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Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke

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Autor: Johann Nikolaus Forkel
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Titel: Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke
Untertitel: Für patriotische Verehrer echter musikalischer Kunst
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1802
Verlag: Hoffmeister & Kühnel
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Eigenscans bei Internet Archive und Scans auf Commons
Kurzbeschreibung: Erste wissensschaftliche Biographie eines Komponisten.
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Text

[I]

Ueber

Johann Sebastian Bachs

Leben, Kunst und Kunstwerke.


Für

patriotische Verehrer

echter musikalischer Kunst


Von

J. N. Forkel


Mit Bachs Bildniß und Kupfertafeln.



Leipzig,

bey Hoffmeister und Kühnel.

(Bureau de Musique.)

1802.

[II]
[Bildnis Bachs]

Haussmann pinx

FW Nettling sc. 1802.

Sebastian Bach
[III]

Seiner Excellenz

dem Freyherrn van Swieten

ehrerbietigst gewidmet


von dem

Verfasser.

[IV]

[V]
Vorrede.

Schon seit vielen Jahren habe ich die Absicht gehabt, über Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke dem Publicum einige Nachrichten und Gedanken mitzutheilen, da der kleine von C. Ph. Eman. Bach und dem ehemahligen Preußischen Hof-Componisten Agricola herrührende Aufsatz, der sich im dritten Band der Mitzlerschen musikalischen Bibliothek befindet, den Verehrern jenes großen Mannes schwerlich Genüge leisten kann. Ich würde mein Vorhaben sicher auch bereits ausgeführt haben, wenn nicht die Ausarbeitung der allgemeinen Geschichte der Musik mich bisher zu sehr beschäftigt hätte. Da in der Geschichte dieser Kunst Bach mehr als irgend ein anderer Künstler Epoche gemacht hat, so beschloß ich, die zu seinem Leben gesammelten Materialien für den letzten Band des genannten Werks aufzusparen. Die rühmliche Unternehmung der Hoffmeister- und Kühnelschen Musikhandlung in Leipzig, eine vollständige und kritisch-correcte Ausgabe der Seb. Bachischen Werke zu veranstalten, veranlaßte mich, meinen Entschluß zu verändern.

Dieses Unternehmen ist nicht nur der Kunst selbst in jedem Betrachte äußerst vortheilhaft, sondern muß auch mehr als irgend eines der Art zur Ehre des deutschen Nahmens gereichen. Die Werke, die uns Joh. Seb. Bach hinterlassen hat, sind ein unschätzbares National-Erbgut, dem kein anderes Volk etwas ähnliches entgegen setzen kann. Wer sie der Gefahr entreißt, durch fehlerhafte Abschriften entstellt zu werden, und so allmählig der [VI] Vergessenheit und dem Untergange entgegen zu gehen, errichtet dem Künstler ein unvergängliches Denkmahl, und erwirbt sich ein Verdienst um das Vaterland; und jeder, dem die Ehre des deutschen Nahmens etwas gilt, ist verpflichtet, ein solches patriotisches Unternehmen zu unterstützen, und so viel an ihm ist, zu befördern. An diese Pflicht unser Publicum zu erinnern, diesen edlen Enthusiasmus in der Brust jedes deutschen Mannes zu wecken, achtete ich für meine Schuldigkeit, und dieß ist die Ursache, weßwegen diese Blätter früher erscheinen, als sonst geschehen seyn würde. Auch hoffe ich, daß es mir auf diesem Wege möglich seyn wird, zu einem größern Theil meiner deutschen Mitwelt zu sprechen; was ich in meiner Geschichte der Musik von Bach zu sagen habe, möchte vielleicht bloß von dem kleinen Kreise der Kunstgelehrten gelesen werden, und doch ist die Erhaltung des Andenkens an diesen großen Mann – man erlaube mir, es noch Ein Mahl zu wiederhohlen – nicht bloß Kunst-Angelegenheit – sie ist National-Angelegenheit.

Das wirksamste Mittel zur lebendigen Erhaltung musikalischer Kunstwerke bleibt freylich immer die öffentliche Aufführung derselben vor einem zahlreichen Publicum. Durch dieses Mittel sind von je her eine Menge großer Werke verbreitet worden, und werden es noch. Das Publicum hört sie vorher im Concert-Saal, in der Kirche oder im Schauspielhause mit Wohlgefallen, erinnert sich nachher des angenehmen Eindrucks und kauft sodann das herausgekommene Werk, ohne vielleicht Gebrauch davon machen zu können. Aber wo, durch wen soll das Publicum Bachs Werke hören, da es von je her so wenige gegeben hat, die sie gehörig vortragen konnten? Ganz anders würde es geworden seyn, wenn Bach selbst sie an mehrern Orten hätte hören lassen können. Aber dazu hatte er weder Zeit noch Lust. So oft dieß irgend einer seiner Schüler that, obgleich deren keiner sie in [VII] der Vollkommenheit vortrug, wie der Meister, entstand doch stets Staunen und Verwunderung über die nie gehörte, so große und doch so faßliche Kunst. Wer es nur irgend vermochte, spielte sodann wenigstens eines oder einige von den Stücken, die gerade der Bachische Schüler am besten in der Hand hatte, die folglich auch am meisten gefielen. Diese Stücke wurden auch niemand schwer, weil man vorher gehört hatte, wie sie klingen mußten.

Soll der wahre Genuß großer musikalischer Kunstwerke allgemeiner werden, so müssen wir vor allen Dingen bessere Musiklehrer haben. Im Mangel guter Lehrer liegt eigentlich die Quelle alles musikalischen Uebels. Um sich bey Ehren zu erhalten, muß der ungeschickte, selbst nicht unterrichtete Lehrer seinen Schülern nothwendig eine schlechte Meynung von guten Kunstwerken beybringen, weil er sonst in Gefahr gerathen könnte, von dem Schüler aufgefordert zu werden, sie ihm vorzuspielen. Der Schüler wird also genöthigt, Zeit, Mühe und Geld an unnütze Klimpereyen zu verschwenden, und kommt vielleicht nach einem halben Dutzend von Jahren in eigentlich musikalischer Bildung keinen Schritt weiter, als er beym ersten Anfange war. Bey einem bessern Unterricht hätte er nicht die Hälfte von Zeit, Mühe und Geld bedurft, um auf einen Weg gebracht zu werden, auf welchem er bis ans Ende seines Lebens mit Sicherheit zu immer größerer Vollkommenheit hätte fortschreiten können. Wie viel sich gegen dieses Uebel dadurch ausrichten läßt, daß wenigstens in allen Musikhandlungen die Bachischen Werke zur Schau ausgestellt werden, und daß die Kenner und Verehrer echter musikalischer Kunst sich vereinigen, laut die Vortrefflichkeit dieser Werke zu predigen, und das Studium derselben zu empfehlen, das müssen wir von der Zeit erwarten.

[VIII] Ausgemacht bleibt es, wenn die Kunst Kunst bleiben, und nicht immer mehr zu bloß zeitvertreibender Tändeley zurück sinken soll, so müssen überhaupt klassische Kunstwerke mehr benutzt werden, als sie seit einiger Zeit benutzt worden sind. Bach, als der erste Klassiker, der je gewesen ist, und vielleicht je seyn wird, kann hierin unstreitig die besten Dienste leisten. Wer seine Werke erst einige Zeit studirt hat, wird bloßen Klingklang von wahrer Musik unterscheiden, und jede Manier, die er in der Folge etwa wählen mag, als guter, unterrichteter Künstler bearbeiten. Auch vor Einseitigkeit, wohin nichts so leicht als der herrschende Zeitgeschmack führt, werden wir durch das Studium solcher Klassiker bewahrt, die den Umfang der Kunst so erschöpft haben, wie Bach. Kurz, es würde für die Kunst nicht weniger nachtheilig seyn, wenn wir unsere Klassiker auf die Seite werfen wollten, als es für den guten Geschmack in der Gelehrsamkeit nachtheilig werden würde, wenn das Studium der Griechen und Römer aus unsern Schulen verbannt werden sollte. Der Geist der Zeit, der mehr aufs Kleine und auf den augenblicklichen Genuß gerichtet ist, als auf das Große, das erst mit einiger Mühe und sogar Anstrengung errungen werden muß, hat wirklich wenigstens den Vorschlag zur Verbannung der Griechen und Römer aus unsern Schulen hier und da schon veranlaßt; es ist nicht zu zweifeln, daß ihm auch unsere musikalischen Klassiker ungelegen sind; denn recht beym Lichte besehen, muß er sich wirklich in seiner großen Armuth vor ihnen herzlich schämen, und am allermeisten vor unserm fast überreichen Bach.

Möchte ich nur im Stande seyn, die erhabene Kunst dieses Ersten aller deutschen und ausländischen Künstler recht nach Würden zu beschreiben! Nächst der Ehre, selbst ein so großer, über alles hervorragender Künstler zu seyn, wie er es war, gibt es vielleicht [IX] keine größere, als eine so ganz vollendete Kunst gehörig würdigen und mit Verstand davon reden zu können. Wer das Letztere vermag, muß mit dem Künstler selbst nicht ganz unähnlichen Geistes und Sinnes seyn, hat also gewissermaßen die schmeichelhafte Vermuthung für sich, daß er vielleicht auch das Erstere vermocht haben würde, wenn ähnliche äußere Veranlassungen ihn auf die dazu erforderliche Bahn geführt hätten. Aber ich bin nicht so unbescheiden zu glauben, daß ich je eine solche Ehre erringen könnte. Ich bin vielmehr innigst überzeugt, daß keine Sprache in der Welt reich genug ist, um alles damit auszudrücken, was von dem hohen Werth und von dem erstaunlichen Umfang einer solchen Kunst gesagt werden könnte und müßte. Je genauer man damit bekannt wird; desto höher steigt unsere Bewunderung für sie. All unser Rühmen, Preisen und Bewundern derselben wird stets bloß gutgemeyntes Lallen und Stammeln seyn und bleiben. Wer Gelegenheit gehabt hat, Kunstwerke mehrerer Jahrhunderte mit einander zu vergleichen, wird diese Erklärung nicht übertrieben finden; er wird vielmehr selbst der Meynung geworden seyn, daß man von Bachischen Werken, wenn man sie völlig kennt, nicht anders als mit Entzücken, und von einigen sogar nur mit einer Art von heiliger Anbetung reden könne. Seine Handhabung des innern Kunstmechanismus können wir allenfalls begreifen und erklären; aber wie er es gemacht hat, diesem ebenfalls nur von ihm erreichten so hohen Grad der mechanischen Kunst zugleich den lebendigen Geist einzuhauchen, der uns auch im geringsten seiner Werke so deutlich anspricht, wird wohl stets nur gefühlt und angestaunt werden können.

Auf Vergleichungen Joh. Seb. Bachs mit einzelnen Componisten habe ich mich nicht einlassen wollen. Wer ihn mit Händel verglichen sehen will, findet eine von einem vollkommen Sachkundigen Manne verfaßte, sehr gerechte und billige Schätzung ihrer beyderseitigen [X] musikalischen Verdienste im ersten Stück des 81sten Bandes der allgem. deutsch. Bibl. S. 295–303.

Meine Nachrichten, in so weit sie von dem vorerwähnten kleinen Aufsatz in Mitzlers Bibliothek abgehen, verdanke ich den beyden ältesten Söhnen Joh. Seb. Bachs. Beyde kannte ich nicht nur persönlich, sondern habe auch lange Jahre hindurch mit ihnen, am meisten aber mit C.Ph. Emanuel in beständigem Briefwechsel gestanden. Die Welt weiß, daß beyde selbst große Künstler waren; aber sie weiß vielleicht nicht, daß sie von der Kunst ihres Vaters bis an ihr Ende nie anders als mit Begeisterung und Ehrfurcht sprachen. Da ich von früher Jugend an dieselbe Verehrung für die Kunst ihres Vaters hatte, so war sie im Gespräch so wohl als in Briefen sehr häufig der Gegenstand unserer Unterhaltung. Diese Unterhaltungen haben mich nach und nach mit allem, was Joh. Seb. Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke betrifft, so bekannt gemacht, daß ich nun hoffen darf, dem Publicum nicht nur etwas Ausführliches, sondern auch zugleich etwas Nützliches davon sagen zu können.

Ich habe dabey durchaus keinen andern Zweck, als das Publicum auf ein Unternehmen aufmerksam zu machen, wobey es lediglich darauf abgesehen ist, deutscher Kunst ein würdiges Denkmal zu stiften, dem wahren Künstler eine Gallerie der lehrreichsten Muster zu errichten, und den Freunden der musikalischen Muse eine unerschöpfliche Quelle des erhabensten Genusses zu eröffnen.


[1]
I.

Wenn es je eine Familie gegeben hat, in welcher eine ausgezeichnete Anlage zu einer und eben derselben Kunst gleichsam erblich zu seyn schien, so war es gewiß die Bachische. Durch sechs Generationen hindurch haben sich kaum zwey oder drey Glieder derselben gefunden, die nicht die Gabe eines vorzüglichen Talents zur Musik von der Natur erhalten hatten, und die Ausübung dieser Kunst zu der Hauptbeschäftigung ihres Lebens machten.

Der Stammvater dieser in musikalischer Hinsicht so merkwürdig gewordenen Familie hieß Veit Bach. Er war ein Bäcker zu Presburg in Ungarn. Beym Ausbruch der Religions-Unruhen im sechszehnten Jahrhundert wurde er aber genöthigt, sich einen andern Wohnort aufzusuchen. Er rettete von seinem Vermögen, was er konnte, und zog damit nach Thüringen, wo er Ruhe und Sicherheit zu finden hoffte. Der Ort, an welchem er sich in dieser Gegend niederließ, ist Wechmar, ein nahe bey Gotha liegendes Dorf. Er fing hier bald an, sich wieder mit seiner Bäcker-Profession zu beschäftigen, vergnügte sich aber nebenher bey müßigen Stunden sehr gerne mit der Cyther, die er sogar mit in die Mühle nahm, und während dem Mahlen unter allem Getöse und Geklapper der Mühle darauf spielte. Diese Neigung zur Musik pflanzte er auf seine beyden Söhne, diese wieder auf die ihrigen fort, bis nach und nach eine sehr ausgebreitete Familie entstand, die in allen ihren Zweigen nicht nur musikalisch war, sondern auch ihr Hauptgeschäft aus der Musik machte, und bald die meisten Cantor-, Organisten- und Stadtmusikanten-Stellen der Thüringischen Gegenden in ihrem Besitz hatte.

Alle diese Bache können unmöglich große Meister gewesen seyn; jedoch zeichneten sich in jeder Generation wenigstens einige Glieder vorzüglich aus. Dieß thaten schon im ersten Viertel des siebenzehnten Jahrhunderts drey Enkel des Stammvaters so merklich, [2] daß der damals regierende Graf von Schwarzburg-Arnstadt es der Mühe werth hielt, sie auf seine Kosten nach Italien, der damahligen hohen Schule der Musik, reisen zu lassen, um sich dort noch mehr zu vervollkommnen. In wie weit sie den Erwartungen ihres Gönners entsprochen haben mögen, kann nicht gesagt werden, da von ihren Werken nichts auf unsere Zeiten gekommen ist. Noch mehr zeichneten sich einige Glieder der vierten Generation aus, von deren Compositionen durch J. Seb. Bachs Sorgfalt mehrere Stücke erhalten worden sind. Die merkwürdigsten darunter waren:

1) Johann Christoph, Hof- und Stadt-Organist in Eisenach. Dieser war vorzüglich glücklich in Erfindung schöner Melodien und im Ausdruck der Texte. Im sogenannten Bachischen Archiv, welches C. Ph. Emanuel in Hamburg besaß, fand sich unter andern eine Motette von seiner Composition, worin er es gewagt hatte, von der übermäßigen Sexte Gebrauch zu machen, ein Wagestück, welches in seinem Zeitalter für ungeheuer groß gehalten wurde. Auch ist er der Vollstimmigkeit außerordentlich mächtig gewesen, wie ein von ihm komponirtes Kirchenstück aufs Michaelisfest über die Worte: Es erhub sich ein Streit etc. beweisen kann, welches 22 obligate Stimmen hat, und doch in Rücksicht auf Harmonie vollkommen rein ist. Ein zweyter Beweis seiner Stärke in der Vollstimmigkeit ist, daß er auf der Orgel und auf dem Clavier niemahls mit weniger als fünf nothwendigen Stimmen gespielt haben soll. C. Ph. Emanuel hielt vorzüglich viel auf ihn. Ich erinnere mich noch sehr lebhaft, wie freundlich der damahls schon alte Mann bey den merkwürdigsten und gewagtesten Stellen mich anlächelte, als er mir einst in Hamburg das Vergnügen machte, mich einige dieser alten Werke hören zu lassen.

2) Johann Michael, Organist und Stadtschreiber im Amte Gehren. Er war ein jüngerer Bruder des vorhergehenden, und gleich ihm ein vorzüglich guter Componist. Im Bachischen Archiv befinden sich von ihm einige Motetten, worunter auch eine doppelchörige für 8 Stimmen ist, nebst verschiedenen einzelnen Kirchenstücken.

3) Johann Bernhard, Kammermusikus und Organist zu Eisenach. Dieser soll vorzüglich schöne Ouvertüren nach französischer Art gemacht haben.

Nicht nur die angeführten, sondern auch noch verschiedene andere vorzügliche Componisten aus den frühern Generationen der Bachischen Familie hätten sich unstreitig weit [3] wichtigere musikalische Aemter, so wie einen ausgebreitetern Ruf ihrer Geschicklichkeit, und ein glänzenderes äußeres Glück verschaffen können, wenn sie geneigt gewesen wären, ihr Vaterland Thüringen zu verlassen, und sich anderwärts in und außerhalb Deutschland bekannt zu machen. Man findet aber nicht, daß irgend einem derselben die Lust zu einer solchen Auswanderung einmahl angekommen sey. Genügsam von Natur und durch Erziehung, bedurften sie nur wenig zum Leben, und der innere Genuß, den ihnen ihre Kunst gewährte, machte, daß sie die goldenen Ketten, welche damahls geachteten Künstlern von großen Herren als besondere Ehrenzeichen ertheilt wurden, nicht entbehrten, sondern ohne den mindesten Neid sie an andern sahen, die vielleicht ohne diese Ketten nicht glücklich gewesen seyn würden.

Außer dieser schönen, zum frohen Lebensgenuß unentbehrlichen Genügsamkeit, hatten auch die verschiedenen Glieder dieser Familie eine sehr große Anhänglichkeit an einander. Da sie unmöglich alle an einem einzigen Orte beysammen leben konnten, so wollten sie sich doch wenigstens einmahl im Jahre sehen, und bestimmten einen gewissen Tag, an welchem sie sich sämmtlich an einem dazu gewählten Orte einfinden mußten. Auch dann noch, als die Familie an Zahl ihrer Glieder schon sehr zugenommen, und sich außer Thüringen auch hin und wieder in Ober- und Niedersachsen, so wie in Franken hatte verbreiten müssen, setzte sie ihre jährlichen Zusammenkünfte fort. Der Versammlungsort war gewöhnlich Erfurt, Eisenach oder Arnstadt. Die Art und Weise, wie sie die Zeit während dieser Zusammenkunft hinbrachten, war ganz musikalisch. Da die Gesellschaft aus lauter Cantoren, Organisten und Stadtmusikanten bestand, die sämmtlich mit der Kirche zu thun hatten, und es überhaupt damahls noch eine Gewohnheit war, alle Dinge mit Religion anzufangen, so wurde, wenn sie versammelt waren, zuerst ein Choral angestimmt. Von diesem andächtigen Anfang gingen sie zu Scherzen über, die häufig sehr gegen denselben abstachen. Sie sangen nehmlich nun Volkslieder, theils von possierlichem, theils auch von schlüpfrigem Inhalt zugleich mit einander aus dem Stegreif so, daß zwar die verschiedenen extemporirten Stimmen eine Art von Harmonie ausmachten, die Texte aber in jeder Stimme andern Inhalts waren. Sie nannten diese Art von extemporirter Zusammenstimmung Quodlibet, und konnten nicht nur selbst recht von ganzem Herzen dabey lachen, sondern erregten auch ein eben so herzliches und [4] unwiderstehliches Lachen bey jedem, der sie hörte. Einige wollen diese Possenspiele als den Anfang der komischen Operette unter den Deutschen betrachten. Allein solche Quodlibete waren in Deutschland schon weit früher im Gebrauch. Ich besitze selbst eine gedruckte Sammlung derselben, die schon im Jahr 1542 zu Wien heraus gekommen ist.

So wohl die genannten fröhlichen Thüringer, als einige ihrer spätern Nachkommen, die schon einen ernsthaftern und würdigern Gebrauch von ihrer Kunst zu machen wußten, würden indessen doch der Vergessenheit der Nachwelt nicht entgangen seyn, wenn nicht endlich ein Mann aus ihnen hervor gegangen wäre, dessen Kunst und Kunstruhm so helle Strahlen warf, daß auch auf sie nun ein Abglanz dieses Lichtes zurück fiel. Dieser Mann war Johann Sebastian Bach, die Zierde seiner Familie, der Stolz seines Vaterlandes, und der vertrauteste Liebling der musikalischen Kunst.


[4]
II.

Johann Sebastian Bach wurde im Jahr 1685 am 21sten März zu Eisenach geboren, wo sein Vater Johann Ambrosius Hof- und Stadtmusikus war. Dieser hatte einen Zwillingsbruder, Johann Christoph, Hof- und Stadtmusikus zu Arnstadt, der ihm so ähnlich war, daß selbst ihre beyderseitigen Frauen sie nicht anders als durch die Kleidung von einander unterscheiden konnten. Diese Zwillinge sind vielleicht die einzigen ihrer Art und die merkwürdigsten, die man kennt. Sie liebten sich aufs zärtlichste; Sprache, Gesinnung, der Styl ihrer Musik, ihre Art des Vortrags etc. alles war einander gleich. Wenn einer krank war, war es auch der andere. Auch starben sie bald nach einander. Sie waren ein Gegenstand der Bewunderung für jeden, der sie sah.

Im Jahr 1695, als Joh. Sebastian noch nicht volle 10 Jahre alt war, starb sein Vater. Die Mutter war schon früher gestorben. Er sah sich daher nun so verwaiset, daß er seine Zuflucht zu einem ältern Bruder, Johann Christoph, welcher Organist in Ordruff war, nehmen mußte. Von diesem bekam er den ersten Unterricht im Clavierspielen. Seine Neigung und Fähigkeit zur Musik muß aber um diese Zeit schon sehr groß gewesen seyn, denn diejenigen Handstücke, die ihm sein Bruder zum [5] Lernen gab, waren so bald in seiner Gewalt, daß er mit großer Begierde sich nach schwerern Stücken umzusehen anfing. Die berühmtesten Clavierkomponisten jener Zeit waren Froberger, Fischer, Johann Casp. Kerl, Pachelbel, Buxtehude, Bruhns, Böhm etc. Er hatte gemerkt, daß sein Bruder ein Buch besaß, worin mehrere Stücke der genannten Meister gesammelt waren, und bat ihn herzlich, es ihm zu geben. Allein es wurde ihm stets verweigert. Die Begierde nach dem Besitz des Buchs wurde durch die Verweigerung immer größer, so daß er endlich desselben auf irgend eine Art heimlich habhaft zu werden suchte. Da es in einem bloß mit Gitterthüren verschlossenen Schranke aufbewahrt wurde, und seine Hände noch klein genug waren, um durchgreifen und das nur in Papier geheftete Buch zusammen rollen und heraus ziehen zu können, so bedachte er sich nicht lange, von so günstigen Umständen Gebrauch zu machen. Allein aus Mangel eines Lichtes konnte er nur bey Mondhellen Nächten daran schreiben, und bedurfte 6 volle Monathe, ehe er mit seiner so mühseligen Arbeit zu Ende kommen konnte. Als er endlich den Schatz sicher zu besitzen glaubte, und ihn nun heimlich recht benutzen wollte, wurde der Bruder die Sache gewahr, und nahm ihm die so schwer gewordene Abschrift ohne Gnade und Barmherzigkeit wieder ab, die er auch nicht eher als nach dem bald darauf erfolgten Tode dieses Bruders wieder erhielt.

