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Um eine Kleinigkeit

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Textdaten
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Autor: Jassy Torrund
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Titel: Um eine Kleinigkeit
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1–4, S. 12–16, 30–35, 46–51, 63–67
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[12]

Um eine Kleinigkeit.

Novelle von Jassy Torrund.

Franzel Wodrich sitzt am Fenster ihres elegant und behaglich eingerichteten Wohnzimmers, atmet den süß berauschenden Duft blühender Hyazinthen, die vor ihr auf dem Fensterbrett stehen, schaut in das prächtige Schneetreiben jenseit der hohen, klaren Glasscheiben hinaus – und sinnt und grübelt, zermartert ihr junges Hirn in schwerer Bedrängnis. Wie glücklich könnte sie sein – und wie elend ist sie! Seit Wochen schon! Und der Platz, wo sie auch in diesem Kummer Rat und Trost und Hilfe finden könnte, ist ihr genommen. Ihr Gatte ahnt nichts von all der Pein, die ihre Seele quält, die wie ein Alpdruck auf ihr lastet, ihr den Frieden des Tages und die Ruhe der Nächte raubt. Er darf und soll es auch nie erfahren – bis alles überstanden sein wird!

So sitzt sie nun schon seit Stunden, starrt auf den wehenden Schnee, als müsse sie jede einzelne Flocke zählen, und denkt doch nicht an den Schnee und nicht an den köstlichen Hyazinthenduft. Sie denkt an nichts, an gar nichts anderes, als daß sie in wenigen Wochen wie eine Verbrecherin auf der Anklagebank sitzen soll, den unerbittlichen Fragen der Richter, den staunenden neugierigen zudringlichen Augen des Publikums preisgegeben.

O guter Gott!

Das junge Weib zittert am ganzen Leibe, faltet die Hände krampfhaft zusammen und seufzt aus tiefstem Herzen.

Wie ist das alles doch nur gekommen?

Ach, wie soviel hundert schwere Dinge über uns kommen, ungeahnt und ungewarnt, und wie wir so manchem Verhängnis blindlings in die Arme laufen – um eine Kleinigkeit!

In irgend einem Geschäft hat die Regierungsrätin Wodrich etwas arbeiten lassen, was nicht nach ihrem Wunsche ausfiel. Sie verweigerte die Annahme, sagte ein paar laute hastige tadelnde Worte; der Kaufmann, der sich in seiner Geschäftspraxis benachteiligt glaubte, wurde grob, was die feine junge Frau natürlich noch mehr reizte. Ein Wort gab das andere, und als Franziska endlich das Geschäft verließ, schrie der erzürnte Mann hinter ihr her, sie hätte ihn beleidigt, er würde sie verklagen. Trotz ihrer Aufregung mußte sie lachen, die ganze Affaire kam ihr so unglaublich kindisch vor, aber der Mensch hielt Wort. Er citierte sie zunächst vor den Schiedsrichter, und da sie nicht hingegangen war, hatte er sie thatsächlich verklagt. Seit zwei Tagen lag diese unselige Anklage im tiefsten Fach von Franzels Schreibtisch verborgen. Und ihr Gatte ahnte nichts davon! Sie saß an seinem Tisch, sie ruhte in seinen Armen – sie, eine Angeklagte! Und sie hatte nicht das Herz, ihrem natürlichen Beschützer das Schreckliche einzugestehen – das war ja eben das Schlimmste bei der ganzen Sache!

Vor einiger Zeit nämlich, als eine bekannte Dame in einer dummen Dienstbotenangelegenheit vor Gericht mußte – eine Sache, die sehr viel Staub aufwirbelte und durch alle Lokalblätter ging – da hatte Regierungsrat Wodrich mit großem Ernst gesagt: „Nimm Dir daran ein warnendes Beispiel, Franzel! Du hast auch immer den Mund so vorweg und redest oft hastige Worte. Wenn Du mir das jemals anthätest – meine Frau vor Gericht, dem skandalsüchtigen Publikum preisgegeben! Höre, Franziska, ich wüßte nicht, was ich thäte! Ich glaube, ich könnte Dir nie verzeihen!“

Und Franzel mit ihrem guten Gewissen hatte ihm damals die strenge richterliche Miene fortgeplaudert und fortgeküßt und nun, kaum ein Vierteljahr später, war es wahrhaftig mit ihr selber so weit gekommen! O Gott, mein Gott!

In all dem dumpfen Angstgefühl, das ihre Seele bedrückte, war ihr zunächst nur das Eine klar geworden: Ernst durfte nichts wissen, bis alles vorüber sei und sie freigesprochen wäre. Sie mußte ja freigesprochen werden, sie war ja in ihrem Recht! Aber bis dahin, bis dies erlösende Wort gesprochen wäre, mußte sie die schwere Last allein tragen. Regierungsrat Wodrich, der strengdenkende pflichttreue Beamte, sollte nicht eine Sekunde lang erröten oder die stolze Stirn beugen müssen in dem demütigenden Bewußtsein, daß seine Frau, die Hüterin von seines Hauses Ehre, eine Angeklagte sei.

Dieser eine Punkt also stand unumstößlich fest in Franzels Seele, und wahrlich, es bedurfte einer großen Energie für die lebhaft empfindende kleine Frau, ihren tapferen und dennoch so thörichten Entschluß durchzuführen. Aber es gelang. Sie ging im Hause umher wie sonst, sie lachte und scherzte mit ihrem Gatten, sang ihm seine Lieblingslieder und spielte ihre abendliche Schachpartie mit ihm. Kurz, die kleine Heldin ließ sich nicht das geringste anmerken. Nur, wenn sie allein war, dann kam der Kummer zum Durchbruch, dann durchfröstelte die Angst gleich einem Fieber ihre junge Seele. Was thun, was thun?

Sie hielt es endlich nicht mehr aus und holte sich Rat bei einer alten Freundin, die sie auf jenem Unglückswege begleitet hatte und somit ungewollt ihre Zeugin geworden war.

„Du mußt es Deinem Manne sagen!“ war das erste Wort, das die erschrockene alte Dame ihr erwiderte.

„Tante Rätin, ich kann nicht! Sieh …“ und nun legte sie ihre Gründe klar und sprach so fest, so eindringlich, so überzeugend, daß sogar die erfahrene Frau ihr recht geben mußte.

„Ja, wenn die Eltern hier wären, denen würde ich’s schon sagen. Aber so – sie würden sich höchstens ängstigen, und helfen könnten sie mir ja doch nicht!“ Franzel schwieg und sah ihre alte Freundin mit großen kummervollen Augen an.

„Hast Du denn niemand in der Nähe, der Dir raten könnte, keinen Freund, keinen Verwandten?“ begann die Rätin aufs neue und strich dem bekümmerten jungen Weibe liebevoll die verwirrten Haare aus der Stirn.

Franzel schüttelte den Kopf.

„Verwandte? nein. Die Brüder sind beide in Berlin, das weißt Du ja. Vettern habe ich nicht, aber …“ sie stockte, eine flüchtige Röte kam und ging auf ihrem blassen sorgenvollen Gesichtchen.

„Nun?“

„Ich hätte wohl einen Freund,“ sagte Franzel langsam und nachdenklich. „Der ist noch dazu Rechtsanwalt, und ich weiß, er würde sicher alles thun, um mir zu helfen.“

„Aber, Herzel, daß mir das nicht gleich einfiel! Siehst Du, einen Rechtsanwalt brauchen wir ja gerade. Zu dem mußt Du gehen, dem mußt Du alles sagen. Ganz offen, wie einem Beichtvater. Der wird dann schon alles in Ordnung bringen. Vielleicht vertritt er Dich, und Du brauchtest dann gar nicht erst vor Gericht.“

„Ja, – aber …“

„Aber was?“

„Ich fürchte, Ernst würde es nicht gern sehen, wenn ich zu dem Rechtsanwalt ginge.“

„Warum denn nicht?“

„Weil, weil – – ach, weißt Du, Tantchen, der hat mich nämlich früher ’mal sehr lieb gehabt und wollte mich heiraten. Aber ich hatte doch nur Ernst im Sinn und mochte von keinem anderen etwas hören.“

„Das ist freilich dumm,“ bemerkte die alte Dame kopfschüttelnd. „Da mußt Du schon zu einem anderen gehen.“

[14] „Zu einem ganz fremden?“ – Die Frauen blickten sich ratlos an. Nach einer Weile meinte Franzel zaghaft: „Das würde Ernst ebenso ungern sehen.“

Frau Lorenz lächelte. „Den will er nicht, und den will er auch nicht – was bleibt uns da? Wie heißt denn der Bewußte?“

„Doktor Sonnenthal.“

„Sonnenthal, so! Weißt Du, Franzel, der soll aber gerade sehr tüchtig sein.“

Franziska nickte. „Das war er schon früher, und er hat mich gebeten, wenn er mir je im Leben einmal nützen könne, mich an ihn zu wenden. Er würde mir stets der treueste Freund bleiben.“

„Nun also! ’s ist schon einerlei, Franzel. Wie wir die Sache auch drehen, einen Rechtsanwalt müssen wir haben. Und ich meine, da gingen wir am ehesten zu dem, der Dich kennt. Da weiß er doch gleich, mit wem er zu thun hat, und wird Deine Sache schon durchbringen. Ich begleite Dich, so kann kein Mensch etwas darin finden. Selbst Dein Mann nicht. Also abgemacht, Kleine?“

„Abgemacht!“ stimmte Franziska, wenn auch mit innerem Widerstreben, zu und legte ihre kleine kalte Hand in jene der Freundin.

„Und morgen nachmittag um vier Uhr gehen wir hin.“

Franziska ging nach Hause, um nichts getröstet; im Gegenteil, zu der einen Last, die sie trug, kam noch eine neue, schwerere hinzu. Aber wie sie auch sann, einen anderen Ausweg fand sie nicht. So blieb es eben dabei.

Am nächsten Nachmittag, als ihr Mann ins Bureau gegangen war, bereitete Franzel sich schweren Herzens zu dem heimlichen Gange vor. Im Begriff, ihre Pelzmütze aufzusetzen, ward ihr ein Besuch gemeldet, was die junge Frau in nicht geringe Bestürzung versetzte. Ehe sie noch eine ausweichende Antwort geben konnte, folgte der Gast dem meldenden Mädchen ins Wohnzimmer nach. Es war ein Fräulein von Hagen, eine ältliche Cousine des Regierungsrates, die seinem Hauswesen mehrere Jahre lang vorgestanden, seit seiner Verheiratung aber die junge Frau unter ihre Fittiche genommen und nach Kräften bemuttert hatte – sehr gegen Franzels Willen freilich, aber daran war leider nicht viel zu ändern.

Zu dieser Stunde wäre Franziska Wodrich wohl von keinem Besuch sonderlich erbaut gewesen – der Anblick dieser liebenswürdigen Cousine brachte sie indes völlig um ihre Fassung. Die Dame ließ ihr übrigens nicht Zeit, irgend etwas, vielleicht recht Unliebenswürdiges, zu sagen; sie eilte auf Franziska zu, begrüßte sie mit viel schönen Worten und fing sogleich wieder mit dem Bemuttern an, indem sie vorwurfsvoll sagte: „Bei diesem tollen Wetter willst Du doch nicht etwa ausgehen, Franziska?“

„Du bist doch auch ausgegangen,“ erwiderte die junge Frau mit schlagender Logik.

„Ich? ja, liebes Kind, das ist auch ganz ’was anderes. Dich bläst ja der Wind um, so klein und zart, wie Du bist. Du bist eben ein Nippfigürchen, Franziska, das vergißt Du immer wieder.“

„Danke für die Rolle! – Uebrigens gehe ich nicht allein, Frau Rätin Lorenz kommt mich abholen. – Aber bitte, setze Dich doch, ich habe noch ein wenig Zeit,“ fügte Franziska mit einer reumütigen Anwandlung hinzu, weil sie einsah, daß sie ihre Hausfrauenpflichten diesem Gast gegenüber doch gar zu sehr vernachlässigte.

„Bitte, bemühe Dich nicht,“ erwiderte Aurelie von Hagen kühl, indem sie sich einen Stuhl herbeizog. „Also mit Frau Lorenz. Sag’ mir bloß, was Du an der alten Person hast.“

Franziska, die im Zimmer hin und herging, wandte hastig den Kopf und blickte die Fragende mit ihren dunklen Augen zürnend an. „Frau Lorenz ist ehrlich, klug und gut, drei Eigenschaften, die ich sehr hoch schätze. Und im übrigen bitte ich Dich, in anderem Ton von meinen Freunden zu reden.“

Fräulein von Hagen hatte ihren Kneifer aufgesetzt und die junge Frau mit sichtlichem Amusement betrachtet. „Rege Dich nicht auf, Kleine! Erzähle mir lieber, wohin Ihr geht, Du und die Frau Lorenz.“

„Einkäufe machen,“ entgegnete Franziska kurz.

„So – das ist mir lieb. Da ich auch einiges zu besorgen habe, werde ich mich anschließen, wenn Ihr nichts dagegen habt.“

Franzel titulierte sie im stillen eine unausstehliche aufdringliche Person und grübelte über einen Ausweg, sie los zu werden. Doch ehe sie sich hierüber klar wurde, klopfte es, und die Rätin Lorenz trat herein.

„Bist Du bereit, Franzel? – Ah, guten Tag, Fräulein von Hagen, Sie entschuldigen wohl, daß ich Ihnen meine kleine Freundin entführe?“

„Ich sei, gewährt mir die Bitte, in Eurem Bunde die dritte!“ citierte Aurelie und zupfte vor dem Spiegel ihre weiße Riesenboa zurecht, indes sie beide Damen scharf beobachtete. Sie mußte lächeln. Franzel wechselte einen ratlosen Blick mit der alten Freundin ihrer Mutter, doch diese nickte ihr zu, als wenn sie sagen wollte: „Laß mich nur machen!“

So begaben sich die drei Damen auf ihre Wanderung, Frau Lorenz machte zum Schein einige Einkäufe, als Fräulein von Hagen sich jedoch immer noch nicht entschloß, sie zu verlassen, sagte sie plötzlich: „Kinder, ich bin müde geworden, will mich bei meiner Nichte etwas ausruhen. Franzel, kommst Du mit?“

Diesen Wink mußte Aurelie verstehen. Sie empfahl sich, aber während sie allein weiter ging, zerbrach sie sich den Kopf mit allerlei wunderlichen Gedanken.

„Was sie wohl vorhaben? sie wollten mich doch zu gern los sein! Franziska war auch so sonderbar verstört, als ich zu ihr kam. Da ist etwas nicht in Ordnung!“ Ihr nie ruhendes Mißtrauen war wieder einmal wach geworden – sie machte kehrt und ging mit schnellen Schritten denselben Weg zurück. Frau Lorenz war nicht gut zu Fuß, und dazu der starke Wind – so durfte sie hoffen, die beiden Damen einzuholen. Und richtig, als Aurelie den Obstmarkt erreichte, sah sie dieselben, gegen den Wind ankämpfend, quer über den menschenleeren Platz gehen. Hastig folgte sie ihnen nach. Sie brauchte nicht weit zu gehen, an einem stattlichen Hause der Hauptstraße blieben die Damen sekundenlang wie zögernd stehen. Aurelie glaubte deutlich zu erkennen, wie Frau Lorenz auf Franziska einsprach, dann betraten beide das Haus.

„Also hier wohnt ‚die Nichte‘,“ sagte Fräulein von Hagen spöttisch, als sie eine Minute später an dem nämlichen Hause vorüberging. Ein Schild neben der Hausthür fiel ihr auf – sonderbar, sie hatte es nie zuvor bemerkt. „Sonnenthal, Dr jur. Sonnenthal,“ sprach sie vor sich hin; sie prägte sich unwillkürlich den Namen ein und ging dann ruhig ihrer Wege.

Der Besuch bei Doktor Sonnenthal war nicht halb so peinlich, wie Franzel sich denselben ausgemalt. Nach der ersten, etwas verlegenen Begrüßung nahm Frau Lorenz das Wort und klärte den Rechtsanwalt über Franzels Anliegen auf. Sie deutete auch an, daß Regierungsrat Wodrich von der ganzen Geschichte nichts erfahren solle, weil es ihm grenzenlos peinlich sein würde, seine Frau als Angeklagte zu wissen.

