Teuerdank’s Brautfahrt
Es war an einem Aprilmorgen des Jahres 1477, als die Bewohner der Reichsstadt Aachen mit der Nachricht überrascht wurden, auf der Frankenburg, unweit der Stadt, sei der künftige Erbe des heiligen römischen Reichs, Maximilian, Sohn Kaiser Friedrich's des Dritten angekommen.
Wohl wußte man, daß der Prinz schon seit einem Monat sein Hoflager von Wien nach Köln verlegt hatte, und, wie überall, so wollte die öffentliche Meinung auch in Aachen von hochpolitischen Zwecken wissen, die ihn näher an die Westgrenze des Reiches geführt hätten. Waren doch Aller Augen zu jener Zeit nach Gent gerichtet, wo Maria, die junge, von Krieg und Aufruhr zugleich bedrängte Herrin von Burgund und Niederland, in ihrer Hofburg noch immer wie eine Gefangene gehalten sein sollte, obgleich sie dem Aufstande der niederländischen Städte durch Bewilligung aller Freiheiten längst die Spitze abgebrochen und gegen den gleichzeitigen Einfall der Franzosen in Burgund den Schutz und die alte Treue ihrer Staaten angerufen hatte. – Freilich, wer Maria in seiner Gewalt hielt, dem war Macht gegeben, durch ihre Hand über die Zukunft der reichen und blühenden Lande vom Jura bis zur Nordsee zu bestimmen, ja durch ein so mächtiges, wenn auch nur unter dem Herzogstitel vereinigtes Reich den Schwerpunkt des europäischen Gleichgewichts zu verrücken. Fast jeder der tonangebenden Höfe hatte deshalb schon für einen seiner Prinzen um sie geworben, und Ludwig der Elfte von Frankreich mochte seinen Raubzug in Burgund noch so sehr mit dem Vorgeben beschönigen, er wolle sich nur des heimgefallenen Mannlehens versichern: Niemand täuschte sich über seine Absicht Maria's Hand für den Dauphin zu erzwingen, denn mehr als Alles zeugte gegen ihn das damals allgemeine Sprüchwort: „Wer führt die Braut heim?“
Kein Wunder, daß unter solchen Umständen das plötzliche Auftauchen Maximilian's in Köln sofort die Deutung hervorgerufen hatte, auch er möge seine frühere Bewerbung wieder aufgenommen haben. Denn es war noch Allen sehr wohl im Gedächtniß, wie vor wenigen Jahren Kaiser Friedrich und Herzog Karl der Kühne, Maria's Vater, zur Verlobung ihrer eben erwachsenen Kinder in Trier zusammengekommen waren, aber auch, wie der ränkevolle elfte Ludwig es verstanden, das glühende Verlangen Karl's nach dem Königstitel dem Kaiser in verdächtigem Lichte darstellen zu lassen, wie dann das Mißtrauen des Einen den Jähzorn des Andern hervorgerufen, der in seiner Würde verletzte Kaiser plötzlich Trier verlassen und Karl von Stund' an einen Haß auf die deutsche Verbindung, wenn auch nicht auf Maximilian persönlich, geworfen hatte. Ja, kurze Zeit nachher, im Kölner Bischofsstreite, war man schon Zeuge gewesen, wie das burgundische Heer vor Köln dem kaiserlichen feindlich gegenüberstand und wie nur durch Vermittlung des päpstlichen Legaten eine leidliche Aussöhnung herbeigeführt wurde. Aber seit Maria's kriegerischer Vater am 5. Januar bei Nancy gegen Schweizer und Lothringer das Leben verloren hatte, zweifelten die guten Aachener keinen Augenblick, daß, wenn die junge Herzogin nicht in fremder Gewalt wäre, kein Anderer, als der ritterliche Max ihr Erwählter sein würde; waren doch Beide Geschwisterenkel, und wollte man doch wissen, daß sie seit ihrer ersten Verlobung treu an einander hingen.
Als sich daher jetzt die Kunde verbreitete, der Prinz sei auf der Frankenburg, eine Viertelstunde Weges von der Stadt, also fast Angesichts der burgundischen Grenze eingetroffen, da war es Allen klar, daß es sich um wichtige Ereignisse, vielleicht um Krieg oder Frieden, handele, und die Nachbarn riefen sich die außerordentliche Neuigkeit aus den Fenstern oder vor den Thüren zu, je nachdem der graue Aprilmorgen den Einen mehr und den Andern weniger lange in den Federn zurückgehalten hatte.
„He, Gevatter,“ hörte sich aus einem Fensterchen am [548] Portal der alten, unlängst zum Rathhause umgewandelten Kaiserpfalz ein ehrbarer Dachdeckermeister anrufen, als er in seinem niedrigen, schwarzen Filzhut und dem braunen, mit nachgemachtem Pelz besetzten „Trappert“, dem bei den Bürgern noch üblichen Urvater der vornehmeren „Schaube“, vor einem Karren mit Hohlziegeln einher schritt, um die Schäden auszubessern, die der Aprilsturm am Dache der Pfalz angerichtet, „he, Gevatter, wißt Ihr's schon?“
Der Meister sah auf und blickte in das spitznasige, pfiffige Gesicht des kleinen Rathsschließers oder „Castellans“, wie er sich lieber nennen hörte, der in Hemdsärmeln, aber zum Schutze gegen die frische Morgenluft schon mit der rothen, hinten im Nacken mit Zaddeln gezierten Mütze auf dem Kahlkopfe, im Fenster lehnte. Das Männchen galt für einen jener Spaßvögel, die man im benachbarten Flamland „Geestigart“ zu nennen pflegte, ohne Unterschied, ob sie ihre Späße auf mehr oder weniger geistige Art zu machen verstanden.
„Gott zum Gruß, Gevatter, was soll ich wissen?“ erwiderte der Angeredete stehen bleibend.
„Daß Prinz Max da ist und bei Euch in die Lehre gehen will!“
Die Gesellen, die den Karren zogen, lachten laut auf und blieben gleichfalls stehen. Vorübergehende traten hinzu.
„Danke für die Ehre!“ rief der Meister launig nach oben. „Wozu sollte der Prinz auch so hoch hinauf wollen, mit mein Handwerk zu lernen?“
„Weil es am Dache von Burgund etwas zu flicken giebt!“
„Glaub's!“ stimmte der Dachdecker mit Lachen bei.
Inzwischen hatte das laute Reden und Lachen auch die Nachbarsleute herbeigezogen. Baarhäuptig mit lang herunterhängendem, über der Stirn glattgeschnittenem Haar, der sogenannten „Kolbe“, oder schon im niedrigen Filzhut zum Ausgehen, kamen sie in ihren farbigen Wollenblousen, den Tuniken des Nordens, in ihren strumpfartigen Beinkeidern und farbig ausgeschlagenen Lederschuhen aus den Häusern geschlüpft, wie stelzbeinige Hofhähne, wenn sie nach dem Frühwetter ausschauen oder Morgenfutter wittern, und bald schwirrte es, gleich dem Gegacker auf dem Hühnerhofe, von Fragen und Gegenfragen laut durcheinander.
„He, Jungfer Sibylle,“ rief der Kleine einem Mädchen zu, das im braunen Leibchen über dem hochgeschürzten rothen Rocke, ein weißes Tuch gleich dem Weisel der Nonnen über dem Flachshaar mit langen Zöpfen, zwei Milcheimer am Schwengel über den Schultern trug und eben in das Portal einbiegen wollte, „he, Jüngferchen, Du kommst von der Frankenburg? Hohe Gäste angekommen?“
„Ja, Herr Castellan, der Prinz ist da.“
„Mit großem Gefolge?“
„Ein alter Ritter, ein schöner welscher Junker und viele Pferde und Hunde.“
„Pferde und Hunde als Gefolge!“ erscholl es in lautem Gelächter.
„Der Heerbann ist auf den Hund gekommen!“ witzelte das Männchen. „Aber ich sag' es Euch: Krieg giebt es doch, großmächtigen blutigen Krieg ... mit französischen Wölfen und vlämischen Sauen! Wo jagt man denn, Kleine?“
„Kann's nicht sagen, Herr. Aber da kommt Einer, der's besser weiß. Ist ein Vetter zum Herrn Waldvogt.“
Damit deutete das Mädchen auf die Straße, auf welcher zwei Männer hinter einander gingen, und wollte eintreten.
„Der Rothe?“ fragte der Rathsschließer noch.
„Nein, der Bunte!“ lachte das Mädchen und verschwand unter dem Portal.
Der Bunte, ein junger Mann in der Tracht der Armbrustschützengilde, stutzermäßig im kurzen bunt gestreiften, mit grauem Kaninchenfell besetzten „Scheckenrocke“, dessen am Handgelenk enge, bis oben aufgeschlitzte Aermel eine hellere Jacke durchblicken ließen, stolzirte in den eng anliegenden Beinkleidern und den langen Schnabelschuhen, einen Federstutz am Barett, die Armbrust seitwärts am Gürtel hangend, keck daher und sah sich, als er die Gruppe erreichte, alsbald von Fragenden umdrängt.
„Ihr kennt den Waldvogt?“
„Wißt Ihr, warum Prinz Max gekommen?“
„Nur zum Jagen?“
„Wo will er jagen? Was will er jagen?“
Auch der Rothe war jetzt herzugetreten und, als er die Fragen hörte, überrascht stehen geblieben.
„Das kann ich Euch ganz genau vermelden,“ erwiderte sichtlich geschmeichelt der Bunte, indem er sich selbstgefällig das lange Haar aus beiden Seiten des Gesichtes strich. „Der kaiserliche Waldvogt ist mein Herr Vetter. Prinz Max wollte längst gern auf Sauen jagen. Sintemal aber das Rudel mit den stärksten Ebern zwischen dem Hohen Venn und dem Ardennerwald wechselt, so hat mein Herr Vetter vorerst an den burgundischen Wildmeister in Verviers schreiben lassen, er solle ihm zu wissen thun, wann das Schwarzwild hüben liege, und ob er zu einer Grenzjagd mit dem Prinzen halb Part mit ihm machen wolle. 's hat lange gedauert, aber endlich ist Antwort kommen. Am hohen Venn, unweit der Grenze, liegt das Wild, und der Prinz wollte heute in aller Frühe mit meinem Herrn Vetter von der Frankenburg wegreiten. Er muß schon fort sein.“
„Mit Verlaub,“ nahm jetzt der Rothe das Wort, „welchen Weg nehmen sie da?“
„Ueber Eupen gen Montjoie,“ antwortete der junge Mann leichthin.
„Der Prinz wird doch nicht über die Grenze gehen?“ fragte Jener mit auffallendem Eifer weiter.
