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Tragödien und Komödien des Aberglaubens/3

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Titel: Tragödien und Komödien des Aberglaubens
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 36, S. 607, 610–611
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Tragödien und Komödien des Aberglaubens.

Mittel, Regen zu erhalten. – Hexenprobe. – Scheintot. – Die Jalwallahs.

Es giebt kein fruchtbareres Feld für den Aberglauben als die Gebiete, auf denen die menschliche Abhängigkeit von den unwandelbaren Gesetzen der Natur so recht eindringlich zum Ausdruck kommt. Was vermag der Landmann, der für seine Ernte bangt, über Wind und Wetter, über Regen und Sonnenschein? Nichts! Was vermag der geschickteste Arzt gegen die tödliche Krankheit? Wenn es viel ist, eine kurze Fristverlängerung für das kämpfende Leben. So alt aber die Sorge um das Gedeihen des Ackers, des Fruchtbaums, so alt das Bangen vor dem Tode, so alt ist das Suchen nach übernatürlichen, abergläubischen Mitteln, um auf die Geister des Regens und des Sonnenscheins Einfluß zu gewinnen, das bleiche Gespenst des Todes von der Schwelle des Hauses zu bannen. Und hier wie überall gilt es: je größer die Noth, je unbedingter die Ohnmacht des Menschen, desto krasser die Mittel, desto toller das Aufbäumen gegen den unfaßbaren, unheimlichen Gegner; und hier wie überall gilt es: je tiefer der [610] Bildungsstand eines Volkes, desto trauriger die Erscheinungen, die der Wahn zu Tage fördert.

Belege für diese Behauptung bieten nicht nur die aller Kultur fernstehenden „Naturvölker“, sondern ebenso andere, die mit der Gesittung in nahe Berührung gekommen sind. Aus Rußland und Indien greifen wir unsere Beispiele heraus.

In den russischen Gouvernements Saratow, Orenburg, Kasan u. a. herrscht der Glaube, daß der infolge starken Branntweingenusses erfolgte Tod eines Menschen Dürre im Gefolge habe, welcher nur dadurch vorgebeugt werden könne, daß man die Leiche ausgrabe und in den Fluß oder in einen Sumpf werfe. In einem großen Dorfe des Gouvernements Kasan führte diese Einbildung vor einigen Jahren zu einem entsetzlichen Drama. Dort lebte mit seiner einzigen Tochter Grunja ein Bauer, der wegen seiner Zurückgezogenheit im Dorfe den Ruf eines Hexenmeisters genoß. Er war ein gutherziger, liebevoller Mensch, den aber verschiedene Schicksalsschläge menschenscheu gemacht hatten. Im Dorfe mied ihn jeder, und als seine schöne Tochter einen Bauernburschen liebgewonnen hatte, da wollten die Eltern des Burschen, der das Mädchen ebenfalls liebte, von dieser Heirath nichts hören. Der Bauer und seine Tochter, von dem Dorfe in die Acht erklärt, zogen sich noch mehr zurück. Da starb der Alte eines Tages eines plötzlichen Todes; aus Gram und Kummer hatte er zuviel getrunken und dadurch sein Ende herbeigeführt.

Als der Mann starb, begann im Dorfe eine große Dürre. Die Bauern waren nun davon überzeugt, daß der „Herenmeister“, welchem man im Leben so viele Unbilden zugefügt hatte, sich jetzt räche und den „Himmel versperrt“ habe, damit kein Regen komme. Eine Anzahl der Bethörten begab sich deshalb des Abends auf das Grab des Verstorbenen, um, dem Aberglauben treu, seine Leiche auszugraben und sie mit Eschenpfählen an die Erde anzunageln. Zur selben Zeit aber war die arme, verlassene Grunja auf das Grab ihres Vaters gegangen, das sie bei Tag nicht zu besuchen wagte, aus Furcht, ebenfalls der Hexerei beschuldigt zu werden. Als die Bauern ein lebendes Wesen am Grabe des „Hexenmeisters“ erblickten, geriethen sie in Schrecken und versicherten einander, dies sei eine Hexe, die gekommen sei, um den alten „Zauberer“ vor der gerechten Strafe zu retten. Flugs schlugen sie auf das unglückliche Mädchen mit einem Beil los, bis das arme Geschöpf ihrer Wuth erlegen war. Sie erkannten dann wohl, daß sie die Tochter des Verstorbenen getötet hatten, kehrten sich aber nicht daran, sondern meinten, „der Teufelsbrut sei recht geschehen,“ verrichteten ihr unheimliches Geschäft und gingen nach Hause.