Aufs neue verwaiset ging nun Joh. Sebastian in Gesellschaft eines seiner Mitschüler, mit Namen Erdmann, nachherigen Russisch-Kaiserl. Residenten in Danzig, nach Lüneburg, und ließ sich daselbst im Chor der Michaelisschule als Diskantist aufnehmen. Seine schöne Diskantstimme verschaffte ihm hier ein gutes Fortkommen; allein er verlor sie bald, ohne sogleich eine andere gute Stimme dagegen zu erhalten.

Seine Neigung zum Clavier- und Orgelspielen war um diese Zeit noch eben so feurig, als in den frühern Jahren, und trieb ihn an, alles zu thun, zu sehen und zu hören, was ihn nach seinen damaligen Begriffen immer weiter darin bringen konnte. In dieser Absicht reisete er als Schüler von Lüneburg aus nicht nur mehrere Mahle nach Hamburg, um den damahls berühmten Organisten Johann Adam Reinken zu hören, sondern auch bisweilen nach Celle, um die dortige, meistens aus Franzosen bestehende Kapelle, und den französischen Geschmack, der damahls in diesen Gegenden noch etwas Neues war, kennen zu lernen.

[6] Durch welche Verhältnisse er von Lüneburg nach Weimar kam, ist nicht bekannt; aber es ist gewiß, daß er im Jahr 1703, als er eben 18 Jahre alt war, Hofmusikus daselbst wurde. Er vertauschte aber diesen Platz schon im folgenden Jahr mit der Organisten-Stelle an der neuen Kirche zu Arnstadt, vermuthlich um seiner Neigung zum Orgelspielen mehr als in Weimar nachhängen zu können, wo er für die Violine angestellt war. Hier fing er an, die Werke der damahligen berühmten Organisten, so viele er ihrer in seiner Lage habhaft werden konnte, mit dem größten Eifer so wohl für die Composition als für die Orgelkunst zu nutzen und machte so gar zur Befriedigung seiner Wißbegierde eine Fußreise nach Lübeck, um den dortigen Organisten an der Marienkirche, Dieterich Buxtehude, dessen Compositionen für die Orgel er schon kannte, auch als Orgelspieler kennen zu lernen. Fast ein ganzes Vierteljahr blieb er ein heimlicher Zuhörer dieses zu seiner Zeit sehr berühmten und wirklich geschickten Organisten, und kehrte sodann mit vermehrten Kenntnissen nach Arnstadt zurück.

Die Wirkungen seines Eifers und so anhaltenden Fleißes müssen um diese Zeit schon große Aufmerksamkeit erregt haben, denn er bekam nun kurz nach einander den Ruf zu verschiedenen Organisten-Stellen. Von Mühlhausen wurde ihm im Jahr 1707 eine solche Stelle an der St. Blasiuskirche angetragen und übergeben. Als er aber ein Jahr nach dem Antritt derselben eine Reise nach Weimar machte, und sich dort vor dem damahls regierenden Herzog hören ließ, fand sein Orgelspielen so großen Beyfall, daß man ihm die Hof-Organistenstelle antrug, die er auch annahm. Der vergrößerte Wirkungskreis für seine Kunst, in welchem er hier lebte, trieb ihn nun an, alles mögliche darin zu versuchen, und dieß ist eigentlich die Zeitperiode, in welcher er sich nicht nur zu einem so starken Orgelspieler gebildet, sondern auch den Grund zu seiner so großen Orgelcomposition gelegt hat. Noch größere Veranlassung zur Ausbildung seiner Kunst erhielt er, als ihn sein Fürst im Jahr 1717 zum Concertmeister ernannte, in welchem Amte er nun auch Kirchenstücke componiren und aufführen mußte.

Händels Lehrer, der Organist und Musikdirector Zachau zu Halle, starb in dieser Zeit, und der nun schon berühmte Joh. Seb. Bach wurde zu seinem Nachfolger berufen. Er reisete auch wirklich nach Halle, um sein Probestück daselbst aufzuführen. Er nahm jedoch, man weiß nicht aus welcher Ursache, die Stelle nicht an, sondern [7] überließ sie einem geschickten und wohlgerathenen Zachauischen Schüler, mit Namen Kirchhof.

Joh. Seb. Bach war nun 32 Jahre alt geworden, hatte seine Zeit bis zu dieser Periode so genutzt, so viel studirt, gespielt und componirt, und durch diesen anhaltenden Fleiß und Eifer eine solche Gewalt über die ganze Kunst erhalten, daß er nun wie ein Riese da stand, und alles um sich her in den Staub treten konnte. Er war schon lange, nicht bloß von Liebhabern, sondern von Kennern bewundert und angestaunt worden, als im Jahr 1717 der ehemahls in Frankreich sehr berühmte Klavierspieler und Organist Marchand nach Dresden kam, sich vor dem Könige hören ließ, und so großen Beyfall erhielt, daß ihm eine ansehnliche Besoldung angeboten wurde, wenn er königliche Dienste nehmen wollte. Marchands Verdienste bestanden hauptsächlich in einem sehr feinen und zierlichen Vortrag. Seine Gedanken waren aber leer und unkräftig, fast nach Couperin’s Art, wie man wenigstens aus seinen Compositionen sehen kann. Aber Joh. Seb. Bach hatte den nehmlichen feinen und zierlichen Vortrag, und überdieß noch eine Gedankenfülle, die vielleicht Marchand hätte schwindeln machen können, wenn er sie gehört hätte. Dieß alles wußte Volumier, damahliger Concertmeister zu Dresden. Er kannte die Allgewalt des jungen rüstigen Deutschen über seine Gedanken und über sein Instrument, und wollte zwischen ihm und dem französischen Künstler einen Wettstreit veranlassen, um seinem Fürsten das Vergnügen zu verschaffen, ihren beyderseitigen Werth, aus eigener Vergleichung bestimmen zu können. Es wurde daher mit Vorwissen des Königs ungesäumt eine Botschaft an Joh. Seb. Bach nach Weimar gesandt, um ihn zu diesem musikalischen Wettstreit einzuladen. Die Einladung wurde angenommen, und die Reise unverzüglich angetreten. Nach der Ankunft Bachs in Dresden verschaffte ihm Volumier zuerst die Gelegenheit, Marchand heimlich zu hören. Bach verlor dadurch seinen Muth nicht, sondern lud nun durch ein höfliches Billet den französischen Künstler förmlich zu einem musikalischen Wettstreit ein, erbot sich, alles was Marchand ihm aufgeben würde, aus dem Stegreife auszuführen, erbat sich aber von ihm eine gleiche Bereitwilligkeit. Da Marchand die Ausforderung annahm, so wurde mit Vorwissen des Königs Zeit und Ort des Kampfs bestimmt. Eine große Gesellschaft beyderley Geschlechts und von hohem Range versammelte sich in dem zum Kampfplatz [8] gewählten Hause des Marschalls, Grafen von Flemming. Bach ließ nicht auf sich warten, aber Marchand erschien nicht. Nach langem Warten ließ man sich endlich in seiner Wohnung nach ihm erkundigen, und die ganze Erwartungsvolle Versammlung erfuhr nun zu ihrer größten Verwunderung, daß Marchand schon am Morgen dieses Tages von Dresden abgereiset sey, ohne von irgend jemand Abschied zu nehmen. Bach mußte sich nun allein hören lassen, und that es zur Bewunderung aller Anwesenden; aber Volumiers Absicht, den Unterschied der deutschen und französischen Kunst recht fühlbar und auffallend gemacht zu sehen, war vereitelt. Beyfall erhielt Bach bey dieser Gelegenheit im Ueberfluß; aber ein Geschenk von 100 Louisd'or, welches ihm der König bestimmt hatte, soll er nicht erhalten haben.

Er war noch nicht lange nach Weimar zurück gekommen, als er von dem damahligen Fürst Leopold von Anhalt-Cöthen, der ein vorzüglicher Kenner und Liebhaber der Musik war, zu seinem Capellmeister berufen wurde. Er nahm diese Stelle sogleich an, und verwaltete sie fast 6 Jahre, machte aber in dieser Zeit (ungefähr im Jahr 1722) eine Reise nach Hamburg, um sich daselbst auf der Orgel hören zu lassen. Sein Orgelspielen erregte hier allgemeine Bewunderung. Der alte fast hundertjährige Reinken hörte ihm mit besonderm Vergnügen zu, und machte ihm besonders über den Choral: An Wasserflüssen Babylons etc. welchen er fast eine halbe Stunde lang nach ächter Orgel-Art variirte, das Compliment: Ich dachte, diese Kunst wäre ausgestorben; ich sehe aber, daß sie in Ihnen noch lebt. Reinken hatte diesen Choral vor langen Jahren selbst so ausgearbeitet, und ihn als ein Werk, auf welches er viel hielt, in Kupfer stechen lassen. Sein Lob war also hier desto schmeichelhafter für Bach.

Nach Kuhnau’s Tode im Jahr 1723 wurde Bach zum Musikdirector und Cantor an der Thomasschule zu Leipzig ernannt. In dieser Stelle blieb er bis an sein Ende. Der Fürst Leopold von Anhalt-Cöthen liebte ihn sehr; Bach verließ also seine Dienste ungern. Aber der bald nachher erfolgte Tod dieses Fürsten zeigte ihm doch, daß ihn die Vorsehung gut geführt hatte. Auf diesen ihm sehr schmerzhaften Todesfall verfertigte er eine Trauermusik mit vielen ganz vorzüglich schönen Doppelchören, und führte sie selbst in Cöthen auf. Daß er in seiner jetzigen Lage nun auch vom Herzog [9] von Weissenfels den Capellmeistertitel, und im Jahr 1736 den Titel eines Königl. Pohlnischen und Churfürstl. Sächsischen Hof-Compositeurs erhielt, sind eigentlich Nebendinge, nur ist dabey zu bemerken, daß der letztere Titel durch Verhältnisse veranlaßt wurde, in welche Bach durch sein Amt als Cantor an der Thomasschule gekommen war.

Sein zweyter Sohn, Carl Phil. Emanuel, kam im Jahr 1740 in die Dienste Friedrichs des Großen. Der Ruf von der alles übertreffenden Kunst Johann Sebastians war in dieser Zeit so verbreitet, daß auch der König sehr oft davon reden und rühmen hörte. Er wurde dadurch begierig, einen so großen Künstler selbst zu hören und kennen zu lernen. Anfänglich ließ er gegen den Sohn ganz leise den Wunsch merken, daß sein Vater doch einmahl nach Potsdam kommen möchte. Allein nach und nach fing er an, bestimmt zu fragen, warum denn sein Vater nicht einmahl komme? Der Sohn konnte nicht umhin, diese Aeußerungen des Königs seinem Vater zu melden, der aber anfänglich nicht darauf achten konnte, weil er meistens mit zu vielen Geschäften überhäuft war. Als aber die Aeußerungen des Königs in mehrern Briefen des Sohns wiederholt wurden, machte er endlich im Jahr 1747 dennoch Anstalt, diese Reise in Gesellschaft seines ältesten Sohns, Wilh. Friedemann, zu unternehmen. Der König hatte um diese Zeit alle Abende ein Cammerconcert, worin er meistens selbst einige Concerte auf der Flöte bließ. Eines Abends wurde ihm, als er eben seine Flöte zurecht machte, und seine Musiker schon versammelt waren, durch einen Officier der geschriebene Rapport von angekommenen Fremden gebracht. Mit der Flöte in der Hand übersah er das Papier, drehte sich aber sogleich gegen die versammelten Capellisten und sagte mit einer Art von Unruhe: Meine Herren, der alte Bach ist gekommen! Die Flöte wurde hierauf weggelegt, und der alte Bach, der in der Wohnung seines Sohns abgetreten war, sogleich auf das Schloß beordert. Wilh. Friedemann, der seinen Vater begleitete, hat mir diese Geschichte erzählt, und ich muß sagen, daß ich noch heute mit Vergnügen an die Art denke, wie er sie mir erzählt hat. Es wurden in jener Zeit noch etwas weitläuftige Complimente gemacht. Die erste Erscheinung Joh. Seb. Bachs vor einem so großen Könige, der ihm nicht einmahl Zeit ließ, sein Reisekleid mit einem schwarzen Cantor-Rock zu verwechseln, mußte also nothwendig mit vielen Entschuldigungen verknüpft seyn. Ich will die Art dieser Entschuldigungen hier nicht [10] anführen, sondern bloß bemerken, daß sie in Wilh. Friedemanns Munde ein förmlicher Dialog zwischen dem König und dem Entschuldiger waren.

Aber was wichtiger als dieß alles ist, der König gab für diesen Abend sein Flötenconcert auf, nöthigte aber den damahls schon sogenannten alten Bach, seine in mehrern Zimmern des Schlosses herumstehende Silbermannische Fortepiano zu probiren.[1] Die Capellisten gingen von Zimmer zu Zimmer mit, und Bach mußte überall probiren und fantasiren. Nachdem er einige Zeit probirt und fantasirt hatte, bat er sich vom König ein Fugenthema aus, um es sogleich ohne alle Vorbereitung auszuführen. Der König bewunderte die gelehrte Art, mit welcher sein Thema so aus dem Stegreif durchgeführt wurde, und äußerte nun, vermuthlich um zu sehen, wie weit eine solche Kunst getrieben werden könne, den Wunsch, auch eine Fuge mit 6 obligaten Stimmen zu hören. Weil aber nicht jedes Thema zu einer solchen Vollstimmigkeit geeignet ist, so wählte sich Bach selbst eines dazu, und führte es sogleich zur größten Verwunderung aller Anwesenden auf eine eben so prachtvolle und gelehrte Art aus, wie er vorher mit dem Thema des Königs gethan hatte. Auch seine Orgelkunst wollte der König kennen lernen. Bach wurde daher an den folgenden Tagen von ihm eben so zu allen in Potsdam befindlichen Orgeln geführt, wie er vorher zu allen Silbermannischen Fortepiano geführt worden war. Nach seiner Zurückkunft nach Leipzig arbeitete er das vom König erhaltene Thema 3 und 6stimmig aus, fügte verschiedene kanonische Kunststücke darüber hinzu, ließ es unter dem Titel: Musikalisches Opfer, in Kupfer stechen, und dedicirte es dem Erfinder desselben.

Dieß war Bachs letzte Reise. Der anhaltende Fleiß, mit welchem er besonders in seinen jüngern Jahren oft Tag und Nacht ununterbrochen dem Studium der Kunst oblag, hatte sein Gesicht geschwächt. Diese Schwäche nahm in den letztern Jahren immer mehr zu, bis endlich eine sehr schmerzhafte Augenkrankheit daraus entstand. Auf Anrathen einiger Freunde, die auf die Geschicklichkeit eines aus England zu Leipzig angekommenen Augen-Arztes großes Vertrauen setzten, wagte er es, sich einer Operation [11] zu unterwerfen, die aber zweymahl verunglückte. Nun war nicht nur sein Gesicht ganz verloren, sondern auch seine übrige bisher so dauerhafte Gesundheit war durch den mit der Operation verbundenen Gebrauch vielleicht schädlicher Arzeneymittel völlig zerrüttet. Er kränkelte hierauf noch ein ganzes halbes Jahr hindurch, bis er am Abend des 30sten Julius 1750 im 66sten Jahre seines Lebens dieser Welt entschlummerte. Am Morgen des zehnten Tages vor seinem Ende konnte er auf einmahl wieder sehen und Licht ertragen. Aber wenige Stunden nachher überfiel ihn ein Schlagfluß, und dieser zog ein hitziges Fieber nach sich, dem sein abgematteter Körper, ungeachtet aller möglichen ärztlichen Hülfe, nicht mehr zu widerstehen vermochte.

So weit die Lebensgeschichte dieses merkwürdigen Mannes. Ich füge bloß noch hinzu, daß er zweymahl verheyrathet gewesen ist, und daß ihm in der ersten Ehe 7 und in der zweyten 13 Kinder geboren worden sind, nehmlich 11 Söhne und 9 Töchter. Die Söhne hatten sämmtlich vortreffliche musikalische Anlagen; sie wurden aber nur bey einigen der ältern völlig ausgebildet.


[11]
III.

Joh. Seb. Bachs Art das Clavier zu behandeln, ist von jedem, der das Glück gehabt hat, ihn zu hören, bewundert, und von allen, die selbst Ansprüche machen konnten, für gute Spieler gehalten zu werden, beneidet worden. Daß dieses so allgemein bewunderte und beneidete Clavierspielen von der Art, wie das Clavier von Bachs Zeitgenossen und Vorgängern behandelt wurde, sehr verschieden gewesen seyn müsse, ist leicht zu begreifen; aber bis jetzt ist noch von Niemand genau angegeben worden, worin diese Verschiedenheit eigentlich bestanden habe.

Wenn man von zehen gleich fertigen und geübten Spielern ein und eben dasselbe Stück spielen läßt, so wird es sich unter der Hand eines jeden anders ausnehmen. Jeder wird eine verschiedene Art des Tons aus dem Instrument ziehen, und sodann diese Töne mit einem größern oder geringern Grad von Deutlichkeit vortragen. Wovon kann diese verschiedene Ausnahme entstehen, wenn übrigens alle zehen Spieler hinlängliche Uebung und Fertigkeit haben? Bloß von der Art des Anschlags, der beym Clavier eben das ist, [12] was in der Rede die Aussprache ist. Es kommt nehmlich, wenn der Vortrag so wohl im Spielen als im Reden oder Declamiren vollkommen seyn soll, auf den höchsten Grad von Deutlichkeit im Anschlag der Töne, und in der Aussprache der Wörter an. Diese Deutlichkeit hat aber gar mancherley Grade. Schon in den untersten Graden kann man verstehen, was gespielt oder gesagt wird; es erregt aber kein Wohlgefallen beym Zuhörer, weil ihn dieser Grad von Deutlichkeit zu einiger Anstrengung seiner Aufmerksamkeit nöthigt. Die Aufmerksamkeit auf einzelne Töne oder Wörter muß aber um deswillen unnöthig gemacht werden, damit der Zuhörer sie auf die Gedanken und deren Zusammenhang verwenden kann, und dazu bedürfen wir des höchsten Grades von Deutlichkeit im Anschlag einzelner Töne, so wie in der Aussprache einzelner Wörter.

Ich habe mich oft gewundert, daß C. Ph. Emanuel in seinem Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen, diesen höchsten Grad von Deutlichkeit des Anschlags nicht ausführlich beschrieben hat, da er ihn doch nicht nur selbst hatte, sondern auch gerade hierin ein Hauptunterschied liegt, wodurch sich die Bachische Art das Clavier zu spielen, von jeder andern auszeichnet. Er sagt zwar im Capitel vom Vortrag: »Einige Personen spielen zu klebricht, als wenn sie Leim zwischen den Fingern hätten. Ihr Anschlag ist zu lang, indem sie die Tasten über die Zeit liegen lassen. Andere haben es verbessern wollen, und spielen zu kurz, als wenn die Tasten glühend wären. Es thut aber auch schlecht. Die Mittelstraße ist die beste.« Er hätte uns aber die Art und Weise lehren und beschreiben sollen, wie man auf diese Mittelstraße gelangen kann. Ich will die Sache deutlich zu machen suchen, in so weit solche Dinge ohne mündlichen Unterricht deutlich gemacht werden können.

Nach der Seb. Bachischen Art, die Hand auf dem Clavier zu halten, werden die fünf Finger so gebogen, daß die Spitzen derselben in eine gerade Linie kommen, die sodann auf die in einer Fläche neben einander liegenden Tasten so passen, daß kein einziger Finger bey vorkommenden Fällen erst näher herbey gezogen muß, sondern daß jeder über dem Tasten, den er etwa nieder drücken soll, schon schwebt. Mit dieser Lage der Hand ist nun verbunden: 1) daß kein Finger auf seinen Tasten fallen, oder (wie es ebenfalls oft geschieht) geworfen, sondern nur mit einem gewissen Gefühl der innern Kraft und Herrschaft über die Bewegung getragen werden darf. 2) Die so auf den Tasten [13] getragene Kraft, oder das Maaß des Drucks muß in gleicher Stärke unterhalten werden, und zwar so, daß der Finger nicht gerade aufwärts vom Tasten gehoben wird, sondern durch ein allmähliges Zurückziehen der Fingerspitzen nach der innern Fläche der Hand, auf dem vordern Theil des Tasten abgleitet. 3) Beym Uebergange von einem Tasten zum andern wird durch dieses Abgleiten das Maß von Kraft oder Druck, womit der erste Ton unterhalten worden ist, in der größten Geschwindigkeit auf den nächsten Finger geworfen, so daß nun die beyden Töne weder von einander gerissen werden, noch in einander klingen können. Der Anschlag derselben ist also, wie C. Ph. Emanuel sagt, weder zu lang noch zu kurz, sondern genau so wie er seyn muß.

Die Vortheile einer solchen Haltung der Hand und eines solchen Anschlags sind sehr mannigfaltig, nicht bloß auf dem Clavichord, sondern auch auf dem Pianoforte und auf der Orgel. Ich will nur einige der wichtigsten anführen. 1) Die gebogene Haltung der Finger macht jede ihrer Bewegungen leicht. Das Hacken, Poltern und Stolpern kann also nicht entstehen, welches man so häufig bey Personen findet, die mit ausgestreckten oder nicht genug gebogenen Fingern spielen. 2) Das Einziehen der Fingerspitzen nach sich, und das dadurch bewirkte geschwinde Uebertragen der Kraft des einen Fingers auf den zunächst darauf folgenden, bringt den höchsten Grad von Deutlichkeit im Anschlage der einzelnen Töne hervor, so daß jede auf diese Art vorgetragene Passage glänzend, rollend und rund klingt, gleichsam als wenn jeder Ton eine Perle wäre. Es kostet dem Zuhörer nicht die mindeste Aufmerksamkeit, eine so vorgetragene Passage zu verstehen. 3) Durch das Gleiten der Fingerspitze auf dem Tasten in einerley Maß von Druck wird der Saite gehörige Zeit zum Vibriren gelassen; der Ton wird also dadurch nicht nur verschönert, sondern auch verlängert, und wir werden dadurch in den Stand gesetzt, selbst auf einem so Ton-armen Instrument, wie das Clavichord ist, sangbar und zusammenhängend spielen zu können. Alles dieß zusammen genommen hat endlich noch den überaus großen Vortheil, daß alle Verschwendung von Kraft durch unnütze Anstrengung und durch Zwang in den Bewegungen vermieden wird. Auch soll Seb. Bach mit einer so leichten und kleinen Bewegung der Finger gespielt haben, daß man sie kaum bemerken konnte. Nur die vordern Gelenke der Finger waren in Bewegung, die Hand behielt auch bey den schwersten Stellen ihre gerundete Form, die Finger hoben sich nur [14] wenig von den Tasten auf, fast nicht mehr als bey Trillerbewegungen, und wenn der eine zu thun hatte, blieb der andere in seiner ruhigen Lage. Noch weniger nahmen die übrigen Theile seines Körpers Antheil an seinem Spielen, wie es bey vielen geschieht, deren Hand nicht leicht genug gewöhnt ist.

Man kann indessen die angeführten Vortheile alle besitzen, und doch noch ein schwacher Clavierspieler seyn, so wie jemand eine völlig reine und schöne Aussprache haben, und doch noch ein schlechter Declamator oder Redner seyn kann. Um starker Spieler zu seyn, sind noch viele andere Vorzüge erforderlich, welche Bach ebenfalls in höchster Vollkommenheit besaß.

Der natürliche Unterschied der Finger an Größe, so wie an Stärke, verleitet sehr häufig die Clavierspieler, sich da, wo es nur irgend möglich ist, bloß der stärkern zu bedienen, und die schwächern zu vernachlässigen. Dadurch entsteht nicht nur eine Ungleichheit im Anschlage mehrerer auf einander folgender Töne, sondern sogar eine Unmöglichkeit, gewisse Sätze, wobey keine Auswahl der Finger Statt findet, heraus zu bringen. Joh. Seb. fühlte dieß bald, und um einer so fehlerhaften Bildung abzuhelfen, schrieb er sich besondere Stücke, wobey die Finger beyder Hände in den mannigfaltigsten Lagen nothwendig alle gebraucht werden mußten, wenn sie rein heraus gebracht werden sollten. Durch solche Uebungen bekamen alle seine Finger beyder Hände gleiche Stärke und Brauchbarkeit, so daß er nicht nur Doppelgriffe und alles Laufwerk mit beyden Händen, sondern auch einfache und Doppeltriller mit gleicher Leichtigkeit und Feinheit auszuführen vermochte. Sogar solche Sätze hatte er in seiner Gewalt, worin, während einige Finger trillern, die übrigen derselben Hand eine Melodie fortzuführen haben.

