Tithon und Aurora
[345] Obwohl gewöhnlicher Weise keine Grab- und Lobschrift zu bemerken pflegt, wie lange ein Mensch sich selbst überlebt habe: so ist dies leider doch eine der größesten und nicht seltenen Merkwürdigkeiten menschlicher Lebensläufe. Je früher das Spiel unsrer Gaben und Leidenschaften anfängt, je rascher es fortgesetzt, und durch äußere Zufälle auf mancherlei Weise bestürmt wird: desto häufiger wird man Fälle gewahr von jenen frühen Ermattungen der Seele, von Niederlagen der Kämpfer ohne Tod und sichtbare Wunde, vom männlichen, oft schon jugendlichen höchsten Alter. Lange kann ein Mensch wie die Gestalt seines Grabmonuments mit lebendigem Leibe umhergehn; sein Geist ist von ihm gewichen; er ist der Schatte und das Andenken seines vorigen Namens.
[346] Vielerlei Ursachen können zu diesem frühen Tode beitragen, Eigenschaften des Geistes und des Herzens, zu große Wirksamkeit und zu träge Geduld, Erschlaffung sowohl als Ueberspannung, zu schnelles Glück und zu lange daurendes Unglück. Denn überhaupt ist ja Gesundheit, Munterkeit, Vergnügen und Tugend allezeit die Mitte zweier Extreme. Sowohl am schroffen als am seichten Ufer des Stroms können Fahrzeuge ihren Untergang finden; mitten im Strome schiffet es sich leicht und fröhlich. Mancher veraltete, weil es ihm an der wahren innern Quelle des Lebens und der Thätigkeit fehlte; er war ein zusammengeflossener Bach, der bald versiegt und sein trauriges Bett zeigt. Bei Jenem sollte der Schein des Seyn ersetzen; die Finsterniß weicht, und die Johanniswürmchen in seinem Haar glänzen nicht mehr als funkelnde Diamanten. Bei diesem sollte Gedächtniß und Mühe thun, was allein der Verstand und Genius thun konnte; das überladne [347] Gedächtniß erlag, die übertriebne Mühe ermattete, und zuletzt kam der Mangel am Wesentlichen zum traurigen Vorschein. Ein andrer überstrengete sich als Jüngling mit seinen edleren Kräften. Er häufte mit tausend Händen Berge der Phantasie zum Himmel empor, und fand, auch ohne den Blitz Jupiters, unter ihnen bald seine Ruhestäte. Ein andrer, dem es mit seinem Bemühen und Lernen nur um Gemächlichkeit zu thun war, entsagte dem Bemühen und Lernen, so bald es ihm gemächlich ward; er begrub sich selbst in einen seligen Moder. Jenem Verdienstlosen hat ein unerwartetes Glück, ein zu rasch-erworbener Ruf, eine unversehens-gelungene Handlung den Verstand verrückt; außer ihr hat er keine Gedanken mehr; seine verführende Göttinn Fortuna hat ihn auf einmal mit Lorbeer, Pappela und Mohn gekrönet; er schläft, oder spricht irre in ihrem verzärtelnden Schooße. Diesem Verdienstvollen hat ein unverdientes, zu lange erduldetes [348] Unglück die Schultern gebeugt, die Brust zusammengedrückt, und den Arm gelähmet; er kann nicht aufrecht stehn und sich wieder erholen. Ein Blitzstral vom Himmel hat bis zur Wurzel hinab die Eiche getroffen und ihrer Lebenskraft beraubet. Diesem Manne von vielen Fähigkeiten fehlte es an einer weiten Brust, den Neid zu verachten und bessere Zeiten zu erwarten; er ließ sich mit ihm in einen Kampf ein; der fliegende Adler ward von der Otter, die ihn umschlungen hatte, unwürdig besieget. Jenem Manne von redlicher Thätigkeit fehlte es an Verstande; seine verschlagenern Feinde machten ihn bald unkräftig und elend. So gings mit zehn andern Charakteren in andern Situationen; ans Theater des bürgerlichen Lebens ist gewöhnlich ein Hospital gebaut, in welches sich nach und nach die mehresten der Schauspieler verlieren.
Zwo Dinge tragen insonderheit hiezu bei, und auch sie sind Extreme. Zuerst Willkühr der gebietenden [349] Grossen; sodann zu feine Zärtlichkeit und Sorgfalt. Bei jenen sinds bekannte und beliebte Sprüche, daß nichts so beschwerlich sei, als Dankbarkeit, nichts so unerträglich, als fortgesetzte Hochachtung, und der tägliche Anblick eines anerkannten Verdienstes. Neue Huld erwirbt sich also neue Dankbarkeit; und Geschöpfe, die man sich selbst zuziehet, ja in die man Gaben und Verdienste legt, die ihnen die Götter nicht zugetheilt hatten, sind eine reizende eigene Schöpfung. Den alten Bäumen mag also ihr Saft entzogen werden, damit die junge Welt blühe und wuchre. Wer nun in solchen Fällen nicht größer ist, als der von dem er abhängt, der stirbt in sich am Unmuth der Selbstverzehrung. Die majestätische Stimme Philipps 2. „Yo el Rey“ hat schon Manchen solcher Art getödtet. Diesem Morde menschlicher Verdienste und Kräfte stehet ein andrer entgegen, den man den feinsten Selbstmord nennen möchte. Er ist um so bedaurenswürdiger, weil er nur bei [350] den erlesensten Menschen statt findet, und ihr köstliches Uhrwerk auf einmal oder nach und nach zertrümmert. Menschen nämlich von äußerst-zartem Gefühl haben ein Höchstes, wornach sie streben, eine Idee, an welcher sie mit unaussprechlicher Sehnsucht hangen, ein Ideal, auf welches sie mit unwiderstehlichem Triebe wirken. Wird ihnen diese Idee genommen, wird dies schöne Bild vor ihren Augen zertrümmert: so ist das Herzblatt ihrer Pflanze gebrochen, der Rest stehet mit unkräftigen, welken Blättern da. Vielleicht gehen mehrere Erstorbne dieser Art in unsrer Gesellschaft umher, als man es Anfangs glauben möchte, eben weil sie am meisten ihren Kummer verbergen, und das Gift ihres Herzens selbst ihrem Freunde verhehlen. Da Shakespear so wie alle Zustände der Seele, so auch diese Epoche des Hinsinkens oder der Verwirrung der Kräfte in mancherlei Situationen und Charakteren äußerst wahr und genau [351] gezeichnet hat: so möge statt aller Eine, vielleicht die Krone der Klagen über einen solchen Zustand dastehn:
O what a noble mind is here o’erthrown!
