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Unser Drückeberger

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Textdaten
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Autor: Fred Vincent
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Titel: Unser Drückeberger
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aus: Die Gartenlaube, Heft 30–31, S. 510–515, 527–531
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Unser Drückeberger.

Aus meinem Kriegstagebuch vom Jahre 1870.
Von Fred Vincent.

Die Compagnie ist nachgesehen, Herr Lieutenant, die Compagnie steht vollzählig und feldmarschmäßig zum Ausrücken bereit!“

Es war ein prachtvoller Sonntagnachmittag, der Nachmittag unseres neunten Mobilmachungstages, des 24. Juli 1870, und es mochte fünf Uhr sein, als mir unser Feldwebel Schmidt diese Meldung machte. Auf dem Hofe der Prinz Karl-Kaserne der Festung Mainz standen die zwölf Compagnien unseres Regimentes in Compagnie-Kolonnen zum letzten Appell in der Garnison und erwarteten den Befehl zum Ausrücken nach der französischen Grenze. Wohl waren vom XI. Armeecorps, dem wir bei der Mobilmachung zugeteilt worden, Dispositionen und Marschtableau eingetroffen, allein das VIII. Corps, welchem wir bis jetzt angehört, hatte das [511] Regiment noch nicht aus dem Festungsverband entlassen. Die Depesche mit diesen letzten Befehlen wurde indes jeden Augenblick erwartet, und unser Oberst hatte sämtliche Stabsoffiziere mit ihren Adjutanten, sowie die Hauptleute und Compagnieführer zu sich auf das Regimentsbureau zum Befehlsempfang berufen. Die Mannschaften sollten dann sofort zu ihren auf dem Kasernenhof und auf der breiten Straße davor in dichten Scharen harrenden Angehörigen und Freunden entlassen werden, um mit diesen die letzten Stunden in der Heimat zu verleben. Das Regiment war marschbereit, und der Ausmarsch sollte jedenfalls in der Frühe des 25. Juli stattfinden.

Ja, wir waren marschbereit. Fieberhaft war in den drei Tagen vorher gearbeitet worden, um das Ziel zu erreichen. Und mit welchem Enthusiasmus! An den Feind zu kommen, je früher desto besser, war unser aller heiße Sehnsucht. Doch so mächtig sich auch diese hegeisterte Stimmung in meiner jungen Lieutenantsbrust regte, ich atmete erleichtert auf, als ich mir sagen konnte, daß die nötigen Vorarbeiten alle beendet, daß wir wirklich „mobil“ waren. Die Meldung, die der Feldwebel mir in Abwesenheit des Compagnieführers überbrachte, gab mir die Gewißheit, daß wir dem ersehnten zweiten Abschnitt unserer kriegerischen Thätigkeit mit ruhigem Gewissen entgegengehen durften, und mit einem zufriedenen Blick in das fröhliche Gesicht des pflichteifrigen Mannes nickte ich ihm zu. „Schön, Feldwebel. Nun wären wir also so weit!“ …

„Zu Befehl, Herr Lieutenant! Aber …“

Also doch noch ein Aber! So wenig gelegen mir ein solches kam, so mußte ich es vorbringen lassen. „Was haben Sie denn jetzt noch zu erinnern, Feldwebel? Ich denke doch, wir sind endlich in Ordnung?“

„Zu Befehl, Herr Lieutenant! Aber der Gefreite Tilmanns …“

„Nun, was ist’s mit dem? Der gehört doch nicht zu den Neueingestellten?“

„Allerdings nicht, Herr Lieutenant. Er hat bei den Gardeschützen als Einjähriger gedient und hat die Qualifikation zum Reserve-Unteroffizier. Aber’s ist ein ganz feiner Herr, trägt eigene Hemden und Stiefel und – kann absolut keinen Wein vertragen.“

Ich mußte unwillkürlich lachen über die verächtliche, beinahe grimmige Betonung, welche unsere wackere Compagniemutter auf diese letzte bedenkliche Eigentümlichkeit des Gefreiten legte. Ihm selbst war allerdings eine solche Schwäche durchaus fremd, das bewies seine stattliche Leibesfülle und die rosige, gesunde Gesichtsfarbe, wie nicht minder seine Lieblingswendung: „Ein strammer Soldat kann auch ’nen strammen ,Schtiebel’ vertragen“, die auch mir schon bekannt geworden war. Aber auch der Persönlichkeit des Gefreiten erinnerte ich mich jetzt wieder; hatte ich ihm doch, da er in meinem Zuge stand, vom Compagnieführer die Erlaubnis ausgewirkt, seine eigenen Stiefel tragen zu dürfen, die zwar nach Maß, indes vollkommen vorschriftsmäßig gearbeitet waren. Bei dieser Gelegenheit hatte ich allerdings bemerkt, daß Tilmanns übermäßig schlank war und keineswegs den Eindruck besonderer körperlicher Kraft machte, dabei eine recht bleiche, fast krankhafte Gesichtsfarbe hatte. Im übrigen war mir jedoch nichts an ihm aufgefallen, woraus ich mir die Abneigung des Feldwebels hätte erklären können.

„Na, die Feinheit wird ihm draußen vor den Franzosen bald genug von selbst vergehen,“ meinte ich daher belustigt. „Und das Weintrinken kann er sich ja auch noch angewöhnen, wenn wir überhaupt Gelegenheit dazu bekommen, was mir aber, unter uns gesagt, Feldwebel, vorderhand noch keineswegs so sicher zu sein scheint. Wenn Sie also weiter nichts …“

„Weiter nichts, Herr Lieutenant!? Aber das sind doch gräßliche Kennzeichen von Schlappheit! Und der Tilmanns ist der schlappste Kerl, der mir je vorgekommen ist. Das ist so einer von die richtigen Drückeberger, von die Sorte nämlich, Herr Lieutenant, die beim ersten strammen Marsch die Chausseegräben mit ihren schlottrigen Knochen verzieren und die nur mitkommen können, wenn sie Achsen und Räder unter haben. Wenn’s aber ’mal erst wirklich knallt, dann werden sie krank, fallen um und bleiben liegen, natürlich immer ’mal so zufällig hinter ’ner guten Deckung. Und dann heißt’s: zurück zum ‚Schwamm‘! und zwar so fix als möglich –“

„Nun, das wollen wir doch erst abwarten!“ Ich hatte unseren altgedienten, überaus tüchtigen Feldwebel geduldig ausreden lassen und versuchte ihn nun zu beruhigen. „Dagegen giebt’s doch auch noch Mittel und außerdem, Feldwebel, der Schein trügt!“

„Jawohl, Herr Lieutenant. Aber so’n Gefreiter – und wer den Tilmanns dazu gemacht hat, der kann’s am jüngsten Tag nicht verantworten – der paßt nicht ins mobile Regiment, der gehört in den.Ersatz’. Und so wollte ich bitten, dem Herrn Premierlieutenant zu melden, daß ich den Gefreiten Tilmanns nicht für felddiensttauglich halte und glaube, wir sollten ihn vom Ersatzbataillon durch einen anderen Mann ablösen lassen.“

„Daß das jetzt nicht mehr geht, wissen Sie so gut wie ich, Feldwebel; denn das Ersatzbataillon hat nur einen sehr knappen Stamm ausgebildeter Mannschaften. Es ist nichts zu machen, wenn nicht der Gefreite Tilmanns sich selbst krank meldet und vom Stabsarzt auch für krank erklärt wird.“

„Das letztere, Herr Lieutenant, ließe sich aber doch vielleicht …“

„Schon gut, Feldwebel. Holen Sie mir einmal den Gefreiten herbei; ich will selbst sehen und hören.“ Ich war doch nachdenklich geworden, denn die Meldung des Feldwebels klang zu bestimmt und man rückt doch nicht gern gegen den Feind mit Elementen in der Compagnie, von denen nur Schwierigkeiten zu erwarten sind und von welchen man vorausweiß, daß man sich im entscheidenden Augenblick nicht auf sie verlassen kann. Dem Tilmanns aber als Gefreiten und ehemaligem Einjährigen hatte ich den Flügel meines zweiten Halbzuges gegeben.

Ich muß gestehen, der Eindruck, den ich von dem Mann jetzt empfing, als er mit dem Feldwebel herankam, war durchaus nicht geeignet, mir viel Vertrauen einzuflößen. Mit den schmalen, abfallenden Schultern und der flachen Brust füllte sein magerer Körper nur recht kümmerlich den Waffenrock aus, der ihm in der Länge wohl passen mochte, aber viel zu weit war, so daß er unter dem gerollten Mantel recht häßliche Falten bildete. Obgleich er sich offenbar zusammennahm, befand Tilmanns sich im Kampfe mit seiner langen Flinte, die er nur mühsam im „Gewehr aus“ balancierte. Ich kam ihm auch gleich zu Hilfe, indem ich ihn „Gewehr ab“ nehmen ließ, und ich mußte dem Feldwebel recht geben, der Griff war „schlapp“. Anders konnte man auch seine Haltung nicht nennen.

Aber aus dem hageren, blassen Gesichte mit dem kleinen, blonden Schnurrbärtchen leuchtete mir ein Paar großer tiefblauer Augen entgegen mit so eigentümlichem Ausdruck, halb träumerisch und doch so voll ruhiger Entschlossenheit, daß mich dies wieder irre an dem Urteil des Feldwebels werden ließ. Der Mann war kein Drückeberger.

