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Ueber Somnambulismus

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Textdaten
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Autor: Carl Ernst Bock
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Titel: Ueber Somnambulismus
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 32, S. 373–374
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[373]
Ueber Somnambulismus.

Es giebt zwar ächte Somnambulen, aber auch viele falsche, d. h. Betrüger, die Somnambulismus heucheln. Man versteht nämlich unter Somnambulismus (auch Schlaf- oder Traumhandeln, Schlaf- oder Nachtwandeln genannt) einen Zustand, bei welchem ein Mensch in eine Art von Schlaf verfällt und mit geschlossenen oder offenen Augen, ohne es nach dem Erwachen zu wissen, körperliche oder geistige Handlungen vollzieht, die man sonst nur im Wachen, bei vollem Bewußtsein zu vollziehen im Stande ist. Diese Handlungen geschehen allerdings nicht selten mit außergewöhnlicher Geschicklichkeit, großer Kraft und scharfem Verstande, niemals aber werden sie gegen die bestehenden Naturgesetze verstoßen und übernatürliche sein. Es gränzt an Blödsinn [374] zu glauben, daß ein Somnambuler an einer geraden Wand in die Höhe zu laufen, mit dem Bauche zu lesen, die Krankheit eines Abwesenden anzugeben und zu heilen, eine nicht erlernte Sprache zu sprechen, das Treiben und Befinden Entfernter zu wissen u. s. w. im Stande ist. Wo immer von einem Schlafhandelnden Etwas geschieht, was nicht mit rechten Dingen zuzugehen und wunderbar zu sein scheint, da ist stets entweder Betrügerei im Spiele oder der Zufall that das Seinige.

Der schlafähnliche Zustand beim Somnambulismus tritt entweder ganz von selbst, bei Tage oder bei Nacht (besonders gern bei Vollmond) ein oder er kann auch künstlich durch Streichen und Manipuliren (Magnetisiren) hervorgerufen werden. Das durch sogenannte animalisch-magnetische Einwirkung künstlich hervorgerufene Schlafwachen (das Hellsehen, la Clairvoyance) unterscheidet sich vom natürlichen dadurch, daß bei letzterem mehr die Bewegungsthätigkeit, bei ersterem die geistige Thätigkeit ungewöhnlich erweckt ist. Um nun aber in diesen Schlaf von selbst zu verfallen oder von Andern hinein versetzt zu werden, dazu gehört ohne Zweifel ein krankhafter, zur Zeit freilich noch unerforschter Zustand desjenigen Organs, durch welches ebensowohl der Schlaf, wie auch die menschliche Thätigkeit vermittelt wird. Dieses Organ ist aber das Gehirn und der Somnambulismus könnte sonach als eine Hirnkrankheit bezeichnet werden, die mit dem gesunden Schlafe darin übereinkommt, daß dabei das Bewußtsein geschwunden ist, sich aber vom Schlafe darin unterscheidet, daß gewisse Hirnthätigkeiten ohne Bewußtsein fortbestehen. Das Träumen könnte als der niedrigste Grad des Schlafhandelns bezeichnet werden und der Somnambulismus als der höchste Grad des Träumens. Ein ziemlich ähnlicher Zustand findet sich gar nicht selten bei Berauschten, bei betäubten und bewußtlosen Kranken (beim Phantasiren in Fiebern) und bei Chloroformirten; auch diese sprechen und handeln, ohne daß sie nur das Geringste davon wissen, oft so gegen ihre gewöhnliche Art und Weise vernünftig oder unvernünftig, daß man staunt. Am Häufigsten ist bei sogenannten sensiblen (sensitiven, nervösen, hysterischen) Frauenzimmern das Gehirn geneigt, Somnambulismus zu treiben. Zieht dann derselbe die Aufmerksamkeit der Welt auf sich, so wird er aus Coquetterie oder Gewinnsucht künstlich weiter ausgebildet und zum Betrug vieler Narren weidlich benutzt.

