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Ueber die Seelenwandrung. Zweytes Gespräch

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Autor: Johann Gottfried Herder
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Titel: Ueber die Seelenwandrung. Zweytes Gespräch
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aus: Zerstreute Blätter, Erste Sammlung
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Erscheinungsdatum: 1785
Verlag: Carl Wilhelm Ettinger
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Erscheinungsort: Gotha
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[244]
Ueber die Seelenwandrung.

––––––––

Zweytes Gespräch.

     Charikles. Ich hoffe, mein Freund, Sie heut billiger über unsern Gegenstand sprechen zu hören, gestern waren Sie ziemlich warm.

     Theages. Nachdem Sie das Wort Wärme und Billigkeit nehmen. Ists Gleichmuth zu prüfen, so hatte ich sie, dünkt mich, auch gestern; solls aber jene schlaffe Kälte seyn, der alles gleichgültig ist.

     Ch. Nicht eben gleichgültig. Wer könnte gleichgültig darüber seyn, wenn das arme geplagte Menschengeschlecht wenigstens durch einen schönen Traum der Hofnung, Ersatz für seine gegenwärtigen, drückenden Uebel fände? wenn es einige Aufschlüsse über Gott, die Welt, den Lauf des Schicksals bekäme? Wo Seneka’s Gründe aufhören, selbst wo die Religion nicht auflöset, sondern neue Knoten schlägt; da –

[245]      Th. Charikles, lassen Sie uns die Religion, dazu auf eine so zurücksetzende Art nicht ins Spiel mischen. Die weiß wahrlich von der Seelenwandrung in diesem Verstande nichts; und ist mit allen Verheissungen, Drohungen, Befehlen, Beyspielen, die sie giebt, auf einem andern Wege. Das Rad Ixions, der Stein des Sisyphus, das Schöpfen der Danaiden – so etwas mag der ewige Kreisgang des Menschenschicksals seyn; nicht eine tröstende, himmlische Belohnung. In Dante’s Hölle gehen die Heuchler, in bleyernen Mänteln, mit verkehrtem, zurückgebognem Gesicht im Kreise einher: sie gehn ewig und kommen nicht von der Stelle, und sehn immer rückwärts mit ihrem verrenkten Halse.

     Ch. Aber, mein Freund, sehen doch auch Sie nur einige Augenblicke mit Gelassenheit rückwärts. Wie viel Unglückliche sind hinter Ihnen, die es nicht verschuldet haben  so tief zu seyn, die also in diesem Leben erst höher hinan müssen, um uns nur einigermaßen mit der Gerechtigkeit und Milde Gottes zu versöhnen.

[246]      Th. Zu versöhnen? Sie wären also ein Feind Gottes, wenn keine Seelenwandrung im Kreislauf der Menschheit wäre? Sie müßten seine Gerechtigkeit und Vatermilde läugnen, wenn er sie nicht auf dieser Erde einigemale wiedergeboren werden liesse? Für mich gestehe ich, ich habe herzlich gnug, Einmal auf der Erde als Mensch gewesen zu seyn und mein Leben durchlebt zu haben: denn wenns köstlich gewesen ist, sagt einer der ältesten Weisen, wars Mühe und Arbeit[1], und das ist sein ewiger Cirkel. Der Mensch vom Weibe gebohren lebt kurze Zeit und ist voll Unruh: geht auf wie eine Blume und fället ab, fleucht wie ein Schatten und bleibt nicht.[2] – Das ist sein Schicksal.

     Ch. Trauriges Schicksal!

     Th. Traurig und tröstlich, gnug es ist sein Schicksal. Sehen Sie das menschliche Leben in seiner ganzen Zusammenordnung an, ists nicht, als ob Ihnen alles in ihm zuriefe: "Gottlob! ich muß nur Einmal gelebt werden." Der [247] Morgen unsrer Tage, die Knospe unsers Erdedaseyns, wie bald verwelkt die Knospe, wie bald ist der Morgen vorüber! Nun wird der Tag schwül, es folgt die Zeit der Mühe des Lebens; allmählich naht der Abend, und die Sonne neigt sich. Der Mensch blüht ab, wie er aufblühte; er vergißt seine eigne Gedanken, er verzagt an seinen eignen Kräften, er stirbt eh er stirbt, und freut sich daß er sein Grab findet. Dies ist der unwandelbare Kreis der Tages- der Jahreszeiten, der Lebens- und Menschenalter auf unsrer Erde. Und Sie wollten den Unglücklichen tausendmal den Kreisgang gehen lassen, wenn er sich freuet, ihn nur Einmal durchgekommen zu seyn? Sie wollten die Natur ewig, wie Penelope, ihr Gewebe weben und neu weben lassen, damit sies nur wieder zerstöre? Unglückliche Menschheit mit allen ihren Anlagen, Hoffnungen und Kräften! Schwachsinnige Penelope, um deren Verstand ich wenigstens nicht buhlen möchte!