Wie harmlos klingen nach solchen Vorfällen die anderen „Mittel“ der Bauern gegen die Dürre, wenn man im Gouvernement Tula, um Regen herbeizuführen, einen lebenden Krebs feierlich in die Erde vergräbt, oder wenn man im Gouvernement Minsk mit einem von Weibern gezogenen Pflug den „Fluß ackert“, damit Regen komme!

Aber nicht die Dürre allein kehrt hier die traurigsten Seiten des Aberglaubens hervor. Im Dorfe Tawuschi im Suchumer Gebiet wohnte eine ältere Bäuerin, eine Witwe mit zwei Söhnen. Von diesen erkrankte der jüngere und starb bald eines jähen Todes; einige Zeit später erkrankte auch der ältere Sohn. Die Nachbarn riethen dem Leidenden, sich an die im Dorfe lebende „Wahrsagerin“ zu wenden, um von ihr die Ursache des Todes des Bruders und seiner eigenen Erkrankung zu erfahren. Die Wahrsagerin, reichlich bezahlt, bezeichnete nun die Mutter der beiden Brüder als „Urheberin“ des plötzlichen Todes des einen und der Erkrankung des andern; sie bestand darauf, daß man die „Hexe von einer Mutter“ dem Volke vorführe und sie zwinge, entweder „ihre Sünden zu bekennen“ oder „einer Prüfung mit glühendem Eisen“ zuzustimmen. Der kranke Sohn gestattete den Nachbarn, sich bei ihm abends zu versammeln und das unglückliche Weib der schrecklichen Tortur zu unterwerfen. Nach dem Abendessen, das von der Alten zubereitet war, legten die Nachbarn neben dem Hause des Kranken einen großen Scheiterhaufen an und wendeten sich alle in einer Stimme an die Mutter mit der Aufforderung, entweder ihre Sünden zu bekennen oder sich freiwillig dem Verbrennungstode zu überliefern. Die Bäuerin erschrak darüber so heftig, daß sie die Sprache verlor. Die Unmenschen aber faßten ihr Schweigen als Zeichen der „Bekennung ihrer Sünden“ auf und fielen mit einem glühenden Bügeleisen und glühendem Kupfer- und Messinggeräth über sie her. Als sie trotzdem kein Wort sprach, banden die Barbaren sie an einen langen Pfahl und, die entgegengesetzten Enden des Pfahls in den Händen drehend, begannen sie die Unglückliche über dem Scheiterhaufen zu rösten … Nach kurzer Zeit gab sie den Geist auf. Die Mörder aber begruben sie in aller Eile und Stille.

Am unheimlichsten indessen wirkt ein Vorfall, der sich von den bisher erzählten hauptsächlich auch dadurch unterscheidet, daß in ihm keinerlei selbstische Zwecke die treibende Kraft bilden. Er spielte im Gouvernement Ufa. Dort starb kürzlich ein Bauer eines unvermutheten Todes; die Angehörigen desselben weinten ein wenig um ihn, und am zweiten Tage nach dem Tode fand das Leichenbegängniß statt. Die gesammte Bevölkerung des Dorfes war versammelt. Als man aber den Sarg eben in die Gruft hinabgelassen hatte, sprang der mit Holznägeln befestigte Deckel plötzlich ab und im Grabe richtete sich, zum Entsetzen der Anwesenden, der in Weiß gekleidete Scheintote auf. Die Bauern, mit dem Pfarrer an der Spitze, ergriffen angsterfüllt die Flucht; der angeblich Tote, der bei dem herrschenden Winterfrost vor Kälte zitterte, folgte ihnen. Er lief ins Dorf, um Obdach flehend; aber alle Bauern schlossen sich in ihre Hütten ein, und nur zufällig gelang es dem Armen, in die Hütte einer alten Bäuerin zu dringen, der es nicht mehr gereicht hatte, ihre Thür zu verschließen. Dies rettete jedoch den Wiederauferstandenen nicht; die Dorfinsassen beschlossen, ihm den Garaus zu machen. Sie bewaffneten sich mit gespitzten Holzpfählen, umringten die Hütte und bemächtigten sich nach kurzem Kampfe des angeblichen „Hexenmeisters“. Erbarmungslos metzelten sie ihn nieder und nagelten ihn mit den Pfählen an den Boden. Der Pfarrer kam dann wohl zur Besinnung; er begriff, daß der arme Bauer einfach einen Starrkampf gehabt hatte und vom „Dorfarzt“ irrtümlich als Toter bezeichnet worden war. Allein als er die Polizei holen ließ, da war es schon zu spät: der Mann war jetzt wirklich tot und die Menge auseinander gegangen, nachdem sie beschlossen hatte, die gräßlich verstümmelte Leiche abends in einen Sumpf zu werfen.