Zu allen diesem kam nun noch die von ihm ausgedachte neue Fingersetzung. Vor ihm und noch in seinen Jugendjahren, wurde mehr harmonisch als melodisch, auch noch nicht in allen 24 Tonarten gespielt. Weil das Clavier noch gebunden war, so daß mehrere Tasten unter eine einzige Saite schlugen, so konnte es noch nicht rein temperirt werden; man spielte also nur aus solchen Tonarten, die sich am reinsten stimmen ließen. Von diesen Umständen kam es, daß selbst die damahligen größten Spieler den Daumen nicht eher gebrauchten, als bis er bey Spannungen durchaus unentbehrlich wurde. Da Bach nun anfing, Melodie und Harmonie so zu vereinigen, daß selbst seine Mittelstimmen [15] nicht bloß begleiten, sondern ebenfalls singen mußten, da er den Gebrauch der Tonarten theils durch Abweichung von den damahls auch in der weltlichen Musik noch sehr üblichen Kirchentönen, theils durch Vermischung des diatonischen und chromatischen Klanggeschlechts erweiterte, und nun sein Instrument so temperiren lernte, daß es in allen 24 Tonarten rein gespielt werden konnte; so mußte er sich auch eine andere, seinen neuen Einrichtungen angemessenere Fingersetzung ausdenken, und besonders den Daumen anders gebrauchen, als er bisher gebraucht worden war. Einige haben behaupten wollen, Couperin habe in seinem 1716 heraus gekommenen Werk: l’art de toucher le Clavecin, schon vor ihm dieselbe Fingersetzung gelehrt. Allein, theils war Bach um diese Zeit über 30 Jahre alt, und hatte seine Fingersetzung schon lange angewendet, theils ist auch die Applicatur Couperin’s von der Bachischen noch sehr verschieden, ob sie gleich den häufigern Gebrauch des Daumens mit ihr gemein hat. Ich sage nur: den häufigern; denn in der Bachischen Fingersetzung wurde der Daumen zum Hauptfinger gemacht, weil ohne ihn in den sogenannten schweren Tonarten durchaus nicht fortzukommen ist; bey Couperin hingegen nicht, weil er weder so mannigfaltige Passagen hatte, noch in so schweren Tonarten setzte oder spielte wie Bach, folglich auch keine so dringende Veranlassung dazu hatte. Man darf nur die Bachische Fingersetzung, so wie sie C. Ph. Emanuel entwickelt hat, mit Couperin’s Anweisung vergleichen, so wird man bald finden, daß sich mit der einen alle, auch die schwersten und vollstimmigsten Sätze rein und leicht heraus bringen lassen, mit der andern aber höchstens in Couperin's eigenen Claviercompositionen, und sogar auch da noch mit Schwierigkeit, durchzukommen ist. Uebrigens kannte Bach Couperin's Werke und schätzte sie so wie die Werke mehrerer französischer Claviercomponisten aus jenem Zeitraum, weil man eine nette und zierliche Spielart aus ihnen lernen kann. Doch hielt er sie auch für zu geziert, weil ein allzu häufiger Gebrauch von den Manieren darin gemacht wird, so daß fast keine Note von ihnen verschont bleibt. Außerdem hatten auch die darin enthaltenen Gedanken für ihn nicht genug Gehalt.

Aus der leichten, zwanglosen Bewegung der Finger, aus dem schönen Anschlage, aus der Deutlichkeit und Schärfe in der Verbindung auf einander folgender Töne, aus der vortheilhaften neuen Fingersetzung, aus der gleichen Bildung und Uebung aller [16] Finger beyder Hände, und endlich aus der großen Mannigfaltigkeit seiner melodischen Figuren, die in jedem seiner Stücke auf eine neue, ungewöhnliche Art gewendet sind, entstand zuletzt ein so hoher Grad von Fertigkeit und (man könnte fast sagen) Allgewalt über das Instrument in allen Tonarten, daß es nun für Seb. Bach fast keine Schwierigkeiten mehr gab. So wohl bey seinen freyen Fantasien, als beym Vortrag seiner Compositionen, in welchen bekanntlich alle Finger beyder Hände ununterbrochen beschäftigt sind, und so fremdartige ungewöhnliche Bewegungen machen müssen, als die Melodien derselben selbst fremdartig und ungewöhnlich sind, soll er doch eine solche Sicherheit gehabt haben, daß er nie einen Ton verfehlte. Auch besaß er eine so bewundernswürdige Fertigkeit im Lesen und Treffen anderer Clavierwerke (die freylich sämmtlich leichter als die seinigen waren), daß er einst, als er noch in Weimar lebte, gegen einen seiner Bekannten äußerte, er glaube wirklich, es sey ihm möglich, alles ohne Anstoß beym ersten Anblick zu spielen. Er hatte sich aber geirrt. Der Bekannte, gegen den er sich so geäußert hatte, überzeugte ihn davon, ehe 8 Tage vergingen. Er lud ihn eines Morgens zum Frühstück zu sich, und legte auf den Pult seines Instruments außer andern Stücken auch eines, welches dem ersten Ansehen nach sehr unbedeutend zu seyn schien. Bach kam und ging seiner Gewohnheit nach sogleich zum Instrument, theils um zu spielen, theils um die Stücke durchzusehen, welche auf dem Pulte lagen. Während er diese durchblätterte und durchspielte, ging sein Wirth in ein Seitenzimmer, um das Frühstück zu bereiten. Nach einigen Minuten war Bach an das zu seiner Bekehrung bestimmte Stück gekommen und fing an, es durchzuspielen. Aber bald nach dem Anfange blieb er vor einer Stelle stehen. Er betrachtete sie, fing nochmahls an, und blieb wieder vor ihr stehen. Nein, rief er seinem im Nebenzimmer heimlich lachenden Freunde zu, indem er zugleich vom Instrument wegging: Man kann nicht alles wegspielen, es ist nicht möglich!

Nicht minder groß war seine Fertigkeit, Partituren zu übersehen und ihren wesentlichen Inhalt beym ersten Anblick auf dem Clavier vorzutragen. Auch neben einander gelegte einzelne Stimmen übersah er so leicht, daß er sie sogleich abspielen konnte. Dieses Kunststück machte er oft, wenn jemand etwa ein neues Trio oder Quartett für Bogeninstrumente bekommen hatte, und nun gern hören wollte, wie es klinge. Er konnte [17] ferner aus einer ihm vorgelegten, oft schlecht bezifferten einzelnen Baßstimme augenblicklich ein Trio oder Quartett abspielen; ja er ging sogar bisweilen so weit, wenn er gerade fröhlicher Laune und im vollen Gefühl seiner Kraft war, zu 3 einzelnen Stimmen sogleich eine vierte zu extemporiren, also aus einem Trio ein Quartett zu machen. Zu solchen Künsten bediente er sich zweyer Claviere und des Pedals, oder eines mit einem Pedal versehenen Doppelflügels.

Am liebsten spielte er auf dem Clavichord. Die sogenannten Flügel, obgleich auch auf ihnen ein gar verschiedener Vortrag statt findet, waren ihm doch zu seelenlos, und die Pianoforte waren bey seinem Leben noch zu sehr in ihrer ersten Entstehung, und noch viel zu plump, als daß sie ihm hätten Genüge thun können. Er hielt daher das Clavichord für das beste Instrument zum Studiren, so wie überhaupt zur musikalischen Privatunterhaltung. Er fand es zum Vortrag seiner feinsten Gedanken am bequemsten, und glaubte nicht, daß auf irgend einem Flügel oder Pianoforte eine solche Mannigfaltigkeit in den Schattirungen des Tons hervor gebracht werden könne, als auf diesem zwar Ton-armen, aber im Kleinen außerordentlich biegsamen Instrument.

Seinen Flügel konnte ihm Niemand zu Dank bekielen; er that es stets selbst. Auch stimmte er so wohl den Flügel als sein Clavichord selbst, und war so geübt in dieser Arbeit, daß sie ihm nie mehr als eine Viertelstunde kostete. Dann waren aber auch, wenn er fantasirte, alle 24 Tonarten sein; er machte mit ihnen was er wollte. Er verband die entferntesten so leicht und so natürlich mit einander, wie die nächsten; man glaubte, er habe nur im innern Kreise einer einzigen Tonart modulirt. Von Härten in der Modulation wußte er nichts; seine Chromatik sogar war in den Uebergängen so sanft und fließend, als wenn er bloß im diatonischen Klanggeschlecht geblieben wäre. Seine nun schon gestochene sogenannte chromatische Fantasie kann beweisen, was ich hier sage. Alle seine freyen Fantasieen sollen von ähnlicher Art, häufig aber noch weit freyer, glänzender und ausdrucksvoller gewesen seyn.

Bey der Ausführung seiner eigenen Stücke nahm er das Tempo gewöhnlich sehr lebhaft, wußte aber außer dieser Lebhaftigkeit noch so viele Mannigfaltigkeit in seinen Vortrag zu bringen, daß jedes Stück unter seiner Hand gleichsam wie eine Rede sprach. Wenn er starke Affekten ausdrücken wollte, that er es nicht wie manche andere durch eine [18] übertriebene Gewalt des Anschlags, sondern durch harmonische und melodische Figuren, das heißt: durch innere Kunstmittel. Er fühlte hierin gewiß sehr richtig. Wie kann es Ausdruck einer heftigen Leidenschaft seyn, wenn jemand auf einem Instrument so poltert, daß man vor lauter Poltern und Klappern keinen Ton deutlich hören, viel weniger einen von dem andern unterscheiden kann? –


[18]
IV.

Was im Vorhergehenden von Joh. Seb. Bachs vorzüglichem Clavierspielen gesagt worden ist, kann im Allgemeinen auch auf sein Orgelspielen angewendet werden. Das Clavier und die Orgel sind einander nahe verwandt. Allein Styl und Behandlungsart beyder Instrumente ist so verschieden, als ihre beyderseitige Bestimmung verschieden ist. Was auf dem Clavichord klingt oder etwas sagt, sagt auf der Orgel nichts, und so umgekehrt. Der beste Clavierspieler, wenn er nicht die Unterschiede der Bestimmung und der Zwecke beyder Instrumente gehörig kennt und zu beobachten weiß, wird daher stets ein schlechter Orgelspieler seyn, wie es auch gewöhnlich der Fall ist. Bis jetzt sind mir nur zwey Ausnahmen vorgekommen. Die eine macht Joh. Sebastian selbst, und die zweyte sein ältester Sohn, Wilh. Friedemann. Beyde waren feine Clavierspieler; sobald sie aber auf die Orgel kamen, bemerkte man keinen Clavierspieler mehr. Melodie, Harmonie, Bewegung etc. alles war anders, das heißt: alles war der Natur des Instruments und seiner Bestimmung angemessen. Wenn ich Wilh. Friedemann auf dem Clavier hörte, war alles zierlich, fein und angenehm. Hörte ich ihn auf der Orgel, so überfiel mich ein heiliger Schauder. Dort war alles niedlich, hier alles groß und feyerlich. Eben so war es bey Joh. Sebastian, nur beydes in einem noch weit höhern Grad von Vollkommenheit. W. Friedemann war auch hierin nur ein Kind gegen seinen Vater, und erklärte sich mit aller Aufrichtigkeit selbst dafür. Schon die vorhandenen Orgelcompositionen dieses bewundernswürdigen Mannes sind voll von Ausdruck der Andacht, Feyerlichkeit und Würde; aber sein freyes Orgelspiel, wobey durchs Niederschreiben nichts verloren ging, sondern alles unmittelbar aus der Fantasie ins Leben kam, soll noch andächtiger, feyerlicher, würdiger und erhabener gewesen [19] seyn. Worauf kommt es nun bey dieser Kunst hauptsächlich an? Ich will davon sagen, was ich weiß; aber manches kann nicht gesagt, sondern nur gefühlt werden.

Wenn man Bachs Claviercompositionen mit seinen Orgelcompositionen vergleicht, so bemerkt man, daß die in beyden befindliche Melodie und Harmonie ganz von verschiedener Art ist. Wir können hieraus schließen, daß es beym wahren Orgelspielen zunächst auf die Beschaffenheit der Gedanken ankommen müsse, deren sich der Organist bedient. Diese Beschaffenheit wird durch die Natur des Instruments, durch den Platz, an welchem es steht, und endlich durch den Zweck, der damit beabsichtigt wird, bestimmt. Der große Ton der Orgel ist seiner Natur nach nicht dazu geeignet, in geschwinden Sätzen gebraucht zu werden; er erfordert Zeit, in dem weiten und freyen Raum einer Kirche verhallen zu können. Läßt man ihm diese Zeit nicht, so verwirren sich die Töne, und das Orgelspiel wird undeutlich und unverständlich. Die der Orgel und dem Platz angemessenen Sätze müssen also feyerlich langsam seyn; höchstens kann beym Gebrauch einzelner Register, etwa in einem Trio etc. eine Ausnahme von dieser Regel gemacht werden. Die Bestimmung der Orgel zur Unterstützung des Kirchengesangs, und zur Vorbereitung und Unterhaltung andächtiger Gefühle durch Vor- und Nachspiele, erfordert ferner, daß die innere Zusammensetzung und Verbindung der Töne auf eine andere Art bewerkstelligt werde, als außer der Kirche geschieht. Das Gewöhnliche, Alltägliche kann nie feyerlich werden, kann nie ein erhabenes Gefühl erregen; es muß daher auf alle Weise von der Orgel entfernt bleiben. Und wer ist hierin je gewissenhafter gewesen, als Bach? Schon in seinen weltlichen Compositionen verschmähte er alles Gewöhnliche; in seinen Orgelcompositionen hat er sich aber noch unendlich weiter davon entfernt, so daß er mir hier nicht mehr wie ein Mensch, sondern wie ein wahrer verklärter Geist vorkommt, der sich über alles Irdische hinauf geschwungen hat.

Die Mittel, deren er sich bediente, um zu einem so heiligen Styl zu gelangen, lagen in seiner Behandlungsart der alten sogenannten Kirchentonarten, in seiner getheilten Harmonie, im Gebrauch des obligaten Pedals und in seiner Art zu registriren. Daß die Kirchentonarten ihres Unterschieds wegen von unsern 12 Dur- und 12 Molltonarten zu fremdartigen, ungewöhnlichen Modulationen, so wie sie in die Kirche gehören, vorzüglich geschickt sind, kann jedermann erfahren, der nur die einfachen vierstimmigen [20] Choralgesänge von Joh. Sebastian untersuchen will. Was aber die getheilte Harmonie für Wirkung auf der Orgel thue, wird sich Niemand leicht vorstellen können, der nie ein so eingerichtetes Orgelspiel gehört hat. Es wird dadurch gleichsam ein Chor von 4 oder 5 Singstimmen in ihrem völlig natürlichen Umfange auf die Orgel übertragen. Man versuche auf einem Claviere folgende Accorde in getheilter Harmonie, (s. die Kupfertafel, Fig. 1.) und vergleiche dann, wie die folgende, (Fig. 2.) deren sich gewöhnliche Organisten zu bedienen pflegen, dagegen klingt, so wird man bald einsehen, was für eine Wirkung es machen müsse, wenn ganze Stücke auf solche Art mit 4 oder mehr Stimmen gespielt werden. Auf diese Art spielte nun Bach stets auf der Orgel, und bediente sich dabey noch außerdem des obligaten Pedals, von dessen wahrem Gebrauch nur wenige Organisten etwas wissen. Er gab mit dem Pedal nicht bloß Grundtöne oder diejenigen an, die bey gewöhnlichen Organisten der kleine Finger der linken Hand zu greifen hat, sondern er spielte eine förmliche Baß-Melodie mit seinen Füßen, die oft so beschaffen war, daß mancher mit 5 Fingern sie kaum heraus gebracht haben würde.

Zu allen diesem kam noch die eigene Art, mit welcher er die verschiedenen Stimmen der Orgel mit einander verband, oder seine Art zu registriren. Sie war so ungewöhnlich, daß manche Orgelmacher und Organisten erschraken, wenn sie ihn registriren sahen. Sie glaubten, eine solche Vereinigung von Stimmen könne unmöglich gut zusammen klingen; wunderten sich aber sehr, wenn sie nachher bemerkten, daß die Orgel gerade so am besten klang, und nun etwas Fremdartiges, Ungewöhnliches bekommen hatte, das durch ihre Art zu registriren, nicht hervor gebracht werden konnte.

Diese ihm eigene Art zu registriren war eine Folge seiner genauen Kenntniß des Orgelbaues, so wie aller einzelnen Stimmen. Er hatte sich frühe gewöhnt, jeder einzelnen Orgelstimme eine ihrer Eigenschaft angemessene Melodie zu geben, und dieses führte ihn zu neuen Verbindungen dieser Stimmen, auf welche er außerdem nie verfallen seyn würde. Ueberhaupt entging dem scharfen Blicke seines Geistes nichts, was nur irgend auf seine Kunst Beziehung hatte, und zur Entdeckung neuer Kunstvortheile genutzt werden konnte. Seine Achtsamkeit auf die Ausnahme großer Musikstücke an Plätzen von verschiedener Beschaffenheit, sein sehr geübtes Gehör, mit welchem er in der vollstimmigsten und besetztesten Musik jeden noch so kleinen Fehler bemerkte, seine Kunst auf eine so [21] leichte Art ein Instrument rein zu temperiren, können zum Beweise dienen, wie scharf und umfassend der Blick dieses großen Mannes war. Als er im Jahr 1747 in Berlin war, wurde ihm das neue Opernhaus gezeigt. Alles was in der Anlage desselben in Hinsicht auf die Ausnahme der Musik gut oder fehlerhaft war, und was Andere erst durch Erfahrung bemerkt hatten, entdeckte er beym ersten Anblick. Man führte ihn in den darin befindlichen großen Speise-Saal; er ging auf die oben herum laufende Gallerie, besah die Decke, und sagte, ohne fürs erste weiter nachzuforschen, der Baumeister habe hier ein Kunststück angebracht, ohne es vielleicht zu wollen, und ohne daß es Jemand wisse. Wenn nehmlich Jemand an der einen Ecke des länglicht viereckichten Saals oben ganz leise gegen die Wand einige Worte sprach, so konnte es ein Anderer, welcher übers Kreuz an der andern Ecke mit dem Gesichte gegen die Wand gerichtet stand, ganz deutlich hören, sonst aber Niemand im ganzen Saal, weder in der Mitte, noch an irgend einer andern Stelle. Diese Wirkung kam von der Richtung der an der Decke angebrachten Bogen, deren besondere Beschaffenheit er beym ersten Anblick entdeckte. Solche Beobachtungen konnten und mußten ihn allerdings auch auf Versuche führen, durch ungewöhnliche Vereinigung verschiedener Orgelstimmen vor und nach ihm unbekannte Wirkungen hervor zu bringen.

Die Vereinigung und Anwendung der angeführten Mittel auf die üblichen Formen der Orgelstücke brachte nun das große, feyerlich-erhabene, der Kirche angemessene, beym Zuhörer heiligen Schauder und Bewunderung erregende Orgelspiel Joh. Seb. Bachs hervor. Seine tiefe Kenntniß der Harmonie, sein Bestreben, alle Gedanken fremdartig zu wenden, um ihnen auch nicht die mindeste Aehnlichkeit mit der außer der Kirche üblichen Art musikalischer Gedanken zu lassen, seine der reichsten, unerschöpflichsten und stets unaufhaltsam fortströmenden Fantasie entsprechende Allgewalt über sein Instrument mit Hand und Fuß, sein sicheres und schnelles Urtheil, mit welchem er aus dem ihm zuströmenden Reichthum an Gedanken nur die zum gegenwärtigen Zweck gehörigen zu wählen wußte, kurz sein großes Genie, welches alles umfaßte, alles in sich vereinigte, was zur Vollendung einer der unerschöpflichsten[WS 1] Künste erforderlich ist, brachte auch die Orgelkunst so zur Vollendung, wie sie vor ihm nie war, und nach ihm schwerlich seyn wird. Quanz[WS 2] war hierin meiner Meynung. Der bewundernswürdige Joh. Seb. Bach, [22] sagt er, hat endlich in den neuern Zeiten die Orgelkunst zu ihrer größten Vollkommenheit gebracht; es ist nur zu wünschen, daß sie nach dessen Absterben wegen geringer Anzahl derjenigen, die noch einigen Fleiß darauf verwenden, nicht wieder verfallen oder gar untergehen möge.

Wenn Joh. Seb. Bach außer den gottesdienstlichen Versammlungen sich an die Orgel setzte, wozu er sehr oft durch Fremde aufgefordert wurde, so wählte er sich irgend ein Thema, und führte es in allen Formen von Orgelstücken so aus, daß es stets sein Stoff blieb, wenn er auch zwey oder mehrere Stunden ununterbrochen gespielt hätte. Zuerst gebrauchte er dieses Thema zu einem Vorspiel und einer Fuge mit vollem Werk. Sodann erschien seine Kunst des Registrirens für ein Trio, ein Quatuor etc. immer über dasselbe Thema. Ferner folgte ein Choral, um dessen Melodie wiederum das erste Thema in 3 oder 4 verschiedenen Stimmen auf die mannigfaltigste Art herum spielte. Endlich wurde der Beschluß mit dem vollen Werke durch eine Fuge gemacht, worin entweder nur eine andere Bearbeitung des erstern Thema herrschte, oder noch eines oder auch nach Beschaffenheit desselben zwey andere beygemischt wurden. Dieß ist eigentlich diejenige Orgelkunst, welche der alte Reinken in Hamburg schon zu seiner Zeit für verloren hielt, die aber, wie er hernach fand, in Joh. Seb. Bach nicht nur noch lebte, sondern durch ihn die höchste Vollkommenheit erreicht hatte.

Theils das Amt, in welchem Joh. Seb. stand, theils auch überhaupt der große Ruf seiner Kunst und Kunstkenntnisse verursachte, daß er sehr häufig zur Prüfung junger Orgel-Candidaten, und zur Untersuchung neu-erbauter Orgelwerke aufgefordert wurde. Er benahm sich in beyden Fällen so gewissenhaft und unpartheyisch, daß die Zahl seiner Freunde selten dadurch vermehrt wurde. Der ehemahlige Dänische Capellmeister Scheibe unterwarf sich in frühern Jahren ebenfalls einmahl seiner Prüfung bey einer Organistenwahl, fand aber dessen Ausspruch so ungerecht, daß er sich nachher in seinem kritischen Musikus durch einen heftigen Ausfall an seinem ehemahligen Richter zu rächen suchte. Mit seinen Orgeluntersuchungen ging es ihm nicht besser. Er konnte es eben so wenig über sich erhalten, ein schlechtes Instrument zu loben, als einen schlechten Organisten. Seine Orgelproben waren daher sehr streng, aber immer gerecht. Da er den Orgelbau so vollkommen verstand, so konnte er in keiner Sache dabey irre geführt werden. Das [23] erste, was er bey einer Orgeluntersuchung that, war, daß er alle klingende Stimmen anzog, und das volle Werk sodann so vollstimmig als möglich spielte. Hierbey pflegte er im Scherze zu sagen: er müsse vor allen Dingen wissen, ob das Werk eine gute Lunge habe. Sodann ging es an die Untersuchung einzelner Theile. Seine Gerechtigkeit gegen die Orgelbauer ging übrigens so weit, daß, wenn er wirklich gute Arbeit, und die dafür accordirte Summe zu geringe fand, so daß der Orgelbauer offenbar mit Schaden gearbeitet haben würde, er die Vorsteher zu angemessenen Nachschüssen zu bewegen suchte, und mehrere Mahle auch wirklich dazu bewog.

Nach geendigter Probe, besonders wenn das Werk darnach beschaffen war, und seinen Beyfall hatte, machte er gewöhnlich noch einige Zeit für sich und die Anwesenden von den oben erwähnten Orgelkünsten Gebrauch, und zeigte dadurch jedes Mahl aufs neue, daß er wirklich der Fürst aller Clavier- und Orgelspieler sey, wie ihn der ehemahlige Organist Sorge zu Lobenstein in einer Dedication einst genannt hat.


[23]
V.