The courtier’s soldier’s scholar’s eye, tongue, sword,
The expectancy and rose of the fair flate,
The glass of fashion and the mould of form,
Th’ observ’d of all observers, quite, quite down. –
Now see that noble and most sovereign reason,
Like sweet bells jangled out of tune, and harst,
That unmatch’d form and stature of blown youth,
Blasted with extasie –
Nicht nur einzelne Personen überleben sich; sondern noch viel mehr und länger, sogenannte politisch-moralische Personen, Einrichtungen, Verfassungen, Stände, Corporationen. Oft steht Jahrhunderte lang ihr Körper zur Schau da, wenn die Seele des Körpers längst entflohn ist, oder sie schleichen als Schatten umher zwischen lebendigen Gestalten. Um sich hievon zu überzeugen[WS 1], gehe man in eine Juden-Synagoge, oder lese[WS 2] Anquetils Zend-Avesta, und die heiligen Bücher der Bramanen. Es ist kein Zweifel, daß alle diese Religions-Institute einst sehr nützlich waren, und daß in jeder dieser Hülfen Keime zu einer grossen Entwickelung lagen. Mehr oder minder hat sie die Zeit entwickelt, den einen Keim glücklicher, so daß man in ihm vielleicht mehr suchte, als da war; den andern unvollkommen, und Kraftlos, wie es im grossen Laufe der Natur zu geschehen pfleget. Alles indessen hat sein Ziel
[353] und der Rabbi, der Destur und Mobed, vielleicht auch der Bramane hat sich im grossen Ganzen selbst überlebet. Aus einigen Gegenden des Mahommedanismus erzählt man vom Koran, (ob dieser gleich das jüngste Religionsbuch ist) schon etwas Aehnliches; und im Christenthum, so wahr sein reiner Quell Wasser eines ewigen Lebens strömet, wie manches Gefäß ist schon zerbrochen, das diesen Quell erschöpft zu haben glaubte! wie manche Form, die jetzt noch da steht, hatte sich längst selbst überlebet! Man sehe die Römische Messe an, man höre manche ihrer Litaneien und Gebete; in welche Zeiten rufen sie uns zurück! zu welch einem fremden Geschmack längst-erblichener Zeiten! Wie in der Religion der Priesterstand, so folgen in andern Instituten die mit ihnen verknüpfte Stände, jeder seinem lebenden oder todten Institut nach. Man betrachte so manche Einrichtungen, Orden und Kalande der mittleren Zeiten; wenn sie nicht dem Genius
[354] der Meinungen zu folgen und sich mit ihm zu verjüngen wußten, so blieben sie entweder am Ufer liegen, oder der Strom trug sie Seelenlos fort, bis sie irgendwo den Ort ihrer Ruhe finden. Schon zu Cervantes Zeiten wollte der Herzog zu Bejar nicht zugeben, daß ihm der Don-Quixote zugeeignet würde, so lange er an ihm ein ernsthaftes Ritterbuch glaubte, (weil der Geschmack daran schon damals lächerlich zu werden anfing;) er nahm die Dedication gern an, da er beim Vorlesen seine wahre Gestalt erblickte. Romane dieser Art hat die Zeit mit mehreren Instituten gespielet. Corneille’s Prinzen und Helden sind uns größtentheils unerträglich, und man wundert sich, wie andre Zeiten diesen Gothischen Unsinn zusammenfügen, glauben und anstaunen konnten; Shakespear’s Hofscenen dünken uns Haupt- und Staatsactionen. Die Ritter unsrer Zeit sind nicht mehr jene alten Ritter; und das königliche Wort Ludwigs 14.: „l’ Etat? c’ est moi!“ wird
[355] das treffendste Epitaphium dieses grossen Weltmonarchen bleiben. Was gebohren ward, muß sterben, sagt der Bramane; und was etwa durch Kunstmittel seinen Hingang aufhält, hat sich, indem es hiezu greift, schon selbst überlebet. Im Anfange des Frühlinges siehet man das erstorbene Laub und Gras des vorigen Jahres noch häufig; manches davon hält sich vest an; in kurzem aber ist Alles verschwunden, und ein neues Gewand deckt Bäume sowohl, als den Schoos der Erde.