Doktor Sonnenthal hörte sie aufmerksam an, richtete einige sachgemäße, scharf präzisierte Fragen an Franziska, dann sagte er ruhig: „Haben Sie keine Sorge, gnädige Frau! Soweit ich die Sache beurteilen kann, sind Sie vollständig in Ihrem Recht. Ich werde Ihnen den Fall vorlegen, wie ich denselben nach Ihrer Erzählung ansehe. Also: Sie machen eine Bestellung bei dem Kaufmann Müller. Diese Bestellung wird miserabel ausgeführt. Sie verweigere die Annahme, gehen zu dem p. p. Müller und sagen ihm in aller Ruhe Ihre Meinung. Darauf wird der Mann grob, zieht Ihre Glaubwürdigkeit in Zweifel, insultiert Sie. Sie bestehen auf Ihrem Recht, werden heftig und sagen, das sei ein schönes Geschäft, das nicht einmal Garantie für seine Waren übernähme. Habe ich recht verstanden.“

„Ja,“ nickt mit heißen Wangen die junge Frau, die bei der klaren Darlegung des Rechtsanwaltes die ganze peinliche Scene noch einmal wieder durchlebt.

„Sie haben trotz Ihrer Erregung kein Schimpfwort gebraucht, gnädige Frau?“

„Nein,“ erwidert die Angeredete fest.

„Hätt’s mir auch nicht denken können,“ murmelt Doktor Sonnenthal. Dann schweigt er und scheint angestrengt nachzudenken. Franziska streift sein weiches und dennoch energisches kluges Gesicht mit einem ängstlich forschenden Blick. Da hebt er das Auge und sieht die junge Frau an – sein Blick hat etwas, das sich nicht leicht beschreiben läßt – zuversichtlich und vertrauenerweckend zugleich.

„Sie haben die Ihnen zur Last gelegten Schimpfworte ‚Lump‘ und ‚Schwindelgeschäft‘ nicht gebraucht, der Mann muß Sie also [15] völlig mißverstanden haben. Er beschuldigte Sie, ihn beleidigt zu haben – was thaten Sie?“

„Ich mußte lachen, denn ich hielt die ganze Geschichte für eine große Kinderei, und ging meiner Wege.“

Bei dem naiven Geständnis der jungen Frau mußte Doktor Sonnenthal selber lächeln. Er strich sich schmunzelnd seinen dunklen Schnurrbart, wandte sich mit einem Ruck zu der älteren Dame herum und fragte, sie mit seinen glänzenden durchdringenden Augen anblickend. „Und Sie waren Zeuge, Frau Rätin? Sie waren von Anfang bis zu Ende dabei?“ „ Jawohl. Ich habe gehört, daß Frau Wodrich heftig wurde, – ein Schimpfwort hat sie nicht gebraucht, und ihre Heftigkeit war durch die Grobheit des Kaufmannes provoziert worden,“ sagte die alte Dame ruhig.

Der Rechtsanwalt stellte noch ein paar Fragen, machte sich einige Notizen – damit war die Sache erledigt. Der vielbeschäftigte Mann geleitete selbst die Damen bis zur Thür. „Beunruhigen Sie sich nicht, gnädige Frau, Sie haben eine ausgezeichnete Zeugin – wir werden schon reüssieren. Und im übrigen,“ fügte er mit seinem weichen angenehmen Lächeln hinzu, „möchte ich Ihnen doch raten: lassen Sie all Ihre Bedenken schweigen und teilen Sie Ihrem Gemahl die ganze Affaire mit. Dies ist der Rat eines Freundes. Geheimnisse in der Ehe thun selten gut, gnädige Frau! Solche Erfahrungen habe ich in meiner Praxis schon oft genug gemacht.“

Er drückte ihr warm die Hand und empfahl sich; im Vorzimmer wartete schon eine ganze Reihe von Menschen, die seines Rates bedurften.

„Laß uns, bitte, eine Droschke nehmen, Tante Rätin, mir ist so schwindlig,“ sagte Franziska, als sie die Treppe hinuntergingen. Frau Lorenz sah ihr besorgt in das blasse Gesicht. „Das thut die Aufregung all dieser Tage. Leg’ Dich nur zeitig ins Bett, Franzel, und denk’ nicht mehr an die dumme Geschichte!“

Als Franziska nach Hause kam, erfuhr sie zu ihrer Verwunderung durch die alte Dienerin, die ihr die Flurthür öffnete und den Mantel abnahm, daß der Herr schon seit einer Stunde zu Hause sei.

Regierungsrat Wodrich hatte in den letzten Wochen sehr angestrengt arbeiten müssen und war stets erst in später Abendstunde aus dem Bureau gekommen. Um so mehr war Franziska durch seine heutige frühe Heimkehr überrascht und beinahe erschreckt. Sie legte rasch Hut und Handschuhe ab und betrat das Zimmer ihres Gatten.

Der Regierungsrat war im Vergleich mit seiner Frau kein junger Mann mehr. Sein Haar war an Stirn und Schläfen stark gelichtet und begann zu ergrauen, aber seine hohe, stattliche Gestalt, sein feines, geistreiches Gesicht mit den ernst und gütig blickenden Augen ließen es selbst einem Fremden vollkommen begreiflich erscheinen, daß die kaum zwanzigjährige Franziska Ellwege seine Bewerbung angenommen hatte. Ernst Wodrichs Freunde aber wußten, daß die junge Frau mit einer an Verehrung grenzenden Liebe an dem Mann ihrer Wahl hing.

Als Franziska das Arbeitszimmer ihres Gatten betrat, saß er, mit dem Rücken ihr zugewandt, vor dem Kaminofen und schien zu ruhen. Dies war etwas so Ungewöhnliches an dem sonst so rastlos thätigen Mann, daß die junge Frau bis ins Herz hinein erschrak. Leise ging sie zu ihm hin, legte die Arme um seinen Hals und fragte liebevoll. „Bist Du krank, Ernst?“ Zugleich forschten ihre Augen voll ängstlicher Besorgnis in seinem Antlitz. Es sah blaß und übermüdet aus. Ernst zog das junge Weib auf seine Kniee nieder.

„Man wird alt, Franzel, das Arbeiten strengt an, der Kopf thut weh. Du hättest Dir einen Jüngeren aussuchen sollen,“ scherzte er mit müdem Lächeln.

Sie streichelte ihm mit der kleinen weichen Hand die blasse Wange. „Rede nicht so, Liebster! Was hätte ich wohl mit einem anderen anfangen sollen? Niemand weiß mich so treu und gut und liebevoll zu führen wie Du!“ Dabei legte sie das dunkle Köpfchen mit dem schneefeuchten Haar auf seine Schulter – das Herz war ihr so centnerschwer, und ihre Gedanken drehten sich immerfort in irrem Kreislauf. Warum mußte sie auch gerade jetzt den schwersten Weg ihres Lebens allein gehen – ungeleitet von seiner treuen sicheren Hand? Sie wollte sprechen, ihm alles eingestehen und wagte es doch nicht in dieser Stunde, wo er übermüdet von der Last seines Berufes heimgekehrt war, um an seinem Herde Ruh’ und Frieden zu finden. So kauerte sie ganz still auf seinem Schoß, wie ein im Schlaf zusammengeducktes Vögelchen, von Zeit zu Zeit lief ein Zittern – sie wußte selbst nicht, war’s ein innerlicher Schauder oder körperliches Frostgefühl – über sie hin. Ernst faßte nach ihren Händen, sie waren eiskalt.

„Wo warst Du, Franzel?“ fragte er. „Du hättest bei dem Sturm lieber zu Hause bleiben sollen. Klingle doch, Kind, und bestelle den Thee!“

Franziska sprang auf. „Ich bin doch immer noch der alte unverbesserliche Ego, wie meine Brüder früher sagten,“ seufzte sie. „Statt an Dich zu denken, lasse ich Dich immer nur für mich sorgen. Verzeih’, Liebster, und habe Geduld mit mir – ich will mich nun auch wirklich bessern!“

Sie lief hinaus, trieb das Stubenmädchen, die schon den Theetisch deckte, zu noch größerer Eile an und half der alten Köchin Rieke, die ihr nicht schnell genug war, ein zartes saftiges Beefsteak, wie Ernst es liebte, für ihn zu bereiten. Aber er aß nicht, er hatte schlechten Appetit diesen Abend, entschuldigte sich mit Uebermüdung und rasenden Kopfschmerzen und legte sich auf Franzels Bitten zeitig ins Bett. Sie selbst blieb an seinem Bett sitzen, machte ihm kühlende Umschläge auf den schmerzenden Kopf und pflegte ihn mit sanften geschickten Händen wie eine barmherzige Schwester.

„Es ist ja ordentlich beneidenswert, krank zu sein und sich von Dir pflegen zu lassen, Franzel,“ sagte Ernst, zog die kleine nasse Hand, die ihm behutsam die Kompresse auf die Stirn legte, an seine brennenden Lippen und küßte sie.

Franziska dachte nicht mehr an ihr eigenes Unwohlsein, das wohl nur durch die Angst und Aufregung der letzten Tage verschuldet war, sie pflegte ihren Gatten die ganze Nacht, und da es gegen Morgen nicht besser wurde, schickte sie zum Arzt.

„Ueberanstrengung natürlich! Hat zu toll gearbeitet. Pflegen Sie ihn nur gut, Seelchen, und halten Sie ihn hübsch in Ruhe und jede Aufregung fern. Dann kommen wir hoffentlich über den Berg.“ Der alte Hausarzt reichte Franziska die Hand, griff jedoch im nächsten Augenblick nach ihrem Puls und schaute ihr mit seinen großen runden Brillengläsern aufmerksam ins Gesicht. „Hm, hm – selber nicht ganz taktfest,“ murmelte er kopfschüttelnd. „Na – Ruhe, Ruhe, liebes Seelchen! Pflegt Euch nur alle beide, Ihr könnt’s ja haben!“ Damit ging er und ließ Franziska allein.

Zum erstenmal allein am Krankenbett eines geliebten Menschen! Ernst lag in unruhigem Halbschlummer, Franzel stand leise auf und zog die Vorhänge zu, damit die blendende Wintersonne den Schlaf des Kranken nicht störe. Dann saß sie regungslos am Fußende von Ernsts Bett, von Zeit zu Zeit nur die verordneten Eisumschläge erneuernd; und nun, in dieser beängstigend tiefen Stille, in dem freudlosen Halbdunkel des Krankenzimmers, kroch wieder die Sorge wie ein häßliches Gespenst über das zitternde Herz des jungen Weibes.

Ernst krank und sie – allein und hilflos mit ihrem doppelten Kummer! Sie war so fest entschlossen gewesen, ihm alles zu gestehen! Ja, sie hatte sich an diesen Gedanken des Bekennens schon wie an einen kommenden Trost geklammert – und nun war ihr auch der wieder genommen, und sie war allein!

Allein“ – wie das Wort sie ängstigte! Sie hatte noch nie im Leben allein gestanden; nicht als Mädchen, wo die zärtliche Sorge der Eltern ihr alles Unangenehme, alles Traurige fernhielt, wo treue Hände sie vor jeder rauhen Berührung des Lebens hüteten; erst recht nicht, seit sie Ernst Wodrichs Gattin war. Wie hatte er sein junges Weib auf Händen getragen, wie war, seit ihrer Hochzeit, alles so klar, so licht, so sonnig gewesen, so reich an innerem Glück und tiefster Herzensbefriedigung! Und immer waren sie beide Hand in Hand gegangen; jede geringfügige Sorge, jede kleinste Kümmernis hatten sie geteilt, und Ernst hatte, bald scherzend, bald mit geduldiger Güte ihre zagende Seele davon befreit. Und jetzt, gerade jetzt, wo zum erstenmal der Ernst des Lebens an sie herantrat, stand sie allein, und ihre zitternde Hand suchte vergebens nach der gewohnten treuen Stütze.

Franzels Augen füllten sich mit Thränen, jenen Thränen, die langsam und vereinzelt fallen und wie Tropfen heißen Bleies in der Seele brennen, Thränen, die keine Linderung, sondern neuen Schmerz bringen.

Traurige Tage vergingen. Mit Wodrichs Befinden wurde es nicht besser und nicht schlechter; er dämmerte so dahin. Der alte Hausarzt konnte selbst nicht recht klar über das Wesen der [16] Krankheit werden, machte sich indes auf den Ausbruch einer Gehirnentzündung gefaßt. Endlich, nach etwa zehn Tagen, trat eine Art von Krisis ein, und erleichtert atmete Doktor Böhmer auf. „Jetzt hätten wir das Schlimmste überstanden, sollt’ ich denken,“ meinte er beruhigend.

Inzwischen gingen die Dinge da draußen in der Welt ihren regelrechten Gang weiter, und eines Morgens erhielt Franziska die Vorladung vor das Schöffengericht und gleichzeitig einen Brief des Doktor Sonnenthal, worin er sie dringend ersuchte, recht pünktlich zu erscheinen.

Ein amtliches Schriftstück hat schon an und für sich etwas Aufregendes für eine Frau; sie betrachtet es mit Herzklopfen, als ein unheimliches Ding, von dem man nie wissen kann, ob es Gutes oder Schlimmes bringt. Und nun vollends dieser Brief! Dieser gefürchtete, in tausend Aengsten erwartete! In tiefster Niedergeschlagenheit saß die junge Frau vor ihrem eleganten, zierlichen Schreibtisch, studierte das verhängnisvolle Schreiben wieder und wieder, und ihr Herz hämmerte in dumpfer Angst. Da schlug die kleine Schwarzwälder Uhr neben dem Schreibtisch mit hellem Klang die zehnte Stunde, und Franzel, alles um sich her vergessend, sprang auf, um dem Patienten seine Medizin zu geben. Hastig schob sie die beiden Schriftstücke in ein Schubfach – der leere Umschlag von Doktor Sonnenthals Brief blieb unbeachtet auf dem Fußboden liegen.

[30] Kaum eine Stunde nach Franziskas Fortgang kam Fräulein von Hagen, wie sie fast täglich zu thun pflegte, um sich nach Ernsts Befinden zu erkundigen. Das Stubenmädchen führte sie ins Wohnzimmer; Aurelie nahm seelenruhig eine illustrierte Zeitschrift zur Hand und vertrieb sich die Zeit, bis Franziska kommen würde. Zufällig blickte sie einmal auf und sah den zerrissenen Briefumschlag auf dem Teppich liegen; eine ordnungsliebende Seele, wie sie war, hob sie ihn auf, um ihn in den Papierkorb zu thun; aber nicht, ohne vorher die Adresse studiert zu haben: „Frau Franziska Wodrich“; am Kopf des Umschlags stand die Firma „Dr. jur. Sonnenthal, Rechtsanwalt.“

Sonnenthal? wo hatte sie den Namen doch schon gehört? Sie drehte den Unglücksumschlag unschlüssig in der Hand. Gehört? – nein, gelesen! Aha! – das Haus, wo Franziska neulich mit Frau Lorenz hineingegangen, fiel ihr ein; sie sah das blanke Messingschild neben der Hausthür deutlich vor sich. Also, das war „die Nichte!“ Aurelie war empört über die Heuchelei der jungen Frau. Was hatte Franziska mit Doktor Sonnenthal zu thun? was hatte der ihr zu schreiben? Aurelie fragte sich, ob es nicht ihr gutes Recht sei, Franziskas Schreibtisch einmal zu visitieren, der verdächtige Brief mußte sich ja finden.

In ihrem Haß, in ihrem Argwohn gegen die junge Frau, die den Platz einnahm, der ihr, Aurelie von Hagen, von Gott und Rechts wegen eigentlich zukam, schoß sie weit übers Ziel hinaus. Sie war ein kluges Mädchen, und jeder anderen Person gegenüber hätte ihr Verstand ihr gesagt, daß man keine kompromittierenden [31] Briefe in einen Umschlag steckt, worauf groß und deutlich Name und Stand des Besitzers gedruckt steht; daß dieser Umschlag an und für sich schon, wie er offenkundig dalag, jeden Verdacht Lügen strafte; daß es sich eben lediglich um irgend eine geschäftliche Mitteilung des Rechtsanwalts Sonnenthal an Frau Franziska Wodrich handeln würde. Aber dieser Frau gegenüber war Aurelie eben blind, hellsehend nur für alles, was sie verdächtigen konnte – blind für jeden Beweis, der sie von häßlichem Verdachte freisprach.

Die Untersuchung des Schreibtisches gab Fräulein von Hagen auf, teils aus Furcht, überrascht zu werden, teils aus einem letzten Rest von Ehrgefühl, den in ihren Augen so verdächtigen Briefumschlag aber steckte sie in ihre Tasche. Kaum saß Aurelie wieder ruhig auf ihrem Platz, scheinbar vertieft in den Anblick eines Bildes – da wurde hastig die Thür geöffnet und Franziska trat herein.