     Ch. Aber, mein Freund, der Baum, die Blume, der Tag, hat nicht alles einerley und [248] zwar ein wiederkommendes Schicksal? Es scheinet Gesetz der Natur zu seyn: warum wollte ihm allein der schwache und stolze Mensch widerstreben?

     Th. Freylich wäre er schwach und stolz, wenn er ihm als Baum, als Blume, als Tag wiederstrebte; aber er ist keins von Dreyen und auch diese Drey kommen nicht wieder. Der Baum steht eingewurzelt in der Erde, und hat er, wie ich nicht zweifle, ein Leben, so ists doch immer nur der erste Keim eines niedrigen Lebens. Dies muß er lange auswirken und lange auf seinem Ort stehn. Jedes Jahr ist ihm nur Ein Tag, der Frühling sein Morgen, sein Schlaf der Winter. Er muß ausdauren, viele Blätter, Blüthen und Früchte zeugen, die der Luft, den Thieren, dem Menschen, der ganzen höhern Schöpfung dienen. Nun wird er allmählich alt und stirbt: was jetzt um ihn hervorgrünt, ist nicht Er selbst, sondern seine Kinder. Wo seine Lebenskraft und sein Lebenshauch, in Duft, Blüthen, Blättern, Früchten hin sey? wissen wir, oder wir wissen es nicht; [249] ins Reich verarbeitender Kräfte kann und soll unser Blick nicht reichen. Der Baum gehört also nicht in Ihre Palingenesie: er wandert nicht, sondern verlebt sich, und strebt etwa unsichtbar weiter. Die Blume eben also, und das Gleichniß des Tages, der ja nie wiederkehret, war Ihnen ohne Zweifel nur Gleichniß. Sie sind also im Lauf der Natur ganz ohne Exempel: und denken Sie, der Mensch, der Mensch allein sollte dies Exempel eines Ixionisch-Tantalischen Danaiden-Schicksals seyn? Ein Exempel ohne Exempel, ja beynah ohne Absicht.

     Ch. Ohne Absicht nicht. Er lernte die Wissenschaft des Lebens, wie sie sich allein lernen läßt, durch die vielseitigste Ansicht und lebendigste Erfahrung. Er würde also immer geprüft, geläutert, verfeint, bevestigt: der Faden seines Ich gienge fort, und er rückte weiter, so sehr er im Kreise zu gehen schiene.

     Th. Ein langsames Fortrücken, auf dem uns das Schicksal als Phrygier behandelte, die immer nur hintennach klug werden und nicht [250] eher wissen, wie es dem Knaben zu Muth sey, der die Schläge empfängt, bis sie sie selbst empfangen haben. Und solche Schläge zeitlebens!

     Ch. Ohne Noth wird sie uns das Schicksal nicht geben & und da es doch einmal gewiß ist, und bleibet, daß wir nur das recht und wahr und einzig wissen, was wir selbst versucht und erfahren haben –

     Th. Mich dünkt, Lieber, Sie mißbrauchen den wahresten Satz, wenn Sie ihn also anwenden. Alles in der Welt brauche ich nicht zu erfahren, oder wehe der armen Menschheit! Welcher Kluge wird sich die Pest wollen einimpfen lassen, damit er doch auch wisse, wie es mit ihr stehe? Welcher Mensch wird Vater- und Muttermörder seyn wollen, um zu fühlen, wie es dem Nero oder einem andern Ungeheuer gewesen? Und was für ein Schicksal wäre es, das eine Freude daran hätte, mich alle abscheulichen Rollen spielen zu lassen, um mir nur das Gefühl zu geben, daß ich sie gespielt habe! Sie sehen, was es für ein System sey, das zu allen [251] Frechheiten Anlaß geben kann, indem es die Lüste, die der Bösewicht in sich fühlt, zu seiner jetzigen Bestimmung macht, und ihm, wenn er zuletzt am Galgen stirbt, den süßen Trost giebt: er habe nun eine seiner Schulden gebüßet! Es sey seine Bestimmung gewesen, jetzt solchen Weg zu gehen: was er noch nicht gelernt und erfahren habe, das habe er Zeit auf andern Stationen zu lernen.