Wenn im Kreise der Menschheit Etwas sich nicht überleben sollte, müßte es Wissenschaft und Kunst seyn, sie, die ewiger Natur sind, der reinsten Wahrheit und einer Erweiterung ins Unermeßliche fähig; auch ists gewiß, daß das eigentliche Wesen der Kunst und Wissenschaft nie erstirbt, und sich nie ändert. Desto sterblicher aber sind ihre Formen, da diese vor allem andern [356] an ihrem Erfinder und Meister zu hangen, mit ihm zu entspriessen, zu blühen und unterzugehen scheinen. So lange der Erfinder lebt, so lange der Meister lehret und anweiset, schöpft man aus seinem lebendigen Quell lebendige Gedanken; im zweiten, dritten Geschlecht durchwandert man schon nachlallende, oder nachäffende Schulen; Das Bild des Meisters steht todt da; seine Wissenschaft und Kunst hat sich, nicht in seinen, sondern in seiner Nachfahren Werken selbst überlebet.
Ein langes Verzeichniß dieser Ueberlebungen geben uns Reisen; Reisen sowohl in der Geschichte, als im Anblick der Gegenden, Länder, Verfassungen, Personen und Stände selbst. Wer ists, der in ein altes Schloß, in einen verjährten Rittersaal, in ein Archiv alter Diplome und Verhandlungen, alter Waffen und Putzwerke, in alte Rathhäuser, Kirchen, Klöster, Palläste und Reichsstädte eintritt, und sich nicht in ein abgelebtes Jahrhundert versetzt fühlte? Bei [357] einer Reise durch Deutschland findet man oft im Bezirk weniger Meilen alte, mittlere, junge und die jüngste Zeiten bei einander; hier haucht man noch die Luft des zwölften, dort singt man Weisen des sechzehnten, zehnten, vierten Jahrhunderts; auf einmal steigt man in Cabinette, die unter dem üppigen Herzog-Regenten angeordnet, in Galerien, die unter Ludwig 14. gesammlet, und endet mit Anstalten, die fürs zwanzigste Jahrhundert ersonnen zu seyn scheinen. So unterrichtend dies Chaos für einen Reisenden seyn mag: so verwirrend und unterdrückend müßte es für den Bewohner seyn, wenn sich die menschliche Natur nicht an Alles gewöhnte. „Herr, er stinket schon, sagte jene traurige Schwester, denn er hat schon vier Tage im Grabe gelegen.“ Bei manchen Einrichtungen könnte man vier Jahrhunderte sagen; und noch riechen sie ihren Brüdern und Schwestern nicht übel. Diese sind an den Duft gewöhnt, und er ist ihnen nahrhaft.
[358] Das lehrreichste Theater dieser Lebensepochen und Weltalter scheint mir Italien. Auf ihm kannst du unter Aegyptern, Griechen, Römern, Etruskern, ja wenn du willt, unter Sinesen, Indiern und Madagaskaren seyn; du kannst im einzigen Rom von Romulus bis auf Diokletian das Heidenthum, von Constantin an bis zu Pius das Christenthum verfolgen; in ihm und den Italienischen Provinzen kannst du, wie es dir gefällt, im funfzehn- sechzehn- oder achtzehnten Jahrhunderte leben; und wenn du den Denkmalen der Natur nachgehest, so triffst du Ueberlebungen an, die dich über den Rand der Geschichte hinausführen. Es gehöret ein weit Gemüth dazu, alle diese Scenen zu fassen, zu unterscheiden, und zu ordnen; sodann aber scheinen sie ein Compendium aller Geschichte, das uns zuletzt, ich weiß nicht mit welcher angenehmen, aber auflösenden Schwermuth überströmet.
[359]The cloud-capt tow’rs, the gorgeous palaces,
the solemn temples, the great globe itself
yea all who it inherit, shall dissolve
and like an unsubstantial pageant faded
leave not a rack behind; we are such stuff
as dreams are made of, and our little life
is rounded with a sleep…
Genug vom Schlaf und Ersterben; lasset uns jetzt vom Wachen und Verjüngung reden. Wie geschieht diese? Durch Revolutionen?
Ich gestehe, daß mir in der neueren Modesprache wenige gemißbrauchte Worte so zuwider sind, als dieses, weil es von seinem ehemaligen reinen Sinne ganz abweicht, und die schädlichste Verwirrung der Gedanken mit sich führet. In der Astronomie nennen wir Revolution eine nach Maas und Zahl und Kräften bestimmte, in sich zurückkehrende Bewegung der grossen Weltkörper, [360] die nicht nur in sich selbst die stilleste Ordnung ist, sondern auch im Zusammenhange mit andern harmonischen Kräften das Reich einer ewigen Ordnung gründet. So drehet die Erde sich um sich selbst und macht Tage und Nächte; mit ihnen ordnet und regelt sie der Geschöpfe Schlaf und Wachen, ihre Ruhezeit und ihren Kreis der Geschäfte. So wandelt die Erde um die Sonne und erschaffet das Jahr, mit ihm die Jahreszeiten, mit ihnen den Wechsel der Arbeit und des menschlichen Vergnügens. Die Revolution des Mondes um unsre Erde giebt dem Meere Ebbe und Fluth, der Witterung, den Krankheiten und vielleicht selbst dem Wachsthum der Pflanzen ihre Perioden. In einem solchen Verstande ists nützlich, auf Revolutionen zu merken: denn in ihnen bemerken wir einen in sich selbst wiederkehrenden Lauf der Dinge, und in diesem die Gesetze einer daurenden Ordnung. Nichts ist in einem solchen Laufe abgebrochen, hingeworfen, Vernunftlos; [361] keine Zerrüttung ist in ihm, sondern ein leise geschwungener Faden der Erhaltung. Revolutionen dieser Art sind der Tanz der Horen um Jupiters Thron, der Siegeskranz des Gottes, nachdem er das Chaos bezwungen, auf seinem unsterblichen Haupte.