„Je nachdem. Warum auch nicht?“ versetzte der Andere, sich verwundert umwendend, zumal da dem Rothen ein Ausruf des Schreckens, wenn auch in unverständlicher Mundart, entfuhr. Und jetzt erst richtete sich die allgemeine Aufmerksamkeit auf den neuen Ankömmling.
Es war eine seltsame Erscheinung, der hagere Mann in der fremdartigen Tracht, der mit Fiedel und Bogen am Gürtelhaken als wandernder Spielmann vor ihnen stand. Auf dem kurzgekräuselten Haar von jener aschgrauen Farbe, die nicht altert, weil man ihr das Alter nicht ansehen kann, trug er eine rothe Filzkappe mit grünem Zweige. Ueber seinen Schultern hing eine gleichfalls rothe „Gugel“, jene aus einem Stück Tuch mit Kopfloch bestehende einfachste Gattung aller Mäntel, die bei Landbewohnern üblich war. Die grauen Beinstrümpfe dagegen hatte er, nach Art der Waldbewohner früherer Jahrhunderte, von den Schuhen bis über die Wade mit Bast umwunden.
Das Auffallendste an ihm aber war nicht die Tracht, sondern das Gesicht. Denn eingerahmt von ungewöhnlich dunklen, schräg nach oben laufenden Brauen über kleinen, grauen, verschmitzt blickenden Augen und einem krausen, nach burgundischer Sitte ausgezackten blonden Barte, erhob sich auf der ursprünglich leichtgebogenen Nase wie ein Vorgebirge ein großer röthlicher Höcker. Und wunderbar, dieses Promontorium schien nicht am Nasenbeine festgewurzelt, sondern nur ein Auswuchs der Haut zu sein, denn es ließ sich, je nach dem Willen seines Besitzers, durch ein bloßes Zucken der Gesichtsmuskeln auf so lächerliche Weise verschieben, daß derselbe sich schon mit dieser Kunst allein hätte für Geld sehen lassen können. Es war damals nichts Ungewöhnliches, daß wandernde Spielleute zugleich mehr oder weniger die Possenreißer spielten, um mit größerem Beifall auch größere Kupfermünzen zu ernten; aber das Kunststück, das der Rothe jetzt unmittelbar nach seinem Ausrufe und, wie es dem Kleinen im Fenster schien, absichtlich um die Aufmerksamkeit von seiner Frage abzulenken, den ihn neugierig Angaffenden zum Besten gab, verfehlte selbst auf die an derbe Späße Gewöhnten seine Wirkung nicht.
„He, was gafft Ihr?“ rief er, mit vorgestrecktem Kopfe im Kreise herum, die Nächsten groß anstarrend. „Habt Ihr noch keine richtige Nase gesehen? Da seht sie, seht sie, seht sie!“ Und mit tiefem Athemzuge seine weiten Nasenflügel aufblähend und sie zittern machend, schob er mit demselben Athem Höcker und Brauen in die Höhe und ließ sie im raschen Wechsel so krampfartig auf- und niedertanzen, daß die anfangs verblüffte Menge alsbald in ein unauslöschliches Gelächter ausbrach.
„Ein Affe, ein Affe!“ schrie es und lachte es von allen Seiten.
Auch der Kleine im Fenster schien seinen Verdacht vergessen zu haben und erlustirte sich weidlich an dem Schauspiele. Dann aber konnte er dem Verlangen nicht widerstehen, sich mit seinem grotesken Mitbewerber um die Gunst des Publicums auf „geistige Art“ zu messen.
„He, Nasenkönig,“ lachte er herunter, „was bist Du denn für ein Landsmann?“
[549] „Ein Zwilling,“ rief der Rothe hinauf, und schallendes Lachen belohnte die Antwort.
„Und was ist das für ein Wunderland, wo die Zwillinge wachsen?“
„Gelderland.“
„Ei, was Du sagst! Muß ein fruchtbar Land sein! Werden Alle da zu Zweit geboren?“
„Alle. Denn Jedermann kommt dort zuerst als herzoglicher Gelderer und zum Zweiten als verpfändeter Burgunder auf die Welt. Zuletzt geht er aber auch noch dem deutschen Reich zu Lehen.“
„Dann ist's kein Zwilling, dann ist's ein Drilling!“ ließ jetzt der Kleine zum Beifall der Menge seinen Witz leuchten.
„Wenn Ihr mit Eurem Drilling meinen Illing von seinem Zwilling loskauft, dann will ich Euch umsonst aufspielen!“ gab der Rothe zurück.
„Loskaufen vom Illing? Wie hoch ist der Schilling?“ reimte der Kleine weiter.
„Vierundneunzigtausend Goldgulden!“ rief der Rothe. „Denn das ist das Schandgeld, für das der alte Herzog Adolf Egmont von Geldern – Gott sei seiner Seele gnädig! – aus purer Bosheit gegen seinen Sohn sein schönes altes Gelderland an Burgund verpfändet hat!
O Arnold, Arnold, schlimmer Mann,
Das klagt Dich jetzt im Himmel an!“
Ein tiefer Ernst hatte sich bei diesen Worten über das Antlitz des Spielmanns gebreitet. Wie verwandelt lagen die scharfgeschnittenen, nur durch den Höcker verunstalteten Züge, erstarrtem Metallgusse gleich, in den alten Formen, die grauen Augen blickten kummervoll nach oben, und selbst die schneidende Stimme hatte einem tiefen Brusttone Platz gemacht.
Halb mit Verwunderung, halb mit Theilnahme blickten die Umstehenden auf ihn.
„Ei, borgt das Geld von Euern Nachbarn, den Kabeljau's, und zahlt es heim, dann seid Ihr frei!“ rief der Kleine herunter.
„Borgen? Heimzahlen? Heia lustig! Kurzgeschoren haben uns die Burgunder, daß uns Keiner auf unsere Wolle noch einen Stüber borgt! O, sie wissen auch warum! In ihrem Stalle behalten wollen sie uns, um uns in ihren Kriegen auf die Schlachtbank zu schicken, denn die Gelderer sind tapfere Leute! Aber treu sind sie auch, und hängen an ihrem Herzogshause und harren und hoffen, wie die Juden auf ihren Messias, auf einen neuen Lehnsherrn hier in Eurer Krönungsstadt, dem Gott einen starken Arm und ein willig Ohr geben möge für die Noth seines Drillings! – Gott zum Gruß, Ihr Reichsstädter! Ich dachte Euch was zu fiedeln, um ein Zehrgeld zur Reise zu gewinnen, aber nun ist mir's vergangen mitsammt der Reise! Denn daß Ihr's wißt, ich wollte nach Köllen an den Hof des Herrn Maximilian und ihm um guten Dank fremde Weisen vorspielen – darum fragte ich nach ihm! Wer mag jetzt wissen, wann er vom Jagen heimkehrt?“
„Das weiß ich!“ rief der Vetter des Waldvogts. „Wandert nur nach Köllen, Fiedler, schon morgen reitet der Prinz wieder heim. Und da habt Ihr auch ein Stücklein zum Zehrgeld.“ Dabei griff er in das Ledertäschchen, das ihm neben der Armbrust am Gürtel hing, zog ein halbes Schillingsstück hervor, warf es dem Spielmann, der demüthig die Kappe abgenommen hatte, vornehm hinein und stolzirte weiter. Von den Uebrigen aber thaten es ihm die Meisten nach, und Kupfermünzen und kleine Silberstücke fielen in die Mütze des Rothen, der sich gegen Jeden dankbar neigte. Nur der kleine Rathsschließer rührte sich nicht von der Stelle, und als der Rothe jetzt mit letztem Gruße eilig davonzog, raunte er, mit den Augen blinzelnd, zum Dachdecker hinunter:
„Hört, Gevatter! Wenn das kein Spion ist, dann soll dieses unser Rathhaus niemalen eine Kaiserpfalz gewesen sein.“
Und er mochte Recht haben. Denn kaum eine halbe Stunde darauf hätte er von der Frankenburg, des Weges nach Eupen, in gestrecktem Galoppe einen Reiter jagen sehen können, der von rückwärts in Gestalt und Art der Kleidung auf's Haar dem Spielmanne glich. Auch hing ihm am Sattel eine seltsam geformte Holftertasche mit einem länglichen harten Gegenstande darin. Und doch wieder konnte es der Spielmann nicht sein, denn Kappe und Gugel waren jetzt grau, und als der Reiter einmal rückschauend sein Gesicht wandte, war kein Höcker auf seiner Nase, und ein langer grauer Bart wehte ihm im Winde. Entweder also hatte der Rathsschließer Recht, und es war ein verkleideter Spion, oder der Fiedler hatte kein Märchen berichtet, und Gelderland war wirklich das Wunderland der Zwillinge, wo sich doch am Ende durch Vererbung des Bluts das ganze Volk so ähnlich sehen muß, wie ein Ei dem andern.
Der graue Aprilmorgen schien den wetterwendischen Sinn, mit dem er das Licht der Welt erblickt hatte, wie dies auch bei Menschen vorzukommen pflegt, noch um die elfte Stunde abgelegt und mit einem entschiedeneren Charakter vertauscht zu haben. Leider aber mußte ihm bei diesem löblichen Entschlusse mehr das Vorbild seines ungemein strengen Vorfahren, des Winters von 1477, als die Rücksicht auf seine noch in der Wiege liegenden Sprößlinge vor Augen geschwebt haben, denn verdächtig schwarze Wolken umhüllten ihm, wie böse Erinnerungen an Schneewehen, die düstere Stirn, die in Gestalt des Hohen Venn als Wetterprophet über der Umgegend lagerte. Hier, auf jenem gipfellosen, von Torfmooren und Sümpfen unterbrochenen Höhenrücken, der wenige Meilen südlich von Aachen über die Grenze hinweg den belgischen Ardennen zustrebt, mochte er in voller Einsamkeit über winterlichen Gedanken brüten zu können glauben. Aber er irrte sich. Laute Rufe aus hoher Luft schreckten ihm jäh das Gewölk von der Stirn, denn sie verkündeten mit heiseren Trompetentönen, daß es noch Gewalten gebe, die über allen Gedanken, selbst über denen des launischsten aller Despoten, stehen. Es waren lange Züge von Wildgänsen, die von Süden her, den spitzen Winkel ihrer Phalanx nach vorn gekehrt, den Nordwind durchschnitten, um den Triumphzug des nahenden Frühlings über die Erde ertönen zu lassen. Ja, dem finster dreinschauenden Wetterpropheten zum Trotze war einer oder der andere dieser südländischen Frühlingsboten, ja, waren selbst vornehmere Nordpolfahrer, gefiederte Fürsten aus dem Mohrenlande, vom Geschlechte der schwarzen Schwäne, so rücksichtslos, sich vor seinen Augen auf den unwirthlichen Sumpfmooren niederzulassen, die zwischen den Quellen der Botrange und der Helle sich diesseits und jenseits der deutschen Grenze durch Haide, Ginster und spärlich von Weidenstümpfen überragte Grasflächen hinzogen. Aber auch sie täuschten sich, wenn ihr Instinct sie hatte glauben lassen, daß keinem lebenden Wesen außer ihnen diese traurige Oede als Zufluchtsstätte dienen werde, denn bald deuteten ihre eigenen Bewegungen darauf hin, daß allerdings einheimische Bewohner vorhanden sein müßten.