Wie hatten die vergangenen Tage mit ihrem Leid die junge Frau verändert! Alles Blühende, Lebensvolle war wie fortgewischt aus dem schmalen, weißen Gesichtchen, tiefe Schatten lagen unter den müdblickenden Augen, ein Zug von Schmerz und Sorge umschattete den Mund. Die dunklen Haare waren rücksichtslos aus dem Gesicht gestrichen und mit nachlässiger Hast aufgesteckt: selbst die Farbe des prächtigen dunkelroten Schlafrockes trug heute nur dazu bei, die krankhafte Blässe des Gesichtes noch mehr hervorzuheben.

Franzel blieb sekundenlang an der Thür stehen, lebhafte Enttäuschung malte sich auf ihrem Gesicht. Sie hatte nach der undeutlich geflüsterten Meldung des Mädchens geglaubt, die Rätin Lorenz sei da. Das war ihr nach dem vorhin erhaltenen Schreiben wie ein großer Trost erschienen, sie war gekommen, sich bei der alten Freundin ein wenig auszuruhen, den müden Kopf in ihren Schoß zu legen, sich liebe milde beruhigende Worte sagen zu lassen. Nun saß ihre Feindin dort und blickte ihr mit den großen grauen Augen so mitleidlos, so unheilverkündend starr ins Gesicht. Was wollte sie nur wieder von ihr, womit würde sie sie heute quälen? Franzel erschrak und dieses Erschrecken prägte sich deutlich auf ihrem von der strahlenden Februarsonne beleuchteten Gesichte aus.

Aurelie sah es. Das böse Gewissen, dachte sie, und triumphierend blitzte es in den kalten Augen auf. Sie stand auf und ging der jungen Frau entgegen.

„Wie geht es Ernst?“

„Besser,“ entgegnete Franziska in mattem Ton und ließ sich, von zahllosen Nachtwachen ermüdet, in einen tiefen Fauteuil nieder.

„Und das sagst Du so gleichgültig?“

Franzel bog den Kopf zur Seite, um nicht fort und fort diesen harten Blicken zu begegnen, die sich wie Dolche in ihr Gesicht bohrten. „Ich bitte Dich, Aurelie, quäle mich nicht mit solchen Redensarten!“

Fräulein von Hagen ließ ihr ein paar Sekunden Ruhe, dann examinierte sie weiter. „Was sagt Doktor Böhmer?“

„Die Krise ist überstanden. Geduld und Ruhe – dann wird alles gut werden,“ wiederholte Franzel mechanisch die Worte des Arztes.

Aurelie blickte sie wieder scharf an. „Mir scheint, Deine Gedanken sind ganz wo anders!“ Als keine Antwort erfolgte, änderte sie ihren Ton. Sie griff nach der Hand der jungen Frau, die kalt und schwer auf der Stuhllehne lag, und sagte mit erheuchelter Besorgnis: „Dir wird es auch zuviel, Kleine, Du solltest Dir mehr Ruhe gönnen. Ich könnte Dich ja einmal ablösen – wirklich, das könnte ich!“

Franziska, die nicht recht wußte, wo das wieder hinaus sollte, schwieg und zog leise ihre Hand zurück. Aurelie hatte sich unterdes ihren Plan zurechtgelegt und fuhr in harmlosem Plauderton fort: „Du solltest einmal hinaus, Franziska! Die Bekannten fragen schon alle nach Dir. Vorgestern war ich in einer Abendgesellschaft bei Webers; da wurde auch von Dir gesprochen, alle trugen mir Grüße für Dich auf. Kronecks waren da, Frau von Horndorff, Lieutenant Müller, Assessor Balduin und ein gewisser Doktor Sonnenthal, Rechtsanwalt –“ … Wie eine Spinne in ihrem Netz, die eine sorglose unbedachte Fliege draußen umhersurren sieht, beobachtete Fräulein von Hagen die junge Frau und notierte jeden Zug, jede leiseste Veränderung dieses blassen, unschuldigen Gesichtchens. Bei dem Namen Sonnenthal hob Franzel überrascht die Augen und sah ihres Mannes Cousine an, groß, offen – doch mit einer ganz leisen Beimischung von Angst.

„Verkehrt der auch bei Webers? – Das wußte ich nicht,“ bemerkte sie unwillkürlich.

Aureliens Augen blitzten schadenfroh – die kleine unvorsichtige Fliege streifte thatsächlich schon das verderbenbringende Netz.

„Kennst Du ihn denn?“ fragte sie mit scheinbarer Ruhe zurück. Wehe Dir, wenn Du jetzt leugnest! dachte sie im stillen.

Franzel bejahte – aber sie that es mit einem schwachen Erröten und einem unruhig fragenden Blick ihrer klaren braunen Augen. Jenes Erröten galt nicht dem Mann, der sie einst angebetet, es galt einzig dem Rechtsanwalt, den Frau Franziska Wodrich in einer heimlichen Angelegenheit besucht. Natürlich wurde dies thörichte Erröten bemerkt, und ebenso natürlich wurde es auf ganz andere Art gedeutet!

„Ein angenehmer Mensch, dieser Doktor Sonnenthal,“ bemerkte Aurelie kaltblütig, obgleich sie den Besprochenen in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen. „Du hast ihn wohl schon früher gekannt?“

„Ja,“ erwiderte Franzel wahrheitsgemäß. „Ich kannte ihn vor meiner Verheiratung, als ich bei der Rätin Lorenz zum Besuch war. Apropos, war die Tante Lorenz nicht bei Webers?“ fragte sie hastig, in der Hoffnung, das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken. Aber darin war sie ihrer weltgewandten Gegnerin nicht gewachsen, die lächelte ein wenig von oben herab über Franzels kindliches Bemühen - dann sagte sie kurz. „Nein, sie war nicht da. Uebrigens, wie komisch, Franziska, daß Du sagst, Du hättest diesen Doktor Sonnenthal früher gekannt – kennst Du ihn denn jetzt nicht mehr? Warum verkehrt er nicht bei Euch? Ernst kennt ihn doch sicher? – Und hast Du ihn seitdem nie wieder gesehen?“

Diese sich überstürzenden Fragen waren ganz danach angethan, die junge Frau zu verwirren, und das war ja auch ihr einziger Zweck.

„O doch …“ stammelte Franzel, und wieder überzog ein flüchtiges Rot ihre klare Stirn. Sie wußte selbst nicht, weshalb sie sich hier wie ein dummes Schulkind von Aurelie ausfragen ließ, von all der körperlichen und geistigen Uebermüdung der letzten Wochen war sie so schwach, so widerstandslos und deshalb gänzlich unter dem Bann dieser scharfen, unbarmherzigen Augen. Aber jetzt raffte sie sich mit einem letzten Rest von Energie auf, zerriß tapfer die feinen, mitleidlosen Fäden des Spinnennetzes, das sie umwand, und sagte mit erzwungener Munterkeit: „Du scheinst Dich ja sehr für den Doktor Sonnenthal zu interessieren, Aurelie! Sonst wüßte ich wirklich nicht, weshalb Du mich seinetwegen so scharf examinierst? Was ist denn Verwunderliches dabei? Wir lernten uns früher flüchtig kennen – aber da Ernst ihn nicht kennt, und wir ihn auch nirgends trafen, so ist’s doch natürlich, daß er nicht bei uns verkehrt. Uebrigens – ich muß jetzt wieder hinübergehen – Du entschuldigst mich wohl!“ Sie war aufgestanden und reichte dem unliebsamen Besuch flüchtig die Hand.

Fräulein von Hagen war außer sich, daß „die schlaue kleine Person“ ihr auf diese Weise entschlüpfen wollte. Aber noch einen letzten Hieb mußte sie ihr geben, so trat sie dicht an Franziska heran und sagte, sie scharf fixierend: „O, ich wollte Dich nicht aufregen – das geht mich ja auch weiter nichts an! Ich dachte nur,“ meinte sie mit spöttischer Betonung, „Du hättest ihn vielleicht ‚zufällig‘ getroffen, als Du neulich mit Frau Lorenz bei ihrer ‚Nichte‘ warst. Die wohnt ja doch im selben Hause. Apropos, wie heißt denn die Dame?“

Beide standen jetzt neben der Thür, Fräulein von Hagen hatte die Hand auf die Klinke gelegt und versperrte so gewissermaßen der jungen Frau den Ausweg.

Franzel war heftig zusammengefahren und dunkelrot geworden, vorbei war’s mit ihrem Stolz, mit ihrer mühsam errungenen Fassung, unsicher stammelte sie: „Im selben Hause? … Ja – hast Du uns denn gesehen?“ Und da keine Antwort erfolgte, sondern Aurelie sie immer noch ansah, mit Blicken, die ihr Herz und Seele zu durchforschen schienen, that die arme kleine Fliege in ihrer großen Angst das Thörichtste, was sie nur thun konnte. sie gab sich völlig in die Gewalt ihrer mitleidlosen Feindin, indem sie halb weinend, halb trotzig sagte: „Wenn Du denn doch schon alles weißt – ja, wir waren bei Doktor Sonnenthal, Frau Lorenz und ich. Ich … wir hatten dort geschäftlich zu thun. Etwas anderes wirst Du hoffentlich von mir nicht denken! Im übrigen handelt es sich um ein Geheimnis, und ich bitte Dich dringend, zu [32] keiner Seele darüber zu sprechen. Am wenigsten Ernst gegenüber. Es würde ihn furchtbar aufregen …“

„Das glaube ich!“ bemerkte Aurelie höhnisch.

„Aurelie, ich bitte Dich, Du kannst nicht etwas Schlechtes von mir denken,“ sagte Franzel flehend.

„Was ich von Dir denke, ist meine Sache“ – damit öffnete Fräulein von Hagen die Thür und war draußen, ehe Franzel ein einziges Wort erwidern konnte. Sie wollte ihrer Feindin nacheilen, aber es ging nicht, sie war mit ihrer Kraft zu Ende und sank völlig erschöpft gegen die Thür; ein dumpfes Brausen war vor ihren Ohren, rote Lichter sprangen blendend und grellfarbig vor ihren Augen auf und nieder, ihre Glieder wurden schwer wie Blei – sie wollte sich festhalten, aber die Sinne vergingen ihr, langsam und schwer glitt sie neben der Thür zu Boden. – –

So fanden ihre Dienstleute sie. Als Franziska zu sich kam, lag sie auf dem Sofa; Doktor Böhmer, der glücklicherweise um diese Zeit seinen Besuch bei Ernst machte, saß neben ihr und fühlte ihren Puls. Er gab ihr starken Wein zu trinken, stützte ihr vorsorglich den Kopf, und als er glaubte, sie hätte sich genügend erholt, um seine Rede würdigen zu können, sagte er gewichtig: „So geht’s aber nicht weiter! Wenn Sie nicht vernünftig sind, kleine Frau, werden wir bald zwei Patienten anstatt des einen haben. Daß Sie keine Pflegerin wollen, ist barer Unsinn! Ich schicke heute mittag eine graue Schwester, und der werden Sie in allen Stücken gehorchen. Punktum! – Verstanden?“

Franzel nickte schwach. Sie sah ja selber ein, daß der alte Herr recht hatte. Sie mußte sich mehr schonen, sonst würde sie wirklich noch krank werden; und sie mußte, ja sie mußte doch gesund sein, um zu jener schrecklichen Gerichtsverhandlung gehen zu können! Käme sie nicht, so würde sie mit Gefängnis bestraft, so stand’s ja auf dem Papier, das in ihrem Schreibtisch lag. Ach, wenn sie doch lieber vorher sterben und so all der Angst und Schmach entgehen könnte! Aber es stirbt sich nicht so leicht, wenn man jung und gesund ist. Sie mußte also hin, da gab’s keinen Ausweg – und niemand konnte ihr helfen! Der Gedanke, sich dem Doktor, dem alten Hausfreunde, anzuvertrauen, schoß ihr durch den Kopf. Aber nein! Der würde es wahrscheinlich für seine Pflicht halten, sobald Ernst sich etwas erholt hätte, dem alles zu sagen; und Ernst sollte doch nichts wissen, bis alles überstanden war. Sie mußte also stark und tapfer sein, das Schreckliche jetzt allein tragen und dann allein durchleben. Sie hatte Ernst doch so grenzenlos lieb, sie wollte ihm um jeden Preis alles ersparen, die Demütigung, die Aufregung, die Angst! Ein schwerer Seufzer kam über die blassen Lippen, Thränen standen in den schönen angstvollen Augen des jungen Weibes.

„Was giebt’s da zu weinen?“ fragte Doktor Böhmer barsch, dem Weiberthränen in der Seele zuwider waren, weil sie ihn ganz unnötig weich machten. „An allem ist nur die dumme Person, die Hagen, schuld. Sitzt da und schwätzt Ihnen eine Stunde lang vor, anstatt Sie sich ausruhen zu lassen, wie ich Ihnen befohlen. Ich kenne das Frauenzimmer, sie hat so ein aufregendes Organ, das gesunden Leuten schon auf die Nerven fällt – geschweige denn solch einem abgearbeiteten Seelchen! Hier, trinken Sie!“ gebot er und hielt ihr wieder das gefüllte Glas an die Lippen. „Was haben wir denn heute schon verzehrt, he? Na, na, keine Flunkereien – kann mir’s ja lebhaft genug denken.“ Er ging an die Thür und rief nach der alten Köchin. „Rieke, Sie sind ja eine vernünftige Person,“ sagte er gnädig. „Was ißt denn Ihre Frau gern? Rehrücken oder so was dergleichen? Wiener Schnitzel? So – na, da braten Sie ihr ’mal ein Schnitzel – so zart und weich und saftig, daß es einem auf der Zunge zerfließt, Sie wissen schon! Und Besuche weisen Sie ein für allemal ab …“ Er rieb sich nachdenklich die Nase und überlegte, ob er Fräulein von Hagen noch besonders aufzählen solle, glaubte es indes der Familie schuldig zu sein, die nahe Verwandte stillschweigend in sein Verbot einzuschließen. So fügte er nur noch mit drohend erhobenem Finger hinzu: „Jeden Besuch, verstehen Sie mich?“ und entließ das Mädchen. Hätte der gute Doktor ahnen können, welch schwere Folgen diese zarte Rücksichtnahme auf die Familie Wodrich herabziehen würde, er hätte der Küchenregentin in seiner drastischen Art sicherlich noch mit Stentorstimme nachgerufen: „Und vor allem, in Dreiteufelsnamen, lassen Sie mir das Fräulein von Hagen nicht herein!“ – so aber beglückwünschte er sich im stillen ob seines feinen Taktes, schärfte seiner Patientin nochmals ein, der grauen Schwester unbedingt zu gehorchen, und verließ das Haus.

Sobald Ernst wieder bei klarem Bewußtsein war und anfing, sich ein wenig zu erholen, war er voll zarter Fürsorge für seine Frau. Ob Rieke auch recht gut für sie kochte, und ob sie auch ordentlich äße, fragte er die brave alte Person wohl zehnmal, und dem Doktor, der grauen Schwester legte er’s jeden Tag aufs neue ans Herz, seine Frau zu pflegen, sie zu schonen. Entschieden war Franziska jetzt der leidendere Teil von beiden. Im selben Maß wie bei Ernst die Besserung zunahm, wandten sich Franzels Gedanken und Sorgen nun wieder dem zu, was wie ein unabweisbares Verhängnis vor ihr stand, durch ihres Gatten Krankheit scheinbar in weite Ferne gerückt, jetzt aber langsam, mit peinvoller Grausamkeit näher und näher kommend. Fragen ohne Ende stürmten auf sie ein und ängstigten sie. Sie, die noch nie einer Gerichtsverhandlung beigewohnt, machte sich ein wahrhaft grausiges Bild davon. Sie sah sich selber auf der Anklagebank sitzen – nach Franzels vagen Begriffen ein Platz, wo sie mit Taschendieben, Landstreichern und ähnlichem Gesindel in engste Berührung kam; sie sah sich dort sitzen, gedemütigt, entehrt – die Augen aller auf sich gerichtet, dann stand sie vor den Richtern, die Hand zum Schwur erhoben. Auch das war für sie etwas Furchtbares; sie erinnerte sich noch deutlich aus der Religionsstunde, wie heilig solch ein Eid sei, welch’ ungeheure Verantwortung der Schwörende auf seine Seele lüde – und sie zitterte vor Angst. Ob sie wirklich schwören müßte? Und ob diese ganze unheilvolle Geschichte wohl einen Makel auf ihres Mannes Namen und Leben werfen könnte?