Joh. Seb. Bachs erste Versuche in der Composition waren wie alle erste Versuche mangelhaft. Ohne einigen Unterricht, durch welchen ihm ein Weg vorgezeichnet worden wäre, der ihn allmählig von Stufe zu Stufe hätte führen können, mußte er es so wie alle diejenigen, die ohne Leitung eine solche Bahn betreten, anfänglich machen, wie es werden wollte. Auf dem Instrumente auf und ab laufen oder springen, beyde Hände dabey so voll nehmen, als die fünf Finger erlauben wollen, und dieses wilde Wesen so lange forttreiben, bis irgend ein Ruhepunkt zufälliger Weise erhascht wird, sind die Künste, welche alle Anfänger mit einander gemein haben. Sie können daher auch nur Fingercomponisten seyn (oder Clavier-Husaren, wie sie Bach in seinen spätern Jahren nannte), das heißt: sie müssen sich von ihren Fingern vormachen lassen, was sie schreiben sollen, anstatt daß sie den Fingern vorschreiben müßten was sie spielen sollen. Bach blieb aber nicht lange auf diesem Wege. Er fing bald an zu fühlen, daß es mit dem ewigen Laufen und Springen nicht ausgerichtet sey, daß Ordnung, Zusammenhang und Verhältniß in die Gedanken gebracht werden müsse, und daß man zur Erreichung solcher [24] Zwecke irgend eine Art von Anleitung bedürfe. Als eine solche Anleitung dienten ihm die damahls neu herausgekommenen Violinconcerte von Vivaldi. Er hörte sie so häufig als vortreffliche Musikstücke rühmen, daß er dadurch auf den glücklichen Einfall kam, sie sämmtlich für sein Clavier einzurichten. Er studirte die Führung der Gedanken, das Verhältniß derselben unter einander, die Abwechselungen der Modulation und mancherley andere Dinge mehr. Die Umänderung der für die Violine eingerichteten, dem Clavier aber nicht angemessenen Gedanken und Passagen, lehrte ihn auch musikalisch denken, so daß er nach vollbrachter Arbeit seine Gedanken nicht mehr von seinen Fingern zu erwarten brauchte, sondern sie schon aus eigener Fantasie nehmen konnte. So vorbereitet, bedurfte es nun nur Fleiß und ununterbrochene Uebung, um immer weiter, und endlich auf einen Punkt zu kommen, auf welchem er sich nicht nur ein Kunst-Ideal erschaffen, sondern auch hoffen konnte, es mit der Zeit zu erreichen. An dieser Uebung ließ er es nie fehlen. Er arbeitete so anhaltend, und so emsig, daß er sogar häufig die Nächte zu Hülfe nahm. Was er am Tage geschrieben hatte, lernte er in der darauf folgenden Nacht spielen. Bei allem Fleiß, den er auf seine eigene Versuche wendete, unterließ er um diese Zeit doch nie, auch die Werke des Frescobaldi, Frobergers, Kerls, Pachelbels, Fischers, Struncks, Buxtehudens[WS 3], Reinkens, Bruhns, Böhms und einiger alten französischen Organisten, die alle nach damahliger Art starke Harmonisten und Fugisten waren, mit der größten Aufmerksamkeit zu studiren.

Nicht nur der Charakter aller dieser Muster, welche meistens für die Kirche bestimmt waren, sondern hauptsächlich sein eigenes ernsthaftes Temperament führte ihn vorzüglich zur Bearbeitung des ernsthaften und hohen Styls in der Musik. Bey dieser Art von Musik läßt sich mit einer mäßigen Anzahl von Kunstausdrücken oder Tonverbindungen nicht viel ausrichten. Er wurde bald gewahr, daß der damahls vorhandene musikalische Sprachschatz erst vermehrt werden müsse, ehe das ihm vorschwebende Kunst-Ideal erreicht werden könne. Er sah die Musik völlig als eine Sprache, und den Componisten als einen Dichter an, dem es, er dichte in welcher Sprache er wolle, nie an hinlänglichen Ausdrücken zur Darstellung seiner Gefühle fehlen dürfe. Da nun wirklich in seiner Jugend die Kunstausdrücke wenigstens für seinen musikalischen Dichtergeist noch nicht in [25] hinlänglicher Anzahl vorhanden, auch außerdem noch nicht geschmeidig genug waren, so suchte er beyden Mängeln zunächst durch eine Behandlung der Harmonie abzuhelfen, die, so sehr sie auch ihrer eigentlichen Natur und Bestimmung angemessen ist, doch ihm allein eigen war.

So lange die Sprache der Musik noch bloß melodische Ausdrücke, oder bloß nach einander folgende Tonverbindungen hat, ist sie noch arm zu nennen. Durch hinzugefügte Baßtöne, wodurch ihr Verhältniß zu den Tonarten und den darin liegenden Accorden etwas minder zweydeutig wird, gewinnt sie nicht so wohl an Reichthum als an Bestimmtheit. Eine auf solche Art begleitete Melodie, wenn auch nicht bloß Baßtöne, sondern durch Mittelstimmen sogar die vollen Accorde angegeben waren, wurde von unsern Vorfahren mit Recht noch immer Homophonie genannt. Ganz anders verhält sichs, wenn zwey Melodien so mit einander verwebt werden, daß sie gleichsam wie zwey verschiedene Personen gleichen Standes und gleicher Bildung sich mit einander unterreden. Dort war die Begleitung untergeordnet, mußte der erstern als vornehmern Stimme nur dienen. Hier ist kein solcher Unterschied, und diese Art von Vereinigung zweyer Melodien gibt Veranlassung zu neuen Tonverbindungen und dadurch zur Vermehrung des Reichthums an Kunstausdrücken. So wie mehrere Stimmen hinzu gefügt, und auf eine eben so freye ununtergeordnete Art mit einander verwebt werden, nimmt der Reichthum an Kunstausdrücken noch mehr zu, und wird endlich, wenn verschiedenes Zeitmaß und die unendliche Mannigfaltigkeit der Rhythmen hinzu kommt, unerschöpflich. Die Harmonie ist also nicht bloß als Begleitung einer einfachen Melodie, sondern als eigentliches Vermehrungsmittel unserer Kunstausdrücke, oder unsers musikalischen Sprachreichthums zu betrachten. Sie muß aber auch alsdann, wenn sie ein solches Vermehrungsmittel seyn soll, nicht in bloßer Begleitung, sondern in der Verwebung mehrerer wirklichen Melodien bestehen, deren jede das Wort bald oben, bald in der Mitte und bald unten führt und führen kann.

Aus einer solchen Verwebung mehrerer Melodien, die alle so sangbar sind, daß jede zu ihrer Zeit als Oberstimme erscheinen kann, und wirklich erscheint, besteht die Joh. Seb. Bachische Harmonie in allen Werken, die er ungefähr von dem Jahre 1720, oder von seinem 35sten Lebensjahre an, bis an sein Ende verfertiget hat. Er [26] übertrifft hierin alle Componisten der Welt.[2] Wenigstens habe ich bey keinem von allen, deren Werke mir bekannt geworden sind, je etwas ähnliches gefunden. In seinen vierstimmigen Werken kann man sogar bisweilen die Ober- und Unterstimme weglassen, und bloß an beyden Mittelstimmen eine noch immer deutliche und sangbare Musik zu hören bekommen.

Um aber eine solche Harmonie hervor zu bringen, in welcher die einzelnen Stimmen im höchsten Grade geschmeidig und biegsam gegen einander seyn müssen, wenn sie alle einen freyen, fließenden Gesang haben sollen, bediente sich Bach ganz besonderer Mittel, die in den damahligen musikalischen Lehrbüchern noch nicht gelehrt wurden, die ihn aber sein großes Genie lehrte. Sie lagen in der großen Freyheit, die er dem Gange seiner Stimmen gab. Er übertrat dadurch alle hergebrachte und zu seiner Zeit für heilig gehaltene Regeln dem Scheine nach, aber nicht in der That. Denn er erfüllte ihren Zweck, der in nichts anderm als in der Beförderung reiner Harmonie und Melodie, oder successiven und coexistirenden Wohlklangs bestehen kann, aufs vollkommenste, nur auf ungewöhnlichen Wegen. Ich muß mich über diesen Gegenstand etwas näher erklären.

So wie es bey einzelnen Intervallen sehr fühlbar ist, ob ihre Folge steigen oder fallen muß, so ist es auch bey ganzen Phrasen oder bey einzelnen Theilen derselben, wenn sie von einigem Umfange sind, sehr merklich, nach welchem Ziele sie in Absicht auf Modulation, oder ihrem innern Sinne nach, streben. Dieses Vorgefühl eines gewissen Ziels kann jede Stimme durch andere Intervalle erregen. Soll aber jede Stimme einen freyen und fließenden Gesang erhalten, so müssen zwischen den Tönen, die das erwähnte Ziel vorher fühlbar machen können oder sollen, und denjenigen, mit welchen die Phrase angefangen worden ist, noch andere liegen, die den eben so zwischen beyden Hauptpuncten liegenden Tönen der übrigen Stimmen oft sehr entgegen sind, aber doch mit ihnen zugleich angeschlagen werden können. Dieß ist ein sogenannter Durchgang der Töne von der ausgedehntesten Art. Sie gehen sämmtlich von einer Stelle aus, trennen sich unterwegs, treffen aber genau am Ziele wieder zusammen. Dieser Art von Durchgang hat sich noch Niemand freyer bedient als Bach, um dadurch allen seinen einzelnen Stimmen [27] einen völlig freyen und fließenden Gesang zu verschaffen. Wenn nun seine Werke dieser Art nicht völlig leicht vorgetragen werden, so entstehen bisweilen zwischen dem Anfange und Ende einer Phrase große Härten, und man wird anfänglich geneigt, ihn einer Uebertreibung zu beschuldigen. Aber er hat nichts übertrieben; denn wenn man erst so viel Kraft bekommt, sie ihrem wahren Charakter gemäß vorzutragen, so klingen sie nun desto schöner, und es werden sodann durch ihre zwar sonderbaren, aber doch natürlichen, Modulationen neue Gehörgänge in uns eröffnet, in die vorher noch nie ein Ton eingedrungen war.

Um jedoch auch im Einzelnen etwas von Bachs Art zu sagen, wie er die hergebrachten Regeln übertrat, bemerke ich, 1) daß er Octaven und Quinten machte, wenn sie wohl klangen, das heißt: wenn die Ursache ihres Verbots nicht mehr vorhanden war. Daß es Fälle giebt, in welchen sie wohl klingen, und daß sie nur dann vermieden werden müssen, wenn eine große Leerheit oder Nacktheit der Harmonie (oder, wenn es Jemand lieber so nennen will, ein Harmonien-Sprung) durch sie entsteht, weiß Jedermann. Aber Bachs Quinten und Octaven haben nie leer oder schlecht geklungen. Allein er machte auch hierin einen großen Unterschied. Unter gewissen Umständen konnte er sogar zwischen 2 Mittelstimmen nicht einmahl verdeckte Quinten und Octaven ertragen, die man doch sonst höchstens zwischen den beyden äußern Stimmen zu vermeiden sucht; unter andern Umständen setzte er sie aber so offenbar hin, daß sie jedem Anfänger in der Composition ein Aergerniß gaben, sich aber dennoch bald rechtfertigten. Sogar in den spätern Verbesserungen seiner frühern Arbeiten hat er Stellen, die nach dem ersten Entwurf ohne Tadel waren, bloß um des größern Wohlklangs willen so verändert, daß wirklich offenbare Octaven zum Vorschein kamen. Ein solcher Fall findet sich unter andern vorzüglich im ersten Theil seines wohltemp. Claviers, in der Fuge aus dem E dur, zwischen dem 5ten und 4ten vorletzten Takt. Ich bedaure es bis diese Stunde, daß ich bey Durchsicht der Abschrift, nach welcher die Hoffmeister- und Kühnelsche Ausgabe gestochen worden ist, so schwach gewesen bin, bloß um dieser dem Wohlklange übrigens beförderlichen Octave willen, die alte Leseart stehen zu lassen, die zwar regelrecht, aber steif, ist. In der neuern Leseart ist lauter leichter, ungezwungener Gesang in allen 3 Stimmen. Welches ist besser?

[28] 2) Jeder zufällig erhöhete Ton, so wie auch das Semitonium Modi kann der Regel nach nicht verdoppelt werden, weil der erhöhete Ton seiner Natur nach aufwärts steigen muß. Ist er verdoppelt, so muß er doppelt aufsteigen, folglich Octaven machen. Bach verdoppelte wirklich sehr oft nicht nur zufällig erhöhete Töne der Scala, sondern auch die Semitonia Modi, und machte doch keine Octaven. Solche Fälle finden sich gerade in seinen allerschönsten Werken. – Nicht als Uebertretung, sondern mehr als Erweiterung einer Regel könnte angesehen werden, daß er

3) der Meynung war, und darnach arbeitete, daß auf einem liegenden Grundtone alles angeschlagen werden könne, was im ganzen Tonvorrath in allen drey Klanggeschlechten vorhanden sey. Diese Sache gehört sonst eigentlich unter die so genannten Orgelpuncte, die gewöhnlich nichts anders als verzögerte Schlüsse sind. Bach hat sie aber auch im Laufe seiner Stücke angewendet, wovon besonders die letzte Gique seiner so genannten englischen Suiten ein merkwürdiges Beyspiel ist. Anfänglich will diese Gique gar nicht klingen; sie wird aber nach und nach immer schöner, und das, was man bey noch unvollkommenem Vortrag für hart und rauh gehalten hat, fängt allmählich an, immer weicher, sanfter und angenehmer zu werden, bis man am Ende sich nicht satt daran hören und spielen kann.

Mit der eigenen Art von Harmonie, von welcher ich bisher geredet habe, hängt nun auch Bachs Modulation zusammen, die nicht minder von eigener Art ist. Der Begriff von Harmonie und Modulation läßt sich kaum trennen, so nahe sind beyde mit einander verwandt. Und doch sind sie verschieden. Unter Harmonie muß man nehmlich den Zusammenklang der verschiedenen Stimmen, unter Modulation aber den Fortgang derselben verstehen. Modulation kann also auch in einer einzigen Stimme statt finden; Harmonie aber nur in vielen. Ich will versuchen, mich deutlicher zu erklären.

Bey den meisten Componisten findet man, daß ihre Modulation, oder wenn man lieber will, ihre Harmonie langsam fortschreitet. Bey sehr stark besetzten Musiken an großen Plätzen, wie z. B. in Kirchen, wo der große Ton nur langsam verhallen kann, zeugt diese Einrichtung unstreitig von der Klugheit eines Componisten, der seinem Werke gern die möglichst vortheilhafte Ausnahme verschaffen will. Aber bey der Instrumental- oder Kammermusik, ist jene langsame Fortschreitung wohl kein Beweis von Klugheit, [29] sondern weit öfter ein Zeichen, daß es dem Componisten an gehörigem Reichthum der Gedanken gefehlt habe. Bach hat dieses alles gar wohl unterschieden. Seine sonst von Gedanken überströmende Fantasie wußte er in seinen großen Singwerken recht gut zurück zu halten; in seinen Instrumentalwerken war aber diese Zurückhaltung nicht nöthig. Da er noch überdem nie für den großen Haufen arbeitete, sondern stets sein Kunst-Ideal, ohne alle Rücksicht auf Beyfall oder etwas ihm ähnliches, verfolgte, so hatte er gar keinen Grund, warum er weniger hätte geben sollen, als er hatte, und geben konnte. Auch hat er dieß nie gethan. Daher ist in der Modulation seiner Instrumentalstücke jede Fortschreitung ein neuer Gedanke, ein beständig fortgehendes Leben und Weben im innern Kreise der gewählten und nächst verwandten Tonarten. Er behält von der Harmonie, welche er hat, das meiste bey, mischt aber bey jeder Fortschreitung etwas verwandtes hinzu, und geht auf diese Weise bis ans Ende eines Stücks so sachte, so weich und allmählich vorwärts, daß kein Sprung oder harter Uebergang zu fühlen, und doch kein Takt (ich möchte wohl sagen, kein Glied eines Taktes) dem andern ähnlich ist. Jeder Uebergang mußte bey ihm mit dem vorhergehenden Gedanken in Beziehung stehen, und eine nothwendige Folge desselben zu seyn scheinen. Jene plötzlichen Ausfälle, womit manche Componisten ihre Zuhörer frappiren wollen, kannte er nicht, oder verschmähte sie vielmehr. Selbst in seiner Chromatik sind die Fortschreitungen so sanft und weich, daß man ihre oft sehr weiten Entfernungen kaum gewahr wird; man glaubt, er habe sich nicht einen Schritt von seiner diatonischen Leiter entfernt. So wußte er alles aus dem ganzen Gebiete des Tonreichs zu vereinigen, was nur irgend mit einander in Beziehung gesetzt werden konnte.


[29]
VI.

Durch die Art, wie Joh. Seb. Bach die Harmonie und Modulation behandelte, mußte nun nothwendig auch seine Melodie eine eigene Gestalt annehmen. Bey der Vereinigung mehrerer zugleich mit einander fortlaufenden Melodien, welche sämmtlich singbar seyn sollen, kann keine einzelne so hervorstechend seyn, daß sie die Aufmerksamkeit des Zuhörers auf sich allein ziehen könnte. Dieses Hervorstechende müssen sie hier gleichsam [30] mit einander theilen, so daß bald die eine, bald die andere vorzüglich glänzen kann, deren Glanz aber dennoch von den neben ihnen herlaufenden, ebenfalls singenden Stimmen vermindert zu werden scheint, weil die Aufmerksamkeit des Zuhörers dadurch getheilt wird. Ich sage, vermindert zu werden scheint: denn im Grunde wird er nicht vermindert, sondern vielmehr erhöht, wenn der Zuhörer Uebung genug hat, das Ganze auf einmahl übersehen und fassen zu können.[3]

Außerdem nöthigt eine solche Vereinigung mehrerer Stimmen den Componisten zu gewissen Wendungen in den einzelnen Melodien, zu welchen das homophonische Verfahren in der Composition nicht nöthigen kann. Eine einzelne Stimme braucht sich nirgends durchzudrängen; mehrere aber müssen sich in ihrer Vereinigung bisweilen gar künstlich und fein drehen, biegen und schmiegen. Diese Nothwendigkeit des Durchdrängens veranlaßt daher ungewöhnliche, fremdartige, ganz neue, noch nie gehörte Wendungen in den Melodien, so wie sie wohl wenigstens eine von den Ursachen ist, warum überhaupt Bachs Melodien mit den Melodien anderer Componisten so wenig Aehnlichkeit haben, und sich so auffallend von allen unterscheiden. Wenn diese Fremdartigkeit nicht ins Unnatürliche oder in Schwulst ausartet, sondern mit fließender, wahrer Singbarkeit verbunden bleibt, so ist sie für denjenigen, der sie hervor zu bringen weiß, ein Verdienst mehr, und eigentlich das, was man Originalität nennt, die den einzigen Nachtheil hat, daß sie nicht fürs große Publikum, sondern nur für sehr gebildete Kenner brauchbar ist.

Nicht alle Bachische Melodien sind indessen von dieser Art. Obgleich überall dieselbe Originalität der Gedanken herrscht, so sind doch die Melodien seiner so genannten freyen Compositionen so offen, klar und deutlich, daß sie zwar anders klingen als die Melodien anderer Componisten, aber dennoch auch von den ungeübtesten Zuhörern verstanden, und ihres inwohnenden Geistes wegen sogar gefühlt werden können. Die meisten [31] Präludien aus seinem wohltemperirten Clavier, so wie die meisten Stücke aus seinen größern und kleinern Suiten sind von dieser Art.

So wie seine Melodie im Ganzen ein solches Gepräge von Originalität hat, so haben es auch seine so genannten Passagen im Einzelnen; sie sind so neu, so ungewöhnlich und dabey so glänzend und überraschend, wie man sie bey keinem andern Componisten antrifft. In allen seinen Claviercompositionen finden sich Beyspiele hiervon; in den großen Variationen, in dem ersten Theil der Clavierübung, in den englischen Suiten und in der chromatischen Fantasie aber die auffallendsten. Es kommt hierbey wiederum auf den Reichthum der Gedanken an. Da alle Passagen nichts als zergliederte Accorde sind, so müssen sie nothwendig desto reicher und fremdartiger an Inhalt werden, je reicher und fremdartiger die ihnen zum Grunde liegenden Accorde sind.

Wie weit Bachs Nachdenken und Scharfsinn in der Behandlung der Melodie und Harmonie ging, wie sehr er geneigt war, alle Möglichkeiten in beyden zu erschöpfen, beweiset auch sein Versuch, eine einzige Melodie so einzurichten, daß keine zweyte singbare Stimme dagegen gesetzt werden konnte. Man machte sich in jener Zeit zur Regel, daß jede Vereinigung von Stimmen ein Ganzes machen, und die zur vollständigen Angabe des Inhalts nothwendigen Töne so erschöpfen müsse, daß nirgends ein Mangel fühlbar sey, wodurch die Beyfügung noch einer Stimme etwa möglich werden könnte. Man hatte diese Regel bis auf Bachs Zeit bloß auf den 2–3 und 4stimmigen Satz, und zwar überall noch sehr mangelhaft angewendet. Er that dieser Regel nicht nur im 2–3 und 4stimmigen Satz volle Genüge, sondern versuchte auch, sie auf den einstimmigen Satz auszudehnen. Diesem Versuch haben wir 6 Soli für die Violine und 6 andere für das Violoncell zu verdanken, die ohne alle Begleitung sind, und durchaus keine zweyte singbare Stimme zulassen. Durch besondere Wendungen der Melodie hat er die zur Vollständigkeit der Modulation erforderlichen Töne so in einer einzigen Stimme vereinigt, daß eine zweyte weder nöthig noch möglich ist.

Nicht Eigenschaft, sondern vielmehr eine Folge ihrer Eigenschaften ist es, daß die Bachische Melodie nie veraltet. Sie bleibt ewig schön und ewig jung, wie die Natur, aus welcher sie entsprungen ist. Alles, was Bach seinen frühern Arbeiten vom damahls herrschenden Zeitgeschmack beygemischt hat, ist nun veraltet; wo er, wie in seinen spätern [32] Werken, die Melodien aus der innern Quelle der Kunst selbst, ohne Rücksicht auf Modeformen, entwickelt hat, ist alles noch so frisch und neu, als ob es erst seit gestern ins Leben gekommen wäre. Man wird wenig Compositionen von gleichem Alter finden, von welchen etwas ähnliches gesagt werden könnte. Selbst die Werke so Geistvoller Componisten, wie z. B. Reinhard Kaiser und Händel waren, sind früher veraltet, als man hätte glauben sollen, und als ihre Urheber wohl selbst geglaubt haben. Als Componisten fürs große Publicum waren sie genöthigt, dem herrschenden Zeitgeschmack nachzugeben, und Werke dieses Geschmacks können nicht länger dauern, als der Zeitgeschmack selbst. Nichts ist aber wandelbarer und veränderlicher, als jede Art des Zeitgeschmacks, so wie überhaupt alles, was Mode heißt. Bey Händel ist jedoch merkwürdig, daß seine Singfugen noch nicht veraltet sind, da hingegen von seinen Arien nur wenige noch anzuhören seyn möchten.

Die besondere Beschaffenheit der Bachischen Harmonie und Melodie war auch noch mit einem sehr ausgedehnten und in sich mannigfaltigen Gebrauch des Rhythmus verbunden. Bisher war nur vom innern oder logischen Verhältniß der harmonischen und melodischen Gedanken die Rede; diese Gedanken erfordern aber auch ein äußeres oder ein rhythmisches Verhältniß, wodurch ihre an sich schon große Mannigfaltigkeit nicht nur noch mannigfaltiger, sondern auch Charaktervoller wird. Zur zweckmäßigen und leichten Handhabung der mannigfaltigen Rhythmen zu gelangen, hatten die Componisten in Bachs Zeitalter eine vortreffliche Gelegenheit durch die so genannten Suiten, welche damahls statt unserer Sonaten üblich waren. In solchen Suiten kamen zwischen den Präludien und Schluß-Giquen viele Französische Charakterstücke und Tanzmelodien vor, bey welchen es vornehmlich auf den Rhythmus ankam. Die Componisten mußten also von einer großen Menge Takt-Arten, Tonfüßen und Rhythmen, (die jetzt großentheils ganz unbekannt geworden sind) Gebrauch machen, und sehr gewandt darin werden, wenn sie jeder Tanzmelodie ihren bestimmten Charakter und Rhythmus geben wollten. Auch diesen Zweig der Kunst hat Bach viel weiter getrieben als irgend einer seiner Vorgänger oder Zeitgenossen. Keine Art von Zeitverhältniß ließ er unversucht und unbenutzt, um den Charakter seiner Stücke dadurch so verschieden als möglich zu modificiren. Er bekam zuletzt eine solche Gewandtheit darin, daß er im Stande war, sogar seinen Fugen bey [33] allem künstlichen Gewebe ihrer einzelnen Stimmen ein so auffallendes, charaktervolles, vom Anfange bis ans Ende ununterbrochenes und leichtes rhythmisches Verhältniß zu geben, als wenn sie nur Menuetten wären.

