Zum Inhalt springen

Tragödien und Komödien des Aberglaubens/Der Teufel im Backobst

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Karl Hecker
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Der Teufel im Backobst. – Gleiche Ursache, verschiedene Wirkung
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 16, S. 492–495
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[492]

Tragödien und Komödien des Aberglaubens.

Der Teufel im Backobst. – Gleiche Ursache, verschiedene Wirkungen.

Daß der Böse sich zur Versuchung des Menschengeschlechts mit Vorliebe frischer Obstsorten bedient, ist eine schon durch den ersten Sündenfall hinlänglich beglaubigte Thatsache. Wie vorsichtig man aber selbst im Genuß von gedörrtem Obste sein muß, von sogenannten „Hutzeln“, denen das beliebte Hutzelbrot, freilich aber auch das schon stark ins Dämonische hineinreichende Volk der Hutzelmännchen seinen Namen verdankt, das lehrt das Beispiel eines Knaben, dem auf diesem Wege nicht weniger als zehn Teufel in den Leib praktiziert wurden und zwar durch eine bis dahin unbescholtene Frau, welche dem Jungen aus reiner Gutmüthigkeit eine Handvoll Hutzeln geschenkt hatte, von den bösen Teufeln selbst aber später als Hexe denunziert wurde. Man denke sich die Vorstellung, die sich im Volksmund an die Redensart knüpft, daß einer oder eine den Teufel im Leibe habe, ins Zehnfache gesteigert, um sich ein Bild von dem Zustand des armen Kindes zu machen. Alle Gesetze der Natur und der christlichen Moral schienen wie mit einem Schlage in ihr Gegentheil verkehrt; der Knabe züchtigte seine Eltern aufs grausamste und vergriff sich in schnöder Wuth an allem, was guten Kindern sonst heilig ist.

Ein glücklicher Zufall aber wollte es, daß sich in der Nähe des Orts, wo sich dieser schreckliche Fall zutrug, ein Kapuzinerkloster und in diesem ein streitbarer Mönch, Namens Pater Aurelian, befand, welcher mit Zustimmung seiner geistlichen Oberbehörde den Kampf mit den zehn Teufeln muthig aufnahm und ihnen in viermal wiederholtem Anlauf mit Stola und Rauchfaß und der heiligen Kreuzpartikel so heiß zusetzte, daß sie, wenn auch widerwillig und ohne die verlangte Angabe ihrer Personalakten, stöhnend und seufzend in die Hölle zurückfuhren. Allein erst nachdem sich der vorsichtige Exorcist durch die wiederholte Frage. „Seid Ihr auch glücklich dort angekommen?“ – worauf ihm ein schauerlich de- und wehmüthiges, schon durch die Klangfarbe den unterirdischen Ort seiner Herkunft verrathendes „Danke, ja“ entgegenschallte – von dem Ausschluß jeder möglichen Täuschung überzeugt hatte, löste er die Bande des an Händen und Füßen gefesselten Knaben, und zu dem Tedeum, mit welchem die gläubige Gemeinde nunmehr diesen Sieg feierte, fehlte als charakteristische Begleitung eben nur noch das Knistern des Holzstoßes, auf dem man die freundliche Hutzelspenderin verbrannt hätte. Daß dies unterblieb, ist sicherlich nicht die Schuld des wackeren Pater Aurelian, nach dessen urkundlichem Bericht die „Kölnische Zeitung“ den nicht etwa im dunklen Mittelalter, sondern im Jahre 1891 zu Wemding im Königreich Bayern spielenden Vorgang der erstaunten Mitwelt so ausführlich geschildert hat, daß wir uns hier mit diesem gedrängten Auszug begnügen können.