Wer als aufmerksamer Beobachter unter dem Schutze des Waldrandes gestanden hätte, welcher sich wenige hundert Schritte südlich vom Moore in der Richtung nach Montjoie hinabsenkte, dem würde es nicht entgangen sein, wie das dürre Schilfrohr zwischen den Weidenstümpfen an den Rändern des Sumpfes hier und da gewaltsam auseinander gerissen wurde, daß die geknickten Halme im Winde davonflogen. Ab und zu würde er auch wohl gesehen haben, wie eine Wildgans sich mit kurzem Flügelschlage erschrocken aufhob, um sich gleichwohl unweit der Stelle arglos wieder niederzulassen – ein sicheres Zeichen, daß der scharfsinnige und schlaue Vogel sich von keinem blutlüsternen Feinde, wie dem Fuchse, dem Wolfe, oder gar dem bösen Menschen, bedroht wisse, sondern nur von irgend einem gewaltsamen, aber ihm ungefährlichen Geschöpfe aufgescheucht sei. Und wenn ihm ja noch Zweifel über die Natur des letzteren beigekommen wären, so würden ihn das ferne Rüdengebell und die Hornrufe, die jetzt aus der Richtung des Aachener Waldes herübertönten, zu dem Schlusse geführt haben, daß in diesen Sümpfen kein anderes jagdbares Wild, als das borstige Volk der Sauen, lagern könne.
Dieselbe Beobachtung schienen auch die beiden Männer zu machen, die in diesem Augenblicke unter den verkrüppelten Buchen des Waldrandes hervortraten, um, die Hand am Ohre, den fernen Tönen zu lauschen.
Nach Tracht und Ausrüstung waren es Waidmänner. Die naturfarbenen Kappen mit Habichtstutzen, die grauen Jagdröcke über den engen Beinkleidern, Schulterkragen und Wadenstiefeln von Hirschleder, die am Gürtel neben dem Waidmesser hängende Armbrust, und der Jagdspeer, dessen eisenbeschlagenes unteres Ende sie als Stock gebrauchten, kennzeichneten sie hinlänglich als solche.
[550] „Die Rüden haben unterwegs frische Fährten gespürt, darum schlagen sie an!“ sagte der Eine, ein graubärtiger Alter mit mürrischem Ausdruck, zu dem Andern, einem jüngeren Mann, dessen schwarzes, straff niederfallendes Haar seltsam mit dem röthlichen, in zwei Fuchsschwänzen über die Maßen lang herabhängenden Barte contrastirte. „Werden hier Arbeit finden! Dort im Moor, wo die Schneegänse aufstehen, wühlt das Sauwild haufenweis!“
„Ganz wie im vorigen Jahre um diese Zeit!“ nickte der Rothbärtige, einen flüchtigen Blick aus dem stechenden schwarzen Auge über das Moor werfend.
„Weiß, weiß, Ihr jagtet drüben mit dem Herrn Herzog von Aremberg, Eurem damaliger Herrn!“
„Ganz recht, aber nicht drüben: hüben!“
„Wie? Hier auf deutscher Seite?“
„Pah,“ lachte Jener, „wenn sie das Römische Reich das heilige nennen, dann hat mich mein Herr das Heiligthum oft genug 'profaniren' lassen, wie der Beichtvater es nennt!“
„Ist freilich kein Freund der Deutschen, der Herr Herzog!“ nickte der Alte vor sich hin. „Hält's, wie unser Bischof von Lüttich, mit den Franzosen!“
„Das möchte ich doch nicht Wort haben!“ wandte, nicht ohne einen mißtrauischen Blick auf den Alten zu werfen, der Rothbärtige ein.
„Nicht Wort haben, was alle Welt weiß?“ spottete der Alte. „Solch' Leugnen könnte nur bösen Zungen dienen, die Euch nachsagten, Ihr hättet den Dienst des Arembergers mit dem des Herzogs von Cleve vertauscht, um in Gent den französischen Kundschafter zu machen.“
„Elende Verleumdung!“ fuhr der Rothbärtige auf.
„Je nun,“ lachte bitter der Alte, „mögen sie's glauben, weil Ihr aus Welsch-Flandern seid, und Französisch Eure Muttersprache ist! Mir kann's gleich sein! Jetzt steht Ihr vor mir als Leibjäger des Herrn Herzogs von Cleve, der in der Genter Hofburg für unser gnädiges Fräulein befiehlt, und habt mir seinen schriftlichen Befehl vorgezeigt! 's ist hart für einen alten Mann, hart, hart! ... Wie wollt Ihr's also nunmehr anfangen?“
„Wie ich Euch sagte, wir müssen das Wild von Osten her über unsere Grenze zurücktreiben.“
„Wenn es sich's gefallen läßt,“ nickte, nicht ohne geheime Hoffnung, der Alte vor sich hin. „Ist noch immer das alte Ungethüm bei dem Rudel, das sie drüben in den Ardennen den 'Schrecken der Wälder' nennen! Das hält Stand, trotz aller Rüden der Welt, hat schon manch' einem die Eingeweide umhergestreut, und schon mancher Speer ist an ihm zersplissen. Mit ihm bleibt auch das Rudel, und ich möchte nicht der sein, den er annimmt.“
„Desto besser!“ lachte der Rothbärtige. „Hält er Stand, so hetzt man den wagehalsigen jungen Prinzen auf ihn, und das Unthier erspart uns vielleicht die Mühe, ihn drüben in den Hinterhalt zu locken.“
„Hört, Leibjäger,“ brummte der Alte, „dieser Hinterhalt molestirt mir das Gewissen, und wenn ich Euch gewähren lasse in dem, was ich nicht hindern darf, so ist das Alles, was der Herr Herzog von mir verlangen kann.“
„Gut, gut! Mehr begehren wir nicht von Euch. Was geht's auch Euch an? Alles fällt auf mich. Ich hab' ein Gewissen, wie Ihr, und mir macht's keine Pein. Mein Fall ist einfach. Der Herzog von Cleve schickt mich Namens unseres gnädigen Fräuleins zu Euch nach Verviers, um Schwarzwild für die Hoftafel zu bestellen, und giebt mir, wie Ihr gelesen, Vollmacht und Befehl für Euch und alle Wildmeister und alle Hauptleute mit, daß Ihr mir helfen sollt, die Praktiken des Herrn Maximilian in Köllen auszukundschaften. Nichts fürchtete er mehr, als der Prinz möge nach Gent kommen wollen, ehe denn acht Tage um sind, denn bis dahin muß sich entschieden haben, ob sein Herr Sohn Herzog von Burgund wird. Deshalb hat er auch auf alle Heerstraßen zur deutschen Grenze Mannschaft entsendet, um ihm den Weg zu verlegen, und zweihundert Rosenobles hat er mir für den versprochen, der ihm den Prinzen, wenn er sich über die Grenze wagt, in seine Gewalt bringt. Zweihundert Rosenobels, das macht zweitausendachthundert Schillinge. Morbleu! Ich also komme zu Euch nach Verviers und muß von Euch hören, daß das Hochwild mir in die Hände läuft, daß der Prinz hier Grenzjagd halten will; ich gehe zum Hauptmann der Cleveschen und zeige meinen Befehl, er giebt mir fünfzig Fußknechte mit, dort drüben hinter der Grenze in der Waldschlucht stehen sie bereit, hier liegen die Sauen, in die Schlucht bringe ich sie sicher, Alles stimmt; ich biete Euch halb Part – und da sprecht Ihr mir im letzten Augenblick von Gewissensmolesten! Gut, gut! So Ihr nicht mit mir theilen wollt, habe ich nichts dagegen. Kommt Ihr mir aber irgendwie in die Quere, so wißt Ihr, der Herzog von Cleve fackelt nicht lange!“
„'s ist schändliche Hinterlist!“ ächzte der Alte. „Ich mit meinen grauen Haaren, ein Collega des kaiserlicher Waldvogts, den ich mit dem jungen hohen Herrn selbst eingeladen!“
„Was wußtet Ihr davon, als Ihr's thatet? Und was kümmert Euch das Thun des Herzogs? Krieg ist Krieg! Mit den Franzosen ist's ein offener, und wer weiß, wer da zuletzt noch des Andern Herr wird, mit dem deutschen Prinzen aber ist's ein geheimer. Der sammelt sicher schon im Stillen seinen Heerbann, und Tausende werden bluten müssen, wenn er Niederland damit überzieht! Will es wohl wieder deutsch machen, wie es schon einmal gewesen. Jetzt läßt sich's noch hindern, und wer ein getreuer Diener ist, der muß dazu mithelfen. Was wird dem Prinzen auch Schlimmes geschehen! Auf vier Wochen in ein festes Schloß – das ist Alles. ... Achtung! Seht dort die schwarzen Punkte über dem Röhricht! Die Sauen winden, den Rüssel in der Luft! Die Deutschen müssen im Anzuge sein. Kommt ihnen mit mir entgegen! Dort oben ist das Kreuz, das Ihr zum Stelldichein vorgeschlagen habet! Ist einmal ein Jäger im Schneesturm dort verunglückt. Solch ein Wahrzeichen soll Unglück bringen. Lassen wir sie vor uns hin, dann fällt's auf sie! Nun, wie ist's? Kommt Ihr?“
Der Alte kämpfte noch immer mit sich.
„Ihr wollt nicht? Nun, so reitet in's drei Teufels Namen heim! Dort im Walde folgt Euer Knecht mit den Kleppern. Ich weiß, was ich zu thun habe, ich gebe mich, wie wir ausgemacht, für Eueren Nachbar, den Wildmeister von Theux, aus und besorge das Weitere. Gehabt Euch wohl!“
Sprach's mit unverhaltenem Ingrimm und schlug sich hinter den Stämmen den Waldrand hinan.
Der Graubärtige aber seufzte noch einmal tief auf, faßte dann einen gewaltsamen Entschluß und folgte ihm langsam zur Höhe.