Solche Fragen ließen ihr keine Ruhe; je näher der festgesetzte Tag rückte, desto rastloser ward sie, und endlich, da sie an all der heimlichen Qual zu ersticken meinte, beschloß sie, die alte bewährte Freundin aufzusuchen, sich bei ihr ein wenig Trost zu holen – endlich einmal wieder ihr gequältes Herz auszuschütten. Sie überließ ihren Gatten der pflegenden Schwester und ging trotz des eisigen Ostwindes, der ihr fast den Atem benahm, zu Fuß den weiten Weg zu der Rätin.

Frau Lorenz hatte sich lange nicht sehen lassen; sie war durch heftigen Rheumatismus selber ans Haus gefesselt gewesen und freute sich nun doppelt, die junge Freundin zu sehen und von ihr gute Nachrichten über Ernst Wodrichs Befinden zu hören.

„Aber Du selber siehst jämmerlich aus, Franzel,“ sagte die alte Dame mitleidig und rückte für ihren Liebling einen bequemen Stuhl vor den großen Kachelofen, von dem ein warmer, heller Feuerschein ausging, der dem freundlichen Zimmer ein um so gemütlicheres Ansehen gab. Wie der Sturm heulend im Schornstein rumorte und die glühenden Kohlen zuckend aufflammten und rote Irrlichter über Fußboden und Wände entsandten, und wie das ganze Zimmer dabei von einem feinen weichen Rosenduft aus irgend einem altmodischen Riechbüchschen erfüllt war – das alles kam Franziska instinktiv zum Bewußtsein. Die unendliche Behaglichkeit dieses stillen Witwenheims legte sich wohlthuend und sänftigend auf ihre erregten Nerven. Sie kauerte sich fröstelnd in Tante Rätins Sorgenstuhl und schaute auf die Glut, und ihr war, als wäre alle Not und Unruh’ draußen zurückgeblieben, draußen auf den Gassen, wo der Sturm sein unwirtlich Wesen trieb – und hier drinnen sei nichts als Frieden und Ruhe!

Frau Lorenz war leise hinausgegangen, und als sie nun wiederkam und ein feines Schälchen mit duftendem Thee neben ihren Gast hinstellte, da griff Franzel nach dieser lieben, mütterlichen Hand und drückte sie inbrünstig an ihre Lippen.

„Tante Lorenz, bei Dir ist Friede – aber ich …! O Gott, mir ist so bange, so schrecklich bange“, murmelte sie, und ihre Augen füllten sich langsam mit Thränen.

„Mut, mein Herzel, Du warst ja bis jetzt so tapfer!“ tröstete die alte Dame und streichelte das blasse kalte Gesichtchen. „Was giebt’s denn jetzt wieder? Sprich Dich doch aus, Franzel!“

Und nun kamen all’ die Fragen und Zweifel zum Vorschein: die schreckliche Anklagebank, der Schwur und all das andere, was Franzels Herz bedrückte.

Die Rätin hörte teilnehmend zu; viel Rat oder Trost wußte sie freilich auch nicht zu spenden. Sie hatte ebensowenig wie Franziska je einer Gerichtsverhandlung beigewohnt, uneingestanden fürchtete sie sich selber vor der Zeugenschaft, die sie mit innerem Widerstreben übernommen. Schweigend und nachdenklich sah sie [34] ihren Besuch an und sagte endlich: „Wenn Dich das alles so beunruhigt, Kind, so geh’ doch noch ’mal zu dem Doktor Sonnenthal und frage den, ob Du schwören mußt, und ob Du auf der Anklagebank sitzen sollst, und das andre all. Was ist dabei? Er ist doch Dein Rechtsbeistand und ist für dergleichen Dinge da. Wenn ich nur ausgehen dürfte, würde ich gleich mit Dir gehen. – Nun, Kleine?“

Franzel schüttelte den Kopf. „Nein, Tante, allein mag ich nicht hingehen – Aurelie ist ohnehin schon dahinter gekommen und denkt sich Gott weiß was Schlimmes.“

„Die Aurelie? So …“ – Fräulein von Hagen wurde mit einigen recht unliebsamen Bemerkungen bedacht, aber sie hatte es wirklich nicht besser verdient, wie Tante Lorenz seelenruhig meinte.

In der folgenden Nacht lag Franzel lange schlaflos und sann den unbarmherzigen Dingen nach, die ihr Leben dunkel und häßlich machten. Sie wurde von einem bösen Husten gequält, den sie sich wahrscheinlich auf ihrem gestrigen Abendgange geholt. Seit die graue Schwester nachts bei Ernst wachte, hatte man Franzels Bett im Nebenzimmer untergebracht, damit sie möglichst ungestört sei; aber trotz der geschlossenen Thür und trotzdem Franzel bei jedem Hustenanfall ihren Kopf mit Todesverachtung unter die Bettdecke steckte, hörte Ernst es dennoch. Er schickte die Schwester mehrmals zu ihr hinein, und gegen Morgen ließ er sie dringend bitten, liegen zu bleiben und auch einmal an sich selber zu denken. Trotzdem stand Franziska zeitig auf, brauchte irgend ein Hausmittelchen, um den Husten und ihr Gewissen einigermaßen zu beruhigen, und rüstete sich zum Ausgehen. In dieser schlaflosen Nacht war sie zu dem Entschluß gekommen, dennoch den Doktor Sonnenthal aufzusuchen. Sie, eine verheiratete Frau, konnte doch wohl am hellen Vormittag zum Rechtsanwalt gehen, um ihn geschäftlich auf fünf Minuten zu sprechen! Ernst schlief noch, und die Schwester wurde mit der Erklärung beruhigt, sie müsse eine Viertelstunde an die Luft, ihr Kopf schmerze zum Zerspringen.

Bald nachdem Franziska gegangen, klingelte es, und als Rieke nachsah, stand Fräulein von Hagen draußen. Sie war zufällig oder absichtlich mehrere Tage nicht gekommen, sondern hatte sich nur durch ihr kleines Laufmädchen nach Ernsts Befinden erkundigen lassen, hatte deshalb auch noch keine persönliche Abweisung erfahren wie alle anderen Bekannten. Die brave Rieke hatte keine Ahnung von dem Ausgang ihrer Dame, sonst würde sie ihn kaum gelitten haben; sie hatte auch noch ein Wörtlein mitzusprechen! Dem Herrn ginge es besser, die gnädige Frau schliefe noch, berichtete sie daher lakonisch, Besuche dürften aber in der nächsten Zeit nicht angenommen werden.

Aurelie lächelte. Sie sei doch kein Besuch, sie gehöre doch zur Familie, meinte sie. Und wenn es dem Herrn besser ginge und er jetzt wieder bei Besinnung sei, so würde es ihn sicher freuen, seine Cousine zu sehen. Sie disputierten noch eine kleine Weile, Rieke in heiserem Flüsterton, Aurelie absichtlich laut sprechend – zuletzt kam die graue Schwester heraus: der Herr Regierungsrat hätte Fräulein von Hagens Stimme erkannt und bäte sie, einen Augenblick hereinzukommen.

Triumphierend rauschte Fräulein Aurelie an der verdutzten Rieke vorbei und betrat das Krankenzimmer.

Ernst Wodrich hatte nie eine große Zuneigung für diese Cousine gehabt; aus Mitleid hatte er ihr, der Alleinstehenden, nach dem Tode seiner Mutter, die Stelle als Hausdame angeboten. Sie hatte ihn vorzüglich versorgt – daß es nicht ohne sehr ernstliche Nebenabsichten geschah, ahnte er freilich nicht. Als er dann später Franziska Ellwege bei ihrem Winteraufenthalt in der Großstadt kennenlernte und die kaum Zwanzigjährige nach kurzem Brautstande als Herrin in sein Heim führte, that es ihm leid um die durch seine Heirat heimatlos gewordene Cousine; er selber bat Franziska, gut und geduldig mit dem alternden, einsamen Mädchen zu sein. Daß seine angebetete junge Frau keine tödlichere Feindin haben könne als eben diese Verwandte, wäre dem großherzig denkenden Manne nicht eingefallen. Er blieb immer gleich gütig gegen Aurelie, verwaltete ihr kleines Vermögen und legte im geheimen ihren geringen Zinsen noch ein hübsches Sümmchen zu; im übrigen überließ er’s seiner Frau, die Cousine hier und da auch in anderer Weise zu unterstützen, was Franzel bis jetzt auch immer redlich gethan hatte. Heut’ wünschte Ernst die Dame nur deshalb zu sprechen, um ihr die Sorge für Franziska recht warm ans Herz zu legen.

„Sie sieht blaß aus, meine kleine Franzel, findest Du nicht, Aurelie? Sie hat sich zuviel zugemutet, während ich krank war. Aber auch jetzt, wo wir doch die Schwester hier haben, kann die Kleine sich noch nicht recht erholen. Es ist, als ob sie sich mit etwas quälte, und ich kann doch nicht ergründen, womit. Weißt Du’s nicht?“

Aurelie schüttelte mit einer undurchdringlichen Miene den Kopf. Ernst war krank, und Kranke mußte man mit derlei Aufregungen verschonen. Später! – Erspart könnte es ihm ja doch nicht werden.

„Wo steckt sie denn jetzt?“ fragte sie, um nur überhaupt etwas zu sagen.

„Drüben im Wohnzimmer. Sie schläft. Diese Nacht hustete sie furchtbar, sie muß sich gestern bei ihrem Ausgang erkältet haben.“

„Was rennt sie auch bei allem Wind und Wetter spazieren! Solche Nippfigürchen wie sie gehören in den Glasschrank,“ schalt Aurelie, aus der Rolle fallend, „wenn’s draußen weht und schneit. Das ist gut für unsereinen,“ schloß sie bitter.

„Du hast recht,“ erwiderte Ernst arglos, den letzten Satz außer acht lassend. „Aber schließlich will die Kleine doch auch ’mal an die Luft, das ist sie ja von Haus aus gewöhnt.“ Im stillen dachte er, die Cousine, die in Franzels Gegenwart sonst immer so lieblich that, spräche doch recht unfreundlich über sie. Er hatte geglaubt, die beiden Frauen lebten in guter Freundschaft miteinander, Franziska hatte sich nie darüber geäußert – aber er würde sie jetzt doch einmal ernstlich ins Verhör nehmen. Vielleicht hatten die beiden etwas miteinander gehabt?

In diesem Augenblick trat die Pflegerin ins Zimmer. „Herr Regierungsrat, die Medizin!“ mahnte sie freundlich.

Aurelie stand auf. „Adieu, Ernst – und gute Besserung! Ich werde mich jetzt ’mal nach Franziska umsehen.“

Die graue Schwester wandte sich schnell nach ihr um und sah sie bedeutsam an. Aurelie verstand nicht recht, was sie meinte, ging indes schweigend hinaus, und bald folgte ihr die Schwester nach. „Frau Regierungsrat ist ausgegangen,“ flüsterte sie.

„Ich denke, sie schläft?“ fragte Aurelie erstaunt zurück.

Die Schwester schüttelte den Kopf und berichtete, die Rätin hätte sich trotz aller Einwände nicht abhalten lassen, einen kleinen Spaziergang zu machen.

„So – also heimlich fortgegangen?“ murmelte Aurelie mit schadenfrohem Lächeln.

Auch die Schwester lächelte, ein mildes weltunkundiges Lächeln. Sie hatte das Ehepaar in der kurzen Zeit liebgewonnen und fühlte sich wohl bei ihnen. „Frau Rätin wollte nicht, daß ich’s dem Herrn sagte, er könne sich aufregen, meinte sie. Sie ist immer so besorgt um ihn.“

„Sehr besorgt!“ stimmte Aurelie bei und kniff die schmalen Lippen zusammen. Sie wollte gehen, besann sich aber eines anderen. Wann würde sie Ernst jemals wieder allein sprechen? Er war krank, ja – aber sie wollte ihn nicht erschrecken, sie wollte ihn nur warnen. Das war ihre Pflicht! Entschlossen wandte sie sich abermals dem Krankenzimmer zu. „Darf ich noch einen Augenblick wiederkommen, Ernst?“ fragte sie sanft durch die Thür.

„Komm’ nur!“

Die junge Krankenschwester stand unschlüssig neben der Thüre; sie wußte nicht recht, wie weit ihre Befugnisse hier gingen, aber ein gewisser Zug in Aureliens Gesicht hatte sie stutzig gemacht, deshalb sagte sie warnend: „Bitte, regen Sie den Herrn nicht auf, Fräulein!“

Ungeduldig schüttelte Aurelie den Kopf. „Lassen Sie mich nur!“ damit schob sie die Schwester einfach beiseite und ging hinein. „Deine Frau ist spazieren gegangen, Ernst,“ sagte sie ohne weitere Einleitung und setzte sich wieder ans Bett.

„Franzel? Mit ihrem Husten?“ fragte Ernst und richtete sich erschrocken auf. „Was machst Du denn für ein Gesicht, Aurelie? Ist ihr etwas zugestoßen?“

„Gott bewahre! Rege Dich doch nicht gleich so auf! Sie hatte Kopfschmerzen und ging hinaus, verbot aber der Schwester, Dir’s zu sagen.“

„Die Schwester hätte Franzel zurückhalten müssen!“

„Franziska hätte sich wohl schwerlich zurückhalten lassen,“ bemerkte Aurelie bedeutungsvoll.

„Wie meinst Du das? Du quälst mich!“ klagte der Kranke, dem alles Denken noch so schwer fiel, und strich sich nervös mit der abgemagerten Hand durchs Haar.

Der Anblick des leidenden Mannes that der Frau, die ihn so heiß geliebt, die ihn noch immer liebte, weh; für einen Augenblick [35] schien es, als ob das Mitleid in ihrem Herzen siegen würde. Aber es war nur eine flüchtige Regung zum Guten – Aurelie war schon zu weit gegangen, um den Mahnruf des Gewissens zu beachten, außerdem war es ihr ein zu köstliches Vergnügen, dem unerschütterlichen Vertrauen dieses Mannes einen kleinen Stoß zu geben.

„Ich meine,“ sagte sie daher langsam, jedes Wort betonend, „daß Franziska mancherlei Wege geht, von denen ihr Herr und Gebieter nichts ahnt, und daß es für eine so junge Frau vielleicht besser wäre, etwas strenger überwacht zu werden.“

In Zorn und Verachtung blickten die Augen des Kranken auf das falsche Weib, mühsam rang er nach Worten.

„Wie kannst Du es wagen, meine Frau zu verdächtigen – sie, die Dir nur Gutes thut!“ stieß er hastig heraus. „Wenn sie auch jung und unerfahren ist – das merke Dir, Aurelie – Franziska wird nie etwas thun, dessen sie sich vor ihrem Mann zu schämen hat – nie!“

Er sank erschöpft in die Kissen zurück. Als sie, ohne ein Wort des Widerspruches zu wagen, schwieg, fügte er schwach hinzu: „Jetzt geh’, bitte! Um unserer alten Freundschaft willen will ich versuchen, Deine bösen Worte zu vergessen.“

Da stand sie auf und ging hinaus mit dem jammervollen Bewußtsein verfehlter Pläne und eigener Schlechtigkeit.

[46] Franziska hatte den Rechtsanwalt Sonnenthal nicht zu Hause getroffen; nur der Schreiber war dort, ein alter Mann mit gutmütigem Gesicht und bescheidenem Wesen. Nachdem die junge Frau lange Zeit vergebens gewartet, faßte sie sich ein Herz und legte dem Alten ihre Fragen vor; der zuckte die Achseln: er arbeite nur auf dem Bureau des Herrn Rechtsanwalts, von Gerichtssitzungen und dergleichen wisse er nichts. Aber er werde dem Herrn Rechtsanwalt alles sagen, und der könne ja dann der Dame schreiben.

„Ja, es ist gut; aber bitten Sie den Herrn Rechtsanwalt, einen Briefumschlag ohne Firma zu nehmen,“ sagte Franzel halb verlegen und wurde bei dem erstaunten Blick des Alten über und über rot.

„Ich werd’s bestellen, gnädige Frau,“ erwiderte er ruhig.

Ja, so war’s besser! Sie hatte neulich doch entdeckt, daß der Umschlag von Doktor Sonnenthals Brief verschwunden war, und ihr Verdacht hatte sich gleich auf Aurelie gelenkt. Ein zweites Mal sollte ihr das nicht passieren!

Als Franziska das Haus verließ und sich unwillkürlich rechts und links umblickte, sah sie unweit, vor einem Schaufenster, ihres Mannes Cousine stehen, scheinbar vertieft in den Anblick der ausgelegten Waren. Franzel schrak zusammen und eilte, so rasch sie konnte, in der entgegengesetzten Richtung davon, inständig hoffend, daß Aurelie sie nicht bemerkt haben würde. Wie sehr täuschte sie sich! Fräulein von Hagen hatte ja nur ihren heimlichen Wegen [47] nachgespürt – eine so schlaue Jägerin konnte die Fährte des harmlosen Wildes nicht leicht verlieren!