Kurz zuvor hatte sich die Strafkammer des Landgerichts Saargemünd mit einem ganz entgegensetzten Falle des Aberglaubens zu beschäftigen gehabt, in dem nicht die Dämonen, sondern die Heiligen selbst die Hauptrolle spielten und der trotzdem zu einer Anklage wegen Betrugs führte. Die solchen Vergehens Angeklagte war die Tochter einfacher Bauersleute, Katharine Filljung, in dem Dorfe Büdingen geboren. Von Jugend auf kränklich und – nach ihrer Angabe – durch eine wunderbare Erscheinung der Mutter Gottes, welche sie in der katholischen Kirche zu Saargemünd hatte, geheilt, war es ihr auf Grund dieser [494] Vision sowie anderer an ihrer Person zu Tage tretender, auf eine göttliche Mission hinweisender Erscheinungen gelungen, ihren gläubigen Mitmenschen, die hier bezeichnenderweise sämmtlich dem weiblichen Geschlecht angehörten, in nur sechsjähriger Wunderthätigkeit die Kleinigkeit von etwa 150 000 Mark zu entlocken. Sie verwendete dieselben größtentheils zum Baue eines prachtvollen Waisenhauses in Büdingen, der ihr, wie sie behauptete, von der Mutter Gottes aufgetragen war. Wir wollen auch diesen Fall, der trotz der entschieden ablehnenden Haltung, welche die Geistlichkeit zu den angeblichen Wundern der Beklagten einnahm, trotz der zum Theile nachgewiesenen offenkundigen Täuschungen, deren sich die Filljung bediente, mit einer Freisprechung endete, nur flüchtig berühren und uns die nähere Schilderung der vermeintlichen Wunder für einen ähnlichen zweiten Fall aufsparen. Zuvor aber sei hier auf die gemeinsame pathologische Ursache dieser und ähnlicher Erscheinungen hingewiesen.

„Hysterie“ nennt der Arzt jene geheimnißvolle, in ihren letzten Gründen noch keineswegs aufgeklärte Erkrankung des Nervensystems, welche, in den Entwicklungsstadien des weiblichen und, obwohl seltener, auch des männlichen Geschlechts auftretend, in ihrer proteusartigen Vielgestaltigkeit dem Wunderglauben der ältesten wie der neuesten Zeit die brauchbarsten Medien geliefert hat. Hysterie war es, was nach dem Gutachten des leider nur flüchtig gehörten Arztes die krampfartigen Wuthausbrüche jenes Knaben von Wemding veranlaßt hatte; auf Hysterie lautete auch das Gutachten der Gerichtsärzte, dem die Heilige von Büdingen ihre Freisprechung verdankte, insofern diese Krankheit die bewußte selbstsüchtige Absicht eines Betrugs, so sehr auch der Thatbestand dafür sprechen mochte, nach Ansicht der Richter aufhob. Denn es ist eine Eigenthümlichkeit dieses Leidens, daß mit einem aufs höchste gesteigerten Nervenleben bei dem Kranken ein unwiderstehlicher Trieb, Aufsehen zu erregen, sich verbindet, der, sei es durch äußere Beeinflussung oder auch durch die selbstthätige Erweckung von Vorstellungen (Autosuggestion), leicht jenen Grad erreichen kann, wo die Unterscheidung von Wahr und Falsch, Gut und Böse wenn nicht völlig aufhört, so doch wesentlich getrübt und selbst das körperliche Schmerzgefühl in einer Weise abgestumpft ist, die wohl manchem wunderbar scheinen mag.

Dieselbe Krankheit, die je nach der Richtung, in der sich die Vorstellungen des Kranken bewegen, dem Teufelsglauben so wirksamen Vorschub leistet, daß es bis zum feierlichen Exorcismus kommt, kann im anderen Falle für abergläubische Gemüther zur Quelle andächtiger, fast göttlicher Verehrung werden, die namentlich eintritt, wenn die Krankheitserscheinung sich bis zur Stigmatisation steigert, d. h. äußerlich jene Wundenmale aufweist oder doch aufzuweisen scheint, welche der gekreuzigte Christus trägt.

Der Fall, den wir hier im Auge haben, hat sich in dem württembergischen Oberamt Leutkirch zugetragen und im vorigen Jahre gleichfalls zu einer gerichtlichen Voruntersuchung geführt, welche, gegen die Eltern der Kranken gerichtet, wieder eingestellt werden mußte, da sich auch hier die Beweise eines in selbstsüchtiger Weise verübten Betrugs nicht unbedingt feststellen ließen.

In folgendem schildern wir den Vorgang, wie er sich nach den Berichten der vernommenen Augenzeugen, die fast durchweg an das Wunder glaubten, sowie der vom Gericht bestellten Kommission ziemlich übereinstimmend darstellt.