Auch, wenn wir vom Himmel diesen Begrif der Revolutionen auf die Erde ziehen wollen, kann er nicht anders als der Begrif eines stillen Fortganges der Dinge, einer Wiederkehr gewisser Erscheinungen nach ihrer eigenen Natur, mithin des Entwurfs einer fortwirkenden Weisheit, Ordnung und Güte seyn. So spricht man von Revolutionen der Künste und Wissenschaften, d. i. von einem periodischen Wiederkommen derselben, dessen Ursachen man in der Geschichte zu erforschen sucht, und sie gleichsam astronomisch berechnet. So sprachen die Pythagoräer von Revolutionen der menschlichen Seele, d. i. von einer periodischen Rückkehr derselben in andre Gestalten. [362] So untersuchte man die Gesetze der Revolution menschlicher Gedanken, wenn diese aus der Vergessenheit ins Gedächtniß wiederkehren, wenn Träume und Begierden, wenn entschlafene Thätigkeiten und Leidenschaften zurückkommen, u. f. In allem diesem suchte man Gesetze einer verborgenen, stillen Naturordnung.
Scheußlich aber hat sich die Bedeutung dieses Worts verändert, da man in den barbarischen Jahrhunderten von keiner andern Revolution als von Eroberungen, von Umwälzungen, Unterdrückungen, Verwirrungen ohne Absicht, Ziel und Ordnung wußte. Da hieß Revolution, wenn das Unterste zu Oberst gekehrt ward, wenn durch das sogenannte Recht des Krieges ein Volk sein Eigenthum, seine Gesetze und Güter mehr oder minder verlohr, oder durch das Recht der Monarchie alle die sogenannten Rechte geltend gemacht wurden, die St. Thomas, Macchiavel und Naudè aus wirklichen Begebenheiten nachher [363] aufnahmen und in Capitel brachten. Da hieß Revolution endlich, wenn Minister thaten, was die Fürsten selbst nicht mehr thun mochten; oder wenn hie und da das Volk das unternahm, was es selten so geschickt als Könige oder Minister ausführte. Das gab nun die zahlreichen histoires des revolutions, ein so gangbarer Titel der Bücher, als sein Inhalt meistens unverständig, oder abscheulich ist. Den Begrif von Zweck und Absicht verlor man beinahe ganz aus dem Gesicht; die Geschichte ward ein Gemählde von Verwirrungen ohne Entwicklung: denn hinter dem Ausgange einer jeden sogenannten Revolution sahe es bunter aus in den Reichen, als vorher. Revolutionen dieser Art, sie entspringen von wem sie wollen, sind Zeichen der Barbarei, einer frechen Macht, einer tollen Willkühr; je mehr die Vernunft und Billigkeit der Menschen zunimmt, desto seltner müssen sie werden, bis sie sich zuletzt ganz verlieren. Dann wird das Wort Revolution [364] wieder in seinen reinen und wahren Sinn zurückkehren, daß es einen nach Gesetzen geordneten Lauf der Dinge, eine friedliche Rückkehr der Begebenheiten in sich selbst, auch in der Geschichte bedeute. In dieser Absicht allein ist diese des Studiums werth: denn an den Revolutionen wilder Elephanten, wenn sie Bäume ausreissen und Dörfer verwüsten, ist nicht viel zu lernen.
Um also mit diesem befleckten Wort nicht zu verführen, und etwas eine tödtende Gewaltsamkeit zur Arznei menschlicher Uebel zu machen, wollen wir auf dem Wege der heilenden Natur bleiben. Nicht Revolutionen, sondern Evolutionen sind der stille Gang dieser grossen Mutter, dadurch sie schlummernde Kräfte erweckt, Keime entwickelt, das zu frühe Alter verjünget, und oft den scheinbaren Tod in neues Leben verwandelt. Lasset uns sehen, was das Mittel in sich fasse, und wie es heile.
Wenn wir der Natur Einen Zweck auf der Erde geben wollen, so kann solcher nichts seyn, [365] als eine Entwickelung ihrer Kräfte in allen Gestalten, Gattungen und Arten. Diese Evolutionen gehen langsam, oft unbemerkt fort, und meistens erscheinen sie periodisch. Auf die Nacht des Schlafs folgt der Morgen des Erwachens; unter dem Schatten Jener hatte die Natur Kräfte gesammlet, Diesem, dem Morgen, munter zu begegnen. In den Lebensaltern der Menschen dauert die Kindheit lange; langsam wächset Körper und Geist, bis mit zusammengenommenen Kräften die Blume der Jugend hervorbricht und die Frucht späterer Jahre allmälich reifet. Sehr unrecht hat man diese Perioden der Entwicklung Revolutionen genannt: Hier revolvirt sich nichts, aber entwickelt (evolvirt) werden die Kräfte. Immer kommen verborgenere, tieferliegende zum Vorschein, die ohne manche Vorhergehende nicht thätig werden konnten. Deßwegen machte die Natur Perioden; sie ließ dem Geschöpf Zeit, von einer überstandenen Anstrengung sich zu erholen, um eine andre noch [366] schwerere frölich anzufangen und zu vollenden: denn ohne Zweifel sind, wenn das Gewächs die Blume hervortreibt, oder sich in ihr die Frucht bildet, innigere, feinere Kräfte regsam, als da der Saft in den Stengel trat, und sich die untersten Blätter an ihm erzeugten. Nicht eher verläßt die Natur, dem ordentlichen Laufe nach, ihr Geschöpf, als bis alle physischen Kräfte desselben in Anwendung gebracht, das Innerste gleichsam herausgekehrt, und die Entwicklung, der bei jedem Schritt eine gütige Epigenese beitritt, so vollendet ist, als sie unter gegebnen Umständen vollendet werden konnte.