Franzel kam heim, und während sie im Flur ablegte, ging die graue Schwester mit einem Tablett voll leerer Flaschen und Gläser vorüber. „Der Herr Rat weiß, daß Sie ausgegangen waren, gnädige Frau. Fräulein von Hagen hat es ihm leider gesagt,“ bemerkte die Schwester und fügte in ihrer bescheiden-gelassenen Weise hinzu: „Ich meine, es wäre besser, Fräulein von Hagen käme nicht mehr zum Herrn Rat, sie regt ihn sehr auf.“

„Da haben Sie recht, Schwester!“ erwiderte Franziska aus tiefstem Herzen. Dann ging sie zu Ernst hinein.

„Wo warst Du, Franzel?“ fragte der Kranke, der bleich und abgespannt dalag.

Franziska legte lächelnd ein Veilchensträußchen und ein paar Apfelsinen auf seine Bettdecke. „Ein bischen Luft geschöpft, Du lieber Tyrann,“ sagte sie heiter. „Seit Schwester Valerie hier ist, vermißt Du mich ja doch nicht mehr!“

„Und ich bat Dich, Du solltest Dich schonen, Franzel, aber ich sehe, ein kranker Hausherr hat beinahe nichts mehr zu sagen! Du bist eine ganz unfolgsame kleine Frau geworden!“ tadelte Ernst.

„Schilt nicht! Die Sonne schien so hell, und die frische Luft hat mir gut gethan.“ Thatsächlich war die junge Frau mit einem von der Kälte und dem schnellen Gehen geröteten frischen Gesichtchen heimgekehrt; aber ein heftiger Hustenanfall unterbrach sie mitten im Reden.

„Siehst Du, Franzel, das hast Du nun davon! Wie Du mich ängstigst, Kind!“ schalt der Kranke nun ernstlich besorgt. Sie beruhigte ihn, das ginge vorüber; sie hätte jedes Frühjahr solch einen leichten Anfall.

Aber es ging nicht so schnell vorüber.

Gegen Abend stellte sich ein leichtes Fieber ein, und dabei hustete Franzel so stark, daß der Doktor ärgerlich den Kopf schüttelte, und Schwester Valerie jetzt thatsächlich zwei Kranke zu pflegen hatte. Strenger Hausarrest ward der leichtsinnigen Patientin auferlegt.

Doktor Böhmer konnte übrigens nicht begreifen, weshalb die junge Frau, deren Gatte jetzt täglich in der Genesung fortschritt, so scheu, so gedrückt war, wie es nicht in den schlimmsten Stunden von Ernsts Krankheit der Fall gewesen. Er sprach hierüber einmal mit dem Regierungsrat. „Ich verstehe nicht,“ meinte er und rieb seine große Nase nachdenklich mit Daumen und Zeigefinger, „was die kleine Frau quält. Ihr Leiden scheint mir weit mehr seelisch als körperlich. Das bischen Katarrh wäre ja im Grunde gar nicht so schlimm, Sie selber sind auf der Besserung – also, was giebt’s da zu grämen? Hat sie vielleicht von daheim schlechte Nachrichten, die sie irgendwie aufregen? Wir haben da ja allerlei wunderliche Symptome“ – er zählte an den Fingern auf: „kein Schlaf, kein Appetit – eine Ruhelosigkeit und Nervosität sondergleichen, wie ich sie an der gesunden vernünftigen kleinen Frau bislang gar nicht kenne …“

„Sie hat sich eben bei der Pflege zuviel angestrengt, Doktor,“ sagte der Regierungsrat, dem diese Auseinandersetzung – er wußte selbst nicht, weshalb – eine peinigende Empfindung wachrief.

„Hm ja – kann schon sein,“ erwiderte der alte Praktikus, nur halb überzeugt. Er brach das Thema ab, hatte er doch auch diesen Patienten immer noch zu schonen. –

Franzel saß an Ernsts Bett, mit einer leichten Handarbeit beschäftigt; plaudern durfte sie nicht, der Hals that ihr weh, und vieles Sprechen strengte sie an. Ernst studierte nach langer Zeit zum erstenmal wieder die Zeitung – ab und zu richtete er einen besorgten forschenden Blick auf seine Frau, die in tiefe Gedanken versunken an ihrer Stickerei schaffte.

„Woran sie nur denken mag?“ mußte Ernst sich fragen. Ihre Lippen waren wie in grübelnder Sorge aufeinander gepreßt, eine tiefe Falte stand zwischen den feinen, dunklen Brauen; das Gesicht hatte sein liebliches Oval verloren und sah zum Erbarmen blaß und schmal aus, mit tiefen Schatten unter den Augen, die von schlaflos durchwachten Nächten sprachen. Ernst sagte sich voll tiefen Kummers, daß sie etwas vor ihm verberge. Franzel hatte zwar nie ein Geheimnis vor ihrem Gatten gehabt. Ihre Jugend war so kurz, so streng behütet gewesen, daß ihre Seele kaum etwas ahnte von jenen Erlebnissen und Erfahrungen, an denen andere Mädchen zuweilen schon reich sind, ehe sie in den Ehestand treten. Da gab es keine sentimentale Erinnerung an vergangenes Liebesglück, keine verschwiegenen Beziehungen, die aus der Vergangenheit unheilvoll in die Gegenwart herüberreichen. Franzels Seele lag vor ihres Gatten Augen klar und rein wie ein heller Frühlingsmorgen; nicht einmal ein heimliches Winkelchen mit einer kleinen thörichten längstbegrabenen Backfischliebe war darin zu finden.

Und während ihrer Ehe? Da hatte sie Tag für Tag die großen klaren ruhigen Augen zu ihrem Gatten aufgeschlagen, und was er in diesen wundervollen braunen Sternen las, das gläubige Vertrauen, die kindliche Verehrung, die tiefe heiße Liebe ihres keuschen Frauenherzens – all das gehörte ihm, nur ihm allein und hatte seine Seele täglich mit neuem Glück erfüllt. So war’s gewesen bis zu seiner Krankheit. Nein – er entsann sich jetzt genau, obgleich er’s anfangs nicht so beachtet. Schon die letzten Tage vorher war’s, als ob Franziska ihm etwas verschwiege; manchmal nahm sie einen Anlauf, wie um zu sprechen, streifte ihn mit einem unruhig forschenden Blick und hielt dann wieder plötzlich inne oder lenkte die Rede auf etwas Nebensächliches, Gleichgültiges. Damals hatte er’s in seiner täglich wachsenden Abspannung kaum beachtet – jetzt fiel ihm das alles wieder ein, und er zermarterte seinen armen müden Kopf mit diesen sorgenden Fragen.

Ein tiefer Seufzer, der ungewollt sich über Franzels Lippen drängte, machte dem schweigenden Grübeln des Mannes ein Ende und ließ ihn die Hand nach seinem jungen Weibe ausstrecken. „Komm ’mal her, Franzel!“ sagte er sanft, und als sie dann neben seinem Bett niederkniete, nahm er dies blasse süße Gesicht zwischen seine beiden Hände: „Sag’ mir, was Du hast, Kleine! Dich quält etwas, das sehe ich ja – und Du willst mir’s aus Schonung nicht sagen. Aber ich bin jetzt stark und gesund und bitte Dich dringend, sag’ mir’s! Du quälst mich weit mehr durch Dein Schweigen, wie wenn Du ehrlich reden wolltest. Also sprich, Herz – was fehlt Dir?“

Sie schüttelte den Kopf, aber sie mußte die Augen niederschlagen vor seinem treuen, fragenden Blick. Ihr Atem kam und ging hastig wie im Fieber, sie lag in ihres Mannes Armen und ein Zittern und Schauern lief über die zarte kleine Gestalt. Da sie beharrlich schwieg, fiel ihm plötzlich etwas ein, ein wunderlicher Gedanke, der ihn wie eine Erlösung dünkte.

„Franzel, kleine Frau – hast Du etwa Schulden?“ fragte er hastig.

Da mußte sie in all ihrem Kummer doch lächeln; lächelnd und errötend zugleich schüttelte sie den Kopf, machte sich sanft aus seinen Armen frei und barg ihr Gesicht in seiner Bettdecke.

Also das war’s nicht! Ratlos blickte er auf das dunkle Köpfchen nieder und dann – wie ein Blitzstrahl – kam ihm ein anderer Gedanke – ein so neuer, unfaßbarer, beseligender, daß ihm fast das Herz darob stille stand. Er beugte sich hinab und flüsterte in zarter Scheu eine Frage in seines jungen Weibes Ohr. Und Franzel erglühte noch tiefer, grub auch das Gesicht noch tiefer in die Decke hinein – aber sie schüttelte zum drittenmal den Kopf – und seine Hoffnungen zerrannen.

Auch dieses nicht!

Da drängte er nicht weiter in sie, hob sie nur sanft mit seinen noch schwachen Armen empor und sagte ruhig: „Setze Dich, Kind – das lange Knieen strengt Dich an.“

Sie fühlte den stummen Vorwurf in seinen Worten, in seinem ganzen Wesen, beugte sich über seine Hand und küßte sie. „Später sollst Du alles wissen,“ sagte sie scheu und demütig und setzte sich an ihren alten Platz.

Ernst vermied es, sie anzusehen. Scheinbar gelassen nahm er seine Lektüre wieder auf; plötzlich fesselte ihn eine Notiz. „Nein, das ist ja ein wahres Verhängnis heutzutage!“ sagte er erregt. „Die Frauen vor Gericht – das nimmt ja in erschreckender Weise zu. Da ist nun wieder eine Dame der besseren Stände, die Frau eines Oberberginspektors, wegen öffentlicher Beleidigung eines Geschäftsmannes verurteilt worden. Das mußt Du hören, Franzel!“

Da saß nun das arme Weib wie eine verurteilte Verbrecherin und mußte Wort für Wort dieser Gerichtsverhandlung über sich ergehen lassen und durfte nicht mit der Wimper zucken, wie ihr Mann [50] in harter Rede die fragliche Angelegenheit besprach. Sie hätte ihm den Mund zuhalten, hätte rufen mögen: „Schweige doch, schweige! Indem Du jene verurteilst, verdammst Du Dein eigen Weib!“ Aber kein Laut kam über ihre Lippen, mit angstgequältem Herzen und zitternden Lippen zählte sie mechanisch die Stiche an ihrer Stickerei.

Es klopfte, und Rieke trat mit einigen Briefen in der Hand herein. Man brauchte die Hilfe der grauen Schwester jetzt nur noch während der Nachtstunden, am Tage versah das Stubenmädchen den leichten Dienst, und Rieke verwaltete mit gewohnter Tüchtigkeit und Umsicht das Küchendepartement. Ab und zu ließ sie ihr ehrliches feuergerötetes Antlitz im Krankenzimmer erblicken, tadelte ungeniert, wenn, ihrer Meinung nach, etwas nicht richtig war, fragte nach den kulinarischen Wünschen ihrer Herrschaft und ermahnte beide ernsthaft, doch nur ja dem Doktor gut zu folgen, „damit wir doch wenigstens zu Ostern wieder auf’m Damm sind“. Jetzt legte sie die Briefe vor ihren Herrn hin und sagte geringschätzig. „Nichts Ordentliches – bloß lauter Drucksachen, Zeitungen und so ’was. Je, was ich man noch sagen wollt’ – wie is es denn mit die Tauben? Hat Herr Regierungsrat vielleicht heute Appetit darauf? Die gnädige Frau ißt ja überhaupt nichts mehr, da müssen wir wohl ’mal aus dem Klub ganz ’was Apartes holen lassen, Mocturtle oder Ragout fin, oder irgend so’n Kram. Was meint gnä’ Frau?“

Franziska erteilte hastig ihre Befehle; sie hatte zwischen den braunen Marken der Drucksachen eine grüne erblickt, einen Stadtpostbrief – und ihr Herz schlug überlaut, als sie die Hand danach ausstreckte.

Rieke ging mit einem verwunderten Blick auf die Gnädige, die ihr heut’ so konfusen Bescheid gegeben – und Franziska trat mit dem Brief ans Fenster, wie um besser sehen zu können.

Doktor Sonnenthal schrieb kurz und sachlich, versuchte seine zaghafte Klientin mit wenigen Worten zu beruhigen und schloß mit einer Empfehlung an den ihm unbekannten Gemahl der Dame.

Franzel las die kurzen Zeilen wieder und wieder, ehe sie in ihrer übergroßen Erregung deren einfachen Sinn nur begriff. Ja, so ein Rechtsanwalt, der sieht die Dinge ganz anders an! Weil er Tag für Tag dort im Gerichtssaal aus und eingeht, meint er, das müsse so sein, und andern Leuten sei’s ebenso gleichgültig wie ihm! Und hätte er tausend Worte geredet - er hätte ihr doch die Angst nicht ausreden können!

Das Papier knitterte in Franzels zitternden Händen, Ernst hörte es deutlich, er hörte auch die kurzen hastigen Atemzüge seiner Frau. Eine große Unruhe bemächtigte sich seiner. Was hatte Franziska dort, was verheimlichte sie vor ihm? Er wollte sich aufrichten. und nach ihr umsehen, fühlte sich indes zu schwach und rief nur leise ihren Namen.

Franzel kam sofort, hatte aber doch Zeit gefunden, den Brief in die Tasche zu stecken. Ihr weißes Gesicht leuchtete förmlich in der beginnenden Dämmerung, der kranke Mann sah sie an und suchte in peinigender Ungeduld das Geheimnis dieses blassen stummen Frauenantlitzes zu ergründen.

„Von wem ist der Brief, Franziska?“ fragte er streng. Er nannte sie selten so – sie schrak zusammen, aber sie war auf die Frage vorbereitet – sie war das Schweigen, das Heucheln, das Lügen ja schon so schrecklich gewohnt worden in letzter Zeit. „Von der Rätin Lorenz,“ erwiderte sie leise.

Und der Mann dort im Bett wußte, daß es eine Lüge sei – die erste ihm gegenüber, die über Franziskas Lippen kam; ein Grauen wie vor drohendem Unheil schlich sich in sein stolzes Herz, ein Zweifel an seinem Weibe erwachte darin; ein erstes leises Mißtrauen hob gleichsam warnend, lauschend, ahnungsvoll den Finger auf. Aber er beherrschte sich und fragte scheinbar ruhig weiter: „Was schreibt sie denn? Laß doch hören, wie es der lieben alten Seele geht?“

Das arme junge Weib empfand mit all seinen Sinnen, was in des Mannes Seele vorging, Auge, Ohr und Gefühl verschärften sich förmlich in dieser Minute zu doppelter Thätigkeit – indes die Lippen klanglos stammelten: „Sie läßt Dich grüßen, sie … es geht ihr gut“ … und da jeder Fehler durch die Uebung sein eigener Lehrmeister wird, fügte sie hastig hinzu: „Es handelt sich um eine kleine Ueberraschung, Ernst … wenn Du gesund sein wirst …“

Dann aber war’s vorbei mit Franzels Verstellungskünsten, sie kniete am Kopfende von Ernsts Bett nieder und weinte bitterlich. Und in des Mannes Herzen schwieg der Zweifel, es schwieg das häßliche Mißtrauen – ein tiefes heiliges Erbarmen mit diesem kindlichen irregehenden Weibe überwog alles andere Denken. Er legte die Hand auf ihr dunkles Haar und sprach mild und ernst wie ein Priester: „Wenn Du gesund sein wirst, Franziska – gesund von all diesem Leid!“

Die Abenddämmerung breitete immer tiefere Schatten über das stille Krankenzimmer – kein Laut störte das große Schweigen.

So fand sie die graue Schwester, als sie eine halbe Stunde später kam; sie hob Franziska auf und brachte sie zu Bett. Die junge Frau ließ alles willenlos mit sich geschehen, sie fieberte und sprach in wirren Phantasien. Die Schwester saß die lange Nacht hindurch sorgenvoll an ihrem Bett und lauschte auf die hastigen Worte, die sich bald an den Gatten, bald an einen Fremden richteten – an einen anderen, den sie mit flehenden Worten und Gebärden beschwor, ihr zu helfen, sie nicht unglücklich zu machen. Schwester Valerie war nur einmal aufgestanden, um die Thür zu schließen, die nach Ernsts Zimmer führte, da sah sie auch ihren andern Patienten schlaflos mit weitoffenen, finsterblickenden Augen liegen – kehrte seufzend an Franzels Lager zurück, betete ihren Rosenkranz und flocht die Namen ihrer beiden Kranken in ihr Gebet ein. Und allmählich, wie die Nacht vorschritt, wurde Franzel ruhiger und schlief endlich ein.