Ueberhaupt liegt eben die erstaunliche Kunst Bachs in dieser überall gleich leichten Anwendung der bisher erwähnten Kunstmittel. Die Kunstform, welche er wählte, mochte zu den leichtesten oder zu den schwersten gehören, seine Behandlung derselben war immer gleich leicht, gleich glücklich. Nirgends findet man eine Spur, daß ihm etwas schwer geworden sey. Er erreichte stets das Ziel, nach welchem er strebte. Alles ist vollendet, vollkommen in sich; kein Ton kann vom Kenner anders gewünscht werden, als er gesetzt ist. Ich will das, was bisher gesagt worden ist, auf einige einzelne Kunstformen anwenden.

C. Ph. Emanuel sagt in der Vorrede zu den von ihm herausgegebenen vierstimmigen Choralgesängen seines Vaters, die Welt sey gewohnt gewesen, nichts als Meisterstücke von ihm zu sehen. Dieses Lob wurde zwar von einigen Recensenten für übertrieben gehalten; es ist aber wirklich nicht übertrieben, wenn man es bloß auf diejenigen seiner Werke anwendet, die er von der oben angegebenen Periode an, das heißt in den Jahren seiner Reise gemacht hat. In mancher Gattung haben indessen andere Componisten ebenfalls Meisterstücke gemacht, die den seinigen in eben der Gattung mit Ehren an die Seite gesetzt werden können. So hat man z. B. Allemanden, Couranten etc. von Händel und noch einigen wenigen andern, die nicht minder schön, obgleich minder reich sind, als Bachische. Aber in der Fuge und in allen mit ihr verwandten Arten des Contrapuncts und Canons steht er ganz allein, und so allein, daß weit und breit um ihn herum alles gleichsam leer und wüste ist. Nie ist eine Fuge von irgend einem Componisten gemacht worden, die einer der seinigen an die Seite gesetzt werden könnte. Wer die Bachischen Fugen nicht kennt, wird sich nicht einmahl einen Begriff machen können, was eine wahre Fuge ist und seyn soll. In Fugen gewöhnlicher Art herrscht nichts als ein gewisser sehr unbedeutender Kunst-Schlendrian. Man nimmt ein Thema, giebt ihm einen Gefährten, versetzt beyde nach und nach in verwandte Tonarten, und läßt sie sodann von den übrigen[WS 4] Stimmen in allen diesen Versetzungen mit einer Art von Generalbaßgriffen begleiten. Dieß giebt eine Fuge; aber was für eine? Es ist sehr begreiflich, [34] daß Jemand, der nur solche Fugen kennen lernt, eben keinen hohen Begriff von der ganzen Gattung bekommen kann. Wie viel Kunst gehört denn dazu, eines solchen Schlendrians mächtig zu werden?

Ganz anderer Art ist die Bachische Fuge. In ihr sind alle Forderungen erfüllt, die man sonst nur an freyere Compositionsgattungen zu machen wagt. Ein charaktervolles Thema; ununterbrochen bloß aus demselben hergeleiteter, eben so charaktervoller Gesang vom Anfange bis ans Ende; nicht bloß Begleitung in den übrigen Stimmen, sondern in jeder ein selbstständiger mit den andern einverstandener Gesang, wiederum vom Anfange bis ans Ende; Freyheit, Leichtigkeit und Fluß im Fortgang des Ganzen; unerschöpflicher Reichthum an Modulation, mit untadelhafter Reinheit verbunden; Entfernung jeder willkührlichen, nicht zum Ganzen nothwendig gehörigen Note; Einheit und Mannigfaltigkeit im Styl, im Rhythmus und in den Tonsüßen; und endlich ein über alles verbreitetes Leben, wobey es dem Spieler oder Hörer bisweilen vorkommt, als wenn alle Töne in Geister verwandelt wären, dieß sind die Eigenschaften der Bachischen Fuge, Eigenschaften, die bey jedem Kenner, welcher weiß, was für ein Maaß von Geisteskraft zur Hervorbringung solcher Werke erforderlich ist, Bewunderung und Staunen erregen müssen. Sollte auch ein solches Kunstwerk, in welchem sich alles vereinigt, was in andern Compositionsgattungen, ihren veränderten Bestimmungen nach, vereinzelt wird, nicht vorzügliche Bewunderung verdienen? Ich muß noch mehr sagen. Alle Bachische Fugen aus den Jahren seiner vollendeten Bildung haben die genannten Eigenschaften mit einander gemein, alle sind mit gleich großen Vorzügen ausgestattet, aber jede auf eine andere Art. Jede hat ihren eigenen, genau bestimmten Charakter, so wie ihre eigenen davon abhängenden Wendungen in Melodie und Harmonie. Wenn man daher eine kennt und vortragen kann, so kennt man wirklich nur eine, und kann auch nur eine vortragen, anstatt daß man Folianten voll Fugen vieler andern Componisten aus Bachs Zeitalter kennt und vortragen kann, sobald die Wendungen einer einzigen begriffen und der Hand geläufig geworden sind.

Zu solchen Eigenschaften und Vorzügen führen die contrapunctischen Künste, wenn sie recht, das heißt: wenn sie so gebraucht worden, wie sie Bach gebraucht hat. Durch sie lernte er aus einem gegebenen Satz eine ganze Folge gleichartiger und doch verschiedener [35] Melodien in allen Arten des Geschmacks und in allen Figuren entwickeln; durch sie lernte er nicht bloß gut anfangen, sondern auch gut ausführen und vollenden; durch sie wurde er der Harmonie und ihrer unendlichen Versetzungen so mächtig, daß er ganze Stücke von Note zu Note in allen Stimmen umkehren konnte, ohne dem fließenden Gesang oder dem reinen Satz den mindesten Abbruch zu thun; durch sie lernte er die künstlichsten Canones in allen Intervallen und in allen Arten der Bewegung so leicht und fließend machen, daß nichts von der dabey angewendeten Kunst merkbar wird, daß sie vielmehr völlig wie freyere Tonstücke klingen; durch sie ist er endlich in den Stand gesetzt worden, der Nachwelt eine große Anzahl von Kunstwerken der verschiedensten Art zu hinterlassen, die sämmtlich Muster der Kunst sind, und bleiben werden, so lange die Kunst selbst nicht untergehen wird.[4]

Das bisher Gesagte betrifft hauptsächlich Bachs Clavier- und Orgelcompositionen. Da sich aber die Kunst ihrer Anwendung nach in zwey Hauptzweige theilt, nehmlich in Instrumental- und Vocal-Musik, und Bach beyde bearbeitet hat, so wird man vielleicht gern auch noch einige Worte über seine Singcomposition lesen.

In Weimar fand er die erste Veranlassung, sich mit der Composition für den Gesang zu beschäftigen, als er zum Concertmeister ernannt wurde, und als solcher die Kirchenmusik in der dasigen Hofkirche zu besorgen bekam. Der Styl, dessen er sich in seinen Kirchenmusiken bediente, war wie der Styl seiner Orgelsachen, andächtig, feyerlich und völlig so, wie der Kirchenstyl seyn muß. Dabey hatte er den sehr richtigen Grundsatz, sich nicht auf den Ausdruck einzelner Worte, wodurch bloße Spielereyen entstehen, sondern nur auf den Ausdruck des ganzen Inhalts einzulassen. Seine Chöre sind durchgehends [36] voll Pracht und Feyerlichkeit. Sehr häufig wählte er eine Choralmelodie dazu, und ließ nach Motetten-Art die übrigen Stimmen um sie herum fugiren. Derselbe Reichthum der Harmonie, den man in seinen übrigen Werken findet, herrscht auch hier, nur den Singstimmen und der gewählten Instrumental-Begleitung angemessen. Seine Recitative sind gut declamirt und mit reichen Bässen versehen. Bey seinen Arien, unter welchen sich viele von der feinsten und ausdrucksvollesten Melodie finden, scheint er sich oft eingeschränkt und nach den Kräften seiner Sänger und Spieler gerichtet zu haben, die aber dessen ungeachtet ewige Klagen über die Schwierigkeiten derselben zu führen hatten. Wäre er so glücklich gewesen, lauter gute Ausführer seiner Kirchenarbeiten zu haben, so würden sie gewiß Eindrücke ihrer Vortrefflichkeit hinterlassen haben, und so wie seine andern Werke noch jetzt bewundert und genutzt werden. Der unerschöpfliche Schatz von Kunst, welcher in ihnen liegt, wäre einer längern Aufbewahrung gewiß werth gewesen.

Unter sehr vielen Gelegenheits-Musiken, die er in Leipzig verfertigt hat, gedenke ich nur zweyer Trauer-Cantaten, deren eine bey der Begräbniß-Feyer seines geliebten Fürsten Leopold zu Cöthen, die andere aber bey der Trauerrede auf den Tod der Königin von Pohlen und Churfürstin zu Sachsen, Christiane Eberhardine in der Paulinerkirche zu Leipzig aufgeführt wurde. Die erste enthält Doppelchöre von ungemeiner Pracht und vom rührendsten Ausdruck; die zweyte hat zwar nur einfache Chöre, aber so anziehende, daß wer einmahl angefangen hat, einen durchzuspielen, nicht davon kommen wird, ohne ihn geendigt zu haben. Sie ist im October 1727 componirt.

Außer den bisher angezeigten Werken für den Gesang hat Bach auch sehr viele Motetten, hauptsächlich für das Chor der Leipziger Thomas-Schule gemacht. Dieses Chor hat stets gegen 50, auch wohl bisweilen mehrere Sänger enthalten, für deren musikalische Bildung Bach väterlich sorgte, und ihnen durch ein- zwey- und mehrchörige Motetten so viel Uebung verschaffte, daß sie wenigstens sichere Treffer und reinliche Chorsänger werden konnten. Unter den zu diesem Zwecke bestimmten 2chörigen Motetten finden sich mehrere, die an Pracht, an Reichthum der Harmonie und Melodie, und an Leben und Geist alles übertreffen, was man von dieser Art hören kann. Sie sind aber, wie alle Bachische, oder vielmehr wie alle reiche, große Kunstwerke, schwer auszuführen, und müssen noch überdieß stark besetzt seyn, wenn sie ihre volle Wirkung thun sollen.

[37] Dieß ist das Wichtigste von Bachs Werken für den Gesang. Für die kleinere, der geselligen Unterhaltung gewidmete Kunst hat er nichts, wenigstens gewiß nicht viel gethan, ein so geselliger und freundlicher Mann er auch sonst war. So soll er z.B. nie ein Lied gemacht haben. Dazu bedurfte es aber auch seiner nicht. Diese kleinen lieblichen Kunstblümchen werden deswegen doch nie ausgehen; die Natur treibt sie allenfalls auch ohne besondere Pflege von selbst hervor.


[37]
VII.

Es giebt manche gute Componisten und geschickte Virtuosen für alle Instrumente, welche nicht im Stande sind, das, was sie wissen oder können, andere zu lehren. Sie haben mit der Uebung, durch welche ihre natürlichen Anlagen entwickelt wurden, entweder nicht hinlängliche Aufmerksamkeit verbunden, oder sie sind durch guten Unterricht auf dem geradesten Wege zu einem gewissen Ziel geführt worden, und haben das Nachdenken über die Ursachen, warum etwas so und nicht anders gemacht werden müsse, ihren Lehrern überlassen. Wenn solche Künstler wirklich gut unterrichtet sind, so kann ihre Ausübung für Anfänger lehrreich werden, aber unterrichten können sie eigentlich nicht. Der mühsame Weg des Selbstunterrichts, auf welchem sich der Lehrling tausendmahl verirrt, ehe er das Ziel entdeckt oder erreicht, ist vielleicht der einzige, der einen vollkommen guten Lehrer hervor bringen kann. Die öftern fruchtlosen Versuche und Verirrungen machen nach und nach mit dem ganzen Kunstgebieth bekannt, und jedes Hinderniß des Fortkommens wird entdeckt und vermeiden gelernt. Freylich ist dieser Weg der längere; wer aber Kraft in sich hat, wird ihn dennoch vollenden, und zum Lohn seiner Anstrengungen sein Ziel auf einem desto anmuthigern Weg finden lernen. Alle diejenigen, welche je eine eigene Schule in der Musik gestiftet haben, sind auf solchen beschwerlichen Wegen dazu gelangt. Der von ihnen entdeckte neue, anmuthigere Weg war das, was ihre Schule von andern Schulen unterschied.

Eben so ist es mit der Bachischen Schule beschaffen. Ihr Urheber irrte lange umher, mußte erst ein Alter von mehr als 30 Jahren erreichen, und durch stete Anstrengungen an Kräften immer mehr wachsen, ehe er alle Schwierigkeiten und Hindernisse [38] überwinden lernte. Dafür hat er aber auch am Ende den schönsten und reizendsten Weg entdeckt, welchen es vielleicht im ganzen Kunstgebiethe giebt.

Nur derjenige, welcher viel weiß, kann viel lehren. Nur derjenige, welcher Gefahren kennen gelernt, selbst ausgestanden und überwunden hat, kann sie gehörig bemerklich machen, und seine Nachfolger mit Erfolg belehren, wie ihnen ausgewichen werden müsse. Beydes vereinigte sich bey Bach. Sein Unterricht wurde dadurch der lehrreichste, zweckmäßigste und sicherste, den es je gegeben hat, und alle seine Schüler traten, wenigstens in irgend einem Zweig der Kunst in die Fußtapfen ihres großen Meisters, ob gleich keiner ihn erreichte und noch viel weniger übertraf.

Ich will zuerst etwas über seinen Unterricht im Spielen sagen. Das erste, was er hierbey that, war, seine Schüler die ihm eigene Art des Anschlags, von welcher schon geredet worden ist, zu lehren. Zu diesem Behuf mußten sie mehrere Monathe hindurch nichts als einzelne Sätze für alle Finger beyder Hände, mit steter Rücksicht auf diesen deutlichen und saubern Anschlag, üben. Unter einigen Monathen konnte keiner von diesen Uebungen loskommen, und seiner Ueberzeugung nach hätten sie wenigstens 6 bis 12 Monathe lang fortgesetzt werden müssen. Fand sich aber, daß irgend einem derselben nach einigen Monathen die Geduld ausgehen wollte, so war er so gefällig, kleine zusammenhängende Stücke vorzuschreiben, worin jene Uebungssätze in Verbindung gebracht waren. Von dieser Art sind die 6 kleinen Präludien für Anfänger, und noch mehr die 15 zweystimmigen Inventionen. Beyde schrieb er in den Stunden des Unterrichts selbst nieder, und nahm dabey bloß auf das gegenwärtige Bedürfniß des Schülers Rücksicht. In der Folge hat er sie aber in schöne, ausdrucksvolle kleine Kunstwerke umgeschaffen. Mit dieser Fingerübung entweder in einzelnen Sätzen oder in den dazu eingerichteten kleinen Stücken, war die Uebung aller Manieren in beyden Händen verbunden.

Hierauf führte er seine Schüler sogleich an seine eigenen größern Arbeiten, an welchen sie, wie er recht gut wußte, ihre Kräfte am besten üben konnten. Um ihnen die Schwierigkeiten zu erleichtern, bediente er sich eines vortrefflichen Mittels, nehmlich: er spielte ihnen das Stück, welches sie einüben sollten, selbst erst im Zusammenhange vor, und sagte dann: So muß es klingen. Man kann sich kaum vorstellen, mit wie vielen Vortheilen diese Methode verbunden ist. Wenn durch das Vergnügen, ein solches Stück [39] in seinem wahren Charakter zusammenhängend vortragen zu hören, auch nur der Eifer und die Lust des Schülers angefeuert würde, so wäre der Nutzen schon groß genug. Allein dadurch, daß der Schüler nun auch auf einmahl einen Begriff bekommt, wie das Stück eigentlich klingen muß, und welchen Grad von Vollkommenheit er zu erstreben hat, wird der Nutzen noch ungleich größer. Denn so wohl das eine als das andere kann der Schüler ohne ein solches Erleichterungsmittel nur nach und nach, so wie er die mechanischen Schwierigkeiten allmählig überwindet, und vielleicht doch nur sehr unvollkommen kennen und fühlen lernen. Ueberdieß ist nun der Verstand mit in das Spiel gezogen worden, unter dessen Leitung die Finger weit besser gehorchen, als sie ohne dieselbe vermögen würden. Kurz, dem Schüler schwebt nun ein Ideal vor, welches den Fingern die im gegebenen Stücke liegenden Schwierigkeiten erleichtert, und mancher junge Clavierspieler, der kaum nach Jahren einen Sinn in ein solches Stück zu bringen weiß, würde es vielleicht in einem Monath recht gut gelernt haben, wenn es ihm nur ein einziges Mahl im gehörigen Zusammenhange und in gehöriger Vollkommenheit vorgespielt worden wäre.

So zweckmäßig und sicher Bachs Lehrart im Spielen war, so war sie es auch in der Composition. Den Anfang machte er nicht mit trockenen, zu nichts führenden Contrapuncten, wie es zu seiner Zeit von andern Musiklehrern geschah; noch weniger hielt er seine Schüler mit Berechnungen der Tonverhältnisse auf, die nach seiner Meynung nicht für den Componisten, sondern für den bloßen Theoretiker und Instrumentenmacher gehörten. Er ging sogleich an den reinen vierstimmigen Generalbaß, und drang dabey sehr auf das Aussetzen der Stimmen, weil dadurch der Begriff von der reinen Fortschreitung der Harmonie am anschaulichsten gemacht wird. Hierauf ging er an Choräle. Bey diesen Uebungen setzte er selbst anfänglich die Bässe, und ließ von den Schülern nur den Alt und Tenor dazu erfinden. Nach und nach ließ er sie auch die Bässe machen. Ueberall sah er nicht nur auf die höchste Reinigkeit der Harmonie an sich, sondern auch auf natürlichen Zusammenhang und fließenden Gesang aller einzelnen Stimmen. Was für Muster er selbst in dieser Art geliefert hat, weiß jeder Kenner; seine Mittelstimmen sind oft so sangbar, daß sie als Oberstimmen gebraucht werden könnten. Nach solchen Vorzügen mußten auch seine Schüler in diesen Uebungen streben, und ehe sie nicht einen hohen Grad von Vollkommenheit hierin erreicht hatten, hielt er es nicht für rathsam, [40] sie eigene Erfindungen versuchen zu lassen. Ihr Gefühl für Reinigkeit, Ordnung und Zusammenhang in den Stimmen mußte erst an andern Erfindungen geschärft und gleichsam zu einer Gewohnheit werden, ehe er ihnen zutrauete, dieselben Eigenschaften ihren eigenen Erfindungen geben zu können.

Ueberdieß setzte er bey allen seinen Compositionsschülern die Fähigkeit, musikalisch denken zu können, voraus. Wer diese nicht hatte, erhielt von ihm den aufrichtigen Rath, mit der Composition sich nicht zu beschäftigen. Daher fing er auch so wohl mit seinen Söhnen als andern Schülern das Compositions-Studium nicht eher an, bis er Versuche von ihnen gesehen hatte, worin er diese Fähigkeit, oder das, was man musikalisches Genie nennt, zu bemerken glaubte. Wenn sodann die schon erwähnten Vorbereitungen in der Harmonie geendigt waren, nahm er die Lehre von den Fugen vor, und machte mit zweystimmigen den Anfang u.s.w. In allen diesen und andern Compositionsübungen hielt er seine Schüler strenge an, 1) ohne Clavier, aus freyem Geiste zu componiren. Diejenigen, welche es anders machen wollten, schalt er Clavier-Ritter. 2) Ein stetes Augenmerk so wohl auf den Zusammenhang jeder einzelnen Stimme für und in sich, als auf ihr Verhältniß gegen die mit ihr verbundenen und zugleich fortlaufenden Stimmen zu haben. Keine, auch nicht eine Mittelstimme durfte abbrechen, ehe das, was sie zu sagen hatte, vollständig gesagt war. Jeder Ton mußte seine Beziehung auf einen vorhergehenden haben; erschien einer, dem nicht anzusehen war, woher er kam, oder wohin er wollte, so wurde er als ein Verdächtiger ohne Anstand verwiesen. Dieser hohe Grad von Genauigkeit in der Behandlung jeder einzelnen Stimme ist es eben, was die Bachische Harmonie zu einer vielfachen Melodie macht. Das unordentliche Untereinanderwerfen der Stimmen, so daß ein Ton, welcher in den Tenor gehört nun in den Alt geworfen wird, und umgekehrt; ferner das unzeitige Einfallen mehrerer Töne bey einzelnen Harmonien, die, wie vom Himmel gefallen, die angenommene Anzahl der Stimmen auf einer einzelnen Stelle plötzlich vermehren, auf der folgenden Stelle aber wieder verschwinden, und auf keine Weise zum Ganzen gehören, kurz das, was Seb. Bach mit dem Worte Mantschen (sudeln, Töne und Stimmen unordentlich unter einander mengen) bezeichnet haben soll, findet sich weder bey ihm selbst, noch bey irgend einem seiner Schüler. Er sah seine Stimmen gleichsam als Personen an, die sich wie [41] eine geschlossene Gesellschaft mit einander unterredeten. Waren ihrer drey, so konnte jede derselben bisweilen schweigen und den andern so lange zuhören, bis sie selbst wiederum etwas Zweckmäßiges zu sagen hatte. Kamen aber auf Ein Mahl mitten in der besten Unterredung ein Paar unberufene und unbescheidene fremde Töne in ihre Mitte gestürzt, und wollten ein Wort, vielleicht gar nur eine Sylbe eines Worts ohne Verstand und Beruf mit einsprechen, so hielt dieß Bach für eine große Unordnung, und bedeutete seine Schüler, daß sie nie zu gestatten sey.

Bey aller Strenge dieser Art, gestattete er dennoch auf einer andern Seite seinen Schülern große Freyheiten. Sie durften im Gebrauch der Intervallen, in den Wendungen der Melodie und Harmonie alles wagen, was sie wollten und konnten, nur mußte nichts vorkommen, was dem musikalischen Wohlklang, oder der völlig richtigen, unzweydeutigen Darstellung des innern Sinnes, um deswillen alle Reinigkeit der Harmonie gesucht wird, nachtheilig seyn konnte. So wie er selbst hierin alle Möglichkeiten versucht hat, so sah er es auch gerne, wenn seine Schüler es thaten. Andere Compositionslehrer vor ihm, wie z.B. Berardi, Bononcini und Fux gestatteten nicht so viele Freyheiten. Sie waren bange, daß ihre Schüler dadurch in Gefahren verwickelt werden möchten, veranlaßten aber dadurch offenbar, daß sie auch nie Gefahren überwinden lernten. Die Lehrart Bachs ist daher gewiß zweckmäßiger und führt weiter. Auch schränkt er sich überhaupt nicht so wie seine Vorgänger bloß auf den reinen Satz an sich ein, sondern nimmt überall Rücksicht auf die noch übrigen Erfordernisse einer wirklich guten Composition, nehmlich auf Einheit des Charakters durch ein ganzes Stück, auf Verschiedenheit des Styls, auf den Rhythmus, auf Melodie etc. Wer die Bachische Lehrmethode in der Composition nach ihrem Umfange kennen lernen will, findet sie in Kirnbergers Kunst des reinen Satzes hinlänglich erläutert.