„Der Feldwebel glaubt, daß Sie krank oder doch wenigstens nicht gesund genug sind, die Strapazen auszuhalten, die für uns unvermeidlich sein werden. Ich will Sie daher darauf aufmerksam machen, daß es für Sie und für uns besser ist, wenn Sie sich jetzt noch vor dem Ausrücken krank melden, falls Sie sich nicht ganz gesund fühlen. Wir könnten Sie dann noch zum Ersatzbataillon versetzen lassen, was jedenfalls günstiger wäre, als wenn Sie uns unterwegs liegen blieben.“

Ein schwaches Rot war bei dieser unerwarteten Anrede in die bleichen Züge des Gefreiten gestiegen, allein er antwortete ohne Besinnen, leise, aber bestimmt: „Ich bin vollständig gesund, Herr Lieutenant, und werde auch unterwegs nicht liegen bleiben.“

„Schön! Daß Sie tauglich sind, hat die ärztliche Untersuchung ergeben, krank fühlen Sie sich auch nicht, ich darf mir also ausbitten, daß Sie mir nicht bei irgend einer passenden oder unpassenden Gelegenheit einmal ausspannen. Darauf könnte ich dann keine Rücksicht nehmen. Was sind Sie eigentlich in Ihrem Civilverhältnis?“

„Gymnasiallehrer, Herr Lieutenant.“

„So, na, dann haben Sie also seit Ihrer Dienstzeit noch keine Uebung mitgemacht, sonst wären Sie wohl nicht mehr Gefreiter. Warum sind Sie aber nicht als Unteroffizier entlassen worden?“

„Ich war nicht sehr kräftig –“

„Schlapp!“ brummte der Feldwebel dazwischen.

„Und war deshalb in den letzten Monaten auf das Regimentsbureau abkommandiert.“

„Jawohl – Drückeberger!“ nickte die Compagniemutter in sich hinein.

„Das wäre auch jetzt die beste Verwendung für Sie gewesen, wenn Sie nicht beim Ersatzbataillon bleiben wollten,“ erwiderte ich, dem Feldwebel einen verweisenden Blick zuwerfend. „Dazu hätten Sie sich melden sollen.“

„Ich war zur mobilen Compagnie kommandiert und das entsprach durchaus meinen Wünschen!“

Tilmanns war ganz rot im Gesicht geworden, als er mir in fast heftigem Tone diese Antwort gab und in seinen Augen blitzte etwas wie Zorn, als wollte er sagen: „Glauben Sie denn, daß ich nicht mit ebensoviel Begeisterung und Mut in diesen [512] heiligen Kampf ziehe, wie Ihr anderen alle, wenn ich auch keinen so kräftigen und abgehärteten Körper besitze?“ Bei mir regte sich das Gewissen, daß ich mich durch die Vorstellungen des Feldwebels hatte verleiten lassen, den armen Menschen wohl gar zu schnöde zu behandeln, und ich nahm mir vor, es wieder gut zu machen. Augenblicklich aber gab ich ihm mit den Worten: „Schön, dann muß es also dabei bleiben. Ich danke Ihnen!“ das Zeichen, wieder einzutreten. Zögernd blieb er jedoch stehen und fragte mit leiser, bescheidener Stimme: „Sie werden wich also nicht zum Ersatzbataillon versetzen lassen, Herr Lieutenant?“

„Davon kann keine Rede mehr sein. Außerdem stünde das auch nicht in meiner Macht!“ gab ich lachend zur Antwort, worauf er mit einem „Ich danke Ihnen von Herzen, Herr Lieutenant!“ „Gewehr auf“ nahm und auf seinen Platz zurückging.

„Und s’ ist doch ein Drückeberger,“ brummte der Feldwebel auf meinen fragenden Blick unwirsch vor sich hin.

Damit war für jetzt die Sache erledigt, denn soeben kam der Befehl, die Compagnien zu entlassen. Die Leute sollten sich später am Abend auf der Kasernenwache erkundigen, wann morgen früh ausgerückt werde.

Und nun wurde der Kasernenhof zum Schauplatz einer patriotischen Kundgebung, wie er sie annähernd großartig noch nie erlebt und wohl auch so leicht nicht wieder erleben wird. Kaum war das Kommando „Weggetreten!“ gegeben, so hatten sich unsere Compagnien auch schon in dem hereinflutenden Menschenstrom aufgelöst und die Mannschaften tauchten in demselben unter. Einzeln, gruppenweise trieben sie in der jubelnden, erregten und begeisterten Menschenmenge, sich von ihr tragen und führen lassend. Das waren Scenen des edelsten, reinsten vaterländischen Enthusiasmus, die sich dort vor meinen Augen abspielten und einen so nachhaltigen Eindruck auf mein empfängliches Jünglingsgemüt machten, daß ich sie heute noch deutlich vor meinem geistigen Auge sehe. Zwar eilten noch manche unserer Soldaten auf die Stuben, um rasch ihr Gepäck abzulegen, doch die meisten schlossen sich wie sie gingen und standen, mit ihren Freunden an und unter dem tausendstimmigen Gesang der „Wacht am Rhein“ wogten die dichten Scharen unter der Terrasse des Offizierskasinos vorbei, den dort inmitten seiner Offiziere stehenden Oberst mit lautem Hurra begrüßend.

Kurz nach neun Uhr am Abend war dann endlich die lange erwartete Depesche eingetroffen und wie ein Lauffeuer durcheilte die Nachricht die ganze Stadt: heute nacht ein Uhr stehen die Compagnien auf dem Kasernenhof zum Ausrücken bereit!

In dieser Nacht blieb die ganze Bevölkerung der Stadt auf den Beinen. Auch die Bewohner der Ortschaften in weitem Umkreis waren am Sonntage hereingekommen und nur wenige mögen wieder nach Hause gegangen sein; wollte doch jeder, der es nur möglich machen konnte, beim Aufmarsch des ersten Regimentes nach der bedrohten Grenze zugegen sein. Alle Gassen und Gäßchen waren angefüllt von begeisterten Menschen und immer mehr drängten sich die Massen zusammen, je näher man dem Schillerplatz und der Kaserne kam und je mehr die Zeit des Abmarsches heranrückte. Die Folge war, daß die zum Sammelplatz eilenden Soldaten nur langsam hindurchzudringen vermochten. Auch der Kasernenhof war so dicht besetzt von den Angehörigen und Freunden der Ausrückenden, daß das Sammeln der Compagnien sich als ungemein schwierig erwies.

Noch war die kurze Sommernacht nicht in die Morgendämmerung übergegangen, doch flammten überall im Publikum Fackeln und Laternen auf, sämtliche Fenster waren erleuchtet und immer wieder erklang die Wacht am Rhein und übertönte die Kommandos. Wir waren bald zu der Ueberzeugung gelangt, daß ein Verlesen und Stellen der Compagnien unter diesen Umständen zu den direkten Unmöglichkeiten zählte, und beschränkten uns daher darauf, so gut wie möglich die Ordnung in den Zügen herzustellen.

Wenige Minuten vor zwei Uhr schlugen die Spielleute an, die Regimentsmusik intonierte wieder das Kampflied der damaligen Zeit, tausendstimmig fiel alles ein und – gekeilt in drangvoll fürchterlicher Enge wurde unsere Marschkolonne durch die schmale Gaugasse und den noch schmäleren Durchlaß des Gauthores zur Festung mehr hinausgeschoben und getragen, als daß wir hinausmarschiert wären. Draußen vermochten wir wieder aufzuatmen, denn die uns begleitenden Scharen lichteten sich immer mehr und blieben endlich ganz zurück; aber noch über eine Stunde setzten wir unseren Marsch fort, bis wir endlich, als es schon ganz heller Tag geworden und die Türme von Mainz längst unseren Blicken entschwunden waren, das erste „Rendezvous“ machten.

Der nun folgende lange Halt wurde dazu benutzt, alles das nachzuholen, was auf dem Kasernenhofe hatte unterbleiben müssen. Selbstverständlich hatten sich Leute aller Compagnien verlaufen, die zunächst ausgetauscht werden mußten. Doch als sodann verlesen wurde, stellte es sich heraus – wer beschreibt das Entsetzen unseres Feldwebels – daß bei uns fünf Mann fehlten. „Darunter natürlich der Gefreite Tilmanns!“ meldete der ganz Fassungslose unserem Premier. Zu seinem Trost erfuhr er aber, daß es den anderen Compagnien nicht besser ging, wenn auch wir die meisten Ausbleiber hatten.

„Die Leute werden sich schon sämtlich einstellen,“ hatte der Oberst gesagt, als ihm die Sache gemeldet worden war. „Wenn sie im Laufe des heutigen Tages nachkommen, so wollen wir für diesmal stillschweigend darüber hinwegsehen. Einstweilen können wir noch auf die Nachzügler warten, vielleicht trifft noch einer oder der andere ein. Ganz ausbleiben wird keiner, denk’ ich!“

Und er sollte schon bald recht bekommen. Die Sonne war inzwischen längst aufgegangen, aber so weit wir sehen konnten, war anf der Landstraße kein Soldat zu erblicken. Eben noch hatte der Feldwebel Schmidt seiner Entrüstung mit den ingrimmigen Worten Luft gemacht: „Es ist unerhört, wie die Kerls so sans façon vom Ausrücken wegbleiben können. Aber, wenn einer nicht mitkäme, daß das unser Drückeberger sein würde, das habe ich gestern schon gesagt!“ Als Antwort machte ich ihn auf eine Staubwolke aufmerksam, die sich uns rasch näherte, und bald konnten wir einen stattlichen Zug Wagen, Omnibusse und dergleichen erkennen, die in schärfster Fahrt herankamen. Richtig, es waren die Vermißten und auf dem Bock des vordersten Fuhrwerks saß Tilmanns.