An diese Fälle grausiger Begriffsverwirrung möge sich noch eine Geschichte anschließen, die insofern mit den bisher erzählten sich berührt, als auch sie die unheimliche Macht des Aberglaubens über halb oder ganz ungebildete Völker erläutert: es ist die Geschichte von den Jalwallahs, dem gefürchteten Britenregiment in Indien.

Dieses Regiment, seiner Nummer nach das hundertfünfzigste, ist eins der ältesten und berühmtesten in der britischen Armee. Unter Marlborough kämpfte es 1706 mit großer Tapferkeit bei Ramillies gegen die Franzosen; so blutig hatte es sich da auf dem Blachfeld seine Ehren erworben, daß jeder seiner Soldaten die Auszeichnung erhielt, eine breite rothe Schärpe von der linken Schulter über die Brust zu tragen.

Das Regiment kam dann nach Indien, wo seine wilden, verwegenen Gesellen wegen ihrer Schärpen von den Eingeborenen „Jalwallahs“ genannt wurden. Wie Teufel wütheten sie und keine Heerschar der Inder hielt ihren Angriffen stand. Sie schafften Ruhe im Lande; die von ihnen überwältigten Stämme wagten nicht mehr, der englischen Herrschaft offenen Widerstand zu leisten. In Azimpore, ihrer Garnisonsstadt, ruhten die Jalwallahs dann von ihren Kriegsfahrten aus; aber weit und breit im Lande blieb der Schrecken ihres Namens lebendig. Da kam die Cholera nach Azimpore und raffte so viele vom Regimente dahin, daß dieses nach dem vierzig Kilometer entfernten Ingradar verlegt wurde und dort auch fortan seinen Standort behielt. Die zahlreichen Opfer, welche die Seuche von den Jalwallahs gefordert hatte, waren eine halbe Stunde von Azimpore auf einem Felde an der Heerstraße begraben worden. Eine weiße Mauer wurde um die Begräbnißstätte errichtet, daneben eine Kapelle erbaut und von den abziehenden Kameraden den Gestorbenen auch ein Denkmal geweiht.

Ein Jahrhundert und mehr verfloß, ohne daß sich bei den nördlichen Hindostanern der Ruf der Jalwallahs verlor, obwohl keine ernsteren Kämpfe mehr zwischen beiden zu führen waren und die gefürchteten Truppen ihr Leben in Ingradar meist recht friedlich und bequem zubrachten. Vor allem vererbte sich im Volke die abergläubische Furcht vor dem Kirchhof bei Azimpore. Die Einwohner mieden diese Stelle, von der nach ihrer Einbildung Noth und Tod über sie ausging, und die eigenthümlichen, unverändert gebliebenen Signale des Regiments, welche die Hornisten mit ihren hellen, weithindringenden Trompeten gaben, klangen nicht an ihre Ohren, ohne sie zittern zu machen. Sie schwuren, [611] daß sie diese Töne oft von der Gräberstätte her vernehmen könnten und dazu Waffengeräusch, rohes Gelächter und derbe Flüche. Im Glauben an diesen Geisterspuk blieben sie befangen, und keiner der Sepoys – so nannte man die aus Indern gebildeten Truppen, welche die Engländer in ihre Armee eingereiht hatten – ging ohne Grauen an der Mauer des Kirchhofs der Jalwallahs bei Azimpore vorüber.

Im Mai 1857 brach in Delhi der Aufstand der Sepoys aus. Unter den 250 000 Soldaten, die damals von der ostindischen Compagnie unterhalten wurden, gab es nur 30 000 Briten, die übrigen waren Eingeborene. Die letzteren bemächtigten sich in Delhi der 150 vorhandenen Kanonen, unermeßlicher Kriegsvorräthe und eines Schatzes von zwei Millionen Pfund Sterling. Die englische Besatzung ward überwältigt und die gesammte europäische Bevölkerung der großen Stadt meist unter gräßlichen Martern umgebracht. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich der Aufstand über Nordindien. Die Grausamkeit, mit der die Sepoys dabei gegen die Engländer verfuhren, trug Entsetzen in ihre bedrohten Garnisonen. Wochenlang währte es, bis sie sich aufraffen konnten, um ihren Feinden die Stirn zu bieten und den Widerstand gegen sie planmäßig aufzunehmen.