Nur wenige Minuten, und unweit der Nordecke des Waldes, wo weithin sichtbar ein rohes Holzkreuz ragte, kam ein Trupp von vier Reitern herangesprengt. Ihnen folgte von fern auf Jagdkleppern ein Troß von Dienstleuten und Jagdhütern, welche eine Meute von zusammengekoppelten Rüden von gelblicher Farbe und ungemeiner Größe mit Peitschenhieben zur Ruhe verwiesen, so oft sie die längst gewitterte Nähe ihrer Beute mit lauten Jauchzern begrüßen wollte.
Am Holzkreuz hielten die Reiter, spähende Blicke um sich werfend. Nur der jüngste sprang vom Sattel und blickte, sein dampfendes Pferd am Zügel haltend, dienstbereit auf, als ob er Befehle erwarte.
Es wär ein schmächtig aufgeschossenes Jünkerlein von etwa siebenzehn Jahren, in Grün und Grau gekleidet. Das schwarzlockige Haar quoll ihm unter dem mit Spielhahnsfeder geschmückten Barett so üppig hernieder, daß er mit den weichen Zügen, gelblich wie Wachs, und den großen schwarzen Augen gar wohl für ein welsches Mädchen hätte gelten können, wenn nicht die enge Spannung des Wammses zwischen den Schultern, die scharfgeschnittene kecke Nase und eine gewisse Verwegenheit im Blick den angehenden Jüngling bekundet hätte. Sein knapper Anzug, die engen, aus den Schnabelschuhen gleichsam herauswachsenden Beinkleider, unter dem Gürtel an das grüne Wamms genestelt, mit dem Dolch am Kettchen und dem Täschchen am Gürtel, war noch der reine Typus der Tracht des Jahrhunderts; aber die vielen Falten des feinen Hemdes, das durch die Litzen des vorn im Dreieck geschnürten Wammses und an den Seiten der engen, zu freierer Bewegung am äußeren Ellenbogen gespaltenen Aermel hervorsah, konnten schon als Vorboten künftiger Schlitz- und Puffenzeit erscheinen.
So wartete er neben seinem Pferde, den einen Fuß nachlässig [551] über den anderen geschlagen, in jener malerischen Stellung, die den Romanen eigen zu sein pflegt.
Aber nur einen Augenblick. Dann wandte er ungeduldig den Kopf zu dem ihm zunächst haltenden Reiter, einem grauköpfigen Kriegsmann mit breiter Narbe über der Stirn und strengen Zügen, aber treuherzigen Augen, dessen Koller von manchem Sturmwetter zu erzählen wußte, und dessen Schwert mit der breiten Klinge und dem langgewundenen Griff ein Beutestück aus den Hussitenkriegen sein mochte.
„Hier also, Ritter?“, rief er leise zu ihm auf. „Meint Ihr nicht, der Prinz wird hier absitzen?“
„Glaub's wohl,“ sagte der Alte. „Er späht mit dem Waldvogt nach den Burgundischen aus … und da kommen sie!“
[563] Auch von den beiden anderen Reitern hatte der ältere, ein behäbiger Forstmann, dessen wohlgenährten Wangen und rosig gefärbter Nase unschwer anzusehen war, daß er sich für die Strapazen des Waidwerks und die Unbilden der Witterung mit einem guten Jagdfrühstück und voller Flasche zu entschädigen liebte, die Herannahenden bemerkt und zeigte sie eben dem jüngeren.
„Sehet dort, gnädiger Herr!“ sagte er ehrerbietig, „der Graubärtige ist mein Collega, der Wildmeister von Verviers.“
„Gut denn! Sitzen wir ab,“ erwiderte der Angeredete und schwang sich aus dem Sattel. Diensteifrig trat der Junker herbei und nahm ihm die Zügel ab.
„So recht, Jünkerlein!“ lobte Jener, ihm freundschaftlich auf die Achsel klopfend. „Rufe den Reitknecht, Ceschy.“ Und der Junker, mit leuchtendem Blicke aus den großen Augen für die Gunstbezeigung dankend, führte die schäumenden Pferde dem Trosse zu, indeß die beiden älteren Reiter sich nicht ohne Mühe aus dem Sattel hoben.
Der Andere aber warf den grauen Reitermantel ab, der in Form eines langen engen, zum Reiten auf beiden Seiten bis an die Hüften aufgeschlitzten, kragenlosen Ueberrocks seine Gestalt umhüllt hatte, und stand jetzt da in der Fülle frischer Jugendkraft, er, der zwanzigjährige Kaiserssohn, der Erbe des heiligen römischen Reiches.
Wahrlich, die guten Aachener hatten vollen Grund, zu glauben, daß die vielumworbene Maria von Burgund ihn und keinen Anderen zum Gemahl erkiesen würde, wenn sie frei zu wählen hätte. Diese hochgewachsene, muskelkräftige Jünglingsgestalt mit der Haltung voll ungesuchter Hoheit, den Kopf von den Schläfen bis zum Nacken von dichtem Goldhaar umwallt, das edle Antlitz mit dem tiefblauen, fröhlich-kühnen und großdenkenden Auge, der gewölbten Stirn und der Adlernase, die, wenn auch noch durch die jugendlich vollen Wangen gemildert, über den Zügen herrschte und ihnen im Verein mit dem vortretenden Kinn das Gepräge frühzeitiger Thatkraft verlieh – die ganze Erscheinung ein Bild jugendlich männlicher Schönheit, würde vergeblich unter den damaligen Thronerben Europas ihres Gleichen gesucht haben. Und nicht zum Mindesten mochte er es dieser seiner blendenden Persönlichkeit danken, daß der Ruf der Ritterlichkeit und der Meisterschaft in Führung jeder Waffe ihm schon in so früher Jugend durch alle Lande voranging und die höchsten Erwartungen an seine künftige Thronbesteigung knüpfte.
Bezeichnend genug ragte ihm eine lange, gerade Adlerfeder schräg über das bräunliche Barett hinaus, das in Form eines altgriechischen Helmes mit seitwärts aufgeschlagener Krämpe schräg nach vorn fiel. An ein Jagdkoller aus Gemsleder, auf der Brust und an den Ellenbogen gespalten und das Hemd sichtbar lassend, wie beim Junker, nestelten sich auch bei ihm unter dem stählernen Kettengürtel knappe, unten in breit geschnäbelten bräunlichen Halbstiefeln endende Beinkleider, unter denen die muskelkräftigen Formen elastisch spielend hervortraten. Das Kreuzschwert hing am losen Hüftgurt, der Jagddolch am Kettchen des Stahlgürtels und ein elfenbeinernes Horn mit Silber beschlagen an einer Schnur um die Schulter. Uebergeschnallte goldene Sporen, in ihrer Länge dem Schnabel des Schuhes entsprechend und mit großen Radspitzen gezackt, vollendeten den Anzug.
So stand er, die Burgundischen erwartend, die schon von fern ehrerbietig die Häupter entblößt hatten und ihm jetzt vom Waldvogt entgegengeführt wurden.
„Willkommen, Ihr Herren Burgunder!“ rief er ihnen in der ihm eigenen treuherzig jovialen Weise zu. „Es freut mich zu sehen, daß Ihr so gute Nachbarschaft mit dem deutschen Reiche pfleget! Die Wildsau ist ein gemeinschädlicher Feind, und meine Base von Burgund wird nichts dagegen haben, wenn wir über einige ihrer borstigen Unterthanen auf unserer Seite Gericht halten!“
Tief ergriffen von dem Anblicke des kaiserlichen Jünglings, und im Innersten getroffen von dem Lobe guter Nachbarschaft aus seinem Munde, vermochte der graubärtige Wildmeister kein Wort über die Lippen zu bringen und verbarg nur mit Mühe die Scham, die er empfand, hinter einer tiefen Verbeugung. Der Rothbärtige aber, der als langjähriger Begleiter hoher Herren sich sehr wohl auf den freien Jagdton verstand, kam ihm zu Hülfe.
„Das möchte sich doch fragen, mon Seigneur,“ antwortete er, kühn gemacht durch die joviale Anrede, mit frechem Lächeln, „ob es burgundische oder deutsche Sauen sind!“
„Ei,“ lachte der Prinz, „wer kann da zweifeln? Ihre Vorfahren werden ihre Frischlinge lieber drüben im schönen Ardennenwalde, denn hüben auf dem sumpfigen Moore gesetzt haben!“
„Halten zu Gnaden, bei uns heißt es: die Sau liebt den Sumpf.“
„Und bei uns leider, sie liebe die Felder des Bauern! Aber wir werden ja sehen, wo sie selbst ihre Heimath sucht!“
„Dann werdet Ihr Recht behalten, mon Seigneur, denn alle die Dämme in dem Moore dort, wo das Wild liegt, münden in einen Hauptstrang nach Westen, und dahin muß es durchbrechen, wenn es sich mit Rüden, Halloh und Bolzen treiben [564] läßt. Ist aber ein mächtiger Eber dabei, Herr – der hält gern Stand!“
„Desto besser!“ rief mit Eifer, wie zu erwarten war, der Prinz. „Der ist für mich!“
„Wenn Ihr wollt, mon Prince, so kann ich Euch leichtlich einen Platz anweisen, wo er Euch, auch wenn er ausbricht, nicht entrinnen mag. Aber seid Eures Stoßes sicher, Herr, denn es ist ein gar schlimmer Feind.“
„Ein Wildschwein!“ lachte der Prinz geringschätzig und ohne den lauernden Blick des Anderen zu bemerken.
„Verzeihen Eure Gnaden,“ nahm jetzt, sich plötzlich ermannend und den Blick fast flehend zum Prinzen erhebend, der Graubärtige das Wort. „Es ist so, wie mein Collega sagt, der Eber ist ein Unthier, und heißt bei uns 'der Schrecken der Wälder'! Nehmt Euren Leibschützen mit, Herr!“
Der Rothbärtige schoß einen giftigen Blick auf den Alten, dann aber verzog er den Mund zu einem ironischen Lächeln.
„Thut es, mon Seigneur, mein Herr Collega hat Recht! Dort sehe ich einen Jagdgesellen mit einer schweren Hakenbüchse – scheint Euer Leibschütz zu sein –, den nehmt zu Eurem Beistand. Ihr seid annoch ein junger Herr, und leichtlich könnte Euch die Furcht übermannen.“
Aus hinterlistigem Verstecke, mit lächelnder Miene, aber fast spöttischem Tone gesprochen, traf das Wort, wie ein gut gezielter Pfeil.
„Furcht?“ brauste Maximilian auf, ihm einen stolzen Blick zuwerfend. „Kennt Ihr die in Burgund? Bei uns wird sie nicht gelehrt und am wenigsten die Kaisersöhne!“
„Verzeiht, mon Prince, bat demüthig der Rothbärtige. „Es war gut gemeint.“
Im Augenblicke war Maximilian besänftigt.