Am nächsten Morgen ging es ihr um vieles besser, sie stand auf, und als Doktor Böhmer kam, fragte sie ihn geradezu, ob sie bald wieder ausgehen dürfte. Er lachte sie ohne weiteres aus und tippte in seiner ungenierten Art mit dem Finger an ihre Stirn. „Bei dem Ostwinde, Seelchen? Ja, was bilden Sie sich denn eigentlich ein?“ Damit glaubte er die Sache abgethan und ging zur Tagesordnung über. Franziska hörte ihm schweigend zu und starrte auf ihren Wandkalender, der zeigte das Datum des vierten März. Am sechsten, also übermorgen, sollte sie vor Gericht. Sie wußte, daß ein einziges Machtwort des Doktor Böhmer sie für diesmal davon befreien könne, damit aber war die Sache nur aufgeschoben, nicht aufgehoben – und sie mußte das alles jetzt bald von der Seele haben, sonst ging sie daran zu Grunde! So schwieg sie und sann, wie sie ihr Vorhaben ausführen könne; und als der gefürchtete Tag anbrach, kam ihr der Zufall selber zu Hilfe.

Ernst hatte in der Nacht rasende Kopfschmerzen, und die Schwester gab ihm, nach Doktor Böhmers Verordnung, Morphiumtropfen, und da diese nicht halfen, nach einigen Stunden noch eine zweite Dosis. Darauf ließen die Schmerzen nach und der Kranke verfiel in einen tiefen ruhigen Schlaf, so daß Schwester Valerie frühmorgens ruhig ihren Posten verlassen konnte.

Als Franziska erwachte, war es bereits neun Uhr. Noch anderthalb Stunden! Sie schlich auf den Zehenspitzen an Ernsts Bett, gottlob! er schlief – so würde sie vielleicht unbemerkt fort kommen! In fieberhafter Hast machte sie Toilette – ein schlichtes schwarzes Kleid, das die fahle Blässe ihres Gesichtes noch mehr hervorhob, Hut und Pelzmantel lagen schon bereit, Franzel streckte gerade die Hand danach aus – da regte sich etwas im Nebenzimmer – Ernst rief leise ihren Namen. In der nächsten Sekunde stand sie neben ihm; müde, halbgeschlossen blickten seine Augen zu ihr hin – plötzlich weckte ihr schwarzes Straßenkleid seine Aufmerksamkeit, seinen Argwohn, mühsam sich aufrichtend, fragte er, sie mit großen Augen anschauend: „Franziska, wo willst Du hin?“

Sie stand neben seinem Bett, an allen Gliedern zitternd, bemühte sich, eine Ausrede zu finden, und drückte den Kranken sanft in die Kissen zurück. Er wehrte sich mit allen Kräften, umklammerte ihr Handgelenk und rief: „Du darfst nicht ausgehen, Franziska, Du sollst … der Doktor …“ er hielt inne, griff mit beiden Händen nach den Schläfen und stöhnte: „Mein Kopf, mein Kopf! Gieb mir die Tropfen!“

Während Franziska eilig nach den schmerzstillenden Tropfen suchte, die die Schwester vorsorglich außer Greifweite des Kranken gestellt, dämmerte in dem fiebernden Hirn des Mannes eine furchtbare Erkenntnis! Dies war einer von den heimlichen Wegen, wovon Aurelie gesprochen, sein Weib – Gott im Himmel! sein Weib betrog ihn, den Kranken. Der Brief fiel ihm ein und all diese Heimlichthuerei, dies Verbergenwollen – er hörte den klugen, [51] alten Hausfreund sagen: „Sie hat etwas, das sie quält und ihr keine Ruhe läßt.“ All diese Dinge schienen wie Glieder einer Kette ineinander zu passen; Gedanken und Vorstellungen, an die er bisher nie gedacht, rasten durch sein Hirn, er durchlebte gleichsam binnen einer Minute all die letzten Wochen, fand seine Fragen beantwortet, seine Zweifel begründet; wie ein Meer war’s, ein wildes trostloses, darin er unterging – und dann plötzlich schlug wie aus weiter weiter Ferne Franziskas Stimme an sein Ohr: „Ist dies das rechte Fläschchen, Ernst?“

Er riß die Augen auf und nickte. Noch lebte er und war bei Besinnung, noch war Franziska bei ihm; aber wenn sie ging, wenn sie vielleicht nimmer wiederkehrte – wenigstens so nicht wiederkehrte, wie sie gegangen, wäre es dann nicht besser – wenn …?

Ernst Wodrich hob die blasse, mit kaltem Schweiß bedeckte Stirn und rang wie ein Ertrinkender, den die gurgelnden Wasser hinabreißen wollen; wie ein Verzweifelter rang er aus all diesen irren entsetzlichen Wahnvorstellungen heraus um eine Sekunde völliger Klarheit – eine Sekunde, die über sein Leben und das ihre entscheiden sollte. –

„Wieviel Tropfen, Ernst?“

Ernst sah sie an, klar, durchdringend.

„Fünfzig Tropfen,“ sagte er todesruhig.

Die Frau schüttelte zweifelnd den Kopf; sie hob den Papierstreifen am Halse der Flasche, 20–30 Tropfen hatte daraufgestanden, aber die Zahl am Ende des Streifens war durch ein Versehen abgerissen, die Dreißig war so geschrieben, daß man sie leicht für eine Fünfzig halten konnte. –

Fünfzig Tropfen!

Mit all ihrem Sinnen und Denken schon bei der furchtbaren Stunde, die ihr bevorstand, zählte Franziska mechanisch die Tropfen ab, dreißig, vierzig, fünfzig – und Ernst sah zu und zählte mit – und ihm war, als flösse sein Leben so, Tropfen um Tropfen, hinab in die Ewigkeit. –

In diesem Augenblick trat das Stubenmädchen herein und brachte das Frühstück für den Herrn; sie blieb ruhig abwartend stehen und sah zu, wie Franziska die Tropfen eingoß, sie sah, wie die Hand der Frau zitterte und ein paar der glasklaren Tropfen über den Rand des Löffels liefen.

Es war geschehen.

Ernst schluckte die bitteren Tropfen hinunter, seine Augen ruhten immer noch mit demselben klaren, fast unirdischen Blick auf dem bleichen unruhigen Gesicht der Frau. Aber sie schlug die schönen kummervollen Augen nicht auf – sie gab ihm auf sein Geheiß etwas Wein zu trinken, dann legte er sich zurück und sagte aufatmend: „Ich danke Dir, Franziska. So – das wird gut thun.“

„Und das Frühstück, Herr Regierungsrat,“ mahnte Lisbeth, schüchtern herantretend.

Er wehrte mit der Hand ab. „Jetzt nicht!“

Lisbeth warf einen scheuen Blick auf den Herrn, auf die Frau. Wie sonderbar die beiden waren, so ernst, so schweigsam – gerade als wenn sie ’was miteinander gehabt hätten, mußte sie denken. „Franziska“ hatte der Herr zur Frau gesagt – so hatte er sie noch nie genannt. Kurios! Das mußte sie Rieke erzählen, sobald die nur vom Markt zurückkäme.

So ging sie mit ihrem Frühstücksgerät wieder hinaus in die Küche.

Es schlug dreiviertel Zehn. Franziska brannte der Boden unter den Füßen, sie mußte fort. Die dumpfe Herzensangst der letzten Tage war zum Riesen herangewachsen, der das junge Weib mit eiserner Faust unter seinen Bann zwang, daß sie fast willenlos diesem unerbittlichen Zwange folgen mußte.

Sie stand zu Füßen von Ernsts Bett – ihr Herz klopfte in starken Schlägen, daß sie es nicht bloß fühlte, sondern hörte, deutlich hörte; sie hielt die kalten zitternden Finger fest ineinandergeschlungen, wollte sprechen, aber ihre Zunge versagte den Dienst. Endlich brachte sie mühsam, mit heiserer Stimme die Worte hervor: „Wünschest Du noch etwas, Ernst?“

Er hatte still, wie ein Todmüder, dagelegen, jetzt schlug er die Augen auf und sah sie an mit einem Blick, der ihr – hätte sie ihn gesehen – das Herz zerrissen hätte – und sagte langsam: „Nein, ich danke. Geh' in Frieden, Franziska!“

Sie wankte. Es war, als müsse sie vor dem Bett in die Knie sinken, als müsse sie ihr Haupt an Ernsts Brust legen und ihm alles bekennen – alles, was wie eine schier unerträgliche Last auf ihrer Seele lag, was sich wie eine Mauer, höher und höher anwachsend, zwischen ihr und ihrem Gatten aufbaute; aber mit einem letzten heldenhaften Aufraffen ihrer physischen und geistigen Kräfte drängte sie dies stürmische Begehren zurück. Sie griff nicht einmal nach seiner Hand, die reglos auf der Decke lag, sie wagte keinen Blick auf sein Angesicht; hätte sie ihn nur berührt, hätte sie ihn nur angesehen – noch in dieser letzten Minute wäre sie sich selber untreu geworden, und alles – das ganze ungeheure Opfer, das sie sich auferlegt, wäre vergebens gewesen!

Diese letzte Minute am Krankenbett ihres Gatten ward für sie zur Ewigkeit, in der ihre junge Seele ein Martyrium sondergleichen durchlitt.

Ohne ein Wort, ohne einen Blick schritt sie hinaus wie ein Held. – –

Franziska war fort. Mit hastigen Worten hatte sie dem verdutzten Hausmädchen eingeschärft, für den Herrn zu sorgen, hatte sich eine Droschke holen lassen und war fortgefahren. Immer unter demselben Druck jener dumpfen fürchterlichen Angst, die sich fast betäubend auf Herz und Hirn legt, wie bei einem Verbrecher, der sich zum letzten Gange anschickt. –

Kaum war die Droschke davon, als Doktor Böhmer auf einem offenen Gutswagen, der ihn aufs Land hinaus holte, vorüberfuhr. Er sah das ihm wohlbekannte Mädchen von Wodrichs noch unter der Hausthür stehen und sich rechts und links mit einem so sonderbaren Gesichtsausdruck umschauen, daß es ihm sofort auffiel. Der Kutscher mußte halten, und Doktor Böhmer rief das Mädchen an. „Was ist denn bei Ihnen los?“ fragte er barsch. „Was haben Sie hier zu gucken?“

„Ach, Herr Doktor,“ stotterte Lisbeth ungeschickt, „ich weiß nicht, bei uns ist heut’ alles so sonderbar. Die gnädige Frau ist fort, und der Herr …“

„Was ist mit dem Herrn?“

„Je, ich weiß nicht. Er wollte kein Frühstück und er sieht so schlecht aus …“

„Verrücktes Gewäsch!“ brummte der Doktor, sprang indes nichtsdestoweniger vom Wagen, bedeutete den Kutscher, ein paar Minuten zu warten, und ging mit dem Mädchen ins Haus. In diesem Augenblick kam Rieke mit ihrem schwerbeladenen Korbe vom Markte zurück. „Zum Kuckuck, müssen Sie auch gerade jetzt ausrennen und können nicht aufpassen!“ fuhr der alte Herr die Ahnungslose an. „Nun haben wir die Bescherung! Die Frau ist ausgegangen – mit solch einem Brüllhusten, bei dem schönsten Ostwind, den man sich denken kann …“ er konnte nicht weiter, pustend, atemlos blieb er auf dem Treppenabsatz stehen.

„Ausgefahren,“ verbesserte das junge Hausmädchen, das sich jetzt schon vor Riekes heiligem Donnerwetter fürchtete.

„Ganz egal – Ihr hättet sie nicht weglassen sollen,“ knurrte der Doktor. Sie standen vor der Flurthür, Rieke schloß auf; sie war noch immer sprachlos, was ihr selten genug passierte, stellte ihren Korb ohne weiteres in den Flur ab und ging hinter dem Doktor her ins Schlafzimmer.

Der Kranke lag wie schlafend, sein Gesicht war sehr blaß mit tiefen bläulichen Schatten. Doktor Böhmer griff nach dem Puls. „Nicht möglich!“ murmelte er, legte die Hand auf das Herz und beugte sich dann, wie in plötzlicher Ahnung, zu den Lippen des Kranken nieder. Ein schwacher Geruch von bittern Mandeln bewies ihm, daß er sich nicht geirrt. Verstört blickte er sich um, suchte mit den Augen nach dem verhängnisvollen Fläschchen – richtig, dort stand’s auf dem Tisch in der Mitte des Zimmers. Eine wirre Gedankenflut schoß auf ihn ein – in der nächsten Sekunde jedoch war er wieder der Arzt, der ruhige, kühl besonnene. „Rieke, schnell starken Kaffee gekocht – die andere Dirn’ soll in die Apotheke …“ Er riß einen Zettel aus seinem Notizbuch, kritzelte ein paar Worte darauf. „Hier – aber so rasch als möglich!“

[63] Doktor Böhmer setzte sich nach diesen ersten Vorkehrungen auf den Rand des Bettes und begann, den Körper des Kranken zu reiben, mit breiten, langsamen Strichen das stockende Blut dem Herzen zuzutreiben.

Rieke begriff sofort, daß hier etwas Schlimmes passiert sei, sie verschob ihr Verhör mit Lisbeth nebst dazugehöriger Strafrede, schickte sie in die Apotheke, ohne der Bestürzten Zeit zu lassen auch nur ein einziges Wort zu äußern; sie selber lief in die Küche, so schnell ihre alten Füße sie trugen. Als Lisbeth nach einer Viertelstunde zurückkehrte, geschah es, zu Riekes grenzenlosem Aerger, in Begleitung des Fräuleins von Hagen. „Die hat uns gerad’ noch gefehlt!“ brummte sie und schleuderte dem jüngeren Mädchen einen wütenden Blick zu. Lisbeth zuckte die Achseln. Auf ihrem Weg zur Apotheke hatte sie die Dame getroffen, und als Aurelie sie anredete, hatte sie die gute Gelegenheit wahrgenommen, um ihrem gepreßten Herzen endlich Luft zu machen. Durch geschicktes Ausfragen hatte Aurelie von dem harmlosen schwatzlustigen Ding alles herausbekommen, was sie wissen wollte, daß der Herr so krank, und die gnädige Frau mit der Droschke fortgefahren sei. Das letzte sei noch gewesen, daß die gnädige Frau dem Herrn Medizin gegeben, viele, viele Tropfen – und der Herr hätte „so sonderbar“ ausgesehen und hätte die gnädige Frau „Franziska“ genannt. Und alles sei so kurios gewesen wie noch nie. Daß so was aber auch immer gerade passieren müsse, wenn Rieke fort sei, und daß sie, Lisbeth, dann dafür die Schuld bekäme. Und dabei hätte die gnädige Frau selber heute früh Rieke auf den Markt geschickt, und nun sei der Doktor Böhmer da und mache ein Hallo – nicht zum Aushalten!

Fräulein von Hagen wollte direkt ins Krankenzimmer dringen, allein Rieke vertrat ihr energisch den Weg. Kein Mensch dürfe hinein, erklärte sie aus eigener Machtvollkommenheit, und wenn das gnädige Fräulein den Doktor sprechen wolle, so möchte sie, bitte, vorn im Wohnzimmer warten. So komplimentierte sie Aurelie ohne viel Umstände ins Wohnzimmer, nahm die Medizin und ging zu Doktor Böhmer hinein. Der hatte dem Patienten Löffel auf Löffel von dem starken schwarzen Kaffee eingeflößt, hatte dazwischen emsig das Reiben fortgesetzt und blickte jetzt mit einer gewissen Genugthuung auf die Brust des Kranken, die sich in schwachen Atemzügen hob und senkte.

„Herrgott, der Wagen!“ erinnerte er sich plötzlich. „Rieke, geben Sie dem Kutscher einstweilen einen Bittern, daß der Kerl nicht die Geduld verliert. Er soll eine Viertelstunde lang auf- und abfahren – dann, denke ich, sind wir hier über’n Berg.“ Während des Sprechens flößte er dem Kranken die Medizin ein und erlebte bald darauf, was er gehofft und erwartet, ein gehöriges, den ganzen Körper erschütterndes Erbrechen.

Später, als Ernst Wodrich dann wieder still und aufs äußerste ermattet in seinen Kissen lag, redete der alte Herr auf ihn ein – nicht, wie zu einem Kranken, sondern wie zu einem Gesunden. Galt es doch jetzt, den Patienten um jeden Preis wach zu erhalten. Er sprach über Politik, über die neue städtische Steuer, über das entsetzliche Unglück auf der „Brandenburg“ – aber das alles rauschte unverstanden an dem betäubten Gehirn des Kranken vorüber.