Endlich durften seine Schüler, so lange sie unter seiner musikalischen Aufsicht standen, außer seinen eigenen Compositionen nichts als classische Kunstwerke studiren und kennen lernen. Der Verstand, durch welchen das wahre Gute erst erkannt wird, entwickelt sich später als das Gefühl, nicht zu gedenken, daß auch selbst dieser durch häufige Beschäftigung mit unechter Kunst irre gemacht und verwöhnt werden kann. Gewöhnung an das Gute ist daher die beste Lehrart für die Jugend. Die Begriffe davon folgen mit [42] der Zeit nach, und können dann die Anhänglichkeit an lauter echte Kunstwerke immer mehr befestigen.

Alle seine Schüler sind bey dieser so vortrefflichen Lehrart ausgezeichnete Künstler geworden, obgleich einer mehr als der andere, je nachdem einer entweder früher in seine Schule kam, oder in der Folge Aufmunterung und Veranlassung zur fernern Ausbildung und Anwendung des von ihm erhaltenen Unterrichts fand. Seine beyden ältesten Söhne, Wilh. Friedemann und C. Ph. Emanuel, sind indessen doch die ausgezeichnetsten unter ihnen geworden, gewiß nicht, weil er ihnen bessern Unterricht als seinen übrigen Schülern ertheilt hat, sondern weil sie schon von ihrer ersten Jugend an Gelegenheit hatten, im väterlichen Hause nichts als gute Musik zu hören. Sie wurden also schon frühe, selbst ehe sie noch Unterricht erhielten, an das Vorzüglichste der Kunst gewöhnt, anstatt daß die übrigen, ehe sie seines Unterrichts theilhaft werden konnten, entweder noch nichts Gutes gehört hatten, oder durch gemeine Compositionen schon verwöhnt waren. Man kann übrigens die Güte der Schule daran erkennen, daß, ungeachtet solcher Nachtheile, auch selbst diese Bachischen Schüler dennoch sämmtlich einen hohen Kunstsinn erhalten und sich auf eine oder die andere Art ausgezeichnet haben.[5]

Sein ältester Schüler war Joh. Caspar Vogler, der seines Unterrichts schon in Arnstadt und Weimar genoß, und, selbst nach des Lehrers Zeugniß, ein sehr starker Orgelspieler geworden ist. Er wurde anfänglich Organist in Weimar, zuletzt aber mit Beybehaltung seiner Organisten-Stelle Burgermeister daselbst. Einige Choralvorspiele für 2 Claviere und Pedal von ihm, sind im Jahr 1737 in Kupfer gestochen worden.

Die übrigen merkwürdig gewordenen Bachischen Schüler waren:

1) Homilius in Dresden, nicht nur ein vortrefflicher Organist, sondern auch ein vorzüglicher Componist für die Kirche. [43] 2) Transchel in Dresden. Er war ein feiner Clavierspieler und ein guter Musiklehrer. Man hat 6 Polonoisen fürs Clavier von ihm in Manuscript, die außer den Wilh. Friedemannischen vielleicht alle Polonoisen in der Welt übertreffen.

3) Goldberg aus Königsberg. Er war ein sehr starker Clavierspieler, aber ohne besondere Anlage zur Composition.

4) Krebs, Organist zu Altenburg. Er war nicht nur ein sehr guter Orgelspieler, sondern auch ein fruchtbarer Componist für Orgel, Clavier und Kirchenmusik. Er hatte Gelegenheit, Bachs Unterricht 9 Jahre lang zu genießen. Zur Bezeichnung seiner Vortrefflichkeit sagten zu seiner Zeit die witzigen Kunstliebhaber: es sey in einem Bach nur ein Krebs gefangen worden.

5) Altnikol, Organist zu Naumburg und Schwiegersohn seines Lehrers. Er soll ein starker Orgelspieler und Componist gewesen seyn.

6) Agricola, Preussischer Hof-Componist. Er ist weniger durch Compositionen als durch seine Kenntnisse in der Theorie der Musik bekannt. Tosi’s Anweisung zum Singen hat er aus dem Italiänischen ins Deutsche übersetzt und mit sehr lehrreichen Anmerkungen begleitet.

7) Müthel in Riga. Er war ein starker Clavierspieler und Componist für sein Instrument. Sein gedrucktes Duett für 2 Claviere, so wie seine früher herausgekommenen Sonaten, können dieß beweisen.

8) Kirnberger, Hof-Musikus der Prinzessin Amalia von Preussen zu Berlin. Er war einer der merkwürdigsten unter Bachs Schülern, voll des nützlichsten Kunsteifers und wahren hohen Kunstsinnes. Außer der Entwickelung der Bachischen Lehrart in der Composition, hat ihm die musikalische Welt auch das erste und einzige haltbare System der Harmonie zu danken, welches er aus seines Lehrers praktischen Werken abstrahirt hat. Das eine that er in seiner Kunst des reinen Satzes, und das andere in den wahren Grundsätzen zum Gebrauch der Harmonie. Außerdem ist er der Kunst noch durch andere Schriften und Compositionen, so wie auch durch Lehren, nützlich geworden. Amalia selbst war seine Schülerin.

9) Kittel, Organist in Erfurt. Er ist ein sehr gründlicher (obgleich nicht sehr fertiger) Orgelspieler. Als Componist hat er sich durch mehrere Orgeltrios ausgezeichnet, [44] die so vortrefflich sind, daß sich selbst sein Meister ihrer nicht geschämt haben würde. Er ist der einzige noch lebende Bachische Schüler.

10) Voigt in Anspach und ein Organist Schubert sind mir von C. Ph. Emanuel noch als Schüler seines Vaters genannt worden. Von beyden wußte er aber nichts näheres zu sagen, als daß sie erst ins väterliche Haus gekommen sind, nachdem er es schon verlassen hatte.

Ich habe oben gesagt, daß Bachs Söhne sich unter seinen Schülern am meisten ausgezeichnet haben. Der älteste, Wilh. Friedemann, kam in der Originalität aller seiner Gedanken seinem Vater am nächsten. Alle seine Melodien sind anders gewendet als die Melodien anderer Componisten, und doch nicht nur äußerst natürlich, sondern zugleich außerordentlich fein und zierlich. Fein vorgetragen, wie er selbst sie vortrug, müssen sie nothwendig jeden Kenner entzücken. Nur Schade, daß er mehr fantasirte und bloß in der Fantasie nach musikalischen Delicatessen grübelte, als schrieb. Die Anzahl seiner schönen Compositionen ist daher nicht groß.

C. Ph. Emanuel folgt zunächst auf ihn. Dieser kam frühe genug in die große Welt, um noch zu rechter Zeit zu bemerken, wie man für ein ausgebreitetes Publikum componiren müsse. Er nähert sich daher an Deutlichkeit und leichter Faßlichkeit seiner Melodien schon etwas dem Populären, bleibt aber noch vollkommen edel. Beyde älteste Söhne gestanden übrigens offenherzig: sie hätten sich nothwendig eine eigene Art von Styl wählen müssen, weil sie ihren Vater in dem seinigen doch nie erreicht haben würden.

Johann Christoph Friedrich, Bückeburgischer Concertmeister, ahmte die Manier Emanuels nach, erreichte seinen Bruder aber nicht. Er soll jedoch nach Wilh. Friedemanns Aussage unter den Brüdern der stärkste Spieler gewesen seyn, und seines Vaters Claviercompositionen am fertigsten vorgetragen haben.

Johann Christian, der sogenannte Mayländische, nachher Londonsche Bach hatte als jüngster Sohn zweyter Ehe das Glück nicht mehr, seines Vaters Unterricht zu genießen. Der Bachische Originalgeist ist daher in keinem seiner Werke zu finden. Er ist dagegen ein Volkscomponist geworden, der zu seiner Zeit allgemein beliebt war.


[45]
VIII.

Außer den großen Verdiensten, welche Bach in der Kunst als vollendeter Spieler, Componist und Musiklehrer hatte, besaß er auch das Verdienst, ein vorzüglich guter Hausvater, Freund und Staatsbürger zu seyn. Die Tugenden des Hausvaters bewies er durch seine Sorgfalt für die Bildung seiner Kinder, und die übrigen durch gewissenhafte Erfüllung gesellschaftlicher und bürgerlicher Pflichten. Sein Umgang war Jedermann angenehm. Wer nur irgend ein Kunstliebhaber war, er mochte fremd oder einheimisch seyn, konnte sein Haus besuchen, und sicher seyn, eine freundliche Aufnahme zu finden. Diese geselligen Tugenden mit seinem großen Kunstruf vereint, waren auch Ursache, daß sein Haus fast nie von Besuchen leer wurde.

Als Künstler war er außerordentlich bescheiden. Bey dem großen Uebergewicht, welches er über seine Kunstverwandte hatte, und gewiß fühlen mußte, bey der Bewunderung und Ehrerbiethung, die ihm täglich als so hervorragendem Künstler bewiesen wurde, hat man doch kein Beyspiel, daß er je irgend einen Anspruch darauf gebaut hätte. Wenn er bisweilen gefragt wurde, wie er es denn angefangen habe, der Kunst in einem so hohen Grade mächtig zu werden, antwortete er gewöhnlich: Ich habe fleißig seyn müssen; wer eben so fleißig ist, der wird es eben so weit bringen können. Auf seine größern angebohrnen Gaben schien er nichts zu rechnen. Alle seine Urtheile über andere Künstler und ihre Werke waren freundlich und billig. Es mußte ihm nothwendig manches Kunstwerk klein vorkommen, da er sich ausschließend fast immer mit der höhern, größern Kunst beschäftigte; dennoch hat er sich nie erlaubt, ein hartes Urtheil darüber zu äußern, es müßte denn gegen einen seiner Schüler gewesen seyn, welchen er reine, strenge Wahrheit schuldig zu seyn glaubte. Noch weniger hat er sich je durch das Gefühl seiner Kraft und Uebermacht verleiten lassen, ein herausfordernder musikalischer Renomist zu werden, wie dieß so häufig der Fall bey Spielern ist, die sich für stark halten, wenn sie einen schwächern vor sich zu sehen glauben. Seine Bescheidenheit ging hierin so weit, daß er selbst von dem musikalischen Wettstreit, welchen er gegen Marchand bestehen sollte, nie freywillig sprach, ob er gleich hier nicht Ausforderer, sondern der Aufgeforderte war. Die vielen zum Theil abentheuerlichen Fechterstreiche, die ihm nachgesagt werden, z.B. daß er bisweilen, als ein armer Dorffschulmeister gekleidet, in eine Kirche [46] gekommen sey, und den Organisten gebethen habe, ihn einen Choral spielen zu lassen, um sodann das durch sein Spielen erregte allgemeine Staunen der Anwesenden zu genießen, oder vom Organisten zu hören, er müsse entweder Bach oder der Teufel seyn etc. sind erdichtete Mährchen. Er selbst hat nie etwas davon wissen wollen. Auch hatte er zu viele wahre Kunst, als daß er solche Scherze mit ihr hätte treiben können. Ein Künstler wie Bach wirft sich nicht weg.

In musikalischen Gesellschaften, in welchen Quartette oder vollstimmigere Instrumentalstücke aufgeführt wurden, und er sonst nicht dabey beschäftigt war, machte es ihm Vergnügen, die Bratsche mit zu spielen. Er befand sich mit diesem Instrument gleichsam in der Mitte der Harmonie, aus welcher er sie von beyden Seiten am besten hören und genießen konnte. Wenn es in solchen Gesellschaften die Gelegenheit mit sich brachte, accompagnirte er auch bisweilen ein Trio oder sonst etwas mit dem Flügel. War er dann fröhlichen Geistes, und wußte, daß es der etwa anwesende Componist des Stücks nicht übel nehmen würde, so pflegte er, wie schon oben gesagt worden, entweder aus dem bezifferten Baß ein neues Trio, oder aus 3 einzelnen Stimmen ein Quartett aus dem Stegreif zu machen. Dieß sind aber wirklich die einzigen Fälle, wobey er gegen andere bewies, wie stark er war. Ein gewisser Hurlebusch aus Braunschweig, ein eingebildeter und übermüthiger Clavierspieler, besuchte ihn einst in Leipzig, nicht um ihn zu hören, sondern um sich hören zu lassen. Bach nahm ihn freundlich und höflich auf, hörte sein sehr unbedeutendes Spielen mit Geduld an, und als er beym Abschied den ältesten Söhnen ein Geschenk mit einer gedruckten Sammlung von Sonaten machte, mit der Ermahnung, daß sie sie recht fleißig studiren möchten, (sie, die schon ganz andere Sachen studirt hatten) lächelte er doch bloß in sich, und wurde gegen den Fremden nicht im mindesten unfreundlicher.

Er mochte gern fremde Musik hören. Wenn er nun in einer Kirche eine stark besetzte Fuge hörte, und einer seiner beyden ältesten Söhne stand etwa neben ihm, so sagte er stets vorher, sobald er die ersten Eintritte des Thema gehört hatte, was der Componist und von Rechts wegen anbringen müsse, und was möglicher Weise angebracht werden könne. Hatte nun der Componist gut gearbeitet, so trafen seine Vorhersagungen ein; [47] dann freuete er sich, und stieß den Sohn an, um ihn aufmerksam darauf zu machen. Man sieht hieraus, daß er auch die Kunst Anderer schätzte.

Die Componisten, die er in seiner Jugend studirte, schätzte und liebte, sind schon genannt. In seinem spätern, völlig reifen Alter wurden sie aber verdrängt. Hingegen hielt er nun viel auf den ehemahligen Kaiserlichen Ober-Capellmeister Fux, auf Händel, auf Caldara, auf Reinh. Kayser, auf Hasse, beyde Graune, Telemann, Zelenka, Benda etc. überhaupt auf alles, was damahls in Dresden und Berlin am vorzüglichsten war. Die ersten vier, nehmlich Fux, Händel, Caldara und Kayser, kannte er nicht persönlich, die übrigen aber sämmtlich. Mit Telemann hatte er in seiner Jugend vielen Umgang. Händeln achtete er sehr hoch, und wünschte oft, ihn persönlich kennen zu lernen. Da Händel ebenfalls ein großer Clavier- und Orgelspieler war, so wünschten auch viele Musikfreunde in Leipzig und in der dortigen Gegend, beyde große Männer einmahl gegen einander zu hören. Aber Händel konnte nie die Zeit zu einer solchen Zusammenkunft finden. Er war dreymahl aus London zum Besuch nach Halle (seiner Vaterstadt) gekommen. Beym ersten Besuch, etwa im Jahr 1719, war Bach noch in Cöthen, nur 4 kleine Meilen von Halle entfernt. Er erfuhr Händels Ankunft sogleich, und säumte keinen Augenblick, ihm unverzüglich seinen Besuch abzustatten; aber gerade am Tage seiner Ankunft, reiste Händel wieder von Halle ab. Beym zweyten Händelschen Besuch in Halle (zwischen 1730–1740.) war Bach schon in Leipzig, aber krank. Er sandte aber, sobald er Händels Ankunft in Halle erfahren hatte, sogleich seinen ältesten Sohn, Wilh. Friedemann, dahin, und ließ Händeln aufs höflichste zu sich nach Leipzig einladen. Händel bedauerte aber, daß er nicht kommen könne. Beym dritten Händelschen Besuch, um das Jahr 1752 oder 1753 war Bach schon todt. Sein Wunsch, Händeln persönlich kennen zu lernen, wurde ihm also eben so wenig erfüllt, als der Wunsch vieler Musikfreunde, die ihn und Händel gern neben einander gesehen und gehört hätten.

In Dresden war die Capelle und die Oper, während Hasse Capellmeister dort war, sehr glänzend und vortrefflich. Bach hatte schon in frühern Jahren dort viele Bekannte, von welchen allen er sehr geehrt wurde. Auch Hasse nebst seiner Gattin, der berühmten Faustina, waren mehrere Mahle in Leipzig gewesen, und hatten seine [48] große Kunst bewundert. Er hatte auf diese Weise immer eine ausgezeichnet ehrenvolle Aufnahme in Dresden, und ging oft dahin, um die Oper zu hören. Sein ältester Sohn mußte ihn gewöhnlich begleiten. Er pflegte dann einige Tage vor der Abreise im Scherz zu sagen: Friedemann, wollen wir nicht die schönen Dresdener Liederchen einmahl wieder hören? So unschuldig dieser Scherz an sich ist, so bin ich doch überzeugt, daß ihn Bach gegen keinen andern als gegen diesen Sohn geäußert haben würde, der um jene Zeit ebenfalls schon wußte, was in der Kunst groß, und was bloß schön und angenehm ist.

Was man in der Welt ein glänzendes Glück nennt, hat Bach nicht gemacht. Er hatte zwar ein einträgliches Amt, aber er hatte auch von den Einkünften desselben eine große Anzahl Kinder zu ernähren und zu erziehen. Andere Hülfsquellen hatte und suchte er nicht. Er war viel zu sehr in seine Geschäfte und in seine Kunst vertieft, als daß er diejenigen Wege hätte einschlagen mögen, auf welchen vielleicht für einen solchen Mann, wie er war, besonders in seiner Zeit, eine Goldgrube zu finden gewesen wäre. Wenn er hätte reisen wollen, so würde er, wie sogar einer seiner Feinde gesagt hat, die Bewunderung der ganzen Welt auf sich gezogen haben. Allein, er liebte ein häusliches, stilles Leben, eine stete, ununterbrochene Beschäftigung mit seiner Kunst, und war, wie schon von seinen Vorfahren gesagt worden ist, genügsam.

Ueberdieß gebrach es ihm in seinem Leben weder an Liebe und Freundschaft, noch an großer Ehre. Der Fürst Leopold in Cöthen, Herzog Ernst August in Weimar, und Herzog Christian in Weissenfels waren ihm mit herzlicher Liebe zugethan, die dem großen Künstler um so mehr werth seyn mußte, da diese Fürsten nicht bloß Freunde, sondern auch Kenner der Kunst waren. In Berlin und Dresden wurde er ebenfalls allgemein geachtet und verehrt. Wenn man hierzu noch die Bewunderung der Kenner und Liebhaber der Kunst rechnet, die ihn gehört oder seine Werke kennen gelernt hatten, so wird man leicht begreifen, daß ein Mann wie Bach, der nur „sich und den Musensang“ auch aus den Händen des Ruhms alles erhalten hatte, was er sich wünschen konnte, und was für ihn mehr Reitz hatte, als die zweydeutigen Geschenke eines Ordensbandes oder einer goldenen Kette.

[49] Daß er im Jahr 1747 Mitglied der von Mitzler gestifteten Societät der musikalischen Wissenschaften wurde, würde kaum bemerkt zu werden verdienen, wenn wir diesem Umstand nicht den vortrefflichen Choral: Vom Himmel hoch etc. zu verdanken hätten. Er übergab diesen Choral der Societät bey seinem Eintritt in dieselbe, und ließ ihn nachher in Kupfer stechen.


[49]
IX.

Um so vollendete Kunstwerke liefern zu können, wie sie uns Bach in mancherley Gattungen hinterlassen hat, mußte er nothwendig sehr viel componiren. Wer nicht täglich mit seiner Kunst beschäftigt ist, wird doch, wenn er auch das größte Genie von der Welt wäre, nie ein Werk zu Stande bringen, von welchem der Kenner sagen könnte, daß es durchgehends vollkommen und vollendet sey. Nur ununterbrochene Uebung kann zur wahren Meisterschaft führen. Wenn man aber alle Werke, die während solcher Uebungen hervor gebracht werden, für Meisterstücke halten wollte, weil endlich wirkliche Meisterwerke aus ihnen hervor gehen, so würde man sehr irren. Dieß ist auch der Fall bey Bachs Werken. Obgleich allerdings schon in seinen frühern Versuchen unverkennbare Spuren eines vorzüglichen Genies zu bemerken sind, so enthalten sie doch daneben so viel Unnützes, so viel Einseitiges, Wildes und Geschmackloses, daß sie wenigstens für das große Publicum der Aufbewahrung nicht werth sind, und höchstens für einen solchen Kunstfreund wichtig seyn können, der den Gang, welchen ein solches Genie vom Anfange seiner Ausbildung an genommen hat, näher kennen lernen will.

Zur Absonderung dieser Versuche oder Jugendübungen von den wahren Meisterwerken, hat uns Bach selbst zwey Mittel angegeben, und ein drittes haben wir an der Kunst der kritischen Vergleichung. Bey Erscheinung seines ersten Werks war er schon über vierzig Jahre alt. Was er in einem so reifen Alter der öffentlichen Bekanntmachung selbst werth hielt, hat gewiß die Vermuthung für sich, daß es gut ist. Wir können daher alle seine Werke, die er selbst durch den Stich bekannt gemacht hat, für vorzüglich gut halten.

[50] Bey denjenigen seiner musikalischen Arbeiten, die nur in Abschriften verbreitet wurden, und die bey weitem die größere Anzahl ausmachen, müssen wir, um zu wissen, was davon der Aufbewahrung werth ist, unsere Zuflucht theils zur kritischen Vergleichung nehmen, theils auch zu dem zweyten Mittel, welches uns Bach selbst angegeben hat. Er legte nehmlich, so wie alle wirklich große Genies, niemahls die kritische Feile aus der Hand, um seine schönen Werke schöner, und die schönern zu den schönsten zu machen. Was von seinen frühern Werken nur irgend so angelegt war, daß es verbessert werden konnte, das verbesserte er. Dieser Verbesserungstrieb erstreckte sich sogar auf einige seiner gestochenen Werke. Es entstanden hieraus verschiedene Lesearten in ältern und neuern Abschriften, und alle diejenigen Stücke, welche man mit so verschiedenen Lesearten findet, hat er selbst ihrer ersten Anlage nach einer Verbesserung werth gehalten, und geglaubt, sie in wahre Kunstwerke umschaffen zu können. Ich rechne hieher das meiste, was er vor dem Jahre 1725 componirt hat, wie im nachher folgenden Verzeichniß näher angegeben werden soll. Sehr viele spätere Compositionen, die aber aus sehr begreiflichen Ursachen ebenfalls nur handschriftlich bekannt wurden, tragen das Gepräge ihrer Vollendung zu deutlich an sich, als daß ein Zweifel entstehen könnte, ob sie unter die Versuche oder unter die Arbeiten des schon vollkommenen Meisters zu zählen sind.

[50]
Bachs gestochene Werke sind folgende:

1) Clavierübung, bestehend in Präludien, Allemanden, Couranten, Sarabanden, Mauen, Menuetten und andern Galanterien, den Liebhabern zur Gemüthsergötzung verfertigt. Opus I. Im Verlag des Autors. 1731. Dieses erste Werk besteht aus 6 Suiten, von welchen die erste im Jahr 1726 herauskam, und die übrigen einzeln nachfolgten, bis sie im Jahr 1731 zusammen gestochen wurden. Dieß Werk machte zu seiner Zeit in der musikalischen Welt großes Aufsehen; man hatte noch nie so vortreffliche Claviercompositionen gesehen und gehört. Wer einige Stücke daraus recht gut vortragen lernte, konnte sein Glück in der Welt damit machen; und noch in unserm Zeitalter wird sich ein junger Künstler Ehre damit erwerben können, so glänzend, wohlklingend, ausdrucksvoll und immer neu sind sie. In der neuen schon erschienenen Ausgabe haben sie den Titel: Exercices pour le Clavecin erhalten.

[51] 2) Clavierübung, bestehend in einem Concert nach Italiänischem Gusto, und einer Ouverture nach Französischer Art, für ein Clavicymbel mit zwey Manualen. Zweyter Theil. Im Verlag Christoph Weigels zu Nürnberg.

3) Clavierübung, bestehend in verschiedenen Vorspielen über die Catechismus- und andere Gesänge, für die Orgel, den Liebhabern und besonders den Kennern solcher Arbeit zur Gemüthsergötzung verfertigt. Dritter Theil. Im Verlag des Autors. Außer den für die Orgel bestimmten Präludien, Fugen und Vorspielen, die sämmtlich Meisterstücke der Kunst sind, enthält diese Sammlung auch noch vier Duette für ein Clavier, die als Muster von Duetten keine dritte Stimme zulassen.

4) Sechs Choräle von verschiedener Art, auf einer Orgel mit 2 Clavieren und Pedal vorzuspielen. Zella, am Thüringer Wald bey Joh. G. Schübler. Sie sind voll Würde und andächtigen Ausdrucks. Bey einigen derselben kann man sehen, wie Bach im Registriren von der gewöhnlichen Art abging. So gibt er z.B. im zweyten Choral: Wo soll ich fliehen hin etc. dem ersten Clavier 8, dem zweyten 16 und dem Pedal 4 Fußton. Das Pedal hat nehmlich den Cantum firmum zu führen.