Man ist gewohnt, jedes einzelne, zumal lebendige Wesen, als ein isolirtes Ganze zu betrachten; eine nähere Ansicht aber zeigt, daß es mit Boden, Klima, Witterung, mit dem periodischen Athem der ganzen Natur zusammenhängt, daß es eben hiernach länger oder kürzer dauert, früher alt wird, oder sich leichter verjünget. Der
[367] Mensch, ein vernünftiges, moralisches und politisches Geschöpf, lebt vermöge dieser Fähigkeiten und Kräfte in einem eignen, unendlich weiten Element. Seine Vernunft hängt mit der Vernunft andrer, seine moralische Bildung mit dem Betragen andrer, seine Anlage sich als ein freies Wesen selbst und mit andern zu constituiren, hangt mit der Denkart, der Billigkeit und der wirksamen Unternehmung Vieler so genau zusammen, daß er außer diesem Element ein Fisch auf trocknem Lande, ein Vogel in Luftleerem Raum seyn muß. Seine besten Kräfte ersterben; seine Fähigkeit bleibt ein todtes Vermögen, und alle Anstrebung außer Zeit, Ort und Mithülfe der Elemente ist wie das Erscheinen einer Blume mitten im Winter. Die Natur macht Jahreszeiten, sie fördert Kräfte; sie fördert sie auch im Menschengeschlechte. Einzelne Menschen, Stände, Corporationen, ganze Gesellschaften und Völker können mit diesem Strome nur fortgehn; sie haben alles gethan, wenn sie in seinem Laufe klug
[368] steuren. Glaube doch niemand, daß wenn alle Regenten auf der Erde vom stolzesten Negerkönige an bis zum mächtigsten Khan der Tatern sich zusammen verbänden, das Heute zum Gestern zu machen, und die fortgehende Entwicklung des gemeinsamen Menschengeschlechts, sie möge zur Jugend oder zum Alter führen, auf immerhin zu hindern, daß sie damit jemals zum Zweck kämen. Für weise Regenten kann dies auch nie ein Zweck werden, eben weil in der ganzen Fruchtlosen Bemühung kein Verstand ist.
Ein weiser Fürst wird sich also stets als einen Haushälter, nicht als einen Gegner der Natur betrachten; vielmehr jeden Umstand, den sie ihm darbeut, aufs beste zum Besten wenden. Hier fallen Blätter ab, dort liegt schon ein ganzer Herbst von Blättern im Leichengewande; er wird dieselbe nicht an ihre vorige Stellen auf Zweige und Gipfel setzen wollen: denn kann er ihnen ihre vorige Frische, vermag er ihnen den
[369] Saft wiederzugeben, der sie einst mit dem Baum zu einem lebendigen Ganzen machte? Vermag er dieses aber nicht, wie? wenn er sich mit einem falben Kranz verwelkter Blätter kränzen wollte, weil sie ehedem etwas anders, als sie jetzt sind, waren? Was die Natur nicht halten konnte, wollte das der Gärtner halten? und zwar ihren Zwecken nicht gemäß, sondern gerade zuwider? Unendlich schöner ist das Werk, der Natur nachzugehn und auf ihre Zeiten zu merken, Kräfte zu wecken, woirgend sie schlummern, Gedanken, Thätigkeit, Erfindung, Lust und Liebe zu befördern, in welchem Felde nützlicher Beschäftigungen es auch seyn möge. Endlich kommt die Nothwendigkeit und treibt mit einem eisernen Scepter; wer der Vernunft und Billigkeit dient, kommt der Nothwendigkeit zuvor, und darf oft mit Oberons Lilienstabe nur winken, so sprießen hier statt der verwelkten neue Blumen, so reifen dort, wenn die Blüthenzeit vorüber ist, nährende Früchte.
[370] Der jungen Sprosse kommt er zu Hülfe, und nimmt sie in Schutz gegen das unterdrückende Unkraut. Den alten wilden Baum hauet er nicht ab, sondern impft ihm mildere Früchte ein, und der verjüngte Baum wird sich selbst seines edleren Daseyns wundern. Ein kleiner Vorsprung solcher Art, den Ein Volk vor dem andern nahm, hat ihm oft auf Jahrhunderte unerreichbare Vorzüge gegeben. Daß England in einigen Constitutions- Finanz- und Handelspunkten das was in andern Nationen lange vorher keimte, aber aus Thorheit und Leidenschaft unterdrückt ward, nur etwas früher annahm und zur Anwendung brachte; dies hat ihm die Stelle gegeben, auf welcher es jetzt steht. Nach mancherlei gewaltsamen Revolutionen, die wie blutige Gewitter-Regen vorübergingen, gelang es eben der friedsamsten, der stillsten Revolution eine neue Wirksamkeit zu erregen, und dadurch das Glück einer lebendigen Verfassung auf Jahrhunderte hin zu gründen. Hätte es zu Wilhelms
[371] 3. Zeiten die Feudal- Kriegs- und Forstgesetze Wilhelms des Eroberers erneuern wollen, wo wäre es jetzt?