„Ei ja, natürlich!“ brummte Schmidt bei diesem Anblick „Nachfahren, das kann dem feinen Herrn passen. Ist auch weit bequemer als marschieren. Ich hab’s ja gesagt, Achsen und Räder untermachen, dann kommt so’n Drückeberger mit!“

Unterdessen hatten uns die Wagen erreicht, die Leute sprangen eiligst herab, stellten sich auf und Tilmanns wollte dem Regimentskommandeur eben Meldung machen, als ihm dieser schon entgegen rief: „Es ist gut, Kinder! Nur rasch eintreten, wir warten schon lange genug auf Euch. Also fix, wir wollen abrücken!“

Dazu sollte es aber noch nicht kommen, denn mit den Nachzüglern waren einige Mainzer Herren herausgefahren, die mit dem Oberst persönlich bekannt waren und ein gutes Wort bei demselben für die „Versprengten“ einlegen wollten. Auch viele unserer älteren Offiziere kannten die Fürsprecher und so hatte sich bald eine dichte Gruppe um dieselben gebildet und eine lebhafte Unterhaltung entsponnen. Schmidt, der noch neben mir stand, schien mit der Milde des Regimentskommandeurs nicht recht einverstanden, und als nun Tilmanns in unserer Nähe sein Gewehr gegen eine Pyramide stellte, rief er ihm spöttisch zu: „Nun, Herr Tilmanns, Sie hatten sich wohl mit Ihren feinen Freunden beim Sekt festgekneipt? Da konnten Sie natürlich nicht loskommen und mußten uns allein abmarschieren lassen? Haben Sie Ihren Wagen gleich für den ganzen Feldzug genommen?“

„Nein, Herr Feldwebel. Ich war ins Hotel gegangen und habe mich da verspätet,“ antwortete der Gefreite ruhig, trat auf mich zu und meldete „Zur Stelle!“

„In Ihrem Hotel haben Sie sich verspätet?“ fragte ich nun.

„Jawohl, Herr Lieutenant. Ich war sehr müde, habe mich daher schlafen gelegt und habe verschlafen . . .“

„Natürlich! So ’n feiner Herr muß sich die ‚eigenen‘ Stiebel mit der Beißzange anziehen und da kann er nicht zur rechten Zeit fertig werden!“ warf der Feldwebel dazwischen.

„Die Leute im Hotel waren alle fortgelaufen, um das Regiment ausrücken zu sehen, und hatten mich vergessen,“ fuhr Tilmanns fort, „und als ich hinkam, war das Regiment eben durch das Gauthor hinaus und ich konnte nicht durch die vielen Menschen durch ...“

„Und da dachten Sie, anstatt wie ’n ordentlicher Musketier hinterdrein zu laufen, wär’s bequemer, sich eine Equipage zu kaufen und als feiner Herr nachzukutschieren!“ unterbrach ihn der Feldwebel abermals. Bevor indes der Gefreite entgegnen konnte, ertönte die Stimme unseres Premiers. „Gefreiter Tilmanns! Sofort zum Herrn Oberst kommen!“ Und das hatte folgende Bewandtnis:

Als Tilmanns in dem Menschenstrome der Gaugasse stecken blieb, war er mit zwei anderen Musketieren zusammengestoßen, denen es gerade so ging wie ihm. Er hatte daraus geschlossen, daß es vielleicht noch mehr Leidensgefährten geben werde, und sich nun sehr umsichtig benommen. Rasch hatte er sich mit den beiden andern verständigt, diesen eine bekannte Wirtschaft als Rendezvous [514] angegeben und sie als Posten auf dem Schillerplatz zurückgelassen. Nun war er zur Kasernenwache geeilt, hatte die Polizei benachrichtigt, sich nach Fuhrwerk umgethan und als er am Rendezvous-Platz angelangt war, da hatte sich dort schon mehr als ein Dutzend Nachzügler eingefunden und weitere wurden noch fortwährend dahin gewiesen, bevor die bestellten Wagen erschienen. Einige Herren vom Civil waren auf seine Thätigkeit aufmerksam geworden, hatten ihn beim Sammeln der Verspäteten unterstützt und schließlich hatte man gemeinschaftlich Kaffee getrunken und, da sich schon längere Zeit kein Versprengter mehr eingestellt hatte, waren alle zusammen dem Regiment nachgefahren. Es war auch wirklich die ganze noch fehlende Gesellschaft gewesen, die Tilmanns gesammelt und uns nachgebracht hatte, und darüber sprach ihm der Oberst jetzt seine volle Zufriedenheit aus. Das hatte der Feldwebel jedenfalls am wenigsten erwartet und als nun das Kommando „An die Gewehre!“ erfolgte, da hörte ich ihn murren: „Das erste Mal in meinem Leben, daß ich ’nen Drückeberger habe belobigen hören!“

Der jetzt beginnende viertägige Marsch durch Rheinhessen und die Pfalz zählt sicher zu meinen eigenartigsten und interessantesten Erinnerungen aus dem Feldzug, allein nicht etwa aus dem Grund, weil er als einfacher Reisemarsch uns keine Anstrengungen gebracht hätte. Das Gegenteil war der Fall, denn abgesehen von den Beschwerden, welche bei der herrschenden tropischen Hitze jeder Marschtag für eine so wenig marschgewohnte Truppe haben mußte, hatten wir fortwährend an der Festigung des inneren Gefüges derselben zu arbeiten. Unterwegs wurden die Zügel der Marschdisciplin stetig fester angezogen, und waren wir in die Quartiere eingerückt, so begann, kaum daß die Leute die notwendigste Ruhe gehabt, das Exerzieren. Thatsächlich wurde während der ganzen Zeit bis zum Abend des 2. August jeden Tag systematisch im Detail, in Zügen und in der Compagnie exerziert, auch gelegentlich im Bataillon eine Felddienstübung gemacht – wie in der Garnison, hätte man sagen können, wenn die Mannschaften dazu nicht feldmarschmäßig angetreten wären. Allein für die Mühen des Dienstes wurden wir reichlich entschädigt durch die ungemein herzliche Aufnahme, die, uns seitens der Bevölkerung überall zu teil wurde, und die uns gebotene Verpflegung in dem reichen und gastfreien Landstrich war einfach über jedes Lob erhaben. Waren wir doch das erste preußische Regiment, welches sich jetzt in diesem kerndeutschen Lande blicken ließ, das in früheren Zeiten so oft von französischen Heerscharen gebrandschatzt und verwüstet worden ist, und waren doch schon fast vierzehn Tage darüber vergangen, daß der Krieg zur furchtbaren Gewißheit geworden und die Pfälzer täglich davor zittern mußten, eine abermalige französische Invasion über sich hereinbrechen zu sehen. Aber mit dem Erscheinen der ersten blitzenden Helme war diese Furcht von ihnen gewichen und machte der freudigsten Zuversicht Platz, die sich darin äußerte, daß jeder einzelne sich verpflichtet fühlte, alles nur Erdenkbare für die Soldaten zu thun, die ihn, seine Familie, sein Eigentum vor dem drohenden Unheil zu schützen kamen, Dies Bestreben der Bevölkerung ging so weit, daß die mit Einquartierung belegten Ortschaften darum beneidet wurden, und daß andere, welchen diese Ehre nicht zu teil geworden, alles aufboten, sich uns während des Marsches nützlich und angenehm zu erweisen.

Wohl ausgeruht in den vorzüglichen Quartieren eines großen Dorfes, in welchem unsere Compagnie allein gelegen, rückten wir frühzeitig am zweiten Marschtag aus und der „Herr Burremeeschter“ ließ es sich nicht nehmen, uns selbst den nächsten Weg nach dem Rendezvous-Platze zu zeigen, wo sich das ganze Regiment sammeln sollte. Wir waren bereits in der richtigen Weingegend und so führte dieser kürzeste Weg bald bergan zwischen Weinbergen hindurch, deren Höhe wir fast erstiegen hatten, als vor uns ein junger Mensch auftauchte, der, sobald er uns erblickt hatte, eifrigst Zeichen nach rückwärts machte, worauf ein alter Mann mit schneeweißem Haar erschien. Den Oberkörper weit vorgebeugt, die Augen mit beiden Händen gegen die Morgensonne geschützt, stand er da und schaute uns entgegen, bis wir ihn beinahe erreicht hätten. Dann riß er plötzlich seine Mütze vom Köpf, schleuderte sie hoch in die Luft und jubelte: „Hurra! Der Bub’ hat wahrhaftig recht, die Preuße sin da! Jetzt hawwe wer gute Ruh’ vor dene Franzose; die komme desmal net eriwwer!“ Und barhaupt eilte er den steinigen Weinbergpfad hinunter mit einer Geschwindigkeit, die ich seinen alten Beinen nimmermehr zugetraut hätte. Als wir aber drunten im Thal das Dorf erreichten, da erlebten wir unseren ersten feierlichen Empfang.

Um eine scharfe Ecke in die Dorfstraße einbiegend, sahen wir die ganze Einwohnerschaft längs der Häuser aufgestellt, während die Straße selbst durch uniformierte Feuerwehr abgeschlossen war, vor welcher sich einige ältere Männer aufgestellt hatten. Was mir am meisten auffiel, war, daß diese letzteren Männer alle mit eigenartigen hölzernen Henkelgefäßen, sogenannten „Stützen“ bewaffnet waren, die, mit Harz ausgegossen, den dortigen Weinbauern zum Abziehen ihrer Faßweine dienen. Diese Art der VerWendung war mir damals noch neu, obgleich ich die Gefäße selbst gut genug kannte, denn sie wurden auf unseren Wachtstuben in Mainz allgemein zur Aufnahme des Trinkwassers benutzt. Da es indes noch sehr früh am Tage war, so war meiner Ansicht nach kein Bedürfnis zum Trinken bei unseren Leuten vorhanden, und als nun der erste der uns Bewillkommnenden mit seiner Stütz’ an die Compagnie herantrat, glaubte ich ihn abwehren zu sollen und bemerkte ihm sehr höflich, mit der Hand am Helm: „Danke sehr, lieber Mann. Wir sind noch nicht lange marschiert, die Leute brauchen noch kein Wasser!“

Da kam ich aber schön an!