     Ch. Von solchen Mißbräuchen wollen wir nicht reden; das Beste kann vom dummen Bösewicht aufs ärgste gemißbraucht werden. Ich komme zu meiner Frage zurück: wie wollen Sie sich mit dem Gott versöhnen, der das Schicksal der Menschen so ungleich machte? Entweder müssen ihm die Ideen von böse und gut, vollkommen oder unvollkommen, glücklich oder unglücklich, sehr gleichgültig sein; oder –

     Th. Oder wir sollen ihn nur nicht nach unserm kleinen, engen, armseligen Maaßstaabe messen. Wer ist glücklich, wer unglücklich? Ists der Policirte mehr als der Wilde? Der [252] Sklav in goldnen, minder, als der in eisernen Ketten? Wo wohnt die Vollkommenheit auf unsrer Erde? und wo hat sie sich ein Haus erbauet? Hat sie uns über sich zu Richtern gesetzt? uns, die wir selbst nur von den Almosen ihrer Milde und Huld leben? Gott schuf uns nicht, das menschliche Geschlecht zu richten, sondern in ihm zu leben, uns unsrer Stelle zu freun, und es selig zu machen, wo und wie weit wir können. Er selbst that nicht mehr, als er nach seiner Weisheit thun konnte und nach seiner Güte thun mußte. Mit Beyden gieng er zu Rath, und so schuf er unser Geschlecht. Wer kann fragen, warum nicht höher? Warum nicht tiefer? Gnug, es ist da, und jeder mag sich freuen, daß er da sey; seines Lebens genießen, und dem, der ihn hiehergebracht hat, auch zutrauen, daß er ihn hinaus und weiter zu führen wissen werde.

     Ch. Die Ungleichheiten der Menschen auf unsrer Erde finden also keine Erläuterung?

     Th. Keine als die: sie lagen im Plan der Schöpfung. Unser Planet, wie er jetzt einmal ist, sollte tragen, was er tragen, hervorbringen, [253] was er hervorbringen konnte. Dazu ist er eine Kugel mit allen Abwechslungen des Klima, der Länder, der Pflanzen-, Thier- und Menschenarten: die Leiter steht auf seinen beyden Hemisphären, ihre Sprossen sind unzählbar; und wo reichen sie hin? Durch hundert Thore dringt Alles ins Reich Gottes, und durch hundert tausend auf allen Stufen wieder hinaus, aufwärts, vorwärts. Wo nun Gott die armen verkauften Neger beseligen wolle, ob in einem Paradiese zwischen den Bergen?[3] oder unter einer faulen Bischofsmütze, weil sie sich einmal müde geraspelt haben? – das entscheide, wers entscheiden kann. So verschieden diese Welt ist, so verschieden wird auch die zukünftige seyn; und wenn sies nicht wäre, wenn alles an einfachere Ende und bestimmtere Größen, wie es sehr wahrscheinlich ist, zusammen gienge, desto besser! Gnug, ich finde hier Glückseligkeit, wo ich sie oft nicht [254] gesucht, Schönheit unter einer Hülle, die zu ihr die fremdste schien, Weisheit und Tugend meistens in rauhen, verachteten und unkenntlichen Gestalten. Gerade wo Schminke und Putz anfängt, hört Wahrheit, Rechtschaffenheit, Glückseligkeit auf; und nach diesen vergoldeten Pagoden wollten wir unsre armen Reisenden wandern lassen, um das Wahre zu verliehren, das sie haben, und für innern Werth und Reichthum schlechten äußern Tand zu erbeuten? Jemehr ich die Menschheit anders als nach dem Mantel kennen lerne, desto mehr finde ich Ursache, die Vorsehung auch auf diesem Schauplatz knieend zu verehren. Wo wir das meiste Unglück vermuthen, wohnt oft das größte Glück. Einfalt ist nicht Dummheit, und Schlauigkeit weder Glückseligkeit noch Weisheit. Ich halte es also immer mit dem Dichter[4]:

Das Schicksal theilt die Gaben weislich aus:
Für jeden giebt es Brod und Deck’ und Haus,
Den Armen Kraft, den Schwachen Ehrenplätze.