Doktor Böhmer sah, daß er tiefer greifen müsse. „Wo ist Ihre Frau, Wodrich?“ fragte er langsam und eindringlich.

Ernst schlug die Augen auf und sah ihn an – und der erfahrene Menschenkenner ward sich bewußt, daß für diesmal die Gefahr überstanden sei, daß der Geist, der bewußtlos in weite Fernen entrückt gewesen, sich anschickte, in sein Haus zurückzukehren; langsam dämmerte in diesen leerblickenden tiefliegenden Augen ein schwacher Strahl des Verständnisses herauf, langsam färbten sich die fahlen Wangen mit einem Hauch von Lebensröte.

„Wo ist Franziska?“ fragte der Doktor nochmals und griff nach des Kranken Hand.

Ernsts Lippen bewegten sich, mit Anstrengung brachte er das eine Wort hervor. „Fort“ – und machte dazu eine schwache Handbewegung nach der Thür.

Der Arzt drehte sich um, Rieke, die ihm fortwährend hilfreiche Hand geleistet, war noch zugegen; sie stand und starrte auf ihren Herrn, und ihr langsam denkender Verstand mühte sich, die geschehenen Dinge zusammenzureimen.

„Kommen Sie hierher, Rieke!“ gebot der Doktor, seinen Patienten immer fest im Auge behaltend, „und sprechen Sie laut und deutlich, damit der Herr Sie verstehen kann. Seit wann ist die gnädige Frau fort?“

„Seit zehn Uhr,“ berichtete Rieke, die sich inzwischen durch Lisbeth genau orientiert hatte.

„Wo ist sie hingefahren?“

„Lisbeth meint, zur Frau Rätin Lorenz. Die gnädige Frau hat dem Kutscher noch eine andere Adresse hinterher gesagt, das hat Lisbeth aber nicht mehr verstanden.“

„So, hm – noch eine andere Adresse,“ wiederholte der alte Herr und beobachtete den Kranken mit scharfem Blick.

„Wie konnten Sie leiden, daß Ihre Frau bei dem bösen Märzwinde ausging?“ sagte er dann zu Ernst. „Sie hätten sie unbedingt zurückhalten müssen!“

Ernst wandte den Blick ab. „Sie hätte sich schwerlich zurückhalten lassen,“ murmelte er, unwillkürlich dieselben Worte brauchend, die Aurelie von Hagen einst zu ihm gesprochen.

„So. – Was denken Sie eigentlich wohl von Ihrer Frau, Wodrich?“ fragte Doktor Böhmer heftig, die Gegenwart der alten Köchin außer acht lassend.

Ernst antwortete nicht – aber ein bitteres Lächeln flog über sein Gesicht.

„Soweit sind wir also schon wieder,“ nickte der Arzt befriedigt, er beugte sich über den Kranken und dämpfte seine Stimme. „Wer hat Ihnen die verdammten Tropfen gegeben, Wodrich?“

„Ich … ich habe sie selbst genommen,“ stammelte Ernst, unter den forschenden Blicken des alten Freundes die Augen niederschlagend.

„So, so, selbst genommen … wie kommt denn die Flasche dort auf den Tisch?“

Da Ernst beharrlich schwieg, sagte der Arzt ruhig: „Franziska hat sie Ihnen gegeben, das weiß ich durchs Mädchen. Ich möchte nur wissen, wie Sie das arme Weib dazu gebracht haben, Wodrich?“

„Ich habe sie darum gebeten.“

„Wieviel Tropfen?“

„Fünfzig.“

„Zum Kuckuck, Herr, sind Sie denn ganz des Teufels?“ rief Doktor Böhmer aufspringend.

„Und sie hat sie Ihnen gegeben?“

„Sie wußte nicht, was es war. Franziska kennt kein Morphium – sie hat dies Fläschchen bisher noch nie in Händen gehabt,“ beteuerte Ernst.

„So – na, ich will’s ja glauben – also waren Sie der Anstifter?“ fragte der alte Herr und blickte seinen Patienten aus den großen runden Brillengläsern zornig an.

„Ich ganz allein.“

„Na, Sie müssen’s ja verantworten, Wodrich! – Ich weiß nicht, was es zwischen Euch gegeben hat, dränge mich auch nicht hinein – aber als alter Freund will ich Euch den guten Rat geben: Macht nur hübsch Frieden miteinander – Ihr geht sonst alle beide dran zu Grunde,“ sagte der Doktor mit großem Ernst. Dann reichte er Wodrich die Hand. „Ich muß jetzt gehen, habe meinen Kutscher ohnehin schon länger warten lassen, als ich’s verantworten kann.“

Er winkte Rieke, mit hinauszukommen.

„Was ist das mit Ihrer Frau, Rieke? Wohin ist sie? Sie muß unbedingt wieder hergeschafft werden, und das so schnell wie möglich! Schicken Sie die andere Dirn’ mit einer Droschke zu der Rätin Lorenz und lassen Sie die Gnädige holen! Aber die kleine Person soll reinen Mund halten und ihre Frau nicht durch allerhand Schnickschnack aufregen. Sie aber bleiben beim Herrn, setzen sich ans Bett und reden fortwährend mit ihm, er darf nicht wieder einschlafen. Können Sie das?“

Rieke sah den Doktor in treuherziger Verlegenheit an. „Je – was soll ich denn doch bloß reden? Wenn’s noch die Frau wäre – aber der Herr …? So Herren verstehen ja nix!“ meinte sie bedenklich.

„Ganz egal, Rieke, reden müssen Sie! Er darf uns nicht [64] wieder einschlafen, verstanden? Ich muß jetzt fort, denke in höchstens zwei Stunden wieder hier zu sein.“

„Je, Herr,“ sagte Rieke, wie von einem guten Einfall erhellt, „Fräulein von Hagen is ja da, dem Herrn seine Cousine. Kann die das Reden nicht besorgen?“

„Meinetwegen,“ brummte der Doktor. „Gern sehe ich die … hm, die Dame zwar nicht im Krankenzimmer, aber in der Not …“ – er konnte den unhöflichen Satz nicht vollenden, denn Fräulein von Hagen hatte, durch das Sprechen aufmerksam gemacht, die Wohnstubenthür geöffnet. Als sie den Doktor erblickte, kam sie sogleich auf ihn zu. „Kann ich Ernst sehen, Herr Doktor?“

„Ja, ja,“ nickte er, nicht gerade erbaut, „gehen Sie hinein und reden Sie mit ihm! Je mehr, je besser. Er hat aus Versehen ein bißchen zuviel Schlaftropfen genommen – da wir ihn zur Not wieder so weit haben.“ Er wandte sich an Rieke und sagte leise: „Und Sie schaffen mir die Frau zur Stelle, und hernach gleich ins Bett mit ihr. Die müssen wir jetzt ’mal ganz energisch in die Kur nehmen. – Das ist ja ein ganz störriges Volk, einer wie der andere!“ brummte er noch im Hinausgehen.

So betrat Aurelie von Hagen zum drittenmal das Krankenzimmer.

Ernst beachtete sie kaum, er lag still und apathisch da – sie plauderte vom Wetter, vom Theater, von Franzels herrlichen Hyazinthen drüben im Wohnzimmer – er schien es kaum zu hören.

„Daß er mir nur nicht einschläft,“ dachte Aurelie in aufrichtiger Besorgnis und grübelte, wie sie sein Interesse fesseln könne – und auch sie verfiel auf dasselbe Thema wie vorhin Doktor Böhmer – freilich aus ganz anderen Motiven.

„Sehr unrecht von Franziska, Dich allein zu lassen, Ernst,“ begann sie tadelnd, und als er keine Antwort gab, fuhr sie mit erhöhtem Eifer fort: „Ich sagte Dir neulich schon, Du müßtest sie etwas strenger nehmen, besser auf sie achten. Aber Du wolltest ja nicht hören!“

Ernst hob die Augen und richtete einen mahnenden Blick auf seine Cousine.

„Redest Du nur so ins Blaue hinein, oder weißt Du etwas Positives über … über …“ – er wollte „meine Frau“ sagen, verbesserte sich aber und sagte kurz „Franziska?“

Aurelie blickte betreten vor sich nieder; auf eine klare Auseinandersetzung war sie nicht vorbereitet, sie hatte nur andeuten, warnen wollen.

„Sprich!“ wiederholte er hart.

Nun denn! Sie zuckte mit den Achseln, wenn Ernst so vorgehen wollte, so konnte sie ja reden. Mochte dann kommen, was da wollte – ihre Schuld war’s nicht.

So begann das kluge redegewandte Weib dieses ganze, feinerklügelte Gewebe von Franziskas Leichtsinn und Untreue vor Ernsts Augen auszubreiten. Bloße Vermutungen wurden als Thatsachen hingestellt, Franzels eigenes angsterfülltes Geständnis geheimer Beziehungen zwischen ihr und Doktor Sonnenthal kam als schwerwiegender Schuldbeweis hinzu. Doktor Sonnenthals Brief, Franziskas wiederholte Ausgänge trotz des ärztlichen Verbotes, ihre zweimaligen Besuche bei dem Rechtsanwalt – dies alles, was der Wahrheit so vollkommen entsprach, war so sein mit allerlei versteckten häßlichen Andeutungen verwoben, daß es eines unbefangeneren Urteils als das des[WS 1] schwerbeleidigten Ehemanns, eines klarer denkenden Verstandes als des eines Kranken bedurft hätte, um die Lüge von der Wahrheit zu unterscheiden.

Mit aller Denkkraft seines leidenden Gehirns suchte Ernst diesen klugen Auseinandersetzungen zu folgen. Er unterbrach seine Cousine mit keinem Wort, mit keiner Frage, und als sie geendet, schwieg er lange, lange. Sein Blick war nach innen gekehrt, all sein Denken suchte angestrengt in der eigenen Erinnerung nach Thatsachen, die seines Weibes Unschuld beweisen sollten. Wäre er der starke gesunde Mann gewesen, nimmer wäre es Aurelie gelungen, Franziska bei ihm zu verdächtigen. Sein scharfer Verstand hätte das ganze heuchlerische Lügengewebe durchschaut, sein gerechter Zorn hätte das falsche Weib für immer aus seinem Hause getrieben, aber so lag all seine Manneskraft, die körperliche wie die geistige, in den lähmenden Banden der Krankheit, und wie er auch sann und sein schmerzendes Hirn zermarterte – er fand nichts, nichts, was sein Weib in dieser Stunde freisprach.

Gewiß, ihr Mädchenleben war so kurz, so klar, so ereignislos gewesen – und dennoch gab es darin eine Beziehung, die Franziska ihm verschwiegen, ein unseliges Etwas, das sich aus der Vergangenheit in die Gegenwärt herüberschlich.

Gewiß, dieses erste Jahr ihrer Ehe war so ruhig, so friedvoll glücklich verlaufen – aber weshalb? Weil die Stunde der Versuchung noch nicht gekommen war. Jetzt ist sie da – und Franzel, sein reines herrliches kindliches Weib, ist ihr unterlegen! Jedes Wort, das der alte Hausarzt gesprochen, taucht wieder in Ernsts Erinnern auf: von Franziskas Leiden, das weit mehr seelischer als körperlicher Natur sei, von geheimem Weh, das sie quäle. Sie hat gekämpft, hat gelitten an seiner Seite – natürlich, ein reines stolzes Weib erliegt nicht sogleich der Versuchung – und dann hat sie doch den ersten Schritt ins Verderben gethan.

Den ersten? Und wer bürgt ihm dafür, daß es bei diesem ersten geblieben?

Kalter Schweiß tritt auf seine Stirn, und wieder hebt der Kranke mühsam das Haupt und ringt mit dem unsichtbaren Feinde um den Glauben an seines Weibes Treue und Reinheit. Und wie er noch kämpft, wie er sich Herz und Hirn zermartert, sieht er sie vor sich, wie sie Tag und Nacht sorgend, pflegend an seinem Lager gesessen – sie, das junge blühende Geschöpf, und er, der die Höhe des Lebens schon fast überschritten. Er sieht die heimliche Unruhe in ihren schönen Augen, die wechselnde Röte und Blässe ihrer Wangen, sieht – Gott im Himmel, wie konnte er das vergessen! – er sieht sie vor sich in jener Stunde, wo sie den Brief erhielt, den sie vor ihm verbarg, wo sie ihn belog, wo sie wie eine Schuldbewußte vor seinem Bett niedergesunken war in heißen Thränen ……

Da giebt er den Kampf auf, den nutzlosen – über seines Weibes Ehre und seiner eigenen schlagen die schmutzigen grausamen Wogen der Verleumdung zusammen. Still liegt er da, nur seine Hand ballt sich wie in Zorn oder Schmerz – und das Weib an seiner Seite schaut auf ihn nieder und weiß, daß sie ein Menschenglück zunichte gemacht.

„So thatest Du mir,“ flüstert sie, die Hand aufs Herz pressend – dann steht sie auf und tritt ans Fenster.

Was ging sie jetzt noch der Kranke an? Mochte er wachen oder schlafen, leben oder sterben – ihr war’s einerlei! Bis zu dieser Stunde hatte sie noch gehofft – sie wußte selbst kaum, auf was! Nun hat ihre Rache alles zunichte gemacht, sie fühlt, daß alles vorbei ist, daß Ernst ihr nie vergeben wird! Ihr Spiel ist ausgespielt – in diesem Hause hat sie nichts mehr zu schaffen.

Lange stand sie und starrte gedankenschwer auf den Fluß jenseit des winterlich kahlen Gartens, der in träger, brauner Flut dahinzog – so freudlos, so öde wie ihr eigenes Leben, stand und schaute, die Stirn an die kalte Scheibe gepreßt, bis die Augen ihr brannten, bis der Klang der Wohnungsglocke und der Laut einer Stimme sie aufschreckte.

Auch der Kranke, der reglos dagelegen, hatte diesen Laut gehört und erkannt, er machte eine Bewegung – sofort war Aurelie neben seinem Bett.

„Franziska ist da – soll ich sie rufen?“ fragte sie atemlos.

Ernst schüttelte den Kopf. „Jetzt nicht,“ sagte er schwach.

In ihre Hand gegeben – das ist’s ja, was sie gewollt! Aug’ in Aug’ mit ihrer Feindin will sie sie zwingen, aus ihrer Hand den bittern Kelch der Demütigung zu leeren.

Sie ging hinaus.

Franziska war heimgekommen.

Endlos lange hatte sie warten müssen in einem schmalen, überheizten, dumpfigen Korridor des riesigen Gerichtsgebäudes, wo die Leute ruhelos kamen und gingen, wo die Rechtsanwälte und Gerichtsschreiber mit ihren schweren Aktenbündeln hin und herliefen; wo unablässig an all den vielen Thüren des langen Korridors die Namen der Vorgeladenen aufgerufen wurden; wo alt und jung mit feierlich ernsten Gesichtern umherstand. Die Viertelstunden waren ihr zur Ewigkeit geworden; dies ruhelose Kommen und Gehen, das monotone Raunen und Flüstern rings um sie her verwirrte sie und verursachte ihr fast körperliche Pein. Nur der Zuspruch der treuen Freundin und die äußerste Willenskraft hatten sie aufrecht gehalten.

Die „Sache Wodrich“ kam an die Reihe.

Franziska fuhr zusammen, als der Name laut an ihr Ohr klang. Die Pein des Wartens hatte ein Ende – zitternd, totenblaß betrat sie den Gerichtssaal.

Dann aber war alles überraschend schnell gegangen. Der Kläger hatte zwei Zeugen beigebracht, junge Verkäuferinnen, die [66] dem fraglichen Auftritt beigewohnt; als deren Vernehmung beginnen sollte, trat die eine, durch des Richters ernste Mahnung eingeschüchtert, noch vor dem Schwur zurück. Die zweite legte den Zeugeneid ab, verwickelte sich dann aber bei den Kreuz- und Querfragen des Verhörs in allerlei Widersprüche und gestand endlich weinend: genau gehört hätte sie überhaupt nichts, da sie viel zu weit entfernt gestanden. Die Rätin Lorenz legte klar und sicher ihr Zeugnis ab, das fast wörtlich mit Franziskas eigener Aussage übereinstimmte; dann hatten die beiden Rechtsanwälte das Wort. Der gegnerische Anwalt versuchte mit großer Redegewandtheit, seinen Klienten herauszureißen – aber es gelang ihm nicht. Doktor Sonnenthal faßte alle seine Klientin völlig entlastenden Thatsachen in kurzer scharfdurchdachter Rede zusammen – dann zog sich der Gerichtshof zurück und nach kurzer Beratung verkündete der Richter das Urteil: die Angeklagte ward von jeglicher Schuld freigesprochen – der Kläger aber wurde zur Tragung sämtlicher Kosten verurteilt.