„Was!“ schnaubte mich der Hüne, der mich um ein Bedeutendes überragte, aufgebracht von oben herunter an, „Wasser? Ja, glauwe Se dann, mir hätte dene Soldate, die die Franzose Mores lehr’n wolle, nix Besseres anzubiete, als Wasser? ’s isch von unserm beschte Wein. Probiern Se’n nor selwer!“

Ein Versuch, mich dem Erzürnten gegenüber zu entschuldigen, mußte unverstanden bleiben, denn soeben intonierte die Feuerwehrmusik die „Wacht am Rhein“ und zwar mit hervorragender Wirkung in der engen Straße. Ich mußte also nachgeben und that einen tiefen Zug aus der Stütz’, die der Mann mir mundgerecht hinhielt, und ich mußte zugestehen, der Wein war gut, sogar sehr gut. Mein Gegenüber mochte mir dies Zugeständnis am Gesicht ablesen, denn er winkte mir auf einmal ganz freundlich zu, brüllte mir ein „Seh’n Se!“ in die Ohren und reichte die Stütz’ dem Feldwebel, der sofort dahinter verschwand?

So gut wie ich, hatte auch inzwischen der Compagnieführer nachgeben müssen; es war ihm diesen lieben derben Menschen gegenüber nichts anderes übrig geblieben. Wir mußten Halt machen, eine Rede anhören, den Wein gründlich probieren und erst dann wurden wir – in sehr gehobener Stimmung – von der Musik aus dem Ortsgebiet hinausgeblasen.

Auf dem Rendezvous-Platz erwartete uns schon wieder eine Ueberraschung merkwürdigster Art. Dieselbe bestand in einer großen Zahl von Leiterwagen, welche sich rings um den Sammelplatz aufgestellt hatten und die nichts mehr und nichts weniger bezweckten, als das ganze Regiment nach seinen nächsten Quartieren zu fahren. Die Unterhandlungen über diesen Fall waren, als wir ankamen, in vollem Gange, denn der Oberst stand in eifriger Unterhaltung bei einer dichten Gruppe älterer Leute, „lauter Burremeeschters“, wie mir einer der Wagenlenker verriet.

Natürlich mußte der Regimentskommandeur das Anerbieten, soweit es die Mannschaften betraf, ablehnen, wenn er auch bereits zu dem Zugeständnis bewogen worden war, daß das Gepäck, sogar die Mäntel und schließlich die ganze Regimentsmusik gefahren werden dürfe; letztere müsse aber unterwegs fleißig dafür spielen. Zu weiteren Konzessionen ließ er sich indes nicht verleiten, und ich hörte, wie er eben mit seiner ganzen gewinnenden Liebenswürdigkeit sagte: „Es thut mir unendlich leid, meine Herren, aber es geht wirklich nicht. Glauben Sie mir, es geht entschieden nicht!“

„Mer wolle’s Ihne glauwe, Herr Owerscht!“ erwiderte einer der Burremeeschters, offenbar durchaus nicht befriedigt von dem Ergebnis der Unterredung. „Mer hawwe alleweil gedenkt, je besser ausgeruht die Soldate sin, wenn se an die Franzose komme, desto besser wer’n se’n heimleuchte! Awer nix für ungut, Herr Owerscht; nix für ungut!“

Damit waren die Ueberraschungen noch immer nicht zu Ende, Wir erfuhren nun, daß eine Deputation mehrerer großer Ortschaften darum gebeten hatte, an einem geeigneten Punkte, den wir gegen zehn Uhr erreichen mußten, das Regiment mit einem „kleinen Frühstück“ bewirten zu dürfen. Auch hierin hatte unser Oberst nachgegeben, obgleich er den Aufenthalt nicht gern sah, durch den wir beim Weitermarsch in die heißeste Tageszeit geraten mußten. Desto weniger Zeit aber wollten wir jetzt verlieren und so wurde schleunigst angetreten, wobei uns noch eine Ueberraschung zu teil wurde, diesmal allerdings keine angenehme für uns Vorgesetzte. Ein Teil der nicht für das Gepäck etc. in Anspruch genommenen Wagen – und das war bei weitem die Mehrzahl der erschienenen – war durchaus nicht zu bewegen, unverrichteter Dinge wieder nach [515] Hause zurückzukehren, sondern sie fuhren einfach leer hinterdrein mit der Motivierung: „No, es wer’n unnerwegs schon noch Soldate müd’ wer’n und dann komme mir doch noch an die Reih’.“

Eine so verführerische Gelegenheit aber war förmlich dazu angethan, künstlich „Müde“ zu erzeugen und mir wurde gar nicht wohl zu Mut, als mir der Feldwebel die Geschichte mitteilte mit dem Zusatz: „Das ist das Richtige für den Gefreiten Tilmanns, den Drückeberger. Der versteht sich aufs bequeme Hinterdreinkutschieren. Wenn der nicht der erste ist, Herr Lieutenant …“

Allein auch der Oberst hatte die Gefahr erkannt und sofort seine Maßregeln dagegen ergriffen, denn die Stimme unseres Premiers unterbrach die Prophezeiungen des Feldwebels: „Regimentsbefehl! Wer auf einem Wagen betroffen wird, ohne vom Arzt krank erklärt zu sein, drei Tage Mittelarrest! Das heißt im mobilen Verhältnis: so und so viel Stunden an einen Baum gebunden! Merkt’s Euch, Kinder!“

Das wirkte! Der Strafe des Angebundenwerdens setzt sich kein Soldat so leicht aus, selbst wenn er sich vielleicht nicht viel aus drei Tagen „Kasten“ gemacht haben würde. Dazu kam heute noch die Ueberlegung, daß ein ärztlich krank Erklärter auch die Aussicht auf das Frühstück aufgeben mußte – und so waren die Leiterwagen noch leer, als wir die Gewehre an den Rändern der großen Gemeindewiese zusammensetzten, deren Mittelpunkt ein von Fahnen überragtes ansehnliches Zeltdach bildete.

Das „kleine Frühstück“, bei welchem die Honoratioren der ganzen Umgegend unsere Wirte machten, verdiente weder der Reichhaltigkeit noch der Güte des Gebotenen nach diese Bezeichnung. Dagegen unterschied es sich aufs vorteilhafteste von manchem großen, das ich vor- und nachher mitgemacht habe, durch die schöne Herzlichkeit, welche zwischen den Vertretern der verschiedensten Lebensstellungen herrschte, die voneinander meistens nicht einmal die Namen kannten. Und vor dieser „gemischten“ Gesellschaft hielt ein kleiner alter Herr von beneidenswerter Rundlichkeit, auf dessen jovialem Gesicht die Morgenröte des neuen Deutschen Reiches schon recht intensiv aufgegangen war, mit weit mehr Patriotismus als Stimme eine herrliche Rede. Wenn dabei sein Organ auch hier und da bei besonderen Kraftstellen umschlug und eigentümlich quiekende und glucksende Laute von sich gab, so beeinträchtigte das die Wirkung nicht im geringsten, denn diese war eine ehrliche, stürmische Begeisterung, und so tranken wir auf den Sieg der vereinigten deutschen Waffen und – zum erstenmal – auf die für alle Zukunft feststehende Einigkeit ihrer Träger. Da noch weitere Reden gehalten wurden, so steigerte sich die Begeisterung, und im direkten Verhältnis zu derselben stand die Zeitdauer des Frühstücks.

Gut war es aber jedenfalls, daß der auf dasselbe folgende letzte Teil unseres Tagemarsches nicht mehr gar zu weit war, denn die Begeisterung unserer Leute hatte schon sehr bedenklich sich zu verflüchtigen angefangen, als wir in unsere Quartiere einrückten. Das Exerzieren an diesem Abend fiel uns allen merkwürdig schwer.

Ganz ähnlich verlief der dritte Marschtag, denn auch am 27. Juli kamen wir nicht „ungegesse un ungetrunke“ durch. Insofern lag an diesem Tag der Fall ungünstiger für uns, als wir das Frühstück nach kaum beendigtem ersten Drittel unseres Tagesmarschs zu überwinden hatten. Und nach demselben erlebte auch unser Feldwebel seinen ersten Triumph über den Gefreiten Tilmanns, worauf er schon an den beiden vorhergegangenen Marschtagen sehnsüchtig gewartet hatte.

Wir waren schon fast zwei Stunden in glühendem Sonnenbrand auf der staubigen Landstraße marschiert, kein Lüftchen regte sich und wie mechanisch setzten die Leute einen Fuß vor den andern.

Aller Frohsinn, aller Humor schien erloschen, und ich blickte mit Besorgnis im Vorüberschreiten in die Sektionen hinein. Obgleich wir die Kragen, sowie die beiden obersten Rockknöpfe schon längst hatten öffnen lassen, bemerkte ich hin und wider, besonders bei dem Gefreiten Tilmanns, unter dem grauen Staubüberzug des Gesichtes jene bläulich-grüne Farbe, die, wie ich leider aus Erfahrung wußte, das Vorzeichen des Hitzschlages ist. Gegen diesen aber hilft bekanntlich nur das rechtzeitige Trinken einer möglichst großen Menge frischen Wassers. Bei den meisten Leuten war die Gefahr dadurch verursacht, daß sie zu viel von dem ungewohnten Wein zu sich genommen, während Tilmanns, wie ich später erfuhr, aus übergroßer Vorsicht, um nicht ausspannen zu müssen, keinen Tropfen davon getrunken hatte, und etwas anderes war nicht zu haben gewesen. Die beiden Extreme hatten also dasselbe Resultat gehabt. Aus meiner Besorgnis riß mich der Anblick eines Dorfes, das in geringer Entfernung vor uns auftauchte. Ein Dorf ohne Brunnen war undenkbar. Ich eilte von Sektion zu Sektion, aufmunternd und ermahnend, im nahen Dorfe recht viel Wasser zu trinken. Aber als wir die Ortschaft erreicht hatten, da lag zwar gar bald vor uns ein stattlicher Laufbrunnen – ob aber auch nur ein einziger von uns mit Wasser seinen Durst gelöscht hat, das habe ich nicht feststellen können, denn überall standen Männer mit „Stützen“ und – ich habe kein Wasser getrunken.