„Ich glaub's Euch!“ warf er halb scherzend hin. „Und mögt Ihr auch meinen Worten glauben. Ein Jeder nach seiner Weise! Aber mich gelüstet's, mit Eurem 'Schrecken der Wälder' ein deutsches Wort zu sprechen. Führt mich auf den Platz.“
Und er ließ sich zwei kurze, wuchtige Speere mit ungewöhnlich massiver, dreischneidiger Stahlspitze reichen und wollte aufbrechen, als ihn der Waldvogt aufhielt.
„Herr,“ rief der Behäbige fast erschrocken, „gedachtet Ihr nicht vorerst einen Imbiß zu nehmen?“
„Nach gethaner Arbeit, Vogt!“ lachte Maximilian. „Mein Sprüchwort ist allezeit: Wie der Rost am Eisen, so frißt der Müßiggang am frischen Muth der Seele.“
„Folgt wenigstens dem guten Rath, Prinz, und nehmt die Hakenbüchse mit,“ fiel jetzt mit ernstem Ton der alte Ritter ein, der bisher schweigend, aber beobachtend, zur Seite gestanden hatte.
„Ei, Herberstein, alter Hofmeister, was fällt Euch ein?“ spottete Maximilian. „Die Büchse für die Morgenpirsch, wenn der Gemsbock oder der Hirsch auf hundert Armeslängen steht. Aber den Eber habt Ihr mich selbst gelehrt mit dem Sauspieß abzufangen ... Vorwärts denn! Zeigt mir den Platz, Herr Wildmeister von Theux! Du, Jünkerlein, kommst allein mit mir; Ihr, Vogt, laßt die Pferde im Walde koppeln und vertheilt die Jagdhüter mit den Rüden auf den Dämmen; Ihr aber, Herberstein, haltet mit dem Herrn Wildmeister von Verviers die Südseite gegen den Wind.“
Eilig schritt er mit dem Rothbärtigen westwärts. Der Junker nahm seinen Jagdspieß und wollte, die Armbrust an den Gürtel hängend, nachfolgen. Aber der Ritter hielt ihn zurück.
„Weg mit dem Kinderspielzeug!“ raunte er ihm zu. „Nehmt die Hakenbüchse und lasset auch gleich das Gäblein am Haken; da habt Ihr Lunte und da Stahl und Stein. Hab' Euch wohl mit der Büchse umgehen sehen beim Scheibenschießen; jetzt kann es Eurem Herrn dienen, gebt wohl Acht!“
„Povero me! Sie ist schwer wie eine Karthaune und der Prinz wird mich schelten.“
„Lasset ihn schelten, wann es zu spät ist,“ brummte der Alte, ihm die schwere Büchse über den Nacken hängend. „Seid Ihr doch sein verzogener Liebling, und Euer welsches Mundwerk ist noch nie um eine Ausrede verlegen gewesen.“
Mit stillem Seufzer gehorchte der Junker und folgte, den Schaft des Spießes als Stütze gebrauchend, mit gebogenem Rücken seinem Herrn. Aber meisterlich bewies er, wie gut er sich nicht nur auf Ausreden, sondern auch auf praktische Finten verstand, denn so oft sich der Prinz nach ihm umsah, wußte er sich schnell also hoch emporzurecken, daß jener in der That nichts von seiner pflichtwidrigen Bewaffnung gewahrte.
So gelangten sie nach einem halbstündigen Marsche an einen nach Westen abfallenden Hang, auf dem sie über dürres Weideland das Moor umschritten. Westwärts öffnete sich der Ausblick über den benachbarten Grenzwald auf die letzten Höhen des hohen Venn, die sich am fernen Horizonte mit den Ausläufern der Ardennen zu vermischen schienen.
„Sehet, mon Seigneur,“ sagte der Rothbärtige, zwischen zwei alten Weiden stehen bleibend, „hier hinaus läuft der Hauptdamm, den das Sauwild annehmen muß, wenn es dort in unsere Wälder wechselt. Es wäre ein guter Platz, weil man rechts und links ausweichen kann. Ich würde ihn wählen, obwohl ich auch nicht eben furchtsam bin. Aber freilich, der Damm ist hier so breit, daß sicher ein gut Stück Wild entkommen wird, und da ich mir nicht wieder Euren Zorn zuziehen möchte, so muß ich Euch sagen, daß dort, einen Bolzenschuß weiter in das Moor hinein – sehet, wo ein Weidenstumpf wohl vier Fuß hoch hinausragt, – der Hauptstand ist. Aber, wie gesagt, es ist Gefahr dabei, denn der Damm mißt dort nicht über vier Schritte.“
„Das ist mein Platz!“ rief Maximilian. „Nun sucht Euch den Eurigen. Und Du, Junker,“ wandte er sich rückwärts zu diesem, „deckst Dich hier fein hinter dem Weidenstamm und treibst mir keinen Fürwitz! Ich kenne Dich darauf.“
Befriedigt lächelnd lüpfte der Rothbärtige die Kappe und verfolgte seinen Weg, um nordwärts das Moor zu umschreiten und sich von jenseits der Hatz anzuschließen. Maximilian seinerseits ging den Damm entlang, und der Junker, sich sicher glaubend, wollte sich eben mit Wonne seiner schweren Bürde entledigen, als dem Prinzen der unglückliche Gedanke kam, sich noch einmal nach ihm umzuwenden; dabei fiel ihm das verbotene Schießgewehr in die Augen.
„Diamine!“ rief er, überrascht stehen bleibend, halb zornig, halb lachend hinüber. „Was hat denn der Page mit der Donnerbüchse vor?“
„Große Dinge, Signor mio!“ rief der Junker schalkhaft zurück. „Da Ihr mich immer fürwitzig scheltet, gedachte ich zu zeigen, daß ich auch vorsichtig sein kann. Und da Ihr die Büchse nicht für Euch wolltet, so habe ich sie für mich genommen.“
„Wohl bekomm's! Was Du damit erlegst, esse ich mit Haut und Haar.“
„Aber gesengt und geröstet, mio Principe, und mit 'sauce truffée', di grazia!“ lachte der verzogene Page. Und lachend auf ihn zurücknickend, ging der Prinz seines Weges.
Der Junker aber bohrte sorgsam die beiden stumpfen Spitzen der oben am Haken der Büchse sich drehenden Stellgabel in die Erde, richtete versuchsweise den schweren Lauf nach dem Weidenstumpf auf dem Damm, zielte, nickte befriedigt vor sich hin, besichtigte dann das pfannenartig gehöhlte Zündloch und die Lunte in dem gebogenen Hahn, ließ den schmalen, plumpen Schaft zur Erde nieder, schlug mit dem Stahl Feuer aus dem Stein, daß die Funken blitzten, und steckte, als ein einziger Schlag hingereicht hatte, das ihm vom Ritter mitgegebene Stück Lunte zu entzünden, das schwelende Ende sorgsam in ein Loch auf der Rückseite des Weidenstammes, vergewisserte sich auch, ob der Wind den Geruch abwärts trüge, und ließ sich dann, ermüdet von der Last, neben seinem Speer an einer Stelle nieder, von wo er, halb aufrecht am Stamme sitzend, das Moor überblicken konnte.
„Corpo di Baccho,“ sagte er sich dabei, „wenn ich nicht mein Leben für den Prinzen ließe, nicht zehn Pferde hätten mich dazu gebracht, die sechszigpfündige Arkebuse da eine Stunde Weges zu schleppen! Aber der alte Grimmbart blickte so sorglich drein. Und er mag Recht haben. Davvéro! Was sehe ich? Der Damm wird immer schmaler! Jetzt ist der Prinz beim Weidenstumpf. Wo will er sich decken, wenn ein Rudel vorbeijagt? Si, si! Jetzt versucht er hinter den Stamm zu treten! Er sinkt ein – es geht nicht! Jetzt prüft er die Seitendeckung – va male – ein Anstoß, und er würde im Sumpfe liegen! ... Ecco, er kehrt um! Das fehlte – der und umkehren! Müßte ein Anderer sein. Einen Anlauf will er nehmen ... da hebt er schon sein Schwert mit der Hand, er setzt an, er springt ... affé, bravo, bravo, er steht auf dem Stumpf! Aber er wankt, er wird fallen ... su, su! ... Lode al cielo, er hat einen [565] Ast ergriffen, er hält sich! – Jetzt kappt er mit dem Dolch das Gezweig nach vorn. Jetzt stemmt er sich auf das rechte Knie und holt mit dem Speer aus ... va ben, va ben! Was sagst Du nun, Du rothbärtiger Hallunke, hast geglaubt, einen Prahler zu narren, daß er beschämt umkehre? Oh bella!“
Den Kopf weit vorgebeugt, mit glänzenden Augen jede Bewegung begleitend und mit südlicher Lebendigkeit ihre Zwecke sich deutend, hatte der junge Welschtyroler eben seinen Commentar beendet, als ein Hornsignal des Prinzen erscholl, dem bald darauf ein zweites antwortete. Noch ein Augenblick, und die öde Stille des Moores war in eine Scene der wilden Jagd verwandelt. Lautes Jubelgeheul der entfesselten Meute mischte sich mit dem Halloh der von Ost und Nord vordringenden Jagdleute und Waldhüter, um von den nächsten Höhen und dem Waldrande in doppelt und dreifach sich kreuzendem Echo widerzuhallen, und verbreitete rings ein diabolisches Getöse, daß Alles, was Leben hatte im Moore, voll Schrecken entfloh. Sumpfschnepfen, Wildenten, Schneegänse stoben in jäher Flucht in die Lüfte; auch der schwarze Schwan hob sich majestätischen Fluges in sein sicheres Element und sah eine Weile von droben auf die ihm machtlos nachgesandten Bolzen mit so königlichem Anstand herab, als nehme er sie wie eben so viel Zeichen der Huldigung mit auf die nordische Heerfahrt. Zugleich aber brach es und prasselte es drunten weithin im Röhricht, und vor dem immer wüthenderen Geheule stob es und schnob es auf den schmalen Dämmen in schwarzen Massen, wie auf Commando, dem einen Hauptstrange nach Westen zu, daß dem jäh emporspringenden Junker schier das Herz erbebte.
„Ohi, animo!“ rief er sich selber zu, riß die glimmende Lunte aus der Höhlung des Stammes, entzündete mit derselben die Lunte im Hahne der Büchse und griff zum Spieße. Aber ein Blick auf den Prinzen, und er dachte nicht mehr an sich. Wie festgewurzelt am Boden, starrte er, die Hand über den Augen, auf das Schauspiel, das sich ihm eröffnete.