Alle Stände und Einrichtungen der Gesellschaft sind Kinder der Zeit; diese alte Mutter gebahr, nährte, erzog sie; sie schmückte, stattete sie aus, und nach einem langen oder kurzen Leben begräbt sie sie, wie sie sich selbst begräbt und wieder verjünget. Wer also sein Daseyn mit der Dauer eines Standes oder einer Einrichtung verwechselt, macht sich selbst unnöthige Plage; was vor Dir war, wird auch hinter Dir seyn, wenn es seyn soll. Handle, so viel an Dir ist, klug und weise; ihren grossen Gang wird die Zeit gehen und das Ihrige vollenden. Du für Deine Person, sei mehr als dein Stand ist: so wirst du in ihm, er altre wie er wolle, für dich selbst und für andre stets jung seyn, ja in der dunkleren Nacht wirst du als ein helleres Gestirn glänzen. Wer sich nicht über die Brustwehr seines Standes erhebt, [372] ist kein Held in demselben; hinter ihr mag er kriechen, sitzen oder liegen. Der Stand als solcher macht nur Puppen; Persönlichkeit macht Werth und Verdienst. Je mehr jene träge, todte Hülle, die den besten wie den schlechtsten Kern verbirgt, dahin sinkt; desto entschiedner wird der schöne, reifere Kern sichtbar. Gewiß ists also kein Rückgang, vielmehr eine Evolution der Zeiten, wenn der Stand nicht Alles seyn kann, sondern man in jedem Stande Personen, Menschen, wirkende Geschöpfe zu sehen begehret. Und da ohne neueinbrechende Barbarei, bei den täglichvermehrten Bedürfnissen Europa’s dies Gefühl nothwendig zunehmen muß: so bleibt nur Ein Rath übrig, der Jeden vor der Veraltung seines Standes sichert: „sei Etwas in deinem Stande; sodann wirst du der Erste seyn, die Fehler desselben einzusehn, zu vermeiden, und zu verbessern. Sein Alter wir dir verjüngt dastehn, eben weil etwas in Dir ist, das jede Form schmücken würde, und in jeder Form lebet.“
[373]
Der vortrefliche Paolo Sarpi hat eine Abhandlung geschrieben, deren Titel mich sehr reizte. Er hieß: „wie Meinungen in uns gebohren werden und sterben“ ich war auf ihren Inhalt sehr begierig. Ob ich nun gleich aus Foscarini’s Auszuge bei Griselini sah, daß sie, was ich vermuthete, nicht eigentlich enthalten möchte: so kam mir diese trefliche Aufgabe doch mehrmals in die Gedanken. Viel sind der Wege, auf denen wir von der frühesten Kindheit an zu Meinungen gelangen, mit denen wir uns Leib und Seele überkleiden; viele davon halten sehr vest, und die albernsten haben wir meistens hinter unsre innerste neunte Haut verborgen, wo sie ja niemand antaste! Unglücklicher Weise tastet sie die Zeit dennoch an, oft mit sehr rauhen Händen; und wer nun, um sein Leben, d. i. Vernunft, Ruhe und das Selbstgefühl eines inneren Werthes zu retten,
[374] dem antastenden Satanas nicht Haut und Haar von Meinungen lassen kann, der ist in übeln Händen. Denn was bloße oder gar falsche Meinung ist, geht im scharfen Feuer der Läuterung gewiß unter. Ists nicht aber etwas Besseres, was dagegen empor kommen soll? Statt der auf Autorität, oder gar, wie Franklin erzählt, aus Höflichkeit angenommenen Meinungen soll Wissen aus Ueberzeugung, Vernunft durch eigne Prüfung bewährt, und eine selbst-errungene Glückseligkeit unser Theil werden. Der alte Mensch in uns soll sterben, damit eine neue Jugend emporkeime.
„Wie aber soll das zugehen? Kann der Mensch in seiner Mutter Leib zurückgehen und gebohren werden?“ Auf diesen Zweifel des alten Nikodemus kann keine andre Antwort gegeben werden, als: „Palingenesie!“ Nicht Revolution, aber eine glückliche Evolution der in uns schlummernden, uns neu-verjüngenden Kräfte.
