Unfall oder Mord?
Die Stilfserjochstraße in Tirol, bekanntlich der höchste (8610 Pariser Fuß) fahrbare Hochalpenpaß in Europa, ist ein im wahren Sinne des Wortes hochinteressanter Kunstbau, der, eine Reihe von Jahren von der österreichischen Regierung arg vernachlässigt, nun wieder vorzüglich in Stand gehalten und von Reisenden aller Nationen in den Monaten Juni bis October lebhaft befahren und begangen wird. Sie verläßt zwischen den Poststationen Mals und Eyers bei dem einsam gelegenen Gasthofe Spondinig die tiroler Reichsstraße, überschreitet die Etsch und verläßt nach Pràd das breite sonnige Thal des Vintschgaues. Ueber kühn gespannte Bogenbrücken, durch wildromantische Schluchten führt die Straße aufwärts zu dem herrlich gelegenen Dorfe Trafoi, erklimmt an den Abhängen und Geröllhalden die 6700 Pariser Fuß hoch gelegene Poststation Franzenshöhe und weiter, in unzähligen Windungen, das Stilfserjoch (auch häufig Wormserjoch genannt). Die Straße, so kühn in ihrer Anlage, gehört dennoch zu den sichersten Fahrstraßen der Alpengebiete, und mit Ausnahme einiger Ruinen, ehemaliger Wegeinräumer-Häuser, welche in ihrer Zerstörung Zeugniß geben von den heftigen Kämpfen, die hier wiederholt zwischen tiroler Scharfschützen und italienischen Freischärlern stattgefunden, finden wir keine der in Tirol üblichen, an Unglücksfälle mahnenden Martersäulen oder Votivtafeln. An vielen Orten sieht der Wanderer gewaltige, natürliche Felstunnels, durch die der Gletscherbach sich brausend drängt; er zieht hart neben den gewaltigen Eiscolossen der Ortlergruppe vorüber, deren Abstürze sich tief unten im Trafoier Thale verlieren; er wandelt über verschlissenes Gletschergestein, aber selbst in den unwirthbaren Höhen nahe dem Joche findet sich keine Stelle, die auch nur im Geringsten gefährlich erscheinen könnte.
Es war nun dem Sommer des Jahres 1876 vorbehalten, die vielgerühmte Sicherheit der Stilfserjochstraße in Frage zu stellen, da sich die Schreckenskunde verbreitete, es sei eine Dame bei einem Spaziergange nahe von Trafoi an der Straße verunglückt und durch einen Fehltritt in den Abgrund gestürzt. Für jene, welche die Gegend genau kennen, war diese Kunde um so überraschender, als der bezeichnete Platz, wo sich dieses Unglück ereignet haben sollte, nahezu alle Wahrscheinlichkeit eines zufälligen das Leben gefährdenden Sturzes ausschloß. Allen Reisenden, die je die Straße beschritten haben, wird ungefähr eine Gehstunde oberhalb Trafoi der Punkt unvergeßlich geblieben sein, wo in der Tiefe das Kirchlein „zu den drei Brunnen“ sichtbar ist und die wilden zerrissenen Gletscherhänge des Ortler und Madatsch (siehe Illustration) das Thal abschließen. Ein einfaches Kreuz und eine Ruhebank bezeichnen noch außerdem diese Aussicht an der „weißen Knot“. Kaum hundert Schritte von dort entfernt fand man die Leiche der verunglückten Dame, und bald erfüllten Gerüchte in wahrscheinlichen und unmöglichen Variationen die in furchtbare Aufregung versetzten Gemüther der Einwohner der Umgegend.
Der Glaube an eine natürliche Todesart der Verunglückten wurde durch das gleichgültige Benehmen ihres Mannes, der den Alpenbewohnern bald verdächtig wurde, sofort erschüttert, und nachdem vorübergehend die Idee eines Selbstmordes aufgetaucht, lispelte man erst leise, dann immer lauter und lauter das Wort: „Ein Gattenmord“. Auf Grund dieser Verdachtsgründe wurde der Gatte in London in Haft gehalten.
Wir lassen hier den authentischen Text des im Verhör mit dem wichtigsten Zeungen, dem Gasthofbesitzer Ortler in Trafoi, gerichtlich aufgenommenen Protokolls folgen. Dasselbe wurde den Polizeigerichten in London eingesandt.
