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Thüringer Sagenbuch. Erster Band/Das unsichtbare Dorf

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Osterburg und Nadelöhr Thüringer Sagenbuch. Erster Band
von Ludwig Bechstein
Zigeuner im Lande Henneberg
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[57]
37.
Das unsichtbare Dorf.

Zwischen der Stadt Themar und den Dörfern Marisfeld und Oberstadt liegt ein weites Feld, eine sogenannte Wüstung, welche das Gertles, auch Gätles und Gartles, heißt. [58] Dort hat vor Zeiten ein großes Dorf gestanden, dessen Urkunden vom Jahre 914 schon unter dem Namen Gartilar gedenken, und das schon im 14. Jahrhundert zur Wüstung geworden ist. Auf welche Weise dieß geschehen, weiß niemand zu sagen. Die Sage aber spricht: Das Dorf ist noch vorhanden, man sieht es nur nicht. Ein Reisender, der an einem Sonntage durch jene Gemarkungen schritt, sah vor sich ein schönes Dorf liegen, und vernahm das erste Geläute der Kirchenglocken. Als er das Dorf betrat, sah er auch die Kirchengänger zahlreich aus ihren Häusern treten und der Kirche zuschreiten, ihre Tracht aber war auffällig alt. Der Reisende grüßte einige der Kirchengänger, und fragte sie, wie ihres Dorfes Name sei? Aber keiner dankte dem Gruß, keiner sprach ein Wort, und aller Augen waren starr und glanzlos, und ihre Gesichter todtenbleich. Da grausete es dem Reisenden, und von einem unaussprechlichem Schauer gepackt, enteilte er dem unheimlichen Dorfe.

Gar wundersames kündet die Sage von Glockenschlage der Mitternachtstunde im verschwundenen Dorfe Gertles. Wer den Muth hat, diesen zu hören, kann zu großem Glück gelangen. Aber er muß dem Schall in jeder der heiligen 12 Nächte lauschen, in der mythischen Zeit vom 1. Weihnachtstage an bis zum h. Dreikönigestage. Ein Bauer aus Marisfeld hatte diesen Muth. Jede Nacht in den Zwölften ging er auf das verrufene Feld hinaus, hörte nichts, sah nichts – plötzlich in einer der Nächte schlug dicht in seiner Nähe ein so furchtbar dröhnender Glockenschall an sein Ohr, als ob er unmittelbar unter der großen Erfurter Domglocke stehe, und ehe der vierte Schlag erfolgte, hatten ihn Schreck und Grausen schon zu [59] Boden geworfen, an dem er sich im bangen Schweigen krümmte, wie ein Wurm. Halb sinnlos blieb er liegen bis zum Morgengrauen, dann wankte er nach Hause und lag lange tödtlich krank. Dann aber genaß er, und begann wieder zu arbeiten, und nun glückte ihm alles, alles, was er begann; er hatte reiche Aernten, und es würde Korn und Weizen gewachsen sein, wenn er Steine gesäet hätte. Er wurde der reichste Mann des Dorfes und zwar ohne allen Schaden an seiner Seele. Aber von der Zeit an entstand das Sprichwort, wenn einer zu unbegreiflich schnell wachsendem Reichthum gelangt: „Der hat es im Gertles zwölf schlagen hören.“ –