Franzel hatte die ganze Zeit, dem Rat ihres Rechtsanwalts folgend, neben der so grenzenlos gefürchteten Anklagebank gestanden; je weiter die Verhandlung vorschritt, desto mehr schwand die lähmende Angst, die seit Wochen auf ihr gelegen. Sie hörte die ruhige Aussage der Rätin, die kurze überzeugende Rede ihres Verteidigers und sagte sich mit stillem Dank, daß es selbst in dieser schweren Stunde noch Freunde gäbe, die treu und unentwegt ihr zur Seite stünden. – Dann war alles überstanden. Doktor Sonnenthal ließ es sich nicht nehmen, die junge Frau an den Wagen zu geleiten, und wie er sie ansah, mit diesem Ausdruck stiller Seligkeit in den verweinten Augen, in dem blassen vergrämten rührenden Kindergesicht – da ward ihm doch, trotz aller Schneidigkeit, recht wunderlich ums Herz. „Nun fährt sie heim – beneidenswerter Kerl, der Wodrich!“ murmelte er zwischen den Zähnen.

Ein letzter dankender Händedruck und die Droschke rollte fort. So kam Franziska heim – nicht ganz so glücklich, so frei, so erlöst, wie ihre Freunde glaubten. Das Schwerste kam ja noch – jetzt mußte Ernst alles wissen – und jählings fiel es ihr auf die Seele, wie krank, wie verstört er diesen Morgen gewesen.

Aber Geduld! In einer Viertelstunde wird er alles wissen. Dann wird alles gut sein und sie wird ausruhen dürfen von all dem bangen schweren Leid – ausruhen in seinen Armen!

Als Franzel die Hand auf die Thürklinke von Ernsts Zimmer legte, stand sie sekundenlang still, um sich zu sammeln, ihrer heftigen Erregung Herr zu werden, ehe sie zu ihm hineinging. Da ward die Thür von innen geöffnet – Aurelie stand auf der Schwelle.

„Du hier?“ stammelte die junge Frau erschreckt und staunte Fräulein von Hagen mit großen Augen an. Rieke, die ihr draußen die Thür geöffnet, hatte absichtlich kein Wort von Ernsts plötzlicher Erkrankung, noch von Fräulein von Hagens Anwesenheit gesagt.

Aurelie zog die Thür hinter sich zu, Franzel somit den Eintritt und sogar jeden Einblick versperrend. „Ja, ich bin hier – an dem Platze, den Du verlassen,“ sagte sie sodann mit kalter Ruhe und faßte nach Franziskas Hand, um die junge Frau fortzuführen. Rieke stand mißtrauisch beobachtend im Hintergrund, jetzt trat sie vor. „Die gnädige Frau soll ins Bett, Fräulein – der Doktor hat’s gesagt,“ gab sie energisch ihre Meinung kund.

„Ich werde sie schon zu Bett bringen,“ erwiderte Fräulein von Hagen abweisend.

„Laßt mich zu meinem Mann!“ rief Franziska dazwischen, von bangem Ahnen erfaßt, und strebte, ihre Hand freizumachen.

„Ernst will Dich gar nicht sehen!“ zischelte Aurelie nahe an Franzels Ohr, während sie die junge Frau gewaltsam nach den vorderen Zimmern drängte. Mit einem Ruck riß die Gequälte ihre Hand los, stolz und aufrecht stand die zarte kleine Frau vor ihrer Feindin und maß sie mit flammendem Blick. „Das ist Dein Werk!“

Fräulein von Hagen zuckte gleichmütig die Schultern. „Wie Du es nehmen willst. Aber bitte, komm’ ins Zimmer, es ist nicht nötig, daß Deine Dienstboten unserer Unterredung beiwohnen.“

„Ich will zu Ernst!“ rief Franzel mit aufwallendem Trotz.

„Und ich sage Dir, er will Dich nicht sehen,“ wiederholte Aurelie höhnisch.

Da fügte sich die junge Frau – stolz erhobenen Hauptes schritt sie ihrer Feindin voran in das stille trauliche Wohnzimmer, wo die Hyazinthen dufteten.

„Was willst Du von mir, und was ist hier vorgegangen?“ fragte sie dann kurz.

Aurelie maß sie mit einem spöttischen Blick. „Du lieber Himmel – nur nicht so hochmütig, Prinzeß!“ sagte sie in beißendem Ton. „Wenn man vom Rendezvous mit seinem ‚Freunde‘ kommt, wenn man seinen Gatten beinahe umgebracht hat …“

„Was?“ schrie Franziska auf, die bei diesen Worten völlig ihre Fassung verlor. „Was ist mit Ernst? O Gott – die Tropfen …?“

„Morphium“, schaltete Aurelie ein.

„Morphium? – und ich gab sie ihm …“

„Ja – Du gabst sie ihm,“ wiederholte die grausame Stimme.

Franzel schlug sich verzweifelnd vor die Stirn und wollte hinausstürmen; aber wieder kam Aurelie ihr zuvor. Geschmeidig wie eine Katze, war sie mit einem Sprunge an der Thür, drehte den Schlüssel herum und zog ihn ab. „Keinen Skandal!“ sagte sie hart und riß Franziska von der Thür zurück. „Bleib’ nur, bleib’! Er lebt ja – aber er will nichts mehr von Dir wissen. Diese Stunde ist mein, hörst Du? – und ich will Dir endlich einmal alles sagen, was ich auf dem Herzen habe.“ Sie führte Franziska, die jetzt nur schwach widerstrebte, in den Hintergrund des Zimmers und drückte sie in einen Sessel nieder; sie selbst blieb in ihrer ganzen stattlichen Größe vor ihr stehen.

„Ich wollte nur sagen,“ fuhr sie kaltblütig fort, „nachdem man das alles gethan und dabei ertappt worden ist, hat man wahrlich nicht nötig, die gekränkte Unschuld zu spielen. – Also Du warst doch richtig zum Rendezvous mit Doktor Sonnenthal?“

„Wo ich war, geht Dich gar nichts an,“ rief Franziska, deren Gemütsverfassung ein beständiger Kampf zwischen zornigem Trotz und hilflosem Weinen war. „Ich will jetzt wissen, was mit Ernst ist! Ist er kränker geworden?“

„Dein Mittel hatte gut gewirkt – schade, daß Doktor Böhmer dazwischen kam,“ sagte Fräulein von Hagen langsam, der es eine wahnsinnige Freude bereitete, ihr Opfer zu quälen; dabei mußte sie immer wieder die Aufspringende zurückhalten. „Uebrigens weiß er jetzt alles.“

„Alles?“ wiederholte Franzel in Todesangst; doch dann gewannen Trotz und Stolz, gewann die Macht des guten Gewissens die Oberhand über Angst und Schwäche des jungen Weibes. „Gut – wenn er alles weiß, dann will ich zu ihm – dann muß er mir ja verzeihen!“ rief sie.

„Hier bleibst Du!“ zischte Aurelie, ihrer selbst nicht mehr mächtig. „Wisse, Ernst verzeiht Dir nie – aber Du sollst hören, was ich Dir zu sagen habe.

Sieh’, ich war ein armes alleinstehendes Mädchen und ich fand eine Zuflucht, fand ein Heim in Ernsts Hause. Wir lebten so froh und in Frieden, ich sorgte für ihn und ich liebte ihn – nein, ich betete ihn an. Er brauchte mich, hörst Du? – ich war ihm nötig zu seinem häuslichen Glücke und eines Tages würde er es erkannt und mich zu seinem Weibe gemacht haben. Bei Gott! ich wäre ihm ein gutes demütiges Weib geworden – eine Gefährtin, ein treuer Kamerad – nicht solch ein armseliges zerbrechliches Spielzeug wie Du! – Da kamst Du –“ Mit sprühenden Augen und erhobenen Händen, wie ein Dämon der Rache, stand das alternde Mädchen vor dem jungen Weibe; selbst in diesem Augenblick leidenschaftlichster Erregung sah man noch die Spuren einstiger Schönheit auf dem verblühten Antlitz – ja es war, als ob in all dem Schmerz und Zorn ein Schimmer längstvergangener Jugend ihre Züge verschönte. Schweigend, in sich zusammengesunken, das Gesicht in den Händen vergraben, saß Franziska da; sie wehrte sich nicht mehr – eine völlige Nervenabspannung war eingetreten, fast unverstanden rauschten die haßerfüllten wilden Worte an ihrem Ohr vorüber.

„Da kamst Du und stahlst mir sein Herz, sein treues, festes, stolzes, ein Herz, das Du gar nicht begreifst und nie begreifen wirst, Du kindisches Geschöpf! Ich mußte gehen, und Du wurdest die Herrin seines Hauses, und Ihr habt mich an Euern Tisch geladen, damit ich mich vor Qual und Sehnsucht verzehren sollte beim Anblick Eures Glückes. Glück – als ob Du diesem Manne das Glück geben könntest, wonach sein Herz verlangt! – Mein Glück und das seine hast Du gestohlen, nun geh’ hin und sieh zu, was Dir geblieben!“ –

Sie trat zurück und gab Franziska frei, und ohne sich nach ihr umzusehen, schritt sie zur Thür; aber ehe sie noch aufgeschlossen, ward von draußen stark geklopft und die Thür zu öffnen versucht. Aurelie schloß auf – Doktor Böhmer stand ihr gegenüber. [67] „Was geht denn hier vor?“ fragte er erstaunt. „Wo ist Frau Wodrich?“

Jetzt hatte er Franziska entdeckt, die, mit dem Rücken nach der Thür gewandt, in einem tiefen Sessel lehnte, die Hände vor das Gesicht gepreßt. Beim Klange seiner Stimme hob sie den Kopf und sah ihn an – sekundenlaug irrten ihre Augen über ihn hin, als kenne sie ihn nicht – dann stieß sie einen heiseren schluchzenden Schrei aus, streckte ihm beide Hände entgegen und wimmerte: „O helfen Sie mir, helfen Sie mir!“ Sie wollte aufstehen, aber ihre Glieder versagten den Dienst, im Nu war er neben ihr, stützte die kleine zitternde Gestalt mit seinen Armen und mühte sich ungeschickt, ihr verwirrtes Haar zu glätten. „Ruhe, mein Seelchen, Ruhe, Ruhe!“ murmelte er, von ihrem Anblick erschüttert, dann – als er sah, daß Fräulein von Hagen noch an der Thür stand, bäumte sich etwas in ihm auf, und die Hand ausstreckend sagte er gebieterisch. „Sie hätten wohl die Güte, uns allein zu lassen, Fräulein! Ihre Gegenwart bringt diesem Hause keinen Segen.“

Aurelie warf ihm einen haßerfüllten Blick zu und ging – Franzel horchte ängstlich auf die im Flur hin und hergehenden Schritte, bis endlich die Thür zur Treppe mit hartem Schlage zufiel und alles stille ward. „Sie ist fort,“ flüsterte sie aufatmend.

„Jawohl, sie ist fort – und ich werde dafür sorgen, daß sie nicht wiederkommt – niemals!“ erwiderte der Doktor ernst; dann, nach langer Pause, während er ihr Zeit ließ, sich zu beruhigen, sagte er so sanft, wie kein Mensch es ihm jemals zugetraut hätte: „Und jetzt, mein gutes Kind, werden Sie mir einmal alles beichten, was geschehen ist – wollen Sie?“

„Darf ich nicht zu Ernst? O, lieber Doktor, ich möchte zu meinem Mann,“ bat Franzel in rührender Demut, indes die Thränen in ihren großen traurigen Augen standen.

„Später, später!“ beruhigte der Arzt, der vorhin bei Ernst gewesen und aus seinem eigenen Munde gehört hatte, daß er Franziska nicht sehen wolle. „Nun, Seelchen – so reden Sie!“

Und Franzel legte ihre Beichte ab in die Hände dieses treuen alten Freundes, schluchzend und stockend bekannte sie all diese schuldlose Thorheit der letzten Wochen. Anfangs staunend und kopfschüttelnd, zuletzt ergriffen von der selbstlosen Tapferkeit dieser jungen Seele, hörte der Doktor zu. – Dann stand er auf. „Ich gehe jetzt zu Ernst. Beruhigen Sie sich, Kind – bald komme ich, Sie zu holen.“

Er ging in das Krankenzimmer zurück, wo Ernst noch immer in derselben Apathie lag. „Nun helfe mir Gott!“ sprach der alte Arzt, „wenn ihn das nicht herausreißt – dann weiß ich kein Mittel.“ Er zog sich einen Stuhl dicht ans Bett heran und sagte, den Kranken scharf fixierend: „Bitte, hören Sie einmal zu, Wodrich, und achten Sie gut auf meine Worte. Ich will mich kurz fassen – das Nähere kann Ihnen dann jemand anders erzählen. Ihre Frau – nebenbei bemerkt, eine wahre Heldin von einem Weibe – ist unschuldigerweise in eine Angelegenheit verwickelt worden, die vor Gericht zum Austrag kommen mußte. Nein, bitte, unterbrechen Sie mich nicht,“ sagte er, den Auffahrenden mit fester Hand niederhaltend. „Eine bloße Lappalie – um es kurz zu machen, die Geschichte endigte, wie sich das ja von selbst verstand, mit einer glänzenden Freisprechung. Franziska kennt aber doch Ihre Auffassung solcher Dinge, sie hat also geschwiegen, zuerst aus Angst vor Ihrem Zorn, dann wurden Sie krank, und nun – merken Sie wohl auf, Woderich! – beginnt das Heldentum dieser Frau. Sie können sich wohl denken, was das ist: eine Frau, so umsorgt, so behütet, wie die kleine Franzel von Kindheit auf war, soll vor Gericht! Wie ein Schreckgespenst steht das vor ihr, läßt ihr Nacht und Tag keine Ruh’. Aber nur nichts merken lassen! Der kranke Mann muß geschont werden. Tragen, ganz allein tragen! – So geht’s weiter. Bis die Frauen, die Rätin Lorenz ist die andere Beteiligte bei der Geschichte, ihrer Seele keinen Rat mehr wissen und einen Rechtsanwalt befragen, Doktor Sonnenthal – einen Mann, der sich vor zwei Jahren einen Korb bei Franziska geholt, trotz alledem aber ihr Freund geblieben ist. – Ruhig, Ernst! – lassen Sie mich erst ausreden!

So kämpft nun die kleine Frau ihren Kampf durch bis zu Ende; als sie mir das alles erzählte mit ihrer armen zitternden Stimme, der man noch all die Aufregung, die Angst anhörte – bei Gott, Wodrich, ich alter Knabe hätte niederknien und die kleinen Hände küssen mögen! – Darum also die verbotenen Ausgänge, darum die zwei Briefe dieses Doktor Sonnenthal. Uebrigens, aller Ehren wert! Ein Mann, der einer Frau das nicht nachträgt, sondern trotzdem ihr seine Freundschaft bewahrt – na, ich meine, den sollte sich auch der Ehemann zum Freunde machen. Solche Leute giebt’s nicht viel heutzutage!

Und Sie merken nun was und machen sich natürlich die schwärzesten Gedanken. Was, weiß ich ja nicht – kann mir’s aber vorstellen. Und um so was, um so eine elende Kleinigkeit geht beinah’ ein Menschenleben zu Grunde – jawohl, Wodrich, soweit war’s mit Ihnen! – die Frau aber schweigt, schweigt trotz allem – geht heute morgen zu Gericht, so tapfer wie ein Held, wird freigesprochen und nun wartet sie – – soll ich sie holen, Ernst?“

Er nickt nur, sprechen kann er nicht. Eine Minute später führt Doktor Böhmer Franziska ins Krankenzimmer; er sieht nur, wie Ernst seine Arme nach ihr ausbreitet, wie das junge Weib vor dem Bett in die Knie sinkt – dann schließt er leise, ganz leise die Thür. Draußen räuspert er sich, fährt mit der Hand über die Augen und sagt zu sich selber: „Ruhig, alter Kerl, ruhig! Was jetzt da drinnen verhandelt wird, das brauchen nur die beiden allein zu hören – und noch einer, ja! – Was nutzt all unser bißchen Weisheit? Wenn der dort oben nicht aufpaßte, dann wären doch jetzt die zwei Menschenleben in Stücke gegangen – und um was? Um eine Kleinigkeit!“

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: des des