Nicht einzeln oder in kleineren Gruppen, wie auch der Prinz gewähnt haben mochte, nein, Kopf an Kopf, dicht zusammengedrängt, einem einzigen schwarzen Heerwurm gleich, schob sich scheinbar langsam und doch in rasender Gangart vor den von fern nachstürmenden Rüden die ganze kaum übersehbare Masse des Schwarzwildes dem Weidenstumpfe zu. Jetzt erst wurde es deutlich, wie unrettbar verloren dort ein Jeder gewesen wäre, der nicht den einzigen Vortheil des Baumes zu benutzen verstanden hätte. Denn so hart an den beiden Rändern des Dammes ras’ten die Reihen des Schwarzwilds dahin, daß nicht selten ein Stück in den Sumpf rutschte und mit grunzendem Angstschrei sich vergeblich herauszuarbeiten suchte, und so erschüttert wurde der knorrige Kopf des Stumpfes von dem Beben des Bodens unter der galoppirenden Menge und ihrem wiederholten Anprall an den Stamm, daß der Prinz, unfähig aufrecht zu stehen, sich auf ein Knie niedergelassen hatte und, mit der Linken eine Hand voll Gezweig ergreifend, den Jagdspeer nur zur Abwehr gebrauchte.
Längst war er dem mit giftigen Blicken zur Seite schielenden Gethier in die Augen gefallen, und manch’ ein „hauend Schwein“ kündete ihm im Vorbeitoben mit wüthenden Lufthieben zur Genüge das Loos an, das ihn unten erwartet haben würde. Aber unaufhaltsam wurden sie weiter geschoben, und bald war der Augenblick gekommen, wo er im Stande war, unter den letzten Reihen seine Auswahl zu treffen. Da – siehe – ein mächtiger Eber! Sollte dieses das berühmte Unthier sein? Schnell stand der muskelkräftige Jüngling aufrecht und schleuderte den Speer. Quer durch den Bug drang der Stahl, und lautlos sich überschlagend verendete das tödtlich getroffene Thier. Eben wollte Maximilian herabspringen, um den Speer wieder zu gewinnen. Da erdröhnte der Damm von Neuem, und wahrlich, das erst war das wirkliche Ungethüm, der „Schrecken der Wälder“! Fast in der Höhe des Stumpfes schnob es daher, den schrägen, vor Bosheit glühenden Blick auf seinen Feind gerichtet, und führte schon von ferne mit den spannlangen Hauern nach rechts und links so gewaltsame Schläge, daß dem Prinzen keine Wahl blieb: hier galt es nur noch, zuvorzukommen. So faßte er denn blitzschnell seinen Entschluß und schleuderte, trotz der ungünstigen Richtung von vorn, dem Ungethüm auf drei Armeslängen den zweiten Speer mit sicherer Hand hinter das Schulterblatt, daß aus der zerschnittenen Bugader ein rother Bogenstrahl hervorschoß. Aber den Sitz des Lebens selbst zu durchbohren, war ihm nicht gelungen. Vorwärts im Schusse bei ihm vorbeistürzend, sank das riesige Thier in die Kniee, hieb wüthend um sich, hob sich wieder, wollte umwenden, dem Todfeinde entgegen, aber der schräge Speerschaft machte jede Wendung unmöglich – mit dumpfem, heiserem Geheule schleppte es sich weiter. Auf einen Blick übersah der Prinz die Lage. Eine solche Trophäe durfte er mit keinem Anderen theilen. Sein Schwert aus der Scheide reißen, herabspringen, dem Ungethüm nacheilen und ihm von der Rückseite die Klinge durch’s Blatt stoßen, war das Werk eines Augenblicks. Dann riß er aus dem jählings Verendeten den Stahl, schwang ihn in der Luft und ließ ein triumphirendes „Hussah“ erschallen.
Aber „Hussah, hussah! Hatz, hatz!“ erscholl auch von Norden her der Ruf des Rothbärtigen, und zwei flüchtige Keiler, von den vordersten der Rüden rechts und links gepackt und sie abschlagend, kamen daher gesaust. Rückkehr zum Baume war schon nicht mehr möglich, Ausweichen auf dem schmalen Damme ebensowenig. Mit einem Ruck suchte der Prinz noch seinen Speer aus dem Eber zu reißen, aber das Gewicht des Unthiers lag zu gewaltig darauf. Es schien um ihn geschehen! Wie sollte ein Mensch solchem Anpralle Widerstand leisten! – Da that er das Letzte. Den getödteten Eber als Schutzwall benutzend, kniete er dicht am Rande des Dammes hinter ihm und hielt, als die Keiler vor den Rüden her auf ihn losstürzten, plötzlich sich aufrichtend, mit lautem Anruf den Anstürmenden das Schwert entgegen. Das Mittel wirkte; sie stutzten und wurden im gleichen Augenblicke von den Rüden gepackt. Aber mit mächtigen Hieben dieselben zurückwerfend, hoben sie sich eben mit doppelter Wuth zu dem verderblichen Sprunge auf den Prinzen: da krachte weithin dröhnend ein Schuß, und wie von unsichtbarer Gewalt auf die Seite geschleudert, stürzte der eine der Eber gegen den andern. Ja, so gewaltig war die Wirkung der achtlöthigen Kugel aus dem schweren Rohre der Hakenbüchse des Junkers, daß sie durch den ersten Eber hindurch auch noch den zweiten verwundete.
Triumphirend schwenkte der glückliche Schütze sein Barett, und in Wahrheit konnte er stolz auf seine That sein. Schon mehrmals hatte er, hinter seinem Stamme gedeckt, in fieberhafter Hast den Lauf gerichtet, stets waren ihm des Prinzen Erfolge zuvorgekommen. Jetzt aber, als er die Lebensgefahr seines Herrn gewahrte, im Augenblicke der höchsten Noth, war er mit rascher Entschlossenheit und sicherer Hand sein Retter geworden. Doch nicht zufrieden, ihn von dem einen Feinde befreit zu haben, griff der brave Junge nach dem ersten Ausbruch seines Jubels auch noch zum Speer und sprang ihm in heller Kampflust, flüchtig wie ein Hirsch, auch gegen den zweiten zu Hülfe. Aber nicht lange. Kaum eine Minute des Laufes, und er blieb stehen, stutzte, und, wie von plötzlichem Schrecken erfaßt, wendete er um und gab schneller, als er gekommen, in verzweifelten Sätzen Fersengeld. Selbst das helle Gelächter des Prinzen, das hinter ihm drein schallte, konnte ihn in seiner wilden Flucht nicht eher aufhalten, als bis er den schützenden Weidenstamm wiedergewonnen. Dort erst faßte er festen Fuß und fällte ritterlich den Speer. Es war eben zur rechten Zeit. Denn der zweite der Eber, als er sich von dem Anpralle seines Cameraden aufgerafft, hatte trotz seiner Verwundung dem Schwertstoße des Prinzen noch ausweichen können und sein Heil in schleppender Flucht gesucht. Der Anblick des wüthenden Thieres aber war genügend gewesen, dem vorwitzigen Pagen die unheilvolle Katastrophe eines Begegnisses auf dem Damme so lebhaft vor Augen zu führen, daß er die so lächerliche Flucht vor dem Fliehenden dem sichern Verderben vorzog. Und wie wenig er gesonnen war, den Schimpf auf sich sitzen zu lassen, bewies er jetzt; denn kaum bot ihm der Eber im Vorüberstürzen die Breitseite, als er denselben mit sicherm Stoße regelrecht abfing.
„Ehi,“ rief er, stolz auf seine Beute zeigend, zum Prinzen hinüber, „was sagst Ihr jetzt?“
„Ma bravo!“ gab der Prinz zurück, und mit einem Hornsignal das Ende der Hatz verkündend, kam er zum Pagen herüber.
„Oh bella, bellissima!“ lobte er, den Eber besichtigend, „Mitten durch’s Blatt! Aus dem Trientiner Jünkerlein kann mit der Zeit noch ein echter Deutscher werden!“
„Grazie tante, Signor mio!“ dankte spöttisch-verbindlich der [566] Schelm. „Sagt doch der Deutsche selbst: Hinter den Bergen wohnen auch noch Leute!“
„Und recht schnellfüßige!“ lachte Max.
„Bagatella, mi Principe! Es war nur verstellte Flucht!“
„Verstellte Flucht? Ei sieh den welschen Schönfärber! Ich sage Dir, Ceschy, Deine Flucht sah einer wirklichen so ähnlich, daß Du meisterlich gespielt haben müßtest!“
„Oh, oh, scusa! Eine Wildsau ist ein brutales Thier und kein Gegner, gegen den man die Sporen verdienen kann! Aber dazu gebt mir Gelegenheit, und Ihr werdet nicht wieder lachen!“
„Bei Gott nicht! Verzeihe mir's! Du bist ein Braver und mein Retter und wirst die Sporen früh genug tragen!“
Fast gerührt nahm Maximilian den schwarzlockigen Pagen beim Kopf und drückte dem Ueberglücklichen einen Kuß auf die Stirn.
Dann wandte er sich, um nach den Jagdgenossen auszusehen. Der Erste, der vom Damme her nahte, war der Rothbärtige. Mit Ingrimm hatte dieser im Vorübergehen die stolzen Trophäen erblickt, die der Prinz den burgundischen Wäldern entrissen, und in bitterer Enttäuschung war ihm in seiner Muttersprache ein „Que le diable l'emporte!“ über die Lippen gefahren. Aber nicht minder überkam ihn ein Gefühl des Grauens vor der gewaltigen Hand, die Solches mit blanker Waffe vollbracht, und mahnte ihn zur Vorsicht. So trat er jetzt demüthig auf den Prinzen zu und wußte in meisterlicher Verstellung seine Glückwünsche in die schmeichelndsten Worte zu kleiden.
„Das ist er leibhaftig, der 'Schrecken der Wälder',“ rief er rückwärts deutend, „der von keiner anderen Hand fallen durfte, als von der Eurigen, mon Seigneur! Ich werde eilen, die Mähr unserem gnädigen Fräulein in Gent kund zu thun.“
„Steht Ihr in so naher Verbindung mit dem Hofe von Gent?“ fragte nicht ohne Ironie der Prinz.
„Pardon, mon Seigneur, es kehrt ein Bote dorthin zurück, der mir große Bestellung von Schwarzwild für die Hoftafel überbracht hat – zu Ehren der französischen Ambassade!“
„Französische Ambassade? Burgund hat ja Krieg mit Frankreich!“
„Aber man spricht von einem Waffenstillstand, Herr! Der Bote sagt, die Ambassade sei erwartet, um Frieden anzubieten und ein Verlöbniß zwischen dem Dauphin und unserem gnädigen Fräulein.“
Maximilian horchte im Stillen hochauf, aber er verbarg den Eindruck, den die Nachricht auf ihn machte.