Schon vor mehreren Jahren hatte sich in dem Dorfe Aichstetten die Kunde verbreitet, daß bei der damals fünfzehnjährigen, seit längerer Zeit kränklichen Tochter Anna der Bäcker Henleschen Eheleute Erscheinungen zu Tage träten, welche auf natürlichem Wege nicht zu erklären, vielmehr als Ausfluß besonderer göttlicher Gnade zu betrachten seien; und dieser Gnade konnten auch Dritte durch Besuch und Unterstützung der Kranken theilhaftig werden. Dieses Gerücht, von den Eltern der Kranken genährt und in immer weitere Kreise sich verbreitend, lockte bald eine stets wachsende Zahl von Besuchern nicht nur aus dem Dorfe selbst, sondern auch aus dessen weiterer Umgebung, so namentlich aus den Orten der angrenzenden bayerischen Bezirke, in das wunderwirkende Krankenzimmer. Dieses verwandelte sich mit Hilfe der zwar nie ausdrücklich verlangten, aber stets gern angenommenen Geldspenden, wie sie übrigens bei Krankenbesuchen in dieser Gegend Brauch sind, rasch in ein kleines, mit allen Erfordernissen des römisch-katholischen Kultus hübsch ausgestattetes Tempelchen. Obwohl nun das bischöfliche Ordinariat frühzeitig gegen solchen Mißbrauch einschritt, auf Grund ärztlicher Gutachten die Beobachtung der Kranken in einer von geistlichen Schwestern geleiteten Anstalt verlangte, im Falle des Ungehorsams mit Entziehung der Sakramente drohte und die Gläubigen in jeder Weise vor dem Besuch des Hauses warnen ließ, so hatte dies alles doch nicht den gewünschten Erfolg, und insbesondere weigerte sich die Mutter aufs bestimmteste, ihre Tochter in auswärtige Behandlung zu geben.

Mündliche Berichte und photographische Darstellungen trugen das Wunder immer weiter, und bald stellte sich das Bedürfniß heraus, den mit der Bahn eintretenden Wallfahrern einen besonderen, die lange Dorfstraße abkürzenden Weg durch die hinter dem Hause liegende Wiese zu bahnen, der denn auch sehr rasch die Spuren eifrigster Benutzung aufwies. Je mehr aber die Schar der Pilger wuchs, desto mehr vervollkommneten sich die wunderbaren Erscheinungen am Körper und im Seelenleben der Kranken, bis sie sich aus erst nur schwachen und zusammenhangslosen Anfängen zu einem mit planmäßiger Pünktlichkeit sich abspielenden System entwickelt hatten, das, was die treue Nachahmung der biblischen Leidensgeschichte betrifft, selbst die Vorbilder einer Katharina Emmerich und Louise Lateau, mit deren Schriften sich die Kranke nachweislich eingehend beschäftigt hatte, weit hinter sich ließ. In diesem Stadium, mit dem übrigens, nach den Angaben der Mutter und der Stigmatisierten selbst, den Wundern keineswegs eine Grenze gesetzt sein sollte, mischte sich das Gericht in die Angelegenheit, indem es, ohne daß die Betheiligten eine Ahnung davon hatten, einen Augenschein vornehmen ließ. Es geschah dies an einem Freitag, an welchem Tage sich die Leidenserscheinungen regelmäßig einstellten, und zwar des Morgens kurz nach neun Uhr.

Um diese Zeit sitzt die Kranke aufrecht im Bette, mit einer Wollendecke bis unter die Brust zugedeckt, in ein weißes Hemd gekleidet, um die Stirn eine weiße Binde, unter der das Haar aufgelöst herabfließt, um den Leib eine ebensolche Binde, dem priesterlichen cingulum ähnlich, in einem Aufzug, der ihre Doppeleigenschaft als Opfer und als Priesterin deutlich kennzeichnet. Auch die Hände und Füße sind mit leinenen Binden umwickelt. Sie befindet sich jetzt angeblich in jenem Leidenszustand, welcher der Kreuzigung Christi unmittelbar vorherging. Der Körper wird von Krämpfen geschüttelt, die dunklen Augen sind starr ins Leere gerichtet, bald geöffnet, bald geschlossen. Sie schlägt sich wiederholt mit der Faust stark auf die Brust, dann kreuzt sie die Hände über derselben, verneigt sich, streckt die wieder gefalteten Hände in die Luft, den Kopf mit einem Ausdruck der Verzückung nach oben gerichtet. Um halb zwölf Uhr läuft aus dem krampfhaft geöffneten Mund eine Flüssigkeit, die von den Gläubigen als Himmelswasser bezeichnet und sorgfältig gesammelt wird.