„Am Sonntage, 16 Juli langten bei mir eine Dame und ein Herr in einem zweispännigen Wagen, von Spondinig kommend, an. Die Dame war groß und corpulent; die Herrschaften dinirten mit anderen Gästen im allgemeinen Speisesaale. Um zwölf Uhr verließen sie das Hotel in demselben Wagen. Die Dame sprach nur wenig. Ich sah ihr an, daß sie von Stande war. Sie trug sehr kostbare Schmucksachen, eine goldene Halskette von der Dicke eines Fingers, welche nur über den Kopf abgenommen werden konnte. Eine Chatelaine von Stahl, an der Seite hängend, fesselte besonders meine Aufmerksamkeit. Nachmittags kehrte der Kutscher ohne die Herrschaften wieder zurück. Gegen sechs Uhr traf der Herr, Namens Mr. Tourville, wieder ein, erzählte, daß seine Frau einen Fall gethan habe, und zeigte mit der Hand auf seine Schläfe, dabei bemerkend, daß sie in dieser Gegend verwundet sei und blute. Mr. Tourvillee war nicht aufgeregt, noch schien ihm die Affaire wichtig. Er ließ den Kutscher rufen und sagte ihm, seine Frau sei gefallen, an einem ungefähr eine halbe Stunde entfernt gelegenen Orte, er, der Kutscher, solle sie mit vier Leuten abholen. Ich schloß daraus, daß die Frau beim Kreuze nahe beim Wasserthale liege. Mr. Tourville verlangte dann Wein, von dem er jedoch sehr wenig genoß, blieb ungefähr eine halbe Stunde und befahl dann, daß der Wagen mit den Leuten ihm folge.
Gegen neun Uhr fingen wir an, die Sache in ernsterem Lichte zu betrachten, und bemerkten, daß, wenn die Dame nur
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Vor der Abfahrt wurde Mr. Tourville von mir visitirt, ich fand aber nichts. Als Zoller seine Beinkleider untersuchte, fragte ich ihn, was er in den Taschen habe, worauf er antwortete: ‚Eine Kette.‘ Er gab dieselbe heraus. In dem Wagen befanden sich auf der Rückseite ein Ueberrock, zwei Sonnenschirme und ein Regenschirm. Der Wagen war bereit und verließ uns, begleitet vom Inspector Zoller.“
Die weiteren Angaben Ortler’s beziehen sich auf ein gefundenes Taschentuch und Blutspuren an den naheliegenden Steinen, unter welchen man den Hut und die Ohrringe gefunden hat. Zeuge war der Ansicht, daß deren Lage unter den Steinen nicht allein vom Zufalle herrühre. Schließlich giebt er an, er habe gehört, daß das Ehepaar Tourville nicht im besten Einvernehmen gelebt habe. – Ein anderer Zeuge, der Gensd’armerieofficier Magnus Fritz, hat ausgesagt, daß er Blutspuren an den Beinkleidern Tourville’s entdeckt und daß er solche auch an zwei Fingern eines Handschuhes desselben bemerkt habe, die jedoch herausgerieben worden zu sein schienen. Bei der Todtenbeschauung durch die Gerichtscommission, bei welcher Tourville gegenwärtig gewesen ist, will der Zeuge Fritz denselben genau beobachtet und bemerkt haben, daß er sehr ergriffen gewesen sei und die Todte nur einmal habe ansehen können. Die Verlesung der sehr umfänglichen Zeugenaussage hat fast den ganzen Tag in Anspruch genommen, und ist schließlich vom Richter bestimmt worden, daß Tourville behufs Vervollständigung der Legalisirung anderer officieller Berichte aus Oesterreich noch weiter in Haft zu bleiben habe. Tourville zeigte bei der Verhandlung nur wenig Spuren von Aengstlichkeit.
Neuerdings wird gemeldet, daß Tourville am 30. December unter Escorte eines Policeman von London abgeführt und am 31. December in Hamburg dem Bezirksinspector des Wiener Central-Sicherheitsbüreau, Sabatzka, übergeben wurde, der ihn in Begleitung zweier Detectives nach Bozen gebracht hat. Die Affaire gelangt Anfangs Februar vor die Bozener Assisen, und werden wir noch darauf zurückkommen.