Ein Stützpunkt der englischen Militärmacht war unter anderem Azimpore. Oberst Prendergast stand da mit 800 Mann, großentheils Reiterei. Schon schlugen die Wogen der Empörung auch an diesen Platz und jeden Tag war ein Angriff zu befürchten. Die Stadt war daher nach Möglichkeit verbarrikadiert worden; draußen vor den Thoren hatte man Schanzen aufgeworfen und mit Wachen besetzt; Reiterpatrouillen streiften zur Vorsicht Tag und Nacht in der Umgegend umher. Es war außerdem zwischen der Garnison von Ingradar, der nächstgelegenen, und der von Azimpore vereinbart worden, daß man sich gegenseitig zu Hilfe kommen werde, wenn eine von ihnen durch den feindlichen Vorstoß in Gefahr gerathe. So hofften die Engländer, hier sich behaupten zu können, und waren entschlossen, in jedem Fall ihr Leben theuer zu verkaufen.

Am 19. Juli meldeten die Streifpatrouillen, daß ein großer feindlicher Heerhaufen sich auf dem Marsch gegen Azimpore befinde. Sofort ließ Oberst Prendergast zwei Reiter nach Ingradar abgehen, um vom 150. Regiment die verabredete Unterstützung zu erbitten. Der Angriff der Indier war für die Nacht vorauszusehen und nur bei höchster Eile vermochten die Jalwallahs noch rechtzeitig einzutreffen. Ihr Weg war lang und bei der schwülen Julihitze überaus beschwerlich. Aber bis zum Morgen hoffte sich die Mannschaft von Azimpore noch hinter den Schanzen und Verhauen halten zu können. Alles wurde zur Vertheidigung gerüstet; ernst und schweigend blieb alles unter Gewehr, die Reiterei hielt sich fertig im Sattel. In höchster Spannung standen die Offiziere um den alten Oberst und horchten in die heiße, finstere Nacht hinaus; schwere Wolken bedeckten den Himmel und schon grollten die Donner eines aufsteigenden Gewitters.

Auf der Ebene vor dem Jalwallahkirchhof rückten währenddem zu Tausenden die Indier heran. Mir Khan, der gefürchtesten einer vom Mahrattenstamm, ritt auf feurigem Roß in prächtiger Kriegskleidung an der Spitze seiner Scharen. Als diese beim Flammen der Blitze der weißen Mauer des Totenfeldes ansichtig wurden, da erlahmte ihr Schritt und ihr Muth, der Marsch gerieth ins Stocken. Gemurre drang zu den Ohren der Anführer und sie wußten, aus welchem Grunde. Die Sepoys hatten Angst vor den Gespenstern, die an den Gräbern der Jalwallahs ihr Wesen trieben. Mir Khan aber ließ sich nicht einschüchtern; größer als sein Grauen vor dem Spuk war seine Rachelust, welche er im Blut der Engländer zu stillen gedachte. Und anders war nicht nach Azimpore zu gelangen, als auf der Straße, die an der Kirchhofsmauer vorüberführte. Darum befahl er herrisch den Weitermarsch.

Trotzdem rührte sich keiner; der Mann, der hinter dem Khan die Fahne des Aufruhrs trug, senkte sie wie unter Einwirkung einer höheren Macht zu Boden. Die Leibwächter um Mir her wurden verwirrt; seine Offiziere aus vornehmen Mahrattengeschlechtern verweigerten laut den Gehorsam, da sie selber so sehr von abergläubischer Angst befallen waren, daß sie beim Leuchten der Blitze über der Kirchhofsmauer die Köpfe der weißen Soldaten vom 150. Regiment und ihre rothen Schärpen gesehen haben wollten. In wildem Zorn schoß der Khan mit seiner Pistole einen dieser Widerspänstigen nieder und befahl seiner Wache, mit den anderen ein Gleiches zu thun. Mit bebenden Händen gehorchten diese; die Schüsse knallten durch die düstere Nacht und streckten ein paar andere der aufsässigen Anführer nieder.

Im selben Augenblick jedoch riß der Khan vor Entsetzen sein Roß zurück, die Truppen um ihn warfen die Waffen weg und wollten fliehen. Die abgefeuerten Schüsse waren vom Kirchhof her erwidert worden. Das Echo hatte die Indier getäuscht.