[255]      Ch. Aber, mein Lieber, Sie wissen doch das Gesetz der Sparsamkeit sowohl in Ansehung der Kraft als des Raumes? Es herrschet in der ganzen Natur; ists denn nicht sehr wahrscheinlich, daß die Gottheit auch bey Verpflanzung und Fortrückung menschlicher Seelen darnach handle? Wer in einer Form der Menschheit noch nicht reif geworden ist, wird noch einmal in den Ofen gethan und muss endlich ausgebrannt werden. –

     Th. Aber wie, wenn er verbrannt würde? Die Form der Menschheit ist so enge: der Platz, ob man hie oder da, in Purpur oder in Lumpen, stehe, thut so wenig zur Sache, und wer in der einen Tracht nicht rechtschaffen werden will, wirds in der andern schwerlich werden. Wenigstens muß ers nicht werden dürfen: sonst ist alle Moralität freyer Handlungen hin, und der Mensch wird geworfen wie ein Stein, gestoßen wie ein Erdklos. Sehen Sie, wohin abermals die Hypothese führe? zu einer fatalen Nothwendigkeit, die alles Streben und Ringen nach Glückseligkeit, [256] Schönheit, Tugend in jeder Gestalt, unter jeglicher Larve ermattet, und uns in Ketten des blinden Gehorsams an den Wandelgang des Schicksals bindet. – Aber, wir haben im engen Zimmer gnug geschwatzt, und deswegen hat unser Gespräch auch so enge und metaphysisch werden müssen. Sehen Sie die schöne bestirnte Nacht! und dort geht der Mond auf – mich dünkt, wir wandern mit Seel und Körper aus der metaphysischen Luft in die freye Natur hinaus. – –

     Sie giengen hinaus, und in kurzen veränderte sich der Ton des Gespräches! Die heilige Stille, die die Nacht um sie verbreitete, die hellen Himmelslichter, die als Lampen über ihnen aufgehängt schienen, auf der einen Seite einige zurückgebliebne Schimmer der Abendröthe, und auf der andern der hinter den Schatten des Waldes sich sanft erhebende Mond – wie erhebt dieser prächtige Tempel, wie erweitert und vergrössert er die Seele! Man fühlt in diesen Augenblicken so ganz die Schönheit und das Nichts der [257] Erde; welche Erholung uns Gott auf einem Stern bereitet hat, auf dem uns Mond und Sonne, die beyden schönen Himmelslichter, abwechselnd durchs Leben leiten! Und wie niedrig, klein und verschwindend der Punkt unsers Erdenthals sey, gegen die unermeßliche Pracht und Herrlichkeit aller Sterne, Sonnen und Welten.

Was denken Sie, sagte Theages, anjetzo von ihrem principio Minimi[5], nach welchem Sie sich immer auf der Erde umhertummeln wollen und an dies Staubkorn geheftet sind? Sehen Sie gen Himmel, Gottes Sternenschrift, die Urkunde unsrer Unsterblichkeit, die glänzende Charte unsrer weitern Wallfahrt! Wo endet das Weltall? Und warum kommen von dorther vom fernsten Stern zu uns Stralen hinunter? Warum sind dem Menschen die Blicke und der flammende Flug unsterblicher Hofnungen gegeben? Warum deckt uns Gott, wenn wir Tagüber vom Stral der Sonne ermattet und an unsern Staubklump gefesselt waren, Nachts dieses hohe Gefilde unendlicher ewigen Aussichten auf? Verlohren [258] stehen wir im Heer der Welten Gottes, im Abgrund seiner Unendlichkeit ringsum verlohren! –