Als wir den Ort im Rücken hatten, waren die bedrohlichen Anzeichen verschwunden, Stimmung und Haltung der Leute war vortrefflich und munter ging es vorwärts. Auch Tilmanns, dem man tags vorher gegen Ende des Marsches die Anstrengung deutlich angemerkt, machte jetzt wieder einen frischen Eindruck, denn sein Gesicht zeigte eine leichte gesunde Röte und seine Augen glänzten vergnügt.

„Na, Tilmanns,“ rief ich ihn an, als ich wieder nach vorne ging, „Sie sehen ja merkwürdig mobil heute aus. Das Marschieren scheint Ihnen vorzüglich zu bekommen.“

„Jawohl, Herr Lieutenant!“ erhielt ich zur Antwort. „Ich habe mich rascher wieder eingewöhnt, als ich selbst geglaubt habe. Heute könnte ich noch stundenweit marschieren.“

Noch war aber keine halbe Stunde vergangen, da kam der Feldwebel eilig an mich heran und brachte mir die völlig unerwartete Meldung: „Soeben ist der Gefreite Tilmanns umgefallen, Herr Lieutenant. Das Verzieren der Chausseegräben geht los!“ Trotz des brummigen Tones der Meldung war eine gewisse Genugthuung in demselben nicht zu verkennen, war doch seine Voraussagung so rasch in Erfüllung gegangen.

„Was? Umgefallen? Der Gefreite? Alle Hagel, da muß etwas Ernsthaftes los sein. Kommen Sie mit, Feldwebel!“ und ich eilte zurück. Richtig, dort stand der Sektionsführer und daneben im Graben saß der Gefreite, doch schlimm sah die Geschichte nicht aus, wenigstens nach dessen blühender Gesichtsfarbe zu urteilen.

„Donnerwetter, Tilmanns! Was machen Sie denn auf einmal für Geschichten? Wo fehlt’s eigentlich?“

Das war nun allerdings leichter gefragt, als beantwortet, denn weder der Gefreite selbst noch der inzwischen herangekommene Lazarettgehilfe wußten eine befriedigende Auskunft zu geben; das Allgemeinbefinden ließ nichts zu wünschen übrig, nur die Beine versagten einfach den Dienst, sie waren „inkohärent“ geworden. So meinte wenigstens unser alter Stabsarzt mit seinem trockenen Humor, als er ohne abzusteigen, nach einem kurzen Blick auf den Maroden verordnete: „Auf den Wagen! Im Quartier ordentlich essen und schlafen, dann ist der Mann heute abend wieder auf dem Damm!“ Mit einem kurzen Wort der Aufklärung an mich ritt er weiter und auch ich suchte, vollständig beruhigt über den rätselhaften Vorfall, so rasch wie möglich meine Compagnie wieder einzuholen.

„So ’n Drückeberger!“ knurrte Schmidt, als wir auf unserem Platz angelangt und er wieder zu Atem gekommen war. „Hat’s doch durchgesetzt, daß er sich nachfahren lassen darf. Sieht aus wie’s blühende Leben und legt sich in den Graben! Wird’s jetzt wohl öfter probieren, wo’s ihm das erste Mal so gut geglückt ist. Können uns nur gleich ’nen Extrawagen für den Herrn Tilmanns zulegen.“

„I wo, Feldwebel,“ besänftigte ich. „Der hat bis heute abend längst ausgeschlafen.“

„Wie meinen der Herr Lieutenant?“ fragte der Gestrenge verständnislos.

„Ich meine, daß Sie recht hatten, – daß der Gefreite Tilmanns absolut keinen Wein vertragen kann, oder besser gesagt, daß in eine Pfälzer Stütz’ mehr Wein hineingeht, als der Gefreite Tilmanns zu vertragen vermag!“

Einen Augenblick sah mich Schmidt an, als sei er nicht sicher, ob ich im Ernste spräche, dann aber legte sich ein Ausdruck innigsten Begreifens über seine Züge und ohne mir in Worten eine Erwiderung zu geben, begann er leise den „Alten Dessauer“ vor sich hinzupfeifen. Unser ganzes Bataillon aber kam an diesem Tage in die vorzüglichsten Quartiere in Deidesheim und als am anderen Morgen der Feldwebel ausgeschlafen hatte – was ihm übrigens, ebenso wie manchem anderen von uns, recht not gethan, – da mochte er den gestrigen Zwischenfall doch in einem milderen Licht betrachten, denn ich hörte ihn dem Gefreiten zurufen: – „Na, Tilmanns, wieder in der Reih’? – Ja? – Schön! Bitte mir aber aus, daß sich Ihre Beine heute nicht wieder ’ne Insubordination vor versammeltem Kriegsvolk erlauben.“

[527] Mit dem 28. Juli nahmen die Reisemärschc und die guten Quartiere ihr Ende, denn das kleine Rülzheim (in der Nähe von Germersheim) hatte unserer ganzen Brigade Unterkommen zu gewähren, und zwar bis zum 2. August. Dieser Zeitraum, in welchem sich der Aufmarsch der Dritten Armee vollzog, deren Oberbefehl der Kronprinz Friedrich Wilhelm von Preußen am 30. Juli übernahm, wurde von uns gewissenhaft ausgenutzt: morgens Exerzieren, nachmittags Felddienst! So waren wir am 2. August abends soeben erst von einer solchen Uebung eingerückt, da jagte, „daß Kies und Funken stoben“, eine Husarenordonanz mit dem in solchen Momenten üblichen †††-Brief vor das Brigadestabsquartier und unmittelbar darauf bereiteten die vier Signalnoten „Das Ganze!“ unserem militärischen Stillleben ein jähes Ende.

Mit einbrechender Dunkelheit trat das Regiment seinen Marsch an; Artillerie, Kavallerie und andere Jnfanterietruppen, die neben der Straße aufgestellt waren, deren Abzeichen wir aber nicht mehr zu erkennen vermochten, schlossen sich an und in unabsehbarer Kolonne ging es auf steinigen Feldwegen in die Nacht hinaus, der französischen Grenze zu. Einzelne Ortschaften wurden passiert, deren Häuser erleuchtet waren, und vor den Thüren standen die Bewohner und sahen mit wachsendem Staunen auf die unendliche Reihe von Soldaten, Pferden, Geschützen und Wagen, die schweigend in dem engen Lichtkreis vor ihnen erschienen und ebenso wieder verschwanden. Kaum ein Kommando oder Zuruf wurde laut, weiter ging es, immer weiter – niemand außer den höchsten Führern kannte das Ziel des Marsches.

Mitternacht war vorüber, da zeichnete sich am helleren Horizont ein Walddunkel ab und zu beiden Seiten bogen die Truppen von der Straße ab, marschierten auf, und während einzelne Compagnien noch auf verschiedenen Wegen bis in den Wald vorrückten, wurden die Gewehre zusammengesetzt und das Gepäck neben denselben abgelegt. Wir waren in unserem ersten Kriegsbiwak in der Gegend von Rohrbach und nahe der Grenze angelangt. Eine Weile hörten wir noch hinter uns auf den Feldern das schwere Rollen der Geschütze, das vereinzelte Wiehern der Pferde, dann aber wurde es ruhig über dem dunkeln Lager – Feuer durften nicht angezündet werden – dem letzten Lager auf deutschem Grund und Boden.

Leuchtend klar stieg die Sonne am nächsten Morgen am blauen Augusthimmel empor und spiegelte sich in den Tausenden von blanken Helmen, in den blitzenden Waffen der gewaltigen deutschen Armee, die hinter dem dunkeln Grenzwalde aufmarschiert war, um den frevelhaften Angriff auf deutsche Ehre, auf deutsches Gebiet blutig zurückzuweisen. Und jeder einzelne in dieser Armee kannte nur einen Wunsch, nur einen Gedanken: Vorwärts! an den Feind! Um selbst zu erproben, ob der gefürchtete Elan der kriegsgewohnten Troupiers des Kaisers Napoleon deutscher Tapferkeit in Wirklichkeit so weit überlegen sei!

Allein der Befehl zum Vorgehen ließ auf sich warten. Immer höher stieg die Sonne und sandte ihre Strahlen auf die schattenlosen Felder herab, auf welchen wir noch immer im Biwak lagen und stundenlang der Wasserträger harrten, die von allen Seiten in langen Reihen zu den wenigen Brunnen der umliegenden Ortschaften gezogen kamen und nur nach langem Warten das erquickende Naß erlangen konnten. Mittag war vorüber und wir hatten abgekocht, Appell gehalten etc. und nur langsam schlichen die Stunden vorüber. Wohl ritten Kavallerie-Abteilungen auf den Wegen in den Wald vor uns hinein und kamen in kurzem Trab zurück, aber nichts verlautbarte, immer noch nichts! Der Feind ließ sich nirgends blicken und der Befehl für uns blieb aus. Am Nachmittag endlich hieß es, wir würden voraussichtlich bis zum nächsten Morgen in unseren Stellungen bleiben, und nun gingen wir daran, uns aus Aesten und Zweigen Schutzhütten zu bauen, denn nach dem heißen Tage begannen sich Gewitterwolken zu zeigen. Der Himmel umzog sich immer dichter, allein noch fiel kein Tropfen und da es auch nicht viel kühler wurde, so saßen wir noch lange in der schwachen Beleuchtung einzelner kleiner Kochfeuer, bevor wir unter unsere Laubdächer krochen.