[375] Was wir Ueberleben unsrer selbst, also Tod nennen, ist bei bessern Seelen nur Schlummer zu neuem Erwachen, eine Abspannung des Bogens zu neuem Gebrauche. So ruhet der Acker, damit er desto reicher trage: so erstirbt der Baum im Winter, damit er im Frühlinge neu sprosse und treibe. Den Guten verlässet das Schicksal nicht, so lange er sich nicht selbst verläßt, und unrühmlich an sich verzweifelt. Der Genius, der von ihm gewichen schien, kehrt zu rechter Zeit zurück, und mit ihm neue Thätigkeit, Glück und Freude. Oft ist ein Freund ein solcher Genius; oft ists ein unerwarteter Wechsel der Zeiten. Opfre diesem Genius, auch wenn du ihn nicht siehest; hoffe auf das zurücksehende, wiederkehrende Glück, wenn du es gleich entfernt glaubest. Ist die linke Seite dir wund, lege dich auf die rechte; hat der Sturm dein Bäumchen hieher gebeugt; suche es dorthin zu beugen, bis es wieder seine aufstrebende Mitte erreiche. Du
[376] hast dein Gedächtniß ermattet; bilde deinen Verstand! Du hast dem Scheine zu emsig nachgestrebet, und er hat dich betrogen; suche das Seyn, für dich selbst; es kann doch nicht trügen. Unverdienter Ruhm hat dich verwöhnet; danke dem Himmel, daß du sein los bist, und suche den, der dir nicht geraubt werden kann, in eigenem Werthe. Nichts ist ehrwürdiger und edler, als ein Mensch, der, Trotz des Schicksals, in seiner Pflicht beharret, und wenn er von aussen nicht glücklich ist, es wenigstens zu seyn verdienet: er wirds zu seiner Zeit gewiß werden. Die Schlange der Zeit wechselt oft ihre Häute, und bringt dem Mann in der Höle, wo nicht den fabelhaften Juweel auf ihrem Haupt oder die Rose in ihrem Munde, so doch Kräuter der Arznei zur Vergessenheit des Alten und zur Wiedererneurung.
Die Philosophie ist reich an Mitteln, die uns über erlittene Unfälle trösten sollen; unstreitig aber [377] ist das beste Mittel dagegen, wenn sie uns stärkt, neue Uebel zu ertragen, und uns ein vestes Beruhen auf uns selbst mittheilt. Der meiste Wahn, der unsre Seelenkräfte schwächt, kommt von aussen; nun aber sind wir nicht die Gegenstände um uns her. Traurig ists freilich, wenn einem Menschen die Lage, in der er lebt, mit allen ihren Umständen und Kostbarkeiten so verleidet, so verbittert ist, daß er auch keine Traube und Blume derselben anrühren mag; sie zerfallen ihm unter der Hand zu Asche, wie jene Sodomsfrüchte. Indessen ist Er doch nicht die Lage: er ziehe, wie die Schildkröte die Glieder ein, und sei was Er seyn kann und seyn soll. Je mehr er vom Erfolg seiner Handlungen wegsiehet: desto mehr ruhet er in der Handlung; dadurch wird die Seele stärker, und belebet sich wie eine neuaufspringende Quelle. Die Quelle berechnet nicht, über welche Erdlagen ihr Strom fliessen, welche fremde Theile er annehmen, und wo er endlich [378] versiegen werde; sie strömt aus eigner Fülle, in unaufhaltsamer Bewegung. Was Andre uns von uns selbst zeigen, ist nur der Schein; er hat immer einigen Grund und ist nie ganz zu verachten; es ist aber nur der Wiederschein in ihnen, der von ihrer eignen, oft zerbrochnen und düstern Gestalt zurückgespielt wird, nie unser Wesen. Laß das kleine Gewürm um und über Dich kriechen, und sich äuserst bemühen, daß man dich für todt halte; sie wirken in ihrer Natur, wirke Du in der Deinen und lebe. Ueberhaupt hält uns unsere Brust, unser Charakter viel mehr und länger aufrecht empor, als alle Spitzfindigkeit des Kopfs und jede Verschlagenheit des Geistes. Im Herzen leben wir, nicht in den Gedanken. Meinungen andrer können ein günstiger oder feindlicher Wind seyn in unsre Segel; Umstände können uns, wie das Meer die Schiffe, hier festhalten, dort gewaltig fördern; Schiff und Segel, Compaß, Steuer und Ruder sind aber doch unser. Ergraue [379] also nie wie der alte Tithonus, im Wahn, daß deine Jugend dahin sei; vielmehr fahre, mit neuerweckter Thätigkeit, täglich aus deinen Armen eine neue Aurora.
Noch sollte ich von dem unsern Zeiten so angemessenen größern Problem reden: ob auch Völker, Länder und Staaten veralten, oder sich wieder verjüngen können? und durch welche Mittel dies geschehe? Die Meinungen sind über diese Frage sehr getheilt, und da jede für sich Beispiele aus der Geschichte anzuziehen weiß: so zeigt eben diese Verschiedenheit der Antworten schon von der Unbestimmtheit der Frage. Was kann bei einem Volk, in einem Lande und Staate veralten? was kann, was soll bei ihm verjüngt werden? Ist es der Boden? die Luft? der Himmel? und wie werden diese ins Bessere oder Schlechtere verändert? Sind es Aecker, Wiesen, Wälder, Salzquellen,
[380] Bergwerke, Bäume? oder ists ihre Bearbeitung, der Gewinn und die Anwendung ihrer Producte? Sind es diese allein, oder ists der Mensch selbst, sein Geschlecht, seine Sitten, seine Erziehung und Lebensart, seine Grundsätze und Meinungen, seine Verhältnisse und Stände? Und wie werden diese verändert? Durch Reden und Schriften, oder durch Einrichtungen und ein Zweckmäßig-fortgesetztes Handeln? Und welchen Zweck soll diese Veränderung erreichen? Den Ueberfluß Weniger? die Bequemlichkeit und Trägheit Vieler? oder die Glückseligkeit Aller? Und worinn bestehet diese? In Künsten und Wissenschaften? im Scheine oder im Seyn? in schwatzhafter Aufklärung oder in wahrer Bildung? Alle diese und vielleicht mehrere Fragen müßten mit feiner Rücksicht auf Ort, Zeit und Umstände, mit Zusammenhaltung älterer Beispiele und ihrer Folgen erörtert werden, woraus sich alsdenn vielleicht ergäbe:
[381] 1) Daß Land und Volk nie oder sehr spät veralten; daß aber Staaten, als Einrichtungen der Menschen, als Kinder der Zeiten, ja oft als blosse Gewächse des Zufalls, glücklicher Weise Alter und Jugend, mithin eine immer fortgehende unmerkliche Bewegung zum Wachsthum, zur Blüthe, oder zur Auflösung haben.
