Trübe Zeichen der Zeit
[787] Trübe Zeichen der Zeit. Bedenkliche, sehr bedenkliche Enthüllungen hat der Spieler- und Wuchererprozeß zu Hannover ans Tageslicht gebracht! Daß es im Deutschen Reiche Wucherer giebt, das wußte man leider schon vorher, und ehenso, daß unter den deutschen Offizieren und unter den sogenannten oberen Schichten der Gesellschaft das Spiel häufig in Formen geübt wird, in denen es nicht mehr eine Unterhaltung, sondern ein Laster ist. Aher daß diese beiden bösen Beulen am Leibe unserer Gesellschaft schon so tief und so weit um sich gefressen hätten, daß es in unserem deutschen Vaterlande eine ganze, organisierte Wucherer- und Falschspielerbande gäbe, die ihre Opfer nach Hunderten zählt und sie um Summen prellt, die nach bürgerlichen Ansprüchen ein stattliches Vermögen darstellen – das sind denn doch Offenbarungen, die in weiten Kreisen unseres Volkes mit tiefer Beschämung vernommen werden.
Man könnte den Einwurf erheben, daß es eben nur eine bestimmte Gesellschaftsklasse sei, welche durch die Enthüllungen des Hannoveraner Prozesses gebrandmarkt werde. Gäbe es keine leichtsinnigen Offiziere und Studenten, so gäbe es auch nicht jene Sorte von Vampyren, die sich diesen Leichtsinn zu Nutze machen und ihr dunkles Handwerk darauf bauen. Mögen die flotten Muttersöhnchen immerhin ihr Geld unter den Fingern zerrinnen sehen – was ficht das uns an?
Indessen, so stehen die Dinge doch nicht! Wir sind alle Glieder eines Volkes, und wenn irgendwo an diesem Körper etwas krank ist, so leiden wir alle mit. Und haben wir denn das Recht, mit pharisäischem Hochmuth beiseite zu stehen? Sind wir alle so frei von den Schwächen, welche den Offizier, den Studenten, den Landjunker in die Hände des Wucherers treiben oder ihn am Spieltisch nach der äffenden Fortuna haschen lassen? Dürfen wir ihr Schicksal mit selbstgerechtem Achselzucken abthun und sprechen: „Was ficht das uns an?“
Der Wahrheit die Ehre: das Recht haben wir nichi! Die Sucht, über die Verhältnisse zu leben, ist nicht beschränkt auf jene „vornehmen“ Kreise und das Haschen nach Spielgewinn nicht auf die Uniform. Das darf man nicht behaupten wollen in einem Lande, wo in so und so viele staatlichen Lotterien mit Eifer gesetzt wird, das darf man nicht behaupten wollen angesichts der vielen sich aufdrängenden Beispiele von unvernünftigem Luxus bis herab in die Kreise derer, die mühsam mit ihrer Hände Arbeit ihr knappes tägliches Brot verdienen. Auch das sind ungesunde Schwären, die am Marke unseres Volkes zehren, auch hier giebt es zerrüttete Existenzen und verlorene Gewissen!
Jener Prozeß zu Hannover ist ein grell flammendes Warnungszeichen, daß es gilt, anzukämpfen gegen ein schleichendes Uebel unserer Zeit, und niemand schließe sich aus, wenn es jetzt heißt: „Es ist etwas faul im Staate Dänemark!“