Es war noch so dunkel, daß man nicht die Hand vor den Augen erkennen konnte, als es in unserem Lager anfing lebendig zu werden, denn wir hatten eine im Biwak wenig beliebte Zugabe erhalten – Regen. Daß aber gegen einen richtigen Landregen ein leichtes Laubdach auf die Dauer keinen ausreichenden Schutz gewährt, ist eine Erfahrung, die wir in den frühesten Morgenstunden des 4. August sehr rasch zu unserem Leidwesen machen mußten. Auch die Hütte, welche die sämtlichen Offiziersdienstthuenden unserer Compagnie mit Einschluß des Feldwebels beherbergte, machte von der allgemeinen Regel durchaus keine Ausnahme, vielmehr schienen die dicken auf den Blättern sich ansammelnden Tropfen mit unheimlicher Sicherheit stets den empfindlichsten unbedeckten Körperteil der Schläfer, das Gesicht, sich auszusuchen, um mit derbem Klatsch darauf hinabzustürzen. So traf auch den Feldwebel Schmidt ein solcher sogenannter Tropfen – „der reine Wasserfall“ klagte der Getroffene nachher – an einer Stelle, die ganz besonders empfindlich gegen Wasser war; er fiel dem Schnarchenden nämlich zwischen den leicht geöffneten Lippen hindurch direkt in den Hals. Die Wirkung war geradezu zauberhaft, denn laut pustend und schnaubend sprang der korpulente Herr mit ungeahnter Gewandtheit auf die Füße, und da er dabei an eine der Hauptstützen der Hütte anrannte, so entlud sich eine derartige Traufe auf uns andere, daß wir schleunigst seinem Beispiel folgten.

Es war gerade ein Uhr, als wir unser triefendes Obdach im Stich ließen, und die Situation in der stockfinsteren Nacht und im strömenden Regen zeichnete sich trotz der schwülen Temperatur nicht durch Gemütlichkeit aus, allein sie wäre ohne die Findigkeit von Tilmanns sicher noch ungemütlicher gewesen. Der Gefreite hatte sich am Abend eine Hofthüre „ausgebeten“ – die erste kriegsgemäße Umschreibung für das Requirieren aus eignem Antrieb in diesem an solch humoristischen Schlagworten so reichen Feldzug – um dieselbe als Dach gegen den erwarteten Regen zu benutzen. Als derselbe dann wirklich eingetreten, war ein in der Dunkelheit ruhelos Umherirrender auf das Dach und mit diesem auf den Gefreiten gefallen, der nun eingesehen, daß ihm ein weiteres gedecktes Dasein nicht gegönnt werden würde. Dennoch wurde die Thüre ihrer anfänglichen Bestimmung nicht ganz entfremdet, denn jetzt [528] loderte unter ihrem Schutze ein Feuer auf, das so erfolgreich genährt wurde, daß das Kaffeebrauen bald in höchster Blüte stand und wir rasch genug über die nächsten zwei Stunden hinwegkamen. Das Signal „An die Gewehre!“ machte kurz nach drei Uhr der Situation und dem Humor gleichzeitig ein Ende, denn wir waren zur Avantgarde befohlen und mußten sofort antreten.

Immer noch im strömenden Regen ging es nun unaufhaltsam vorwärts auf sandigen Waldwegen, über aufgeweichte Feldwege, durch Dörfer hindurch wieder in den Wald hinein, in einem Eilmarsche, der uns endlich gegen 9 Uhr bei der Bienwaldshütte an die Lauter und damit an die französische Grenze brachte. Schon seit einiger Zeit hatten wir geglaubt, von der rechten Flanke her Geschützfeuer zu hören, als wir aber jetzt mit jubelndem Hurra die Grenze mit ihrem Flüßchen und den dahinter liegenden, gut ausgebauten merkwürdigerweise aber nicht vom Feinde besetzten Erdwerken überschritten hatten, da scholl deutlich der Kanonendonner aus der Gegend von Weißenburg zu uns herüber. Die rechte Flügelkolonne unserer Armee, die Bayern, mußte dort auf den Feind gestoßen sein. Doch wir wollten auch dabei sein, und als wir nun die große Lauterburg-Weißenburger Landstraße erreicht hatten, ging es ohne nur einmal anzuhalten im Geschwindschritt eine gute Stunde lang auf den Lärm der Schlacht zu.

Hier auf der vorzüglich gehaltenen breiten Staatsstraße war es uns Zugführern erst wieder möglich, uns etwas näher um den Zustand unserer Leute zu bekümmern, und wir bemerkten zu unserer Freude, daß sie sämtlich mit Ungeduld dem ersten Zusammentreffen mit dem Feinde entgegensahen. Zwar hatte der forcierte Marsch bei der großen Hitze – denn seit ungefähr acht Uhr hatte der Regen aufgehört und die Augustsonne stach erbarmungslos herab – sehr hohe Anforderungen an ihre Leistungfäigkeit gestellt und die körperliche Abspannung war deutlich auf manchem Gesicht zu lesen, aber trotzdem blieb kein Einziger zurück. Auch Tilmanns nicht, der am wenigsten seine große Ermüdung verbergen konnte und beständig die eine Hand unter den gerollten Mantel geschoben hielt, um den Druck desselben auf die Brust zu lindern. Ich war sofort neben ihm und sprach ihm ermutigend zu:

„Geben Sie mir ’mal Ihr Gewehr her, Tilmanns, und nehmen Sie den schweren nassen Mantel ab, der schnürt Ihnen ja den Atem weg. Nur immer Courage, Mann. Sie werden mir doch heute nicht ausspannen wollen?“

„Gewiß nicht, Herr Lieutenant! So lange mich meine Beine tragen bleibe ich nicht zurück!“

„Na, na,“ mischte sich der Feldwebel mißtrauisch ein, „die Beene, die werden doch woll nicht! Denen ist doch heute sicher keine pfälzer Weinstütz’ zu nah’ gekommen?“

„Es geht jetzt auch schon wieder viel besser, Herr Feldwebel. Nur der Mantel, der hat mich so furchtbar gedrückt!“ Und wirklich schien sich der Gefreite zusehends zu erholen, seitdem ich ihm die Flinte trug und er nach Abnehmen des quälenden Ausrüstungsstückes wieder freier atmen konnte.

Links ab von der Landstraße bogen wir jetzt, und nach einem weiteren Marsch von einer halben Stunde bergauf über Felder und zuletzt mit einer scharfen Rechtsschwenkung durch einen Busch hindurch, traten wir in Angriffskolonnen-Formation auf den freien Hügelkopf hinaus. „Gewehr ab! Nieder!“ kam das Kommando! Vor uns lag ein weites Thal, in dessen Grund sich die französischen Schützen längs einer Straße eingenistet hatten, und uns gegenüber auf zwei Anhöhen sahen wir ihre Kolonnen massiert, Geschütze und Mitrailleusen aufgefahren. Wir hatten den rechten Flügel der feindlichen Aufstellung umgangen, denn die Höhen vor uns waren der mit Weinbergen bestandene Schafbusch und dahinter der von starken Gebäuden, einem Gehöft und einem festungsähnlichen Schloß gekrönte Geisberg. Von Weißenburg selbst war nichts zu sehen, wohl aber konnten wir aus dem heftigen Geschütz- und Gewehrfeuer auf das hitzige Gefecht schließen, welches dort entbrannt war.

Viel Zeit, um Terrainstudien zu machen, wurde uns übrigens nicht gelassen, denn die Herren Tirailleure da unten hatten uns bemerkt und benutzten die Gelegenheit, ihre überflüssigen Patronen möglichst schnell los zu werden. Das war wenigstens der ganze Erfolg, den sie mit ihrem Schnellfeuer erzielten, mit welchem sie auf mindestens 1500 Meter Entfernung das „Herschießen“ eröffneten. Verluste verursachte uns dasselbe nicht, dagegen hätte es den Vorteil fur uns, daß unsere Leute sich an das unheimliche Pfeifen der Kugeln gewöhnten und rasch die Ueberzeugung gewannen, daß Schießen und Treffen zwei sehr verschiedene Dinge sind. Da indes von einem „Hinschießen“ unsererseits bei dieser Entfernung keine Rede sein konnte, so befanden wir uns bald im vollen Avancieren, wobei die ganze Compagnie ausgeschwärmt war.

Als droben am Waldrand der Befehl zum Vorgehen gegeben wurde und ich bei dem „Auf!“ unseres Premiers vor die Mitte meines Zuges eilte, war plötzlich hinter mir einer meiner Leute zusammengebrochen. Beim Umwenden hatte ich eben noch gesehen, wie sich der Lazarettgehilfe über den regungslos daliegenden Gefreiten Tilmanns beugte, dann waren wir vorwärts gestürmt. Wenige Minuten später – wir waren gerade in einem kleinen Hohlweg angelangt, wo wir die Tornister ablegten – hatte uns der Lazarettgehilfe wieder eingeholt, was mich in der Annahme bestärkte, daß wir den unglücklichen Gymnasiallehrer als ersten Gefallenen auf die Verlustliste würden setzen müssen. Der erste Gefallene! – ein nicht zu beschreibendes Gefühl durchrieselte mich vom Kopf bis zu den Füßen bei dem Gedanken, wie viele weitere am heutigen Tage dem ersten noch zugesellt werden würden, vielleicht ich selbst.

„Tot?“ fragte ich halblaut.

„Ohnmächtig, Herr Lieutenant!“ kam laut und bestimmt die Antwort.

„Was?“ fragte ich nochmals, aber scharf. „Ohnmächtig! Nicht einmal verwundet?“

„Keine Spur! Nicht angekratzt; glatt ohnmächtig!“ Fast hätte ich mich meiner Gefühlsanwandlung geschämt, als ich in die mir wie belustigt zugekehrten Gesichter meiner Leute blickte; da aber brach der Feldwebel los:

„Jawoll, Herr Lieutenant, einfach ohnmächtig! Da haben Sie den Drückeberger, Herr Lieutenant! Aber ich habe es Ihnen gleich gesagt, Herr Lieutenant, sobald es knallt, fällt Der um und bleibt liegen. Das ist die richtige Sorte, so feine Herren haben zarte Nerven, Herr Lieutenant ....“

„Donnerwetter, Feldwebel, lassen Sie mich zufrieden mit Ihrem ewigen Herr Lieutenant! Ich wollte ....“ Was ich eigentlich wollte, wußte ich wohl selbst nicht recht, aber ich glaube, ich hätte dem Tilmanns mit dem größten Vergnügen eine derartige Portion einer Mitrailleusenladung in den Leib gewünscht, wie er sie nur irgendwie hätte vertragen können, ohne daran zu sterben, nur um dem Feldwebel mit seinem unvermeidlichen „Drückeberger!“ nicht recht geben zu müssen.