2) Daß Menschen, oft einzelne Menschen diese Perioden verzögern oder befördern können, ja daß man sie meistens durch die entgegengesetzten Mittel befördere.
3) Daß wenn Kräfte im Streben sind, sowohl zur Blüthe als zur Auflösung, ihr Gang schneller sei und sich ihnen Alles zu assimiliren scheine, bis kleine Umstände, oft wiederum einzelne Menschen, dem Strom eine andre Richtung geben, die abermals ein Resultat der lebendigen Gegenwart der Dinge ist, ob sie gleich bisweilen eine Wirkung des Zufalls scheinet.
[382] 4) Daß endlich, um jenen fürchterlichen Anfällen, die man Staatsumwälzungen nennet und die dem Buch der Menschenordnung ganz fremde werden sollten, zuvorzukommen, der Staat kein andres Mittel habe, als das natürliche Verhältniß, die gesunde Wirksamkeit aller seiner Theile, den muntern Umlauf seiner Säfte zu erhalten oder wiederherzustellen, und nicht gegen die Natur der Dinge zu kämpfen. Früher oder später muß die stärkste Maschine diesem Kampf unterliegen; die Natur aber altert nie, sie verjünget sich periodisch in allen ihren lebendigen Kräften.
Die schüchterne Natur des Menschen, die immer mit Furcht und Hoffnung umgeben, oft ferne Uebel als gegenwärtig ahndet, und Tod nennet, was ein gesunder Schlummer, eine nothwendige, Heilbringende Erholung ist, betrügt sich meistens in ihren Weissagungen über Länder, und Reiche. Es schlafen Kräfte, die sie nicht gewahr wird; es
[383] entwickeln sich Fähigkeiten und Zeitumstände, auf die sie nicht rechnen konnte; gewöhnlich aber steuert unser Urtheil, wenn es auch wahr ist, zu sehr auf Eine Seite. „Soll Dies leben, sagt man, so muß Jenes sterben,“ ohne daß man bedenkt, ob nicht Beides leben und sich einander günstig mittheilen möge. Den guten Bischof Berkelei, der kein Poët war, begeisterte sein wohlthätiger Eifer für Amerika zu folgenden prophetischen Versen, die ich mit einer, wiewohl sehr freien Uebersetzung mittheile:
Verses on the Prospect of Planting
Arts and Learning in America. By the
late Dr. Berkeley, Bishop of
Cloyne. 1725.
The Muse, disgusted at an age and clime,
Barren of every glorious theme,
In distant lands now waits a better time,
producing subjects worthy fame;
In happy climes, where from the genial sun
And virgin earth such scenes ensue,
the force of art by nature seems outdone
and fancied beauties by the true:
In happy climes, the seat of innocence,
where nature guides and virtue rules,
where man shall not impose for truth and sense
the pedantry of courts and schools:
There shall be sung another golden age,
the rise of empire and of arts,
the good and great inspiring epic rage,
the wisest heads and noblest hearts.
Not such as Europe breeds in her decay;
such as the bred, when fresh and young,
when heav’nly flame did animate her clay,
by future poets shall by sung.
Westward the course of empire takes its way;
the four first acts already past,
A fifth shall close the drama with the day;
Time’s noblest offspring is the last.
[386]
Die Muse, matt der Gegend, matt der Zeit,
und matter noch des Ruhmes, den sie pries,
erhebt den Fittig schon, (noch ohne Flug,)
und suchet beßre Helden, bessern Ruhm,
In jüngern Gegenden der Erde, wo
Natur von Kunst, die Wahrheit von dem Schein,
Genuß von Phantasie, von Ränken Kraft
und Unschuld noch nicht überwachsen ist.
Da suchet sie ein jungfräuliches Land,
zu stiften eine neue goldne Zeit,
in der das Gute groß ist, und der Ruhm
den Edelsten, den Weisesten nur krönt.
Ein jüngeres Europa suchet sie,
nicht das veraltende, mühselige,
wo Hof, Gericht und Schulen, Kirch’ und Staat
ein einzger grosser Pedantismus sind.
O Muse, nimmt du Westwärts Deinen Flug?
Dort zu beginnen unsern fünften Act:
(Denn vier sind schon vorüber,) daß das Werk
der Zeiten ende mit dem schönsten Schluß?
So weissagte der gutmüthige Bischof, und wenn seinem Geist anjetzt ein Blick über das aufstrebende Amerika würde: so würde er vielleicht mit eben demselben Blick gewahr, daß auch in den Armen seines alten Tithonus, Europa, eine neue Aurora schlummre. Nicht vier, kaum drei Acte sind im großen Schauspiele dieses auch jungen
[388] Welttheils vorüber; und wer sagt uns, wie oft noch der alte Tithonus des Menschengeschlechts sich auf unserm Erdball neu verjüngen könne, neu verjüngen werde?
Anmerkungen (Wikisource)