     Und was sollte meinen Geist an dieß träge Staubkorn fesseln, sobald mein Leib, diese Hülle, herabsinkt? Alle Gesetze, die mich hier fest halten, gehen offenbar nur meinen Leib an: er ist aus dieser Erde gebildet, und er muß wieder zu dieser Erde werden. Gesetze der Bewegung, Druck der Atmosphäre, alles fesselt ihn, nur ihn hienieden. Der Geist, einmal entronnen, einmal der zarten und so festen Bande los, die ihn durch Sinne, Triebe, Neigungen, Pflicht und Gewohnheit an diesen kleinen Kreis der Sichtbarkeit knüpften: welche irrdische Macht könnte ihn festhalten? welch ein Naturgesetz ist entdeckt, das Seelen, in dieser engen Rennbahn sich umherzudrehen, zwänge? Sogar über die Schranken der Zeit ist der Geist weg: er verachtet Raum und die träge Erdenbewegung: entkörpert ist er sogleich an seinem Ort, in seinem Kreise, in dem neuen Staat, dazu er gehöret. Vielleicht ist dieser um uns, und wir kennen ihn nicht: [259] vielleicht ist er uns nahe, und wir wissen nichts von ihm, außer etwa in einigen Augenblicken seliger Ahndung, da ihn die Seele oder er die Seele gleichsam herbeyzieht. Vielleicht sind uns auch Ruheörter, Gegenden der Zubereitung, andre Welten bestimmt, auf denen wir, wie auf einer güldenen Himmelsleiter, immer leichter, thätiger, glückseliger, zum Quell alles Lichts emporklimmen, und den Mittelpunkt der Wallfahrt, den Schooß der Gottheit, immer suchen und nie erreichen: denn wir sind und bleiben eingeschränkte, unvollkommene, endliche Wesen. Wo ich indessen sey, und durch welche Welten ich geführt werde, bin und bleibe ich immer an der Hand des Vaters der mich hieher brachte und weiter ruffet: immer also in Gottes unendlichem Schoße.

     Es thut mir leid, sprach Charikles, daß ich Sie in Betrachtungen unterbrechen muß, die Sie so weit von unsrer Erde entfernen; aber lassen Sie mich nicht zurück. Ueberall, wo Sie frey, weise und thätig leben, ist Himmel: und [260] warum scheuen und fliehen Sie denn die Erde? Wenn Sie in einer andern Menschengestalt freyer, weiser, glücklicher leben können, und so immer weiter im innern Zustande hinaufgehn: was kümmert Sie Ort und Scene? Seys dort oder hier – Welt Gottes ist Gottes Welt, Schauplatz ist Schauplatz. Auch unsre Erde ist ja ein Stern unter Sternen.

     Th. Wohl! mein Freund; aber wie weit läßt sich denn in unsrer Menschheit hinaufklimmen? Ist nicht ihre Sphäre so enge begränzt, so kothig und staubig wie dieser Stern selbst ist? Auch das beste Herz ist und bleibt immer ein Menschenherz, Körper bleibt Körper, und Erdenleben ein Erdenleben. Die Armseligkeiten der Geschäfte, der so unnützen und doch so nöthigen Lebensmühe, kommen wieder. Die Lebensalter mit ihren wechselnden Unvollkommenheiten kommen wieder. Auch in guten Eigenschaften bleibt der Menschenstamm hienieden immer in seine beyden Geschlechter vertheilt, die einander gegenüber auf einer Wurzel stehn, sich einander umschlingen [261] und kränzen, nie aber ein und dieselbe Vollkommenheit werden können im Menschenleben. Was das eine hat, fehlt dem andern, was ein Mensch hat, fehlt dem andern. Geburt, Stand, Klima, Erziehung, Amt, Lebensweise, hindern und schränken unaufhörlich ein. Nur wenige Jahre wächst ein Mensch, dann steht er still, oder nimmt ab und geht rückwärts; will er im Alter Jüngling seyn, und andre nachahmen, so wird er lächerlich, so wird er kindisch. Kurz, es ist eine enge Sphäre, dieß Erdenleben, und wir mögens machen, wie wir wollen, so lange wir hier sind: ist ohne größern Schaden, und den völligen Verlust unsrer, der Enge nicht zu entweichen. Aber einst, wenn der Tod den Kerker bricht, wenn uns Gott wie Blumen in ganz andere Gefilde pflanzt, mit ganz neuen Situationen umgiebt – haben Sie nie, mein Fr. erfahren, was eine neue Situation der Seele für neue Schwungkraft giebt, die sie oft in ihrem alten Winkel, im erstickenden Dampf ihrer Gegenstände und Geschäfte, sich nie zugetraut, sich [262] nie derselben fähig gehalten hätte: haben Sie dergleichen nie erfahren?