Wollten wir uns die Thätigkeit des Gehirns und so das Zustandekommen des Somnambulismus recht materiell erklären, dann müssen wir uns zuvörderst vorstellen, daß dem Gehirne von Natur sein Thätigsein nicht so wie den meisten andern Organen des menschlichen Körpers vorgeschrieben ist, sondern daß es dasselbe erst durch die verschiedenen Eindrücke von der Außenwelt her in verschiedenem Grade erlangt. Würde z. B. ein Mensch gleich nach seiner Geburt nur mit Thieren Umgang haben, dann würde er, natürlich nur soweit es sein Körperbau zuläßt, auch nur die Manieren dieses oder jenes Thieres annehmen und vom Thun und Treiben des menschlichen Verstandes nichts wissen. Ich erinnere an Caspar Hauser. Es ist durchaus nothwendig, daß ein Mensch, wenn er menschlichen Verstand haben will, nicht blos ein gutgebildetes und gut ernährtes Gehirn besitzen, sondern demselben durch die Sinne auch solche Eindrücke zuführen muß, welche das Gehirn zur Entwickelung und Ausbildung des Verstandes bedarf. – Man denke sich einmal, daß Alles was wir durch unsere Sinne wahrnehmen, im Gehirne einen ganz bestimmten Eindruck macht oder ein den Daguerreotypen ähnliches Bildchen (Hirnbild) erzeugt. Von solchen Hirnbildchen wird man natürlich eine um so größere Anzahl in seinem Verstandesorgane (dem Gehirne) besitzen, je mehr man durch seine Sinne von der Außenwelt in sich aufgenommen hat. Es werden ferner diese Bildchen dem in der Außenwelt Wahrgenommenen um so ähnlicher sein können, je genauer man durch scharfe Sinne die Außenwelt wahrzunehmen sich bemühte. Es werden sodann diese Hirnbildchen um so deutlicher und bleibender (fixirter) sein müssen, je stärker und je öfter sie eingeprägt werden. Sehr viele dieser Bildchen verschwinden nach und nach wieder, wie ein nicht fixirtes Daguerreotypbild, und deshalb vergißt man so oft das früher Wahrgenommene und Erlebte. Bei mangelhaften Sinnen wird wie bei Mangel und Abnormität des Gehirns natürlich auch die Bildung der Hirnbildchen mangelhaft sein. – In der frühsten Jugend bilden sich wegen der Unvollkommenheit der Sinne und des Gehirns nur wenige, ganz undeutliche und leicht wieder verschwindende Hirnbildchen. Nach und nach aber, mit zunehmender Ausbildung der Sinne und des Gehirns, sowie in Folge der Erweiterung des Gesichtskreises und der Erziehung, mehrt sich die Zahl, die Deutlichkeit und die Dauer dieser Bildchen. Während man sie sich anfangs ungeordnet wie in einer Mappe im Gehirne umherliegend denken kann, so daß sie nur mit Mühe von einander unterschieden und hervorgeholt werden konnten, findet später durch Uebung ein genaues und übersichtliches Ordnen derselben statt, so daß sie nun leicht von einander getrennt und aufgefunden werden können. Dieses schnellere oder langsamere Auffinden solcher Bildchen kann als besseres oder schlechteres Gedächtniß, als Erinnerung oder Vorstellung bezeichnet werden, während das Zusammenstellen mehrer derselben zu einem neuen Bilde, welches man von außen her als solches niemals in sich aufnahm, die Phantasie sein dürfte. In den spätern Lebensjahren, wo das Gehirn an Größe und Weichheit und die Sinnesorgane an Schärfe abnehmen, wird auch die Fähigkeit des Gehirns, Hirnbilder zu erzeugen, immer geringer, obschon die früher erzeugten längere Zeit noch ganz fest darin haften. Deshalb erinnern sich Greise auch recht gut längst vergangener Thatsachen, vergessen aber schnell die Gegenwart. – Diese Hirnbildchen sind es nun, durch deren genaues Vergleichen wir uns Begriffe sammeln, sowie Urtheile fällen und Schlüsse ziehen, also denken lernen; sie sind es auch, welche unsere Bewegungen, unser Handeln veranlassen.

Das dem Gehirn innewohnende Bewußtsein könnte nun als die Hirnthätigkeit oder die Kraft angenommen werden, welche im gesunden und wachen Zustande die Hirnbilder von einander unterscheidet, ordnet, schneller oder langsamer herbeiholt und zusammenstellt, ihre Wirkung auf unser Thun regelt. Durch Uebung läßt sich, wie es scheint, der Einfluß des Bewußtseins auf die Hirnbilder immer mehr steigern und es möchte deshalb wohl die Aufgabe der Erziehung sein, zunächst so viele als möglich von guten, deutlichen und bleibenden Hirnbildern zu erzeugen und diese dann gehörig verarbeiten zu lernen. – Denkt man sich nun aber das Bewußtsein durch irgend eine Ursache (durch Schlaf, Alcohol, Schwefeläther, Chloroform, Krankheit) auf einige Zeit aufgehoben, die Hirnbilder aber noch vorhanden, dann ließe sich allenfalls auch annehmen, daß dieselben durch irgend einen Anstoß in ganz andere Ordnung und Verknüpfung zu einander gebracht würden, als dies im bewußten Zustande in Folge der Gewöhnung der Fall ist. Diese veränderte Lagerung und Einwirkung der Hirnbildchen auf einander könnte dann recht wohl zu einem ungewöhnlichen Handeln des Bewußtlosen Veranlassung geben, was jedoch stets das Resultat früher aufgenommener Eindrücke und niemals ein übernatürliches oder wunderbares sein müßte. Bei schwächerem Grade der Trübung des Bewußtseins läßt sich bisweilen das ungewöhnliche Spiel der Hirnbildchen vom Bewußtlosen mehr oder weniger deutlich wahrnehmen, so daß er sich dessen nach dem Erwachen erinnern kann, wie dies beim Träumen und Rausche vorkommt. Nach der einfacheren oder verwickelteren, geordnetern oder ungeordneten Verknüpfung der Hirnbildchen unter einander zeigt sich dann Reden und Thun des Bewußtlosen in verschiedenem Grade vernünftig oder unvernünftig. So sprechen und handeln Somnambule und Chloroformirte nicht selten weit vernünftiger, als sie dies im bewußten Zustande thuen, dagegen können sehr anständige Personen im Rausche und in Fieberphantasien sehr unvernünftig und unanständig handeln. – Alles Thun und Treiben Bewußtloser wäre sonach ein unwillkürliches und in Folge der eigenthümlichen Einrichtung unseres Gehirns (vorzüglich der Uebertragungsfähigkeit von Empfindungs- und Sinnes-Eindrücken auf Bewegungsapparate) ein erzwungenes. – Diese materielle Erklärung der Hirnthätigkeit und des Somnambulismus, sowie der diesem verwandter bewußtloser und schlaf- oder traumähnlicher Zustände, welche freilich total falsch sein kann, möge dem Leser wenigstens zeigen, daß auch beim Somnambulismus Alles so natürlich wie bei den Zauberern unserer Zeit (Taschenspielern) zugehen könnte.
(B.)