Die vorderste französische Schützenkette hatte sich auf die zweite an der Chaussee zurückgezogen, sobald unsere Zündnadeln angefangen hatten, kräftig unter ihr aufzuräumen, und manche Rothose war auf dem Felde liegen geblieben. Aber auch auf dem Abhang, den wir im sprungweisen Vorgehen heruntergekommen waren, konnte man deutlich die dunklen Körper bemerken, welche den von uns zurückgelegten Weg bezeichneten. Jetzt lagen wir in leidlicher Deckung im Feuergefecht höchstens 200 Schritt vor der starken feindlichen Position und warteten auf das Herzukommen unserer Soutiens, um dieselbe mit Sturm zu nehmen, als Schmidt, der sich nach rückwärts umgeblickt hatte, plötzlich ausrief: „J, da soll mich doch ...! Ich will dem Napolium heute noch die großen Stiebel ausziehen, wenn da nicht unser Drückeberger ankommt! Na, ich sage kein Wort mehr, Herr Lieutenant!“

Es war in der That Tilmanns, der mit vollem Gepäck abwechselnd im kurzen Laufschritt und im Schritt halbwegs zwischen uns und den mit schlagenden Tambours geschlossen anrückenden Soutiens über das vom heftigsten feindlichen Feuer bestrichene Feld herankam. Als er mich erkannte, ging er mit angefaßtem Gewehr ruhig auf mich zu; offenbar wollte er sich vorschriftsmäßig bei mir melden. Das aber war mir doch, trotzdem ich mir selbst eine gute Dosis kaltblütiger Ruhe zutraute, zu arg, und ich schrie ihn an:

„Donnerwetter, Herr, sind Sie toll geworden? Scheren Sie sich in die Deckung hinein und legen Sie Ihren Tornister ab!“

„Zu Befehl, Herr Lieutenant!“ und damit blieb er stehen und fing ohne besondere Eile an, die Tornisterriemen loszuhaken.

„Schock Schwerenot, Herr! In die Deckung sollen Sie sich hinein scheren! Haben Sie mich verstanden?“

„Zu Befehl, Herr Lieutenant! Aber das lohnt sich doch kaum mehr der Mühe. Wir gehen ja eben zur Attacke vor.“

Seine Gelassenheit machte mich ganz wild; allein er hatte recht, die geschlossenen Halbbataillone waren in gleicher Höhe mit uns angelangt und im „Marsch-Marsch! Hurra!“ ging’s zum [530] Sturmangriff über, dem die Franzosen trotz tapferer Gegenwehr nicht stand zu halten vermochten. Die Landstraße mit ihren Schützengräben befand sich in unseren Händen, während der Feind in fluchtartigem Rückzug durch die Weinberge seine Hauptposition auf den Höhen des Geisberges zu gewinnen suchte.

Unsere nachdrängenden Schützenzüge wurden in der Verfolgung sehr dadurch behindert, daß die Weinbergpfähle reihenweise oben durch Querstangen verbunden waren, während die Franzosen die Gelegenheit offenbar besser kannten und sich rasch durch vorher gebrochene Lücken und Durchgänge zurückzogen. Eine Zeit lang wechselten wir noch Schüsse mit ihnen, dann waren sie außer dem Bereich unserer Gewehre und verschwanden mit unbegreiflicher Geschwindigkeit. Ich hatte gerade zu meinem großen Aerger die unangenehme Entdeckung gemacht, daß mein Zug in diesem heimtückischen Weinberg gänzlich auseinander gekommen war, als mir der Feldwebel zurief, daß er einen Durchgang gefunden habe. Schleunigst rief ich von meinen Leuten herbei, was sich gerade in der Nähe befand – es waren allerdings wenig mehr als ein Dutzend Mann – und gemeinsam mit Schmidt führte ich sie in voller Hast vorwärts.

Mehrere hundert Schritt waren wir fast im Laufschritt dem ansteigenden Weg gefolgt, als wir plötzlich am Rand einer schmalen, grasbewachsenen Mulde standen, die sich nach dem Geisberg hinüberzog. Mir war sofort klar, daß diese günstige Bodenfalte unseren Gegnern die beste Gelegenheit geboten, sich schnell und unbemerkt rückwärts zu konzentrieren, denn unmittelbar vor uns befand sich ein Trupp von mindestens 60 französischen Infanteristen in beschleunigtem Rückzug. Einen Augenblick stutzten sie bei unserem unerwarteten Erscheinen, dann aber gingen sie sofort zum Angriff über, dessen Ausgang bei unserer bedeutenden Minderheit kaum zweifelhaft sein konnte. Von beiden Seiten knallten Schüsse – zwei meiner Leute fielen und ich wurde an der linken Hand verwundet – en avant! à l’attaqne! feuerte ein alter Sergeantmajor seine Kameraden an und mit aufgepflanztem Yatagan stürzten sie sich auf uns. Jetzt kam uns zu statten, was uns vorher beim Avancieren so sehr hinderlich war, denn die miteinander verbundenen Weinbergpfähle machten es den Franzosen schwierig, uns zu umzingeln, so daß wir dem ersten Anprall stand zu halten vermochten. Ein wilder Kampf entspann sich an dem schmalen Weinbergzugang, den unser kleines Häuflein besetzt hielt – ein Kampf mit der blanken Waffe, Mann gegen Mann. Die Erbitterung auf beiden Seiten hatte den Höhepunkt erreicht. Wir wehrten uns wie die Verzweifelten, doch konnte es nur noch Sekunden dauern, bis wir der Uebermacht unterliegen mußten. In diesem Augenblick krachte aus nächster Nähe eine kleine aber wohlgezielte Salve den Franzosen so wirksam in die Flanke, daß sie sich nach dem neuen Gegner umsahen, allerdings nur einen Augenblick lang, aber dieser war entscheidend. Blitzschnell hatte ich den Revolver herausgerissen und den Sergeantmajor, unseren entschlossensten Feind, zusammengeschossen, während der Feldwebel einen anderen niederstach. Eine zweite Salve folgte und unmittelbar danach brach in der Mulde eine meinem Häuflein nicht sehr überlegene Abteilung meines Zuges mit lautem Hurra auf die Ueberraschten ein, und als nun auch unser Hurra erscholl, da warfen die Franzosen die Gewehre weg und baten mit aufgehobenen Händen um Pardon.

Der Führer der kleinen Abteilung, die so zur rechten Zeit eingegriffen hatte, war mein Flügelunteroffizier, Sergeant Brückner, dessen Umsicht und Tüchtigkeit mir so wohl bekannt waren, daß ich mich nicht über sein geschicktes Vorgehen wunderte. Trotzdem wollte ich ihm meine Zufriedenheit aussprechen, war aber sehr erstaunt, als er mich unterbrach: „Daran bin ich wirklich ganz unschuldig, Herr Lieutenant; das hat alles unser Schulmeister, der Gefreite Tilmanns, veranstaltet!“

„Waas? Der Gefreite Tilmanns? Der Dr ....“ Der Feldwebel sprach den Schmeichelnamen nicht aus, so maßlos war seine Ueberraschung.

„Jawohl, Herr Feldwebel. Er hat den Schleichweg der Franzosen ausgekundschaftet und mich gebeten, mich ihm mit ein paar Mann anzuschließen. Ich hatte weiter nichts zu thun, als die alten Herren da zu sammeln, die nicht so rasch hatten nachkommen können, und hinter ihm herzumarschieren. Und weil der Weg wirklich so hübsch bequem war, sind wir eben auch zur rechten Zeit oben gewesen. Der Tilmanns hat auch gewußt, daß der Herr Lieutenant und der Herr Feldwebel mit den anderen hier herüber sind und daß sie hier mit den Rothosen zusammentreffen mußten, und da haben wir uns denn tüchtig geeilt, damit wir nicht zu spät zum Rendezvous kamen.“

„Tilmanns, erzählen!“ rief ich diesem nun zu, und mit kurzen Worten berichtete dieser, wie er unten in den Weinbergen beinahe zum zweitenmal ohnmächtig geworden wäre und sich auf einen Grenzstein hätte setzen müssen, von wo aus er ganz in seiner Nähe einige der rothosigen Herren sehr rasch und fast ganz gedeckt zwischen den Weinbergen hätte Hinschlüpfen sehen. Dadurch hätte er eine ähnliche Mulde wie wir entdeckt, die sich hier oben mit der unsrigen vereinigen mußte, und als er uns so schnell nach jener Richtung vorgehen sah, hatte er den Sergeanten und die von diesem gesammelten Leute, meistens meinen „Unausgebildeten“ angehörig, schleunigst dorthin geführt.

„Das haben Sie brav gemacht, Tilmanns,“ sagte ich, als er geendet hatte. „Aber jetzt können Sie sich auch ’mal nach einer anderen Richtung hin auszeichnen. Geben Sie mir ’mal Ihre stets gefüllte Feldflasche; ich falle fast um vor Durst!“

„Das thut mir sehr leid, Herr Lieutenant, aber es ist kein Tropfen mehr darin!“ erwiderte er errötend. „Wie es mir da drunten zum zweitenmal grün und schwarz vor den Augen werden wollte, da habe ich die ganze Flasche auf einen Zug ausgetrunken; das hat geholfen!“

„Na, na,“ meinte der Feldwebel, der bisher mit stummem Kopfschütteln zugehört hatte, „die ganze Flasche auf einen Zug? Werden denn das … Ihre Beine vertragen können?“ Es lag aber diesmal keine ironische Betonung auf seinen Worten.