     Ch. Wer wollte das nicht erfahren haben? Eben daher schöpfte ich ja den erquickenden Trank des Stroms Lethe, mit dem mich auch schon auf dieser Erde meine Palingenesie wieder verjüngte. Ich fühle es wie Sie, daß Trotz alles Strebens und Bemühens der Kreis der Menschheit unübersteiglich, und ihre Natur in veste Grenzen geschlossen bleibe. Hier auf der Erde wächst kein Baum in den Himmel: gewisse Flecken, die man einmal angenommen, lassen sich mit allen Strömen der Welt nicht mehr abwaschen, manche Schwächen und Unvollkommenheiten in gewissen Jahren kaum mehr kennen, geschweige denn ablegen. Oft verwechselt man nur die gröbern mit den gefährlichen feinern: das ist alles wahr. Ich sehe es auch ein, daß in dem engen, sich immer wiederholenden Rundlauf des Erdelebens nicht eben so gar viel heraus kommt: es ist so viel unnütze Mühe, und aus der erneuerten Mühe so wenig neue Beute. Die [263] Schranken, die Sie eröfnen, sind allerdings größer: das Feld zu dem Sie einladen, ist unendlich – die Schaar aller Welten, die auf meinem ewigen Wege zur Gottheit liegen. Aber, mein Freund, wer giebt mir dahin Flügel? Es ist immer, als wenn mich etwas zurückwürfe auf meine Erde. Es ist, als ob ich sie noch nicht ausgebraucht, mich noch nicht leicht genug gemacht hätte, höher hinaufzustreben; wer giebt mir Flügel?

     Th. Wollen Sie sie nicht aus der Hand der Religion annehmen, die ganz und gar dahin verweiset, so nehmen Sie wenigstens einige Fittige dazu aus – Ihres Freunds Newtons Händen.

     Ch. Aus Newtons Händen?

     Th. Nicht anders: das System, das er aus Sternen und Sonnen baute, sey Ihnen ein Gebäude Ihrer Unsterblichkeit, Ihres immerwährenden Fortganges und Aufflugs. Nicht wahr? alle Planeten unsers Sonnensystems sind durch Kräfte der Anziehung mit einander und mit [264] ihrem[6] Mittelpunkt oder Brennpunkt, der Sonne, verbunden?

     Ch. Allerdings.

     Th. Sie machen also ein so vestes, unzerstörliches Ganze aus, daß nichts verrückt, nichts geändert werden kann, oder das Ganze litte[7] und gienge mit seiner großen Harmonie unter?

     Ch. Nicht anders. Alles beziehet sich auf die Sonne und die Sonne mit ihren Kräften, ihrer Masse, ihrem Licht, ihrer Wärme und Entfernung auf die Planeten.

     Th. Und doch sind die Planeten nur Gerüst des Schauspiels, Wohnplätze der Geschöpfe, die auf ihnen sich um die unendlich schönere Sonne der ewigen Güte und Wahrheit in mancherley Entfernungen, mit manchen Eklipsen in Perihelien und Aphelien bewegen. Wären die Scenen so genau, so unzertrennlich verbunden, und der Inhalt der Scenen, das Spiel selbst, sollte es nicht seyn? Die Planeten wären so genau auf sich und auf die Sonne geordnet, [265] und das Schicksal derer, die darauf leben, auf die sie eigentlich nur zubereitet sind, sollte nicht eben so genau und um so genauer zusammenhangen, als ja das Wesen mehr als die Einkleidung, Sache mehr als Ort, Leben und Inhalt mehr als Theater und Schaubühne ist? In der Natur ist alles verbunden, Moral und Physik, wie Geist und Körper. Moral ist nur eine höhere Physik des Geistes, so wie unsere künftige Bestimmung ein neues Glied der Kette unsers Daseyns, das sich aufs genaueste, in der subtilsten Progression, an das jetzige Glied unsers Daseyns anschließt, wie etwa unsre Erde an die Sonne, wie der Mond an unsre Erde.

     Ch. Ich ahnde Sie, Bester, aber –

     Th. Hier, mein Freund, läßt sich auch nur muthmaßen, nur ahnden. Unterm stillen Blick der Sterne, vorm Angesicht des vertraulichen Mondes, sind auch Ahndungen in jene für uns unübersehbare Ferne so groß, so erhebend! Denken Sie einen Augenblick, daß unser Sternengebäude, dem moralischen Zustande seiner [266] Bewohner nach, so zusammen verbunden wäre, wie es seinem physischen Zustande nach unstreitig zusammen verbunden, und nur ein schwesterlicher Chor ist, der in verschiedenen Tönen und Proportionen, aber in der Harmonie einer Kraft, seinen Schöpfer lobet: Denken Sie, daß vom letzten Planeten bis zur Sonne hinauf es Gradationen der Geschöpfe, wie des Lichts, der Entfernung, der Massen, der Kräfte gebe (und nichts ist wahrscheinlicher als dieses‚) setzen Sie die Sonne nun als den großen Versammlungsort aller Wesen des Systems, das sie beherrschet, so wie sie ja auch die Königin alles Lichts und aller Wärme, aller Schönheit und Wahrheit ist, die sie überall den Geschöpfen gradweise mittheilet: sehen Sie die große Leiter, die alles hinaufklimmt, und den weiten Weg, den wir noch zu machen haben, ehe wir zum Mittelpunkt und Vaterlande dessen kommen, was wir nur in unserm Sternensystem Wahrheit, Licht, Liebe nennen.

