möglich gewesen, daß ich es nicht gemerkt hätte –“

Sie schwieg plötzlich. Wenn das nicht erlogen war, wenn er wirklich seiner Gattin niemals – nein, wie durfte er ihr sagen, daß er sie, die arme Cousine, geküßt hatte, daß er um ihretwillen versprochen hatte, die Tante aufzusuchen! Ah, da konnte sie ja Rache nehmen, konnte die Geschichte dieser Verlobung erzählen, konnte dieser Frau hier das Andenken ihres Gatten –

Aber Rache wofür? Der Schuldige war todt; die, welche für ihn hätte büßen müssen, konnte wenigstens völlig unschuldig sein. War sie es wirklich? Ein weiches Gefühl kam über die zum Schlag Bereite, aber mit dem weichen Gefühl zugleich die volle Empfindung alles dessen, was sie gelitten die langen Jahre her, all der stummen qualvollen Kämpfe, der Enttäuschungen, der Noth und Entbehrung. Immer heißer und heftiger wogte es in ihr und schmolz, was starr war, und brandete, daß sie zu zittern begann und die Hände auf die Brust preßte. Der ganze Jammer eines verfehlten Lebens sprach zu ihrer Seele. Und stöhnend sank sie zu Boden und warf das Gesicht in die dunkelrothe Gluth eines Stuhlpolsters und begann zu schluchzen wie ein Mensch, dem der Himmel das Letzte genommen, was er liebte, und dies Letzte war ihr Recht, jemand zu hassen, jemand anzuklagen, jemand verantwortlich zu machen für ihre tiefe Noth.

Sie hörte kaum, wie es neben ihr raschelte, und, indeß ein weicher Arm sich um ihren Nacken legte, mit thränenerstickter Stimme neben ihr sprach:

„Bleibe bei mir, Mathilde! Ich will Dich für Alles entschädigen, was Du gelitten hast, soweit ich das vermag. Ich weiß es, ich bin lange Jahre hindurch glücklich gewesen auf Deine Kosten, und das hat genug an meiner Seele genagt bis heute. Laß uns Frieden schließen – er ist ja todt, und der Tod löscht selbst die Schuld des Verbrechers. Bleibe bei mir, Mathilde!“ wiederholte sie heiß und innig.

Die Arme neben ihr schluchzte weiter, stumm, geschüttelt von ihrem Schmerz. Endlich ward sie ruhiger, hob den Kopf, löste sanft den Arm der Präsidentin von ihrem Nacken und stand auf.

„Nimm mich hin, Luise!“ sprach sie müde. „Ich kann ein wenig Sonnenschein gebrauchen. Komm!“

Sie reichte der Knieenden die Hand.

„Mathilde!“

Es war so still, wie sie sich umschlungen hielten; nur die Gasflamme der Lampe zischelte leise, wie befriedigt über das, was sie sah.

„Weißt Du, wo Du Dich befindest, Liebe?“

„Bei Dir!“

„In Deinem Zimmer,“ sagte strahlend die Präsidentin. „Es ist längst für Dich hergerichtet.“

„In meinem Zimmer?“ Die Versöhnte sah sich wie im Traume um. Dann wurde sie einen Augenblick nachdenklich. „Mein Zimmer – meine kleine Burg droben unter dem Dache der schwarzen Ecke, ich denke an sie und an die guten Menschen dort, die armen und doch glücklichen. Für sie hatte ich Dein Geschenk angenommen, Luise, und ihnen gehört es. Laß den Korb wieder hintragen! Sie können die Sachen zum Theil gebrauchen, zum Theil verkaufen. Sie mögen sich auch in meine Hinterlassenschaft theilen. Bis auf meinen gestickten Wahlspruch,“ fügte sie erröthend hinzu.

„Ein Wahlspruch? Wie heißt er?“

„Lieber darben, als ducken!“

„Das sieht Dir ähnlich. Aber nicht ducken, Liebe, nicht ducken – ja nicht an so etwas denken, wenn Du bei mir bist! Und nun komm zu den Kindern! Deine Nachbarn sollen das Ihre haben, und mehr als das.“ – – –

Welch ein Weihnachtsfest gab es heute noch unter dem Dache der schwarzen Ecke! Der Schneider pries der Frau Brenner bis spät in die Nacht hinein seine Philosophie, die ihm erlaube, sich zehnfach zu freuen, weil sie das Wünschen ausschließe; er that es, obwohl er gänzlich als Prediger in der Wüste sprach; denn die Wittwe verstand kein Wort von seinen Deductionen und musterte glückselig wieder und wieder mit den Kindern die reichen Spenden, welche der Diener noch in später Stunde gebracht.

Nur für den kranken Schriftsetzer war die Gabe zu spät gekommen; er war inzwischen hinübergeschlummert. Die stillen Sterne der Weihnacht blinkten neugierig-mitleidig in die eisigkalte Kammer des Todten, dessen regungsloses Gesicht noch immer die Hoffnung auf Genesung verklärte.