„Hoffentlich halten sie noch aus, bis wir den Sieg sicher haben,“ war die einfache Antwort.

Und sie hielten aus, bis der Geisberg erobert, die feindliche Armee in voller Flucht war und bis „Das Ganze – Halt!“ am Nachmittage nach zwei Uhr unserem ersten Schlachttage ein Ende machte.

Als ich nach eingebrochener Dunkelheit vom Verbandplatze wieder bei der Compagnie eintraf, fand ich den Gefreiten in tiefem Schlaf auf einem Bund Stroh liegen und in seiner Nähe saß Schmidt auf einem Holzblock, seine Pfeife rauchend und den Schlafenden mit einem eigentümlichen Gemisch von Zärtlichkeit, Staunen und Aerger betrachtend. Als er mich kommen sah, ging er mir entgegen und sagte: „Der arme Junge! Ich habe drunten in Riedselz eine Ochsenzunge und ein paar Brötchen ergattert; davon hat er essen müssen. Und eine ganze Flasche Wein hat er dazu getrunken!“ Damit deutete er auf zwei leere Weinflaschen, die neben dem Strohbund lagen.

„Und die andere?“ fragte ich lächelnd.

„Eine er und eine ich! Ich glaube wirklich, er wird noch einmal mit der Zeit ein ganz braver Soldat!“

„Das ist er schon heute, Feldwebel. Verdanken wir ihm doch beide sozusagen unser Leben!“

Daß unsere heute gewonnene Ansicht über den Gefreiten Tilmanns die richtige war, bewies er bereits zwei Tage später in der blutigen Schlacht von Wörth, die unserem Regiment so schwere Verluste brachte, wie sie wohl kaum ein anderer Truppenteil während des Feldzuges an einem Tage erlitten hat. Allerdings verlor ich Tilmanns bereits am frühen Morgen des 6. August aus den Augen, doch wußte mir der Feldwebel, in dessen Nähe er während der ganzen Schlacht geblieben, nicht genug Rühmliches über ihn zu erzählen. Wir hatten auf Vorposten gelegen, als wir von den Franzosen schon gegen halb acht Uhr überraschend angegriffen wurden. Wir hatten die Angreifer in den Niederwald zurückgetrieben, waren jedoch in dem nun folgenden, stundenlang andauernden, äußerst hartnäckigen und verlustreichen Waldgefecht gegen die Turkos, jene wilden afrikanischen Horden des zweiten Kaiserreichs, auseinander gekommen. Den ganzen Tag über hatten wir mit Mannschaften der verschiedensten Regimenter, wie sie der Zufall gerade zusammengeführt, in treuer Waffenbrüderschaft Schulter an Schulter gekämpft, so daß wir erst spät abends, teilweise auch erst am nächsten Tage unsere Versprengten wieder sammeln und unsere furchtbaren Verluste feststellen konnten. Da erfuhr ich denn vom Feldwebel, wie Tilmanns den tödlich verwundeten Premier auf seinen Mantel gebettet, ihn mit Hilfe von Schmidt und zwei Musketieren aus dem Wald und unter dem furchtbarsten feindlichen Feuer über eine freie Wiese in Sicherheit gebracht hatte. Ich hörte, wie er sich an diesem und jenem gefährlichen Punkte vorzüglich benommen, kurz wie er sich derart [531] ausgezeichnet hatte, daß ihn unser Major zur Beförderung zum Unteroffizier vorschlug und später zum Eisernen Kreuze eingab.

Die Beförderung konnte ich ihm einige Tage später selbst überbringen, denn ich war infolge der Schlacht von Wörth Bataillonsadjutant geworden, und als sie morgens beim großen Rendezvous durch Regimentsbefehl bekannt gegeben worden war, suchte ich sogleich meine alte Compagnie auf, um Tilmanns persönlich Glück zu wünschen. Ich konnte ihn nicht gleich finden, und so fragte ich den Feldwebel, der mir gerade in den Wurf kam:

„Sagen Sie ’mal Schmidt, wo ist denn unser ‚Drückeberger‘? Ich wollte ihm etwas sagen, kann ihn aber nirgends sehen. Sollte er vielleicht gerade mit der Chausseegrabenverzierung beschäftigt sein?“ Meine gutgemeinte Anspielung fand jedoch keinen Beifall, denn er antwortete mir steif militärisch mit mürrischem Ton: „Einen Drückeberger besitzt die Compagnie nicht! Wenn aber der Herr Lieutenant den Gefreiten Tilmanns meinen ...“

„Nein, Herr Feldwebel, ich meine diesmal den Unteroffizier Tilmanns!“

„Den Unteroffizier Tilmanns?“ und sein grämliches Gesicht fing an sich aufzuheitern. „Na, das freut mich, freut mich sehr, Herr Lieutenant. Der arme Junge! Ihm wird’s auch ein Trost sein. Na, verdient hat er’s jedenfalls!“

„Wo steckt er denn aber? Ich will es ihm selbst sagen und gratulieren. Wo finde ich ihn nur?“

„Auf dem Wagen, Herr Lieutenant!“ und Schmidt zog wieder sein grimmigstes Gesicht.

„Was? Auf dem Wagen? Haben Sie ihm also doch noch Achsen und Räder unter machen müssen? Und nun heißt’s wohl: Zurück zum ‚Schwamm‘! und zwar so fix als möglich?“

„Ja, leider, Herr Lieutenant, leider!“ er war ganz traurig geworden. „Es wird nichts andres übrig bleiben. Der arme Junge! Er ist krank, schon seit zwei Tagen. Dysenterie! Er hat sich nichts merken lassen wollen und hat sich mitgeschleppt – ich habe ihm abends immer Glühwein und Bouillon gebracht, aber es hat nichts geholfen, er hat’s nicht bei sich behalten können. Heute ging’s nicht mehr, wir haben ihn auf den Wagen legen müssen, und morgen früh muß ich’s dem Stabsarzt melden. Dann heißt’s: Zurück! – er mag wollen oder nicht!“

Bisher hatte ich nicht an etwas Ernsthaftes geglaubt und hatte scherzen können, jetzt aber wurde ich besorgt.

„Gehen Sie rasch zu ihm, Schmidt. Ich hole den Stabsarzt!“

Wir fanden den neuernannten Unteroffizier auf dem Wagen in Krankendecken gehüllt, fürchterlich schwach, sonst aber in munterer Stimmung.

„Ich habe doch noch meine eigene Equipage bekommen, Herr Lieutenant,“ meinte er mit mattem Lächeln, als ich ihm die Hand schüttelte, „und, nicht wahr, Herr Stabsarzt, Sie schicken mich nicht zurück zum Ersatzbataillon? In einem, höchstens zwei Tagen bin ich wieder gesund!“ Allein der Arzt schüttelte den Kopf: „Wollen sehen – wollen sehen! – Gratuliere übrigens zum Unteroffizier. – Komme heute abend nochmal nachsehen im Quartier.“

Am anderen Morgen standen der Feldwebel und ich Abschied nehmend neben dem Leiterwagen, welcher den Unteroffizier Tilmanns zurück nach dem ersten Lazarett bringen sollte.

„Nun muß ich also doch zurück zum ‚Schwamm‘!“ sagte der Kranke traurig. „Sie haben recht behalten, Herr Feldwebel!“

„Machen Sie sich nichts daraus, Herr Unteroffizier. So tüchtige Leute, wie Sie, können sie auch beim Ersatz gut brauchen,“ tröstete dieser und „Auf Wiedersehen in Mainz!“ grüßte ich, denn der Wagen zog an.

„Ich komme wieder!“ klang noch seine schwache Stimme durch das Rollen der Räder, dann war „unser Drückeberger“ verschwunden.

Wiedergesehen habe ich ihn im Laufe des Feldzuges nicht mehr, denn wenn er auch wieder zur Compagnie kam, als das Regiment vor Paris lag, so war doch ich damals abkommandiert und im Januar 1871 wurde er bei einem Nachtgefecht verwundet, so daß er zum zweitenmal nach Mainz geschickt wurde und den Rückmarsch nicht mitmachte. Als sich aber am Morgen des 8. Juli 1871 das Regiment am Chausseehaus zu Mariaborn zum feierlichen Einzug in seine alte Garnison Mainz aufstellte, da war auch der Vicefeldwebel der Reserve Tilmanns erschienen, um in den Reihen der Compagnie, mit welcher er ausgerückt war, an den Ehren der Einzugsfeierlichkeit teil zu nehmen.

Am Abend desselben Tages aber saßen drei mit dem Eisernen Kreuze Dekorierte noch sehr spät bei einer guten Flasche echten alten Rheinweins beisammen, und diese Drei waren der Feldwebel Schmidt, meine Wenigkeit und der Vicefeldwebel Tilmanns, welch letzterer am nächsten Tage abreisen wollte, um seine unterbrochene Lehrthätigkeit wieder aufzunehmen. Heute indes bewies er uns noch, daß Schmidt nicht unrecht gehabt, wenn er von einem strammen Soldaten verlangte, daß er auch „’nen strammen Schtiebel“ vertragen müsse. Mein letzter Trinkspruch damals aber hatte gelautet: „Auf das zukünftige Wohlergehen unseres lieben wackeren Drückebergers mit dem Eisernen Kreuze!“ Meine späteren Erinnerungen sind nicht ganz klar, und wenn ich auch bestimmt weiß, daß der alte Feldwebel noch eine sehr lange Rede gehalten hat, so kann ich doch über deren mutmaßlichen Inhalt keinerlei Aufzeichnungen in meinem Kriegstagebuch finden.