5) Clavierübung, bestehend in einer Arie mit verschiedenen Veränderungen fürs Clavicymbel mit 2 Manualen. Nürnberg, bey Balthasar Schmid. Dieß bewundernswürdige Werk besteht aus 30 Veränderungen, worunter Canones in allen Intervallen und Bewegungen vom Einklang bis zur None mit dem faßlichsten und fließendsten Gesange vorkommen. Auch ist eine regulaire 4stimmige Fuge, und außer vielen andern höchst glänzenden Variationen für 2 Claviere, zuletzt noch ein sogenanntes Quodlibet darin enthalten, welches schon allein seinen Meister unsterblich machen könnte, ob es gleich hier bey weitem noch nicht die erste Partie ist.

Dieses Modell, nach welchem alle Variationen gemacht werden sollten, obgleich aus begreiflichen Ursachen noch keine einzige darnach gemacht worden ist, haben wir der Veranlassung des ehemaligen Russischen Gesandten am Chursächs. Hofe, des Grafen Kaiserling zu danken, welcher sich oft in Leipzig aufhielt, und den schon genannten Goldberg mit dahin brachte, um ihn von Bach in der Musik unterrichten zu lassen. Der Graf kränkelte viel und hatte dann schlaflose Nächte. Goldberg, der bey ihm im Hause wohnte, mußte in solchen Zeiten in einem Nebenzimmer die Nacht zubringen, um [52] ihm während der Schlaflosigkeit etwas vorzuspielen. Einst äußerte der Graf gegen Bach, daß er gern einige Clavierstücke für seinen Goldberg haben möchte, die so sanften und etwas muntern Charakters wären, daß er dadurch in seinen schlaflosen Nächten ein wenig aufgeheitert werden könnte. Bach glaubte, diesen Wunsch am besten durch Variationen erfüllen zu können, die er bisher, der stets gleichen Grundharmonie wegen, für eine undankbare Arbeit gehalten hatte. Aber so wie um diese Zeit alle seine Werke schon Kunstmuster waren, so wurden auch diese Variationen unter seiner Hand dazu. Auch hat er nur ein einziges Muster dieser Art geliefert. Der Graf nannte sie hernach nur seine Variationen. Er konnte sich nicht satt daran hören, und lange Zeit hindurch hieß es nun, wenn schlaflose Nächte kamen: Lieber Goldberg, spiele mir doch eine von meinen Variationen. Bach ist vielleicht nie für eine seiner Arbeiten so belohnt worden, wie für diese. Der Graf machte ihm ein Geschenk mit einem goldenen Becher, welcher mit 100 Louisd’or angefüllt war. Allein ihr Kunstwerth ist dennoch, wenn das Geschenk auch tausend Mahl größer gewesen wäre, damit noch nicht bezahlt. Noch muß bemerkt werden, daß in der gestochenen Ausgabe dieser Variationen einige bedeutende Fehler befindlich sind, die der Verf. in seinem Exemplar sorgfältig verbessert hat.

6) Einige kanonische Veränderungen über das Weihnacht-Lied: Vom Himmel hoch da komm ich her, für die Orgel mit 2 Clavieren und Pedal. Nürnberg, bey Balthasar Schmid. Es sind 5 Veränderungen, worin eine große Menge kanonischer Künste auf die zwangloseste Art angebracht ist.

7) Musicalisches Opfer, dem König von Preussen Friedrich II. zugeeignet. Das von dem König erhaltene Thema, von welchem schon geredet worden, ist hier erstlich als eine 3stimmige Clavierfuge unter dem Namen: Ricercar, oder mit der Aufschrift: Regis Iussu Cantio Et Reliqua Canonica Arte Resoluta, ausgeführt. Zweytens hat der Componist ein 6stimmiges Ricercar fürs Clavier daraus gemacht. Drittens folgen: Thematis regii elaborationes canonicae von mancherley Art. Endlich ist viertens ein Trio für die Flöte, Violine und den Baß über dasselbe Thema beygefügt.

8) Die Kunst der Fuge. Dieß vortreffliche, einzige Werk in seiner Art kam erst nach des Verfassers Tode im Jahr 1752 heraus, war aber noch bey seinem Leben größtentheils durch einen seiner Söhne gravirt worden. Marpurg, damahls [53] am Ruder der musikalischen Schriftstellerey in Deutschland, begleitete die Ausgabe mit einer Vorrede, worin sehr viel Gutes und Wahres über den Werth und Nutzen solcher Kunstwerke gesagt ist. Aber diese Bachische Kunst der Fuge war doch für die große Welt zu hoch; sie mußte sich in die kleine, mit sehr wenigen Kennern bevölkerte, Welt zurückziehen. Diese kleine Welt war sehr bald mit Abdrücken versorgt; die Kupferplatten blieben ungenutzt liegen, und wurden endlich von den Erben als altes Kupfer verkauft. Wäre ein Werk dieser Art außerhalb Deutschland von einem so außerordentlich berühmten Mann, wie Bach, zum Vorschein gekommen, und noch außerdem durch einen Schriftsteller, der in diesem Fache öffentlichen Glauben hatte, als etwas Außerordentliches empfohlen worden, so würden aus bloßem Patriotismus vielleicht 10 Prachtausgaben davon vergriffen worden seyn. In Deutschland wurden nicht einmahl so viele einzelne Exemplare von einem solchen Werke abgesetzt, daß die dazu erforderlichen Kupferplatten mit deren Ertrag bezahlt werden konnten.

Das Werk besteht übrigens aus Variationen im Großen. Die Absicht des Verfassers war nehmlich, anschaulich zu machen, was möglicher Weise über ein Fugenthema gemacht werden könne. Die Variationen, welche sämmtlich vollständige Fugen über einerley Thema sind, werden hier Contrapuncte genannt. Die vorletzte Fuge hat 3 Themata; im dritten gibt sich der Componist namentlich durch bach zu erkennen. Diese Fuge wurde aber durch die Augenkrankheit des Verfassers unterbrochen, und konnte, da seine Operation unglücklich ausfiel, nicht vollendet werden. Sonst soll er Willens gewesen seyn, in der allerletzten Fuge 4 Themata zu nehmen, sie in allen 4 Stimmen umzukehren, und sein großes Werk damit zu beschließen. Alle die in diesem Werke vorkommenden verschiedenen Gattungen von Fugen über einerley Hauptsatz, haben übrigens das gemeinschaftliche Verdienst, daß alle Stimmen darin gehörig singen, und keine weniger als die andere.

Zum Ersatz des Fehlenden an der letztern Fuge ist dem Werke am Schluß der 4stimmig ausgearbeitete Choral: Wenn wir in höchsten Nöthen sind etc. beygefügt worden. Bach hat ihn in seiner Blindheit, wenige Tage vor seinem Ende seinem Schwiegersohn Altnikol in die Feder dictirt. Von der in diesem Choral liegenden Kunst will ich nichts sagen; sie war dem Verf. desselben so geläufig geworden, daß er sie auch [54] in der Krankheit ausüben konnte. Aber der darin liegende Ausdruck von frommer Ergebung und Andacht hat mich stets ergriffen, so oft ich ihn gespielt habe, so daß ich kaum sagen kann, was ich lieber entbehren wollte, diesen Choral, oder das Ende der letztern Fuge.

9) Endlich sind nach Bachs Tode noch herausgekommen: Vierstimmige Choralgesänge, gesammelt von C. Ph.Em. Bach. Berlin und Leipzig, bey Birnstiel, 1765. Erster Theil. Ebendas. 1769. Zweyter Theil. Jeder Theil enthält 100 Choräle, die meistens aus des Verf. Kirchenjahrgängen genommen sind.

Später gab auch Kirnberger 4 Sammlungen solcher 4stimmigen Choräle von Joh. Seb. Bach im Breitkopfischen Verlag heraus.

[54] Die ungedruckten Werke Bachs können in Clavier- und Orgel-Sachen mit und ohne Begleitung, in Compositionen für Bogeninstrumente und für den Gesang unterschieden werden. Ich will sie nach ihrer natürlichsten Ordnung anzeigen.


I. Claviersachen.

1) 6 kleine Präludien zum Gebrauch der Anfänger.

2) 15 zweystimmige Inventiones. Man nannte einen musikalischen Satz, der so beschaffen war, daß aus ihm durch Nachahmung und Versetzung der Stimmen die Folge eines ganzen Stücks entwickelt werden konnte, eine Invention. Das übrige war Ausarbeitung und bedurfte, wenn man die Hülfsmittel der Entwickelung gehörig kannte, nicht erst erfunden zu werden. Diese 15 Inventionen sind zur Bildung eines angehenden Clavierspielers von großem Nutzen. Der Verf. hat darauf gesehen, daß dadurch nicht nur eine Hand wie die andere, sondern auch ein Finger wie der andere gebildet werden kann. Sie sind im Jahr 1723 zu Cöthen verfertigt, und führen ursprünglich den Titel: „Aufrichtige Anleitung, womit den Liebhabern des Claviers eine deutliche Art gezeigt wird, mit zwey Stimmen rein spielen zu lernen, auch zugleich gute Inventiones zu bekommen und sie gut durchzuführen, am allermeisten aber eine cantable Art im Spielen, und einen starken Vorschmack von der Composition zu erlangen.“

In mehrere dieser Inventionen hatten sich anfänglich einige steife und unedele Wendungen der Melodie, auch einige andere Mängel eingeschlichen. Bach, der sie ihrer B [55] Anlage nach auch in spätern Jahren sehr brauchbar für seine Schüler fand, nahm ihnen nach und nach alles, was nach seinem gereinigtern Geschmack nicht taugte, und machte am Ende wahre ausdrucksvolle Meisterstücke daraus, die deswegen ihren Nutzen für Hand-Finger- und Geschmacksbildung nicht verloren haben. Durch ein sorgfältiges Studium derselben kann man sich zu den größern Stücken Joh. Seb. Bachs am besten vorbereiten.

3) 15 dreystimmige Inventiones, die auch unter dem Namen Sinfonien bekannt sind. Sie haben einerley Zweck mit den vorhergehenden, sollen nur weiter führen.

4) Das wohltemperirte Clavier, oder Präludien und Fugen durch alle Töne. Zum Nutzen und Gebrauch der lehrbegierigen musikalischen Jugend, wie auch den in diesem Studio schon habil seyenden zum besondern Zeitvertreib aufgesetzt und verfertigt. Erster Theil. 1722. Der zweyte Theil dieses Werks, welcher ebenfalls 24 Präludien und 24 Fugen aus allen Tönen enthält, ist später verfertigt. Er besteht vom Anfang an bis ans Ende aus lauter Meisterstücken. Im ersten Theil hingegen befinden sich noch einige Präludien und Fugen, welche das Unreife früher Jugend an sich tragen, und von dem Verf. wahrscheinlich nur beybehalten sind, um die Zahl vier und zwanzig voll zu haben. Doch auch hier hat er mit der Zeit gebessert, wo nur irgend zu bessern war. Er hat ganze Stellen entweder weggeworfen, oder anders gewendet, so daß nun nach den neuern Abschriften nur wenige Stücke übrig sind, denen man den Vorwurf der Unvollkommenheit noch machen kann. Ich rechne unter diese wenigen die Fugen aus A moll, G dur und Moll, C dur, F dur und moll etc. Die übrigen hingegen sind sämmtlich vortrefflich, und einige sogar in einem so hohen Grade vortrefflich, daß keine derselben den im 2ten Theil enthaltenen nachzusetzen ist. Auch selbst der vom Anfang an vollkommenere zweyte Theil hat in der Folge große Verbesserungen erhalten, wie man durch Vergleichung älterer und neuerer Abschriften sehen kann. Uebrigens ist in beyden Theilen dieses Werks ein Schatz von Kunst enthalten, der gewiß nur in Deutschland gefunden wird.

5) Chromatische Fantasie und Fuge. Unendliche Mühe habe ich mir gegeben noch ein Stück dieser Art von Bach aufzufinden. Aber vergeblich. Diese [56] Fantasie ist einzig und hat nie ihres Gleichen gehabt. Ich erhielt sie zuerst von Wilh. Friedemann aus Braunschweig. Einer seiner und meiner Freunde, der gerne Knittelverse machte, schrieb auf ein beygelegtes Blatt:

Anbey kommt an
Etwas Musik von Sebastian,
Sonst genannt: Fantasia chromatica;
Bleibt schön in alle Saecula.

Sonderbar ist es, daß diese so außerordentlich kunstreiche Arbeit auch auf den allerungeübtesten Zuhörer Eindruck macht, wenn sie nur irgend reinlich vorgetragen wird.

6) Eine Fantasie. (Fig. 3.) Sie ist nicht von der Art der vorhergehenden, sondern wie ein Sonaten-Allegro in 2 Theile getheilt, und muß in einerley Bewegung und Tact vorgetragen werden. Sonst ist sie vortrefflich. In ältern Abschriften findet man eine Fuge angehängt, die aber nicht dazu gehören kann, auch nicht ganz vollendet ist. (Fig. 4.) Daß aber wenigstens die ersten 30 Tacte von Seb. Bach sind, kann nicht bezweifelt werden, denn sie enthält einen äußerst gewagten Versuch, verminderte und vergrößerte Intervalle nebst ihren Umkehrungen in einer 3stimmigen Harmonie zu gebrauchen. So etwas hat außer Bach nie Jemand gewagt. Was nach den ersten 30 Tacten folgt, scheint von einer andern Hand beygefügt zu seyn, denn es trägt kein Merkmahl Sebastianischer Art an sich.

7) Sechs große Suiten, bestehend in Präludien, Allemanden, Couranten, Sarabanden, Giquen etc. Sie sind unter dem Namen der Englischen Suiten bekannt, weil sie der Componist für einen vornehmen Engländer gemacht hat. (Fig. 5.) Sie sind alle von großem Kunstwerth; aber einige einzelne Stücke derselben, z.B. die Giquen der 5ten und 6ten Suite sind als höchste Meisterstücke origineller Melodie und Harmonie zu betrachten. (Fig. 6. und 7.)

8) Sechs kleine Suiten, bestehend in Allemanden, Couranten etc. Man nennt sie gewöhnlich Französische Suiten, weil sie im Französischen Geschmack geschrieben sind. Seinem Zweck nach ist hier der Componist weniger gelehrt als in seinen andern Suiten, und hat sich meistens einer lieblichen, mehr hervorstechenden Melodie bedient. Insbesondere verdient die 5te Suite in dieser Rücksicht bemerkt zu werden, in welcher [57] sämmtliche einzelne Stücke von der sanftesten Melodie sind, so wie in der letzten Gique nichts als consonirende Intervalle, insbesondere aber Sexten und Terzen gebraucht werden.

Dieß sind die vorzüglichsten Clavierwerke Joh. Seb. Bachs, welche durchgehends für klassisch gehalten werden können. Eine große Menge einzelner Suiten, Toccaten und Fugen, die noch außer ihnen vorhanden sind, haben zwar alle auf eine oder die andere Art vielen Kunstwerth, gehören aber dennoch unter seine Jugendübungen. Höchstens 10 bis 12 einzelne Stücke aus dieser Menge sind der Aufbewahrung werth, einige, weil sie als Fingerübungen von großem Nutzen seyn können, auch ursprünglich vom Verfasser dazu bestimmt waren, andere, weil sie wenigstens besser sind, als ähnliche Werke von vielen andern Componisten. Als Fingerübung für beyde Hände rechne ich vorzüglich hieher eine Fuge aus A moll, worin es der Componist recht darauf angelegt hat, durch ununterbrochenes Laufwerk beyden Händen gleiche Kraft und Geläufigkeit zu verschaffen. (Fig. 9.) Für Anfänger könnte eine kleine 2stimmige Fuge noch brauchbar seyn, die sehr sangbar ist, und dabey nichts Veraltetes enthält. (Fig. 10.)


II. Claviersachen mit Begleitung anderer Instrumente.

1) Sechs Sonaten fürs Clavier mit Begleitung einer obligaten Violine. Sie sind zu Cöthen verfertigt, und können in dieser Art unter Bachs erste Meisterstücke gerechnet werden. Sie sind durchgehends fugirt; auch einige Canones zwischen dem Clavier und der Violine kommen darin vor, die äußerst sangbar und Charaktervoll sind. Die Violinstimme erfordert einen Meister. Bach kannte die Möglichkeiten dieses Instruments und schonte es eben so wenig, als er sein Clavier schonte. Dis Tonarten dieser 6 Sonaten sind: H moll, A dur, E dur, C moll, F moll und G dur.

2) Viele einzelne Sonaten für den Flügel mit Begleitung der Violine, der Flöte, der Viola da Gamba etc. alle vortrefflich gearbeitet, und so, daß sie meistens noch in unsern Tagen von Kennern mit Vergnügen gehört werden könnten.

3) Concerte für den Flügel, mit Begleitung vieler Instrumente. Sie sind ohngeachtet des darin liegenden Kunstreichthums in Rücksicht auf Form und übrige Einrichtung veraltet.

[58] 4) Zwey Concerte für zwey Claviere, mit Begleitung zweyer Violinen, der Bratsche und des Violoncells. (Fig. 11. und 12.) Das erste ist sehr alt, das zweite aber so neu, als wenn es erst gestern componirt worden wäre. Es kann ganz ohne Begleitung der Bogeninstrumente bestehen, und nimmt sich sodann ganz vortrefflich aus. Das letzte Allegro ist eine streng und Prachtvoll gearbeitete Fuge. Auch diese Gattung hat Bach zuerst vervollkommnet, vielleicht gar zuerst versucht. Mir ist wenigstens nur ein einziger Versuch dieser Art von einem andern Componisten bekannt geworden, der vielleicht älter seyn könnte. Wilh. Hieronymus Pachelbel zu Nürnberg hat ihn in einer so genannten Toccata gemacht. Allein theils war Pachelbel ein Zeitgenosse Bachs, könnte also leicht durch ihn zu seinem Versuch veranlaßt worden seyn; theils ist auch sein Versuch so beschaffen, daß er kaum in Betracht kommen kann. Ein Instrument spielt die vorgespielten Sätze des andern bloß nach, ohne im mindesten dagegen zu certiren. Ueberhaupt scheint es, als wenn Bach um diese Zeit alles habe versuchen wollen, was sich mit vielen und wenigen Stimmen ausrichten lasse. So wie er bis zu einer einstimmigen Musik herunterstieg, worin alles zur Vollständigkeit erforderliche zusammen gedrängt war, so stieg er nun hinauf, um so viele an sich schon reiche Instrumente mit einander zu verbinden, als nur möglich seyn könnte. Von seinen Concerten für zwey Claviere ging er nun zur Vereinigung dreyer Claviere über, von welcher Art man ebenfalls

5) Zwey Concerte mit Begleitung von 4 Bogeninstrumenten hat. (Fig. 13. und 14.) Bey diesen Concerten ist merkwürdig, daß außer der harmonischen Verwebung und beständigen Concertation der 3 Hauptinstrumente, auch die Bogeninstrumente ihr eigenes Wesen unter einander treiben. Man begreift die Kunst kaum, die bey dieser Arbeit angewendet worden ist. Wenn man nun noch hinzu denkt, daß diese so kunstreichen Werke zugleich so fein, Charakter-und Ausdrucksvoll sind, als wenn der Componist nur eine einfache Melodie zu handhaben gehabt hätte, wie dieß besonders der Fall im Concert aus D moll ist, so weiß man kaum, was man vor Verwunderung sagen soll. Und doch war dieß für Bach noch nicht genug. Er machte auch einen Versuch mit einem

6) Concert für 4 Claviere, mit 4 Bogeninstrumenten begleitet. (Fig. 15.) Von der Wirkung dieses Concerts kann ich nicht urtheilen, da es mir nie gelungen ist, [59] 4 Instrumente und 4 Spieler dazu zusammen zu bringen. Daß es aber vortrefflich gearbeitet sey, läßt sich aus der Vergleichung der einzelnen Stimmen sehen.

III. Orgelsachen.

Das Pedal ist ein wesentliches Stück der Orgel; durch dieses allein wird sie über alle andere Instrumente erhoben, indem das Prachtvolle, Große und Majestätische derselben davon abhängt. Ohne Pedal ist dieses große Instrument nicht mehr groß, sondern nähert sich den kleinen Positiven, die in den Augen des Kenners keinen Werth haben. Aber die große, mit dem Pedal versehene Orgel muß so behandelt werden, daß ihr Umfang erschöpft wird, das heißt: der Spieler und Componist muß alles von ihr fordern, was sie leisten kann. Noch Niemand hat dieß mehr gethan, als J. S. Bach, nicht bloß durch seine reiche, dem Instrumente angemessene Melodie und Harmonie, sondern auch dadurch, daß er dem Pedal seine eigene Stimme gab. Dieß that er schon in seinen frühern Compositionen. Er wurde aber dieser Art von Behandlung des Pedals erst mit der Zeit recht mächtig, so daß seine ganz vollendeten Meisterstücke hierin ebenfalls erst in den Zeitpunct fallen, in welchem seine Clavierarbeiten anfingen, Meisterwerke zu werden. Seiner Vorarbeiten, durch welche er zu diesem Ziel gelangen mußte, sind eine große Menge in der Welt verbreitet. Sobald ein Künstler anfängt, sich auszuzeichnen, will jedermann etwas von ihm besitzen. Ehe er aber seine Laufbahn ganz vollenden kann, ist die Neugierde des Publicum’s gewöhnlich schon gestillt, besonders wenn er sich durch ungewöhnliche Vervollkommnung von den Begriffen desselben allzusehr entfernt. Dieß scheint mit Bach der Fall gewesen zu seyn. Daher kommt es, daß gerade seine vollendetsten Werke weit weniger verbreitet sind, als seine frühern Vorübungen. Da diese letztern auf keine Weise in einer kritischcorrecten Ausgabe seiner Werke aufgenommen werden können, so verzeichne ich auch hier nur diejenigen Werke, welchen eine solche Aufnahme gebührt, so wie ich in den vorhergehenden Artikeln gethan habe.

Die besten Orgelcompositionen Joh. Seb. Bachs theilen sich demnach in drey Classen, in welchen enthalten sind:

1) Große Präludien und Fugen mit obligatem Pedal. Die Anzahl derselben läßt sich nicht genau bestimmen; doch glaube ich, daß sie nicht über ein Dutzend steigen wird. [60] Wenigstens habe ich mit allen meinen vieljährigen Nachforschungen an den besten Quellen ihrer nicht mehr als 12 zusammen bringen können, deren Themata ich hier verzeichnen will. (Fig. 16.) Zu diesen setze ich noch eine sehr kunstreich gearbeitete Passacaglia (Fig. 17.), die aber mehr für zwey Claviere und Pedal als für die Orgel ist.

2) Vorspiele über die Melodien verschiedener Choralgesänge. Schon in Arnstadt fing Bach an, solche Choräle mit Variationen unter dem Titel: Partite diverse auszuarbeiten. Sie konnten aber meistens mit dem bloßen Manual gespielt werden. Diejenigen, von welchen hier die Rede ist, erfordern hingegen nothwendig das obligate Pedal. Ihre Zahl mag wohl an 100 hinansteigen; wenigstens besitze ich selbst ihrer mehr als 70, und weiß, daß hier und dort noch mehrere derselben vorhanden sind. Man kann nichts würdigeres, erhabeneres und heiligeres hören, als diese Vorspiele. Sie können aber hier nicht verzeichnet werden, weil ihrer zu viele sind. Außer diesen größern Vorspielen hat man noch eine große Menge kürzere und leichtere, die ebenfalls bloß in Abschriften verbreitet und für angehende Organisten bestimmt sind.

3) Sechs Sonaten oder Trio für zwey Claviere mit dem obligaten Pedal. Bach hat sie für seinen ältesten Sohn, Wilh. Friedemann, aufgesetzt, welcher sich damit zu dem großen Orgelspieler vorbereiten mußte, der er nachher geworden ist. Man kann von ihrer Schönheit nicht genug sagen. Sie sind in dem reifsten Alter des Verfassers gemacht, und können als das Hauptwerk desselben in dieser Art angesehen werden. Die Themata derselben s. Fig. 18. Mehrere einzelne, die noch hier und da verbreitet sind, können ebenfalls schön genannt werden, ob sie gleich nicht an die erst genannten reichen.