„Wirklich?“ warf er hin. „Ich meinte, in Gent regiere jetzt der Herzog von Cleve, der kein Freund der Franzosen ist?“
Ein eigenthümlicher Ausdruck im Auge des Rothbärtigen, als er den Namen aussprechen hörte, fiel ihm wohl auf, aber er wußte ihm keine Bedeutung beizulegen.
„Der Herzog von Cleve?“ erwiderte dieser fast geringschätzig. „Der Herr Herzog soll viel Anhang beim Volk haben, aber man sagt ihm wohl mit Unrecht nach, daß er für unser gnädiges Fräulein an seinen Sohn denke. Der Prinz wäre darnach, einen Herzog von Burgund abzugeben! Verzeiht, Herr, aber es macht mich lachen! ... Nun, mag der Herr Herzog sehen, wie er mit dem Dauphin fertig wird! Meine Bestellung ist für den Hof, mag dort regieren wer will, und ich wünsche mir Glück, daß der Himmel Eure Hoheit hergeführt hat, denn es wird mir Ehre und Belohnung eintragen, wenn ich unserem Fräulein Jagdbeute von so hoher Hand abliefern kann.“
„Dann schickt Eurer Herrin den 'Schrecken ihrer Wälder' mit meinem Gruß!“
„Ein köstlich Stück zum Schmuck der Jagdhalle im Fürstenhof, mon Seigneur, aber nicht für die Tafel! Ist ein uralt Thier! Dort in der Waldschlucht aber haben wir jetzt das ganze Rudel beisammen, und es kann uns nicht mehr entkommen, wenn Ew. Gnaden uns, zu Ehren unseres Fräulein, mit Ihren Leuten dazu behülflich sein wollten. Wir haben auf Ew. Gnaden gerechnet, und es wird für Euch nach solcher harten Arbeit ein lustig désert werden, mon Seigneur!“
„So sei es!“ entschied fröhlich Maximilian. „Habt Ihr uns auf unserer Grenze diese herrliche Beute verschafft, sind wir Euch als gute Nachbarn drüben das Gleiche schuldig, und gern wollen Wir Uns Unserer Base von Burgund verbindlich zeigen!“
Alsbald kam auch der Ritter mit dem Waldvogt, dem Wildmeister und dem ganzen Troß herangesprengt.
„Wohlan, Ihr Herren,“ rief der Prinz ihnen zu, „der 'Schrecken der Wälder' ist gefallen, beschaut Euch Unsere Beute, und dann vorwärts, dem Rudel nach! Wir sind gesonnen, Unserer lieben Base in Gent ein Dutzend Stück für die Hoftafel zu senden, und da Ihr dieses Mal leer ausgegangen seid, so sollet auch Ihr zu Eurem Rechte kommen!“
Besorglich schaute der Ritter drein, und als die Uebrigen sich von dem Pagen zu dem erlegten Hauptstücke führen und sich von ihm berichten ließen, benutzte er ihre Abwesenheit, Maximilian mitzutheilen, was ihn beunruhigte.
„Der Jagdzug über die burgundische Grenze will mir nicht mehr behagen, Herr!“ sagte er. „Der alte Wildmeister selbst ließ wie von ungefähr die Frage fallen, ob Ihr bei so unruhigen Zeiten nicht Scheu empfändet, Euch über die Grenze des Reichs hinaus zu wagen. Und als ich hoch aufhorchte und ihm antwortete, er habe Euch ja selbst dazu aufgefordert, fragte er in seiner mürrischen Art, ob auch wohl keine Zwistigkeiten mit dem deutschen Reiche bevorständen, wie vor drei Jahren, als Karl der Kühne Köln belagerte? Er bemerke, daß seit einiger Zeit neugeworbene Clevische Mannschaften anstatt gegen die Franzosen gegen die deutsche Grenze zögen.“
„Ei, sieh da!“ lachte Maximilian auf. „Sollte der schlaue Clever Witterung haben und Furcht vor mir empfinden? Ich hörte schon von fern dergleichen.“
„Da dem aber so ist, Herr, so kann ich Euch nur abrathen, ohne starke Bedeckung über die Grenze zu gehen.“
„Ei, mein alter Hofmeister, seit wann giebt es beim Jagen, in Begleitung des Nachbarn selbst, eine Grenze?“
„Es ist nicht das, Prinz! Aber wo Unsicherheit möglich ist, dahin soll sich der Erbe des römischen Reiches nicht muthwillig und ohne Zweck begeben.“
„Ohne Zweck und muthwillig? Ich sehe es mit anderen Augen an. Wenn Maria eine Sendung Wildpret von meiner Hand erhält, so wird ihr ein solches Zeichen meiner Nähe und meiner Gedanken an sie auch das Vertrauen auf meine Hülfe neu beleben. Wie dem aber auch sei, ich habe es dem rothbärtigen Wildmeister zugesagt.“
„Nehmt es zurück, Herr!“ bat eindringlich der Alte. „Gerade dem würde ich am wenigsten trauen. Man sieht ihm im Gesichte den Welschen an. Glaubt mir, Prinz, in meinem Alter lernt man beabachten. Er hat keinen guten Blick, und Ihr habt ihm nicht eben Freundliches gesagt.“
„Und doch konnte mich Niemand eindringlicher vor der Gefahr des Platzes dort warnen. Nein, mein Alter, Eure Sorge für mich macht Euch mißtrauisch; ich aber möchte Argwohn am wenigsten gegen Jemand zeigen, der mir eine so herrliche Beute verschafft hat.“
„Ein Vorwand, der ihn nicht kränken kann, ist bald gefunden, Herr. Zieht nur den Junker dabei zu Rathe! Ist ein welsches Handwerk, und er versteht sich darauf.“
„Laßt mir den Junker, Alter! Er ist brav wie Einer, und wer weiß, ob Ihr mich ohne seinen Meisterschuß noch am Leben sähet. Nein, nein, gehet hin, sehet Euch die mächtigen Gesellen an, die wir erlegt haben, und dann zu Pferde! Es bleibt dabei, wir reiten.“
[579] Kopfschüttelnd ging der Alte davon. Nachdenklich blieb Max stehen. Die Nachricht des Rothbärtigen, daß ein Waffenstillstand verhandelt und eine französische Gesandtschaft in Gent erwartet werde, beunruhigte ihn. Wohl wußte er, daß die französische Partei in Gent mit den Kanzlern an der Spitze schon einmal nahe daran gewesen war, den Frieden mit Ludwig dem Elften und die Verlobung Maria's mit dem Dauphin durchzusetzen, aber auch, daß dies damals den Kanzlern in Gent den Kopf gekostet hatte. Inzwischen hatten freilich die französischen Heere reißende Fortschritte gemacht; sie hatten Burgund erobert, waren in Hennegau, ja schon in Flandern eingedrungen, sodaß das Genter Volk eingeschüchtert sein konnte. Und wie wenig auf Maria's Standhaftigkeit zu rechnen sei, bewiesen jene früheren Verhandlungen, die doch nicht ohne ihre, ob auch erzwungene Einwilligung hatten stattfinden können. „Wenn sie jetzt der Noth weichen, dem veränderten Volkswillen sich fügen müßte!“ sagte er sich, bei dem bloßen Gedanken erbebend. Aber doch sollte noch der Herzog von Cleve der Leiter des Volkes sein, der natürliche Feind der Franzosen. Dieser kleine Reichsfürst, der wegen einiger Besitzungen in Brabant am benachbarten burgundischen Hofe seinen Aufenthalt genommen, hatte bei den zerfahrenen Zuständen in Abwesenheit des Staatenheeres schnell mit Hülfe des Pöbels eine Art Herrschaft in Gent gewonnen und war der französischen Partei bisher überlegen. Allein wenn er selber Maria für seinen eigenen Sohn begehren sollte? Der Ruf sagte von ihm, er verstecke hinter äußerer Biederkeit eine ungewöhnliche Schlauheit und rücksichtslose Energie, sein Sohn aber, Prinz Adolf von Cleve, spiele zwar bei Hofe eine Art lächerliche Figur, sei jedoch ein tapferer junger Haudegen und beim Volke wohlgelitten.
„Es wird harte Kämpfe in Gent geben,“ seufzte Maximilian, „und ich nicht dort! Die arme, arme Maria! Schon über einen Monat, daß sie mich flehentlich gerufen. O, daß mein Vater meinen Bitten nachgegeben und mir das kleinste Banner, nur des Ansehens halber, bewilligt hätte! Aber ach, diese Reichsstände! Wenn sie schon für die nothdürftigste Sicherung der Ostgrenze mit Geld und Heeresgefolge kargen, was ist dann von ihnen für die Erwerbung neuer Länder zu hoffen, und wären es die blühendsten! Eine Gesandtschaft, eine glänzende Gesandtschaft, das ist das Einzige, womit man meiner Werbung bei den prunksüchtigen Brabantern und Flanderern Nachdruck verschaffen will. Und so muß ich seit einem Monat unthätig hier hinter der Grenze harren, mit strengstem Verbot, das Geringste voreilig zu unternehmen, wie ein Popanz mit glänzenden Flittern und Titeln – das Sinnbild der ohnmächtigen Majestät des Reiches! Himmel, gieb mir ein Tausendtheil der Ritter, die mir einst folgen werden, ja, gieb mir ein halbes Tausend bewaffnete Knechte, und bei meinem Schutzpatron, das Verbot des Kaisers und der Gehorsam des Sohnes werden mir leichter wiegen, als Ehre und Ritterpflicht!“
Ingrimmig schwang er sich auf sein Pferd, das mit den übrigen von den Reitknechten bereit gehalten wurde, und kaum daß die Gefährten von den Beutestücken zurückkamen, so winkte er dem Rothbärtigen; dieser bestieg seinen Klepper, und ohne den Anderen Zeit zu einem Worte zu lassen, sprengte der feurige Jüngling, geführt von seinem Verderber, bergabwärts der burgundischen Grenze zu.
So mochten sie schweigend eine Stunde geritten sein, durch ödes, mageres Weideland, das hier und da von Zwerggehölz unterbrochen wurde, als sich in kurzer Entfernung vor ihnen ein staffelförmig ansteigender Hochwald erhob, der im Zickzack eine schluchtartige Vertiefung umfaßte.
„In jener Schlucht liegen die Sauen, mon Seigneur!“ sagte der Rothbärtige, die Zügel anhaltend.
„Und wo ist die Reichsgrenze?“ fragte Maximilian.