Punkt zwölf Uhr, genau nach der Bahnuhr, hören plötzlich die Krämpfe auf. Die bisher scheinbar bewußtlose Kranke fängt an, mit geschlossenen Augen Gebete zu sprechen, dazwischen mischen sich Reden in einer fremden, den Anwesenden unverständlichen Sprache. Dann legt sie sich platt auf den Rücken, die sogenannte Kreuzigung beginnt, indem erst der rechte und sodann der linke Arm mit auswärts gekehrten Handflächen und leicht gekrümmten Ellbogen sich seitwärts und nach oben streckt, als ob sie einer angewendeten Gewalt wichen, worauf man im Innern der Bettstatt deutlich drei Hammerschläge hört, ein Geräusch, das sich nach einiger Zeit bei den gekreuzten Füßen wiederholt. Es fehlt natürlich nicht an gläubigen Zeugen, welche die von der Binde bedeckten, dem profanen Auge unsichtbaren Wundenmale wirklich gesehen haben wollen, eine Gnade, der die Gerichtskommission leider nicht gewürdigt wurde, wie ihr auch das Geräusch der Hammerschläge, wenigstens dasjenige bei den Händen der Kranken, verborgen blieb. Wieder wird der Körper und der Kopf der Stigmatisierten, während die Hände und Füße ruhig bleiben, von Krämpfen geschüttelt. Um ein Uhr vierzig Minuten – immer genau nach der Bahnuhr – spricht sie das biblische „Mich dürstet“ und schluckt einigemal sehr stark, worauf sich aus dem Munde wieder eine klebrige Flüssigkeit absondert, die nach Ansicht der Gläubigen die frühere an Wunderkraft noch übertrifft und ebenfalls sorgsam gesammelt wird.

Nun sinkt die Kranke in eine tiefe Ermattung, die in Anwesenheit der Gerichtskommission nur einmal durch ein sehr realistisches, völlig normales Gähnen unterbrochen wurde, bis sie um drei Uhr die Worte: „Eli, Eli lama asabthani“ und: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist“ ausspricht, worauf sie mit geschlossenen Augen und offenem Munde, aber stark [495] athmender Brust bis kurz nach drei Uhr im regungslosen Schlummer zu liegen scheint. Um diese Zeit läßt sich am Fußende des Bettes wieder jenes Klopfen vernehmen; es deutet diesmal das Ausziehen der Nägel an und wiederholt sich seltsamerweise nicht auch an den Händen. Nun bringt die Kranke Arme und Beine wieder in die normale Lage, bewegt den Kopf mehrmals nach rechts und links, womit das Einhüllen in das Leichentuch gemeint ist, und liegt dann wieder ganz ruhig. Um drei Uhr zwanzig Minuten öffnet sie die Augen, setzt sich aufrecht, murmelt etwas vor sich hin, verneigt sich dreimal nach allen Seiten und spricht mit verzücktem Blicke, theilweise wieder in der fremden unverständlichen Sprache, ein Dankgebet für das überstandene Leiden.

Nun folgt die sogenannte Verehrung der Hostie, welche der Kranken angeblich durch den Erlöser selbst von oben gereicht wird. Dieselbe beginnt mit Gebeten und Ceremonien, denen ähnlich, mit welchen der konsekrierende Priester das Meßopfer begleitet, dann öffnet die Kranke den Mund, und es zeigt sich auf der Zunge ein weißer Belag in der ungefähren Form einer aufgelösten Oblate, der nach dem Schlucken verschwunden ist und eine leichte Blutspur auf den Lippen zurückläßt, nach den Angaben des Erklärers, eines jungen vielversprechenden Zöglings aus einem Priesterseminar, das mit Wasser vermischte Blut aus der Seite Christi.