[267]      Ch. Es läßt sich hören: Je entfernter von unsrer Sonne, desto dunkler, desto gröber; je näher, desto heller, leichter, wärmer, geschwinder. Die Geschöpfe des Merkur, der immer in den Strahlen der Sonne verborgen ist, müssen freylich von andrer Art sein, als jene trägen Saturnusbewohner, die dunkeln Patagonischen Riesen, die in 30 Jahren kaum einmal um die Sonne kommen, und denen 5 Monde noch kaum ihre Nacht erhellen. Unsre Erde stünde denn freylich da so in der Mitte –

     Th. Und vielleicht sind wir eben deswegen auch solche Mittelgeschöpfe, zwischen der groben Saturnusart und dem leichten Sonnenlichte, dem Quell aller Wahrheit und Schönheit. Unsre Vernunft ist hier wirklich nur noch im ersten Anbruch; und mit unsrer Willensfreiheit und moralischen Energie ists auch nicht weit her; gut also, daß wir nicht ewig auf dem Erdplaneten zuweilen haben, wo wahrscheinlich nicht viel aus uns würde.

[268]      Ch. Also meynen Sie, wir müßten durch alle Planeten reisen?

     Th. Das weiß ich nicht. Jeder Planet kann seine Einwohner, die alle in verschiednen Graden zu einer Sonne streben, auf dem Wege, der ihm der kürzeste ist, auf den Stufen und Gradationen, die ihm der Schöpfer nothwendig erkennet, dahin senden. Wie, wenn unser Mond z. E. (mich dünkt, auch Milton schildert ihn so[8] und viele morgenländische Sekten haben ihn dafür gehalten) das Paradies der Erholung wäre, wo die matten Wandrer dem Nebel dieses Erdethals entkommen, ohne Dünste und Dunstkreis in Auen des Friedens und der Geselligkeit lebten, und sich zu dem Anschaun des höhern Lichts bereiteten, zu dem auch die Einwohner andrer Planeten hinaufwallen? Mich dünkt, das Angesicht des Mondes spräche uns dieses mit seinem ruhigen, tröstenden Licht zu. [269] Es ist als ob es schiene, um uns den Glanz einer andern Welt zu zeigen, und uns von amaranthnen Lauben der Ruhe und einer unauflöslichen seligen Freundschaft, Träume voll sanften Thaues einflößen zu wollen.

     Ch. Sie träumen treflich, mein Freund, vorm Angesicht des Mondes, und ich träume gern mit Ihnen. Mir wars oft so, daß, insonderheit wenn Trauer, sanfte Schwermuth, oder das Andenken an Verstorbne inniggeliebte Todten mich erfüllte, mir beynahe der Mondesstrahl ihre Sprache zu seyn schien, und es mich dünkte, es fehle nicht viel, ihren glänzenden Schatten vor mir zu sehn, oder den Kuß ihrer reinen Lippe auf meine Seele in einem Strahl hinabfließend zu fühlen. Aber gnug davon, wir werden ja hier beyde beynah Schwärmer! Erzählen Sie weiter.