„Halt!“ schrie Mir Khan, der sich schnell wieder gefaßt hatte, den Fliehenden zu, und sie standen unter der Wucht seines Rufes.

Er ließ sie sogleich auf die Kirchhofsmauer schießen und minutenlang krachten die Salven in betäubendem Lärm; dazu der Donner des mit Macht sich jetzt entladenden Gewitters. Wie wahnsinnig gebärdeten sich die Sepoys; immerfort mußten sie schießen und dabei stieg von Sekunde zu Sekunde ihre Angst, denn das ungewöhnlich starke Echo warf die Salven und die Donnerschläge von der Mauer zurück, und die armen Gesellen dachten nicht anders, als daß sie hier ihr Ende finden müßten. Sie sahen die Träger der rothen Schärpen sogar leibhaftig vor sich und fielen in Massen zur Erde, in dem Wahn, von einer Kugel getroffen zu sein.

Endlich zwang sich Mir Khan zu dem Entschlusse, gegen das eiserne Gitterthor des Kirchhofs vorzurücken, er zwang auch seine Scharen, ihm zu folgen, wie sie auch widerstreben mochten. Das Gewehrfeuer durfte nicht aufhören, es mußte eine förmliche Schlacht gegen die toten Jalwallahs geliefert, die Geister mußten getötet, die Gräber vernichtet, der Kirchhof mit Mauer, Kapelle und Denkmal der Erde gleich gemacht werden. Mir Khan befahl den Sturm, er sprengte voran …

Da tönte ihm das helle, langgezogene Hornsignal des 150. Regiments von der Kapelle her entgegen. Er kannte es wohl, so gut wie seine Leute. Ein Grausen erfaßte ihn; seine Soldaten standen wieder wie erstarrt. In ihrem Entsetzen wähnten sie die Jalwallahs zwischen den Gräbern, an der Mauer, hinter dem Gitterthor stehen zu sehen und das Klirren ihrer Waffen, ihre Kommandorufe zu hören. Und noch einmal tönte das schreckliche Signal des 150. Regiments ihnen entgegen; ein langhin über die Gräber wegzüngelnder Blitz erhellte zugleich den Kirchhof und schien die Kapelle zu treffen. Ein Donnerschlag, unter dem die Erde erbebte, folgte ihm nach.

Nicht der Ruf eines Gottes hätte jetzt noch die Sepoys gehalten. In wildem Entsetzen warfen sie die Waffen weg und flohen wie besessen über das Feld zurück. Mir Khan wurde mit fortgerissen, selbst fast besinnungslos vor Schrecken. Sein über Stock und Stein hinjagendes Roß schleuderte ihn aus dem Sattel, im Falle brach er das Genick. Ein furchtbares Geschrei erfüllte die Luft; von Angst überwältigt brachen viele der Fliehenden zusammen, herrenlose Pferde stürmten über ihre Leiber weg, brachen in die Knäuel der Flüchtigen. Blitz und Donner dabei ohne Aufhören, um die Raserei der Massen noch zu mehren!

Endlich stieg im Osten der Tag empor, das Gewitter hatte ausgetobt, die Sonne vergoldete den Horizont. Von Azimpore kam ein Reitertrupp an den Kirchhof, die Recognoszierungspatrouille, welche Oberst Prendergast endlich dahin ausgeschickt hatte, weil er sich das wahnwitzige Schießen nicht erklären konnte; denn ein Zusammenstoß der Sepoys mit dem 150. Regiment war um diese Zeit so nahe bei Azimpore noch unmöglich. Die englischen Reiter sahen nun zu ihrem höchsten Erstaunen auf ein seltsames Schlachtfeld. Da lagen in Massen die Indier, tote und noch mehr lebende durcheinander, die ganze Ebene war bedeckt mit Waffen aller Art, und in der Ferne gewahrte man die letzten der Fliehenden. Die Aussagen der Gefangenen belehrten sie endlich, was geschehen war. Man meldete es ins Hauptquartier zurück und nun sprengte der Oberst selbst mit seiner Reiterei herbei. Wie er am Kirchhof ankam, da tönte auch hell und lang das Signal des 150. Regiments durch die klare, sonnige Luft. Ueber eine letzte Bergkuppe stiegen zweihundert Schärpenmänner, welche von Ingradar im Eilmarsch abgegangen waren. Eine Stunde vorher hatte ihr Signal, das sie von einer Höhe aus auf gut Glück nach Azimpore hin gegeben hatten, mit seinem Echo an der Kirchhofsmauer den abergläubischen Feind in die Flucht getrieben.