Um vier Uhr zwanzig Minuten ist auch dieses Wunder vorüber, und nach einer kurzen, durch Wiederholung der früheren Krampferscheinungen ausgefüllten Pause empfängt die Kranke die Huldigungen ihrer Verehrer, theils geweihte, theils ungeweihte Gegenstände, Rosenkränze, Medaillen etc., vor ihr niederlegen. Angeblich soll sich nun die Kranke vor den geweihten Gegenständen, und zwar nur vor diesen, verneigen; dabei aber täuscht sie sich oft, indem sie auch den ungeweihten ihre Verehrung zu theil werden läßt.

Um halb fünf Uhr beginnt sie sodann mit ganz außerordentlicher Beredtsamkeit den Anwesenden ihre visionäre Leidensgeschichte zu erzählen. Sie schildert, wie sie gegenüber Christus am Kreuz gehangen, mit ihm und der Jungfrau Maria gesprochen, für die armen Seelen im Fegfeuer Fürbitte eingelegt habe, wie sie jetzt noch den Himmel offen sehe, und erklärt sodann, daß sie für die Menschen leiden und sterben müsse; auf die Zwischenfrage, wozu denn dieses Erlösungswerk dienen solle, da es vom Heiland ja bereits für die ganze Menschheit vollbracht sei entgegnet sie mit großer Geistesgegenwart, daß der Heiland für die Menschen gelitten habe, sie aber für den Heiland leide. Die blühende Sprache dieser und anderer, vom stärksten Selbstlob durchtränkter, mit Gebeten, Weissagungen und Moralsprüchen durchsetzter Reden, bei denen die Kranke auch, nicht immer erfolgreich, ihren Dialekt zu vergewaltigen sucht, verräth deutlich die Quellen, aus denen sie ihre, möglicherweise zur fixen Idee gewordenen Eingebungen schöpft. Gegen sechs Uhr abends endlich ist die Komödie zu Ende.

Man kann sich kaum ein vollständigeres, alle bekannten Symptome in so reicher Auswahl umfassendes Beispiel einer sogenannten Stigmatisation denken als das hier vorliegende, keines aber auch, das die blasphemische Ausbeutung dieser krankhaften Erscheinung in ein so grelles Licht setzt. Selbstverständlich lassen sich alle diese Vorgänge, auch die, welche nicht auf plumpem Betrug beruhen, wie beispielsweise das geheimnißvolle Klopfen, ein beliebtes Muskelkunststück der Spiritisten, auf natürlichem oder pathologischem Wege leicht erklären; bezeichnend aber ist es in vielen derartigen Fällen, daß sich den Kranken die Grenze, wo der selbstthätige Betrug die krankhafte Einbildung ablöst, völlig verwischt und daß sie daher ebensoleicht zum willenlosen Werkzeug fremder Beeinflussung wie der eigenen Wahnvorstellungen werden. Eben das aber ist das eigenthümliche Kennzeichen der Hysterie, und deshalb sollten Kranke dieser Art unbedingt der ärztlichen Behandlung in einer Heilanstalt übergeben, ihre öffentliche Schaustellung aber unter allen Umständen, auch wo ein beabsichtigter Betrug nicht vorliegt, einfach verboten werden. Daß weder die Kirche, in deren Interesse ein solches Verbot in erster Linie gelegen wäre, noch die Gerichte imstande sind, dem Uebel wirksam vorzubeugen, das durch solche Schaustellung und ihre nur zu leicht ansteckende Wirkung in den Gemüthern angerichtet wird und nicht selten auch zur materiellen Schädigung leichtgläubiger Personen führt, das hat der vorliegende Fall recht deutlich bewiesen. Um so dringender ist eine gesetzliche Bestimmung in dieser Richtung geboten. Vor allem aber ist es eine vernünftige, naturgemäße Erziehung der Jugend, durch welche dieser Krankheit und mit ihr einer unerschöpflichen Quelle des Aberglaubens der Boden, wenigstens für die Zukunft, entzogen werden kann. C. Hecker.