     Th. Ich mag nicht; denn auch mir fehlen die blauen smaragdenen Goldschwingen, Sie von Stern zu Stern zu tragen, Ihnen zu zeigen, wie auch unsre Sonne um eine größere Sonne [270] eilet, wie in der Schöpfung alles in einer Harmonie jauchzet, zu welcher Sonnen und Erden wie ein Klang gemessen, gezählt, gewogen sind, und es also gewiß auch das Schicksal, das Leben ihrer Bewohner in weit höherm Grad seyn muß. O wie groß ist das Haus, in dem mich mein Schöpfer erschuf, und o wie schön ists! schön zu Nacht und zu Tage; dort und hier Sonne- Mond- Sternenaussicht! Mein Gang ist die Bahn des Weltalls: dazu leuchtet mir auch jener letzte Stern, dazu klingt mir, in geistigen Begriffen und Verhältnissen, die Harmonie aller Sterne. – Aber ach, mein Freund, alles ist nur Dämmerung, Wahn und Vermuthung gegen das ungleich reinere und höhere Licht der Religion unsers Geistes und Herzens. Auf dieser Erde ist alles mit Bedürfniß umringt, und wir sehnen uns mit aller Kreatur, davon frey zu werden. Wir haben Begriffe der Freundschaft, der Liebe, der Wahrheit, der Schönheit in uns, die wir hier auf der Erde in lauter Schatten und Traumgestalten, so unvollkommen, so oft gestört, getäuscht, [271] betrogen, und immer unvollendet erblicken. Wir dürsten nach einem Strom reinerer Freuden, und mich dünkt, die Hofnung, das Verlangen selbst sey eine sichere Vorahndung des Genusses. Nehmen Sie die reinsten Verhältnisse auf dieser Welt, die Vater- die Mutterfreuden: mit welchen Sorgen sind sie vermischt, von welchen Schmerzen und Unbequemlichkeiten werden sie unterbrochen, und wie dienen sie doch im Ganzen nur immer dem Bedürfniß, einem fremden höheren Verhältniß! In jener Welt, sagt die Schrift, wird man weder freyen, noch sich freyen lassen, sondern sie sind wie die Engel Gottes im Himmel.[9] Da ist Liebe befreyt von gröbern Trieben, reinere Freundschaft ohne die Abtrennungen und Bürden dieser Erde, wirksamere Thätigkeit mit glücklicher schöner Eintracht, und einem wahrern und ewigen Endzweck, kurz überall mehr Wahrheit, Güte, Schönheit, als uns diese Erde auch bey hundertmaligem Wiederkommen geben könnte. –

[272]

– Den, Parmeno, den nenne ich
den Glücklichsten, der, wenn er ohne Leid
die hohen Dinge sah, die wir nun sehn,
die Sonne, diese Sterne, Wolken, Mond
und Feuer, wieder geht, woher er kam.
Denn lebtest du auch hundert, oder lebst
du wenig Jahre nur, du siehest sie;
und schöneres als sie, sah keiner je.
Halt diese Lebenszeit, von der ich rede
für einen Marktort, eine Wanderschaft,
wo es Gedränge, Diebe, Spiel und Müh
die Menge giebt. Je früher du weggehst,
je früher findest du die beßre Herberg,
wenn du den Reisepfenning Wahrheit hast,
und lässest keinen Feind. Wer lange weilt,
geht matt von dannen; und ereilet ihn
das böse Alter, ach da hat er Mangel
und Plage, findet Feinde hie und da,
der stirbt nicht glücklich, der zu lange lebt [10]

[273]      Und wie denn der, der ewig hier weilen und immer wieder kommen wollte auf diesem Marktplatz? –

     Wars, daß die Stille der Nacht und die hohe Harmonie der Sterne das System beyder Freunde versöhnt hatte, oder hatte Charikles zu viel zu sagen: sie umarmten sich und giengen schweigend auseinander. Theages schien verlohren im unendlichen Blau des Himmels, auf der glänzenden Sternenleiter, die so manche Völker, Wilde und Weise, den Weg der Seelen nannten, freylich eine höhere Laufbahn, eine reichere und schönere Palingenesie, als uns hier auch in den glücklichsten Gestalten die dürftige enge Erde gewähren könnte!


O pater, anne aliquas ad coelum hinc ire putandum est
sublimes animas? iterumque ad tarda reverti
corpora? quae lucis miseris tam dira cupido?
     Virgil
<ref>Übersetzung: "Vater, wie ist doch glaublich, dass freischwebende Seelen/ Kehren zur Höhe von hier und zurück in langsame Leiber gehn?/ O woher den Armen des Lichts so grause Begierde." -
Vergil, Aeneis, VI, 719.

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  1. Psalm 90, 10
  2. Hiob 14, 1
  3. Simple Nature to his hope has giv’n
    behind the cloud - topt hill an humbler heav’n,
    some safer world in depth oft woods embrae’d
    some happier Island in the watry waste etc. Pope.
  4. Johann Philipp Lorenz Withof (1725-1789)
  5. Prinzip der kleinsten Wirkung
  6. Vorlage: hrem
  7. Vorlage: iitte
  8. Those argent fields more likely habitants
    translated Saints or middle Spirits hold
    betwixt th’ angelical and human kind.
  9. Matthäus 22, 30
  10. Worte aus einem Fragment Menanders.