IV. Instrumentalsachen.

Es gibt wenige Instrumente, für welche Bach nicht etwas componirt hat. Zu seiner Zeit wurde in der Kirche während der Communion gewöhnlich ein Concert oder Solo auf irgend einem Instrument gespielt. Solche Stücke setzte er häufig selbst, und richtete sie immer so ein, daß seine Spieler dadurch auf ihren Instrumenten weiter kommen konnten. Diese Stücke sind aber meistens verloren gegangen. Dagegen sind uns [61] zwey Hauptwerke von anderer Art und Bestimmung aufbehalten worden, die den Verlust jener wahrscheinlich reichlich ersetzen können, nemlich:

1) 6 Violinsolo, ohne alle Begleitung, und

2) 6 Violoncellsolo, ebenfalls ohne alle Begleitung.

Die Violinsolos wurden lange Jahre hindurch von den größten Violinisten allgemein für das beste Mittel gehalten, einen Lehrbegierigen seines Instruments völlig mächtig zu machen. Die Violoncell-Solos sind in dieser Rücksicht von gleichem Werth.

V. Sing-Compositionen.

1) Fünf vollständige Jahrgänge von Kirchenstücken auf alle Sonn- und Festtage.

2) Fünf Passionsmusiken, unter welchen eine zweychörige ist.

3) Viele Oratorien, Missen, Magnificat, einzelne Sanctus, Geburts- Namenstags- und Trauermusiken, Brautmessen, Abendmusiken, auch einige italiänische Cantaten.

4) Viele ein- und zweychörige Motetten.

Die meisten dieser Werke sind aber nun zerstreut. Die Jahrgänge wurden nach des Verfassers Tode unter die ältern Söhne vertheilt, und zwar so, daß Wilh. Friedemann das meiste davon bekam, weil er in seiner damahligen Stelle zu Halle den meisten Gebrauch davon machen konnte. Seine nachherigen Umstände nöthigten ihn, das, was er erhalten hatte, nach und nach zu veräußern. Von den übrigen größern Singwerken ist ebenfalls nichts mehr beysammen. Bloß von den doppelchörigen Motetten sind noch 8 bis 10 vorhanden; aber ebenfalls nicht in einer, sondern in mehrern Händen. In dem an das Joachimsthalische Gymnasium zu Berlin vermachten musikalischen Nachlaß der Prinzessin Amalia von Preussen, befindet sich von Bachischen Singcompositionen vielleicht noch am meisten beysammen, obgleich ebenfalls nicht viel. Ich habe daselbst gefunden:

1) 21 Kirchen-Cantaten. In einer derselben über den Text: Schlage doch, gewünschte Stunde etc. hat der Componist obligate Glocken angebracht. Es läßt sich hieraus [62] schließen, daß wenigstens diese Cantate nicht in die Zeit seines gereinigten Geschmacks gehört.

2) 2 fünfstimmige Missen. Mit starker Instrumentalbegleitung.

3) Eine zweychörige Misse. Der erste Chor ist mit Saiten- und der zweyte mit Blase-Instrumenten begleitet.

4) Eine zweychörige Passion. Der Text ist von Picander.

5) Ein Sanctus mit 4 Stimmen, und Instrumentalbegleitung.

6) Eine 4stimmige Motette: Aus tiefer Noth schrey ich zu dir etc.

7) Eine 5stimmige Motette: Jesu, meine Freude etc.

8) Vier 8stimmige oder 2chörige Motetten, a) Fürchte dich nicht, ich bin bey dir etc. b) Der Geist hilft unserer Schwachheit auf etc. c) Komm, Jesu, komm etc. d) Singet dem Herrn ein neues Lied etc.

9) Eine einzelne Fuge für 4 Stimmen: Nimm was dein ist, und gehe hin etc.

10) Eine Cantate mit Recitativen, Arien, einem Duett und einem Chor. Ist eine Bauern-Cantate.

Dieser letztgenannten Cantate ist eine Nachricht, und der zweychörigen Misse unter Num. 3. eine Erklärung der in ihr enthaltenen großen Kunst von Kirnbergers Hand beygefügt.


[62]
X.

Es ist schon mehrere Mahle der großen Sorgfalt gedacht worden, mit welcher Bach sein ganzes Leben hindurch an seinen Werken zu verbessern suchte. Ich habe Gelegenheit gehabt, viele Abschriften seiner Hauptwerke aus verschiedenen Jahren mit einander zu vergleichen, und ich muß gestehen, daß ich mich oft über die Mittel gewundert und gefreut habe, deren er sich bediente, um nach und nach das Fehlerhafte gut, das Gute besser und das Bessere zum Allerbesten zu machen. Nichts kann für einen Kenner, so wie für jeden eifrigen Kunstbeflissenen, lehrreicher seyn, als solche Vergleichungen. Es wäre daher sehr zu wünschen, daß der Ausgabe der sämmtlichen Bachischen Werke am Ende ein Heft beygefügt werden könnte, bloß um darin die wichtigsten und lehrreichsten Varianten [63] aus seinen besten Werken zu sammeln, und zur Vergleichung neben einander zu stellen. Warum sollte so etwas bey den Werken des Componisten, des Dichters in Tönen nicht eben so gut geschehen können, als bey den Werken des Dichters in Worten?

In seinen frühern Arbeiten war Bach wie andere Anfänger sehr oft in dem Fall, einerley Gedanken mehrere Mahle, nur mit andern Worten zu wiederhohlen, das heißt: dieselbe Modulation wurde vielleicht in einer tiefern, vielleicht in eben derselben Octave, oder auch mit einer andern melodischen Figur wiederhohlt. Eine solche Armuth konnte er in reifern Jahren nicht ertragen; was er also von dieser Art fand, wurde ohne Bedenken verworfen, das Stück mochte auch schon in so vielen Händen seyn, oder so vielen gefallen haben, als es wollte. Zwey der merkwürdigsten Beyspiele hiervon sind die beyden Präludien aus C dur und Cis dur im ersten Theil des wohltemp. Claviers. Beyde sind dadurch zwar um die Hälfte kürzer, aber auch zugleich von allem unnützen Ueberfluß befreyt worden.

In andern Stücken sagte Bach oft zu wenig. Sein Gedanke war also nicht vollständig ausgedrückt, und bedurfte noch einiger Zusätze. Hiervon ist mir als das merkwürdigste Beyspiel unter allen das Präludium in D moll aus dem 2ten Theil des wohlt. Claviers vorgekommen. Ich besitze vielerley verschiedene Abschriften dieses Stücks. In der ältesten fehlt die erste Versetzung des Thema in den Baß, so wie noch manche andere Stelle, die zur vollständigen Darstellung des Gedankens erforderlich war. In der zweyten ist die Versetzung das Thema in den Baß, so oft es in verwandten Tonarten vorkommt, eingeschaltet. In der dritten sind auch andere Sätze vollständiger ausgedrückt und in bessern Zusammenhang gebracht worden. Endlich waren noch einige Wendungen oder Figuren der Melodie übrig, die dem Geist und Styl des Ganzen nicht anzugehören schienen. Diese sind in der vierten Abschrift so gebessert, daß nun dieses Präludium zu einem der schönsten und tadellosesten im ganzen wohlt. Clavier geworden ist. Mancher hatte sein Wohlgefallen schon an der ersten Einrichtung desselben, und hielt die nachherige Umschaffung für weniger schön. Bach ließ sich aber dadurch nicht irre machen; er besserte so lange daran, bis es ihm gefiel.

Im Anfang des verflossenen Jahrhunderts war es Mode, auf Instrumenten einzelne Töne so mit Laufwerk zu überhäufen, wie man seit einiger Zeit wieder anfängt, es [64] im Gesange zu thun. Bach bewies der Mode seine Achtung dadurch, daß er ebenfalls einige Stücke in dieser Art componirte. Eines derselben ist das Präludium in E moll aus dem ersten Theil des wohltemp. Claviers. Er kehrte aber bald zur Natur und zum reinen Geschmack zurück, und änderte es so um, wie es nun gestochen ist.

Jedes Jahrzehend hat einige Formen von melodischen Wendungen, die demselben eigen sind, die aber gewöhnlich schon mit dem Ablauf desselben veralten. Ein Componist, der seine Werke auf die Nachwelt zu bringen gedenkt, muß sich vor ihnen hüten. Bach scheiterte in seinen frühern Jahren ebenfalls an dieser Klippe. Seine ersten Orgelcompositionen, und seine zweystimmigen Inventionen nach ihrer ersten Gestalt sind voll von Floskeln seines Zeitgeschmacks. Die Orgelsachen sind geblieben, wie sie einmahl waren; aber die Inventionen haben große Verbesserungen erhalten. Das Publicum wird bald Gelegenheit haben, sie in ihrer ältern und neuern Gestalt mit einander zu vergleichen, da die Verlagshandlung den rühmlichen Entschluß gefaßt hat, die erste Ausgabe derselben zu unterdrücken, und den Interessenten eine verbesserte dafür zu liefern.

Die bisher angegebenen Verbesserungsmittel erstrecken sich jedoch nur auf äußere Form, und auf das zu viel und zu wenig in der Darstellung eines Gedankens im Großen. Aber Bach bediente sich noch weit häufiger feinerer Mittel zur Vervollkommnung seiner Werke, die man kaum beschreiben kann. Einheit des Styls und Charakters wird oft in einzelnen Stellen durch Umänderung einer einzigen Note erhalten, gegen welche in ihrer vorigen Lage auch der strengste musikalische Grammatiker nichts erinnern konnte, die aber dennoch den Kenner immer noch etwas anderes wünschen ließ. Auch gemeine Sätze werden oft durch Veränderung, Wegnehmen oder Hinzusetzen einer einzigen Note in die edelsten umgeschaffen. Hier kann nur das geübteste Gefühl und der feinste, gebildetste Geschmack entscheiden. Dieses feine Gefühl und diesen gebildeten Geschmack besaß Bach in der höchsten Vollkommenheit. Er hatte beydes nach und nach so geübt, daß ihm zuletzt gar kein Gedanke mehr kommen konnte, der nicht sogleich nach allen seinen Eigenschaften und Beziehungen dem Ganzen so angehörte, wie er sollte und mußte. Seine spätern Werke sind daher sämmtlich wie in einem Guß gegossen, so weich, sanft und eben strömt der ungeheure Reichthum der verschiedensten in einander verschmolzenen Gedanken darin fort [65] fort. Dieß ist die hohe Stufe von Kunst-Vollendung, die in der innigsten Vereinigung der Melodie und Harmonie noch Niemand als Joh. Seb. Bach erreicht hat.


[65]
XI.

Wenn ein Künstler Werke in großer Anzahl geliefert hat, die sämmtlich von der verschiedensten Art sind, die sich von den Werken aller andern Componisten jedes Zeitalters unterscheiden und den höchsten Reichthum der originellesten Gedanken, so wie den lebendigsten, jeden, er sey Kenner oder Nichtkenner, ansprechenden Geist mit einander gemein haben, so ist es wohl keine Frage mehr, ob ein solcher Künstler wirklich ein wahres großes Kunst-Genie gewesen sey, oder nicht. Die fruchtbarste Einbildungskraft, der unerschöpflichste Erfindungsgeist, die feinste und schärfste Beurtheilung in der für jeden Zweck schicklichen Anwendung des aus der Einbildungskraft strömenden Gedankenreichthums, der gebildetste Geschmack, der auch nicht einen einzigen willkührlichen, oder nur dem Geist des Ganzen nicht genug angehörigen Ton ertragen kann, die größte Gewandtheit im zweckmäßigen Gebrauch der feinsten und scharfsinnigsten Kunstmittel, und endlich der höchste Grad von Geschicklichkeit in der Ausführung, lauter Eigenschaften, bey welchen nicht nur eine, sondern alle Kräfte der Seele in ihrer innigsten Vereinigung wirksam seyn müssen; dieß müssen Merkmahle eines wahren Genies seyn, oder es gibt keine, und wenn Jemand diese Merkmahle in den Bachischen Werken nicht finden kann, so kennt er sie entweder nicht, oder nicht genug. Wer sie nicht kennt, kann unmöglich weder über sie, noch über das Genie ihres Urhebers eine Stimme haben, und wer sie nicht genug kennt, der beherzige, daß Kunstwerke, je größer und vollendeter sie sind, desto anhaltenders Studium erfordern, wenn aller Werth erkannt werden soll, der in ihnen liegt. Jener Schmetterlingsgeist, der unaufhörlich von Blume zu Blume flattert, ohne auf irgend einer zu verweilen, kann hier nichts ausrichten.

Aber mit allen den schönen und großen Anlagen, welche Bach von der Natur erhielt, würde er doch der vollendete Künstler nicht geworden seyn, wenn er nicht frühe manche Klippen vermeiden gelernt hätte, woran so viele vielleicht eben so reichlich mit [66] Genie begabte Künstler zu scheitern pflegen. Ich will hierüber dem Leser noch einige zerstreute Bemerkungen mittheilen, und sodann mit einigen zur Charakteristik des Bachischen Genies gehörigen Zügen diesen Aufsatz beschließen.

Das größte Genie, mit dem unwiderstehlichsten Trieb zu einer Kunst, ist seiner ursprünglichen Natur nach nie mehr als Anlage, oder ein fruchtbarer Boden, auf welchem eine Kunst nur dann recht gedeihen kann, wenn er mit unermüdeter Sorgfalt bearbeitet wird. Fleiß, von dem eigentlich erst alle Kunst und Wissenschaft herkommt, ist hierzu eine der ersten und unerläßlichsten Bedingungen. Durch ihn wird das Genie nicht nur der mechanischen Kunstmittel mächtig, sondern er reitzt auch nach und nach die Urtheilskraft und das Nachdenken auf, an allem, was es hervorbringt, Theil zu nehmen. Allein, die Leichtigkeit, mit welcher das Genie sich mancher Kunstmittel zu bemächtigen weiß, und das eigene so wohl als das Wohlgefallen Anderer an den ersten Kunstversuchen, die gewöhnlich viel zu frühe für wohlgerathen gehalten werden, verleitet es sehr häufig, über die ersten Grundsätze der Kunst wegzuspringen, Schwierigkeiten zu wagen, ehe das Leichtere völlig gefaßt ist, oder zu fliegen, ehe ihm die Flügel genug gewachsen sind. Wenn nun ein solches Genie in dieser Periode entweder durch guten Rath und Unterricht, oder durch aufmerksames Studium schon vorhandener classischer Kunstwerke nicht wieder zurück geführt wird, um das, was übersprungen worden ist, nachzuholen, so wird es seine besten Kräfte unnütz verschwenden, und sich nie zu einer würdigen Kunststufe empor schwingen können. Denn es bleibt ausgemacht, daß man nie große Fortschritte machen, nie die höchstmögliche Vollkommenheit erreichen kann, wenn man die ersten Grundsätze vernachlässigt: daß man nie Schwierigkeiten überwinden lernt, wenn man das Leichtere nicht überwunden hat, und daß man endlich nie durch eigene Erfahrungen groß werden wird, wenn man nicht vorher die Kenntnisse und Erfahrungen Anderer benutzt hat.

An solchen Klippen scheiterte Bach nicht. Sein feuriges Genie hatte einen eben so feurigen Fleiß zur Folge, der ihn unaufhörlich antrieb, da, wo er mit eigenen Kräften noch nicht durch zu kommen wußte, Hülfe bey den zu seiner Zeit vorhandenen Mustern zu suchen. Anfänglich leisteten ihm die Vivaldischen Violinconcerte diese Hülfe, nachher wurden die Werke der damahligen besten Clavier- und Orgelcomponisten seine Rathgeber. [67] Nichts ist aber fähiger das Nachdenken eines angehenden Componisten zu erwecken, als die contrapunctischen Künste. Da nun die Componisten der letztgenannten Werke sämmtlich starke Fugisten nach ihrer Art waren, die die contrapunctischen Künste wenigstens mechanisch in ihrer Gewalt hatten, so schärfte das fleißige Studium und Nachahmen derselben seinen Verstand, seine Urtheilskraft und sein Nachdenken nach und nach so, daß er bald bemerkte, wo er Lücken gelassen und etwas nachzuholen hatte, um sodann in seiner Kunst mit Sicherheit desto größere Fortschritte machen zu können.

Eine zweyte Klippe, woran manches schöne, noch nicht genug ausgebildete Genie scheitert, ist öffentlicher Beyfall. Wenn wir diesen öffentlichen Beyfall auch nicht so tief herunter setzen wollen, wie jener Grieche, der zu seinem Schüler, welcher im Theater mit Beyfall gespielt hatte, sagte: Du hast schlecht gespielt: denn sonst würde dich das Publicum nicht beklatscht haben; so ist doch nicht zu läugnen, daß die meisten Künstler durch ihn auf Irrwege geführt werden, besonders wenn er ihnen zu frühe, das heißt: ehe sie gehörige Ueberlegung und Selbstkenntniß erlangt haben, zu Theil wird. Das Publicum will alles menschlich haben, und der wahre Künstler soll doch eigentlich alles göttlich machen. Wie sollte also Beyfall der Menge und wahre Kunst neben einander bestehen können? Diesen Beyfall der Menge suchte Bach nie. Er dachte wie Schiller:

Kannst du nicht allen gefallen durch deine That und dein Kunstwerk.
Mach’ es wenigen recht, vielen gefallen ist schlimm.

Er arbeitete für sich, wie jedes wahre Kunstgenie; er erfüllte seinen eigenen Wunsch, befriedigte seinen eigenen Geschmack, wählte seine Gegenstände nach seiner eigenen Meynung, und war endlich auch mit seinem eigenen Beyfall am zufriedensten. Der Beyfall der Kenner konnte ihm sodann nicht entgehen, und ist ihm nie entgangen. Wie könnte auch auf andere Art ein wahres Kunstwerk zu Stande gebracht werden? Derjenige Künstler, welcher sich bey seinen Arbeiten darauf einläßt, sie so einzurichten, wie es diese oder jene Classe von Liebhabern wünscht, hat entweder kein Kunstgenie, oder er mißbraucht es. Sich nach dem herrschenden Geschmack der Menge zu richten, erfordert höchstens einige Gewandtheit in einer sehr einseitigen Behandlungsart der Töne. Künstler dieser Art sind dem Handwerksmanne zu vergleichen, der seine Arbeiten ebenfalls [68] so einrichten muß, daß seine Kunden sie gebrauchen können. Bach ließ sich nie auf solche Bedingungen ein. Er meynte, der Künstler könne wohl das Publicum, aber das Publicum nicht den Künstler bilden. Wenn er von jemand um ein recht leichtes Clavierstück gebeten wurde, welches oft geschah, pflegte er zu sagen: ich will sehen, was ich kann. Er wählte in solchen Fällen gewöhnlich ein leichtes Thema, fand aber bey der Bearbeitung immer so viel gründliches darüber zu sagen, daß das Stück dennoch nicht leicht werden konnte. Wenn nun hernach geklagt wurde, daß es doch zu schwer sey, lächelte er und sagte: Ueben Sie es nur recht fleißig, so wird es schon gehen; Sie haben ja fünf eben so gesunde Finger an jeder Hand wie ich War dieß Eigensinn? Nein, es war wahrer Kunstgeist.

Dieser wahre Kunstgeist ist es eben, der ihn zum Großen und Erhabenen, als dem höchsten Ziel der Kunst führte. Ihm haben wir es zu verdanken, daß Bachs Werke nicht bloß gefallen und ergötzen, wie das bloß Schöne und Angenehme in der Kunst, sondern daß sie uns unwiderstehlich mit sich fortreißen: daß sie uns nicht bloß einen Augenblick überraschen, sondern in ihren Wirkungen immer stärker werden, je öfter wir sie hören, und je näher wir sie kennen lernen; daß der in ihnen aufgehäufte ungeheuere Gedankenreichthum auch nach tausendmahliger Betrachtung uns noch immer etwas Neues übrig läßt, das unsere Bewunderung und oft unser Staunen erregt; daß endlich selbst der Nichtkenner, der nichts weiter als das musikalische Alphabet kennt, sich kaum der Bewunderung erwehren kann, wenn sie ihm gut vorgetragen werden, und wenn er ihnen Ohr und Herz ohne Vorurtheil öffnet.

Noch mehr. Diesem wahren Kunstgeist muß es verdankt werden, daß Bach mit seinem großen und erhabenen Kunststyl auch die feinste Zierlichkeit und höchste Genauigkeit der einzelnen Theile, woraus die große Masse zusammen gesetzt ist, verband, die man sonst hier nicht für so nothwendig hält, als in Werken, bey welchen es bloß auf Schönheit abgesehen ist; daß er glaubte, das große Ganze könne nicht vollkommen werden, wenn den einzelnen Theilen desselben irgend etwas an der höchsten Genauigkeit fehle: und daß endlich, wenn er, ungeachtet der Hauptrichtung seines Genies zum Großen und Erhabenen, dennoch bisweilen munter und sogar scherzend setzte und spielte, seine Fröhlichkeit und sein Scherz die Fröhlichkeit und der Scherz eines Weisen war.

[69] Nur durch diese Vereinigung des größten Genies mit dem unermüdetsten Studium vermochte Joh. Seb. Bach das Gebiet der Kunst überall, wohin er sich wandte, so ansehnlich zu erweitern, daß seine Nachkommen nicht einmahl im Stande waren, dieses erweiterte Gebiet in seiner ganzen Ausdehnung zu behaupten; nur dadurch konnte er so zahlreiche und so vollendete Kunstwerke hervorbringen, die sämmtlich wahre Ideale und unvergängliche Muster der Kunst sind und ewig bleiben werden.

Und dieser Mann – der größte musikalische Dichter und der größte musikalische Declamator, den es je gegeben hat, und den es wahrscheinlich je geben wird – war ein Deutscher. Sey stolz auf ihn, Vaterland; sey auf ihn stolz, aber, sey auch seiner werth!


[70] [Notenanhang: Tabelle 1 (Fig. 1–15)]

[71] [Notenanhang: Tabelle 2 (Fig. 16–18)]

fine


Fußnoten

  1. Die Pianoforte’s des Freyberger Silbermann gefielen dem König so sehr, daß er sich vornahm, sie alle aufkaufen zu lassen. Er brachte ihrer 15 zusammen. Jetzt sollen sie alle als unbrauchbar in verschiedenen Winkeln des Königl. Schlosses umher stehen.
  2. S. Kirnbergers Kunst des reinen Satzes, S. 157.
  3. Viele halten dafür, die beste Melodie sey diejenige, welche sogleich von Jedermann gefaßt nachgesungen werden könne. Als Grundsatz kann diese Meynung gewiß nicht gelten. Denn sonst müßten die Volksmelodien, die häufig von Süden bis Norden von allen Menschenclassen bis zu Knechten und Mägden herunter gesungen werden, die schönsten und besten Melodien seyn. Ich würde den Satz umkehren, und sagen: diejenige Melodie, die von Jedermann sogleich nachgesungen werden kann, ist von der gemeinsten Art. So könnte er vielleicht eher als Grundsatz gelten.
  4. Es gibt Personen, die der Meynung sind, Bach habe nur die Harmonie vervollkommnet. Wenn man aber den richtigen Begriff von Harmonie hat, nach welchem sie ein Erweiterungs- oder Vermehrungsmittel der Kunstausdrücke ist, so kann sie nie ohne Melodie gedacht werden. Wenn sie nun gar so wie die Bachische eine vervielfältigte Melodie ist, so sehe ich nicht ein, wie man obiger Meynung seyn kann. Nach meinen Begriffen könnte man weit eher sagen, dieser oder jener habe nur die Melodie vervollkommnet, weil sogar schöne Melodie ohne Harmonie, aber keine schöne und wahre Harmonie ohne Melodie bestehen kann. Wer demnach die Harmonie vervollkommnet hat, hat das Ganze vervollkommnet, der Melodist aber nur einen Theil des Ganzen.
  5. Es ist hier bloß die Rede von solchen Schülern, welche die Kunst zu ihrer Hauptbeschäftigung gemacht haben. Außer diesen hat Bach noch gar viele andere Schüler gehabt. Jeder in seiner Nähe lebende Dilettant wollte sich wenigstens rühmen können, den Unterricht eines so großen und berühmten Mannes genossen zu haben. Viele gaben sich auch für dessen Schüler aus, ohne es je gewesen zu seyn.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: unerschöflichsten
  2. Johann Joachim Quantz
  3. Vorlage: Burtehudens
  4. Vorlage: ubrigen