„Hier vor uns ist sie, zwischen den Erlen der Bach, der sich links der Botrange zuwendet. Rechts läuft die Grenze mit dem Walde fast bis gegen Eupen, und wann Ihr heimreitet, Herr, braucht Ihr nur dem Saume zu folgen, um die Heerstraße zu gewinnen.“
„Und wie gedenkt Ihr uns aufzustellen?“
„Gerade hinein in die Schlucht müssen wir. Die Thiere liegen im engen Kessel, den wir absperren. Sie können uns nicht entkommen; seht nur die frischen Fährten, Herr!“
„Also vorwärts!“ rief Maximilian, nachdem er sich mit einem Blicke überzeugt hatte, daß auch Gefolge und Troß in der Nähe waren, spornte sein Pferd, erreichte den verhängnißvollen Bach und setzte mit einem Sprunge hinüber.
„Jetzt habe ich ihn,“ jubelte still für sich der Rothbärtige hinter ihm drein. „Im Kessel liegen die Cleveschen. Nur durch ein Wunder kann er entrinnen. Ma foi, heute bin ich ein Königsmacher. König Ludwig wird den kleinen Clever wie eine [580] Spinne zerquetschen, ich aber, ich fange ihm noch in ihrem Netze den gefährlichsten Feind. Lohn und Ehre sind mir sicher, und Burgund und Niederland mögen mir's danken, wenn sie an den ruhmvollen französischen Siegeswagen gespannt werden, statt an den rumpligen deutschen Karren.“
Und in der That, an diesem Bache, über den der Prinz schon gesetzt war, hing das Schicksal eines großen Reiches und mehr. Wurde dieses Reich ein Zuwachs Frankreichs – was würde aus Europa geworden sein? Gewann es ein machtloser kleiner Herr – wie bald würden die zusammengewürfelten, längst gährenden Theile ihr Band zersprengt haben! Dagegen mit dem ritterlichen Max an der Spitze – was schien nicht aus Niederland werden zu können!
Wie ein Schleier der Zukunft lag der graue Aprilnebel über dem Bache, aber kein Zauberspiegel warf darin Gebilde künftiger Geschicke voraus. Kein Schattenbild spiegelte hindurch; keine Vorahnung von spanischer Nachfolge, blutigen Bürgerkriegen und eines Alba unbeugsamer Schreckensgestalt.
Aber was war das? Warum hielt plötzlich der Prinz sein Pferd an und suchte seitwärts zur Rechten hinter den Erlenbüschen hindurch zu spähen, als ob etwas Außergewöhnliches seine Aufmerksamkeit fessele? Mit Schrecken gewahrte es der Rothbärtige; augenblicklich wendete er sich nach derselben Richtung und konnte selbst nunmehr einen Reiter erblicken, der in der Richtung von Eupen her mit hocherhobener Hand ein Zeichen zum Halten machte.
„Diable!“ knirschte er. „So nahe dem Ziele! Was kann das bedeuten?“
Auch das Jagdgefolge kam jetzt heran, und der fremde Reiter traf fast gleichzeitig mit demselben ein.
In grauer Gugel, grauer Kappe, mit grauem Barte würde ihn Jeder, der am Morgen den grauen Reiter von der Frankenburg fortjagen gesehen, für diesen gehalten haben. Auch hing ihm am Sattel selbst die länglich ovale Holftertasche mit dem seltsam geformten Gegenstande darin. Als er aber jetzt absprang, und sein Blick, den Jagdzug überfliegend und den Rothbärtigen flüchtig musternd, drüben auf dem Jünglinge mit der Adlerfeder haften blieb, da begannen seine Gesichtsmuskeln mit Hülfe der weit geblähten Nasenflügel ihre freudige Erregung in so eigenthümlicher Weise auszudrücken, daß der kleine Rathsschließer in Aachen darauf geschworen haben würde, dieser Mann sei trotz des grauen Bartes und der höckerlosen Nase ein und dieselbe Person mit dem rothen Spielmanne von Geldern.
„Zurück, Herr!“ rief er fast athemlos vor Erregung. „Zurück, Herr! Wichtige Nachrichten aus Wien!“
„Was giebt's?“ rief Maximilian herüber.
„Lest es, Herr! Hier steht es geschrieben,“ antwortete Jener, einen Brief hervorziehend.
„Gebt mir das Schreiben!“ drängte sich der Rothbärtige herzu. „Ich bin noch im Sattel und setze hinüber.“
Höhnisch zuckten die Nasenflügel des Grauen. „Dank Euch!“ sagte er kurz. „Bei uns im Lande Oesterreich schaut man sich einander auf den Fuchsschwanz an, Ihr aber habt deren zwei.“
Der Rothbärtige erblaßte und wandte sich dem Wildmeister zu. Maximilian aber sprengte mit einem Satze auf das Reichsgebiet zurück und schwang sich aus dem Sattel.
„Was ist es? Woher kommt Ihr? Gebt!“
„Die Botschaft ist geheim, Herr,“ raunte ihm der Graue zu. „Tretet mit mir hinter den Erlenbusch!“ Als sie vor den neugierigen Blicken der Anderen geborgen waren, faltete er auf einem Tuch sorgsam ein kleines briefförmiges Papier und überreichte es dem Prinzen.
„Was sehe ich?“ rief Maximilian mit einem Blicke auf die Außenseite, welche zur Aufschrift nichts als die Worte trug: 'An M.' „Ihr kommt aus Gent!“
„Still!“ fiel ihm der Graue in's Wort. „Keiner darf es ahnen. Herr, Herr, Ihr seid in Gefahr. Der Rothbärtige ist der Leibjäger des Herzogs von Cleve.“
Es durchzuckte den Prinzen, indem er hastig den Umschlag öffnete. „Und wer seid Ihr?“
„Ein Bote der Herzogin von Burgund.“
„Welche Fügung! In diesem Augenblick!“ rief Max mit frommem Blick nach oben. Dann löste er aus dem geöffneten Umschlag ein Blättchen Pergamentpapier, drückte es an die Lippen und las, von Maria's Hand geschrieben:
„Eile, Herzlieber, eile! Jede Stunde kann mich Dir auf ewig entreißen. Noch hoffe ich auf Dich. Verlaß mich nicht!
„Um Gott, was geht in Gent vor?“ fragte er, bleich vor Erregung. „Erwartet man nicht eine französische Gesandtschaft?“
„Das eben ist es, Herr. Der Clever mit seinem Pöbel hat keine Zeit mehr zu verlieren. Die Herzogin hat das Schlimmste von ihm zu fürchten.“
„Wahr, wahr! ... Aber ich ... wie kann ich helfen ohne Heer?“
„Vernehmt, Herr! Die Herzogin sendet Euch insgeheim fünfhundert Mann Geldrischer Reiter. Sie sind eben neu ausgehoben, um das Staatenheer gegen die Franzosen zu verstärken, und haben sich unter zwei Hauptleuten bis zum Limburgischen oberhalb Aachen heruntergezogen. Dort harren sie im Geheimen unweit Heerlen an der Grenze, und in ihrer Mitte getraue ich mich Euch auf Waldwegen durch Nordbrabant unbemerkt nach Gent zu geleiten. Es sind treue Leute, Herr, die blind gehorchen, und nur ihre Hauptleute sind im Geheimniß. Der Plan ist gut, Herr. Das Staatenheer steht unter dem Präsidenten gegen den Feind; der Clever hat in der Stadt nur wenig Mannschaft; auf drei Heerstraßen schickt er seine Abtheilungen gegen Euch aus. Die Herzogin setzt all ihr Heil auf Euch. Wagt es, Herr! Ihr dürft sie nicht im Stich lassen – bei Gott, Ihr dürft nicht.“
„Ja, bei Gott nicht, denn Er hat mein Gebet wunderbar erhört und zeigt mir sichtbar seinen Willen ... Fünfhundert Reiter, sagt Ihr, erwarten mich?“
„Echtes Geldernsches Blut, Herr!“
„Das ist, was ich eben erflehte, und so schwere Pflichten ich auch verletzen mag, ich komme.“
Die Züge des Grauen verklärten sich bei dieser Antwort; seine Gestalt hob sich, und es wäre unmöglich gewesen, zu glauben, daß dieser ernste Mann, dessen Auge jetzt mit einem so innigen, fast edlen Ausdruck auf dem kaiserlichen Jünglinge ruhte, jemals sich zum Possenreißer erniedrigen könnte.
„Aber Vorsicht, Herr, Vorsicht!“ mahnte er. „Niemand darf auch nur vermuthen, was Ihr vorhabt. Kündet den Anderen an, daß Ihr nach Wien zurückgerufen seiet, nehmt nur wenige Getreue mit, und spornstreichs, wie Ihr geht und steht, stoßet noch heute Nacht zu uns!“
„Gut ersonnen, Mann! Wer erdachte den Plan? Das kommt nicht von Euch.“
„Alles von der Herzogin!“ erwiderte mit einem verschmitzten Blick der Graue, indem sich seine Nasenflügel schwellten, wie wenn Jemand Mühe hat, einen Ausbruch von Laune zurückzuhalten. „Aber noch einmal, Herr, Vorsicht! Und habet wohl Acht den Rothbärtigen zu täuschen. Mein Leben verwette ich, daß er Euch nichts Gutes sinnt; was hatte er mit Euch vor?“
„Sauen dort in der Schlucht zu suchen.“
„Ich dacht' es, dacht' es. Gerade zur rechten Zeit! ... Glaubt mir, Herr, dahinter lauert Tücke, und lasset uns eilen, denn wäre hier etwas zu befahren, so würde Euch nicht einmal die Reichsgrenze schützen.“
„Nicht einmal die Reichsgrenze!“ wiederholte Maximilian bitter für sich. „Dahin ist es gekommen. Armes Römisches Reich! Aber es soll anders werden. Wohlan denn, die Sanduhr träger Ruhe ist abgelaufen. ... Komm', Freund! Mein Entschluß ist gefaßt.“
Und festen Schrittes kehrte er zu den Uebrigen zurück.
„Eine Botschaft des Kaisers ist mir von Köllen nachgesendet worden,“ sagte er. „Unsere Pläne sind verändert. Ich muß zurück nach ... nach Wien.“
„Nach Wien? Gegen die Türken?“ jubelte der Junker.
„Was Türken! Gegen die Ungarn. Nicht also, Prinz?“ fiel der Ritter ein. „Wien ist wohl von Matthias Corvinus bedroht? Seit Euer Vater ihm nicht gegen den Halbmond geholfen, ist er ihm ein schlimmerer Feind geworden, als Muhamed selbst.“
„So ist es,“ bejahte Max. „Und höchste Eile ist mir anbefohlen worden.“
Der Rothbärtige hörte es knirschend vor innerlicher Wuth. [581] Aber hoch aufathmend, als wäre ihm ein Alp von der Brust genommen, blickte der graubärtige Wildmeister zum Himmel.
„Sollte nicht mon Seigneur wenigstens noch ein Stündlein für uns erübrigen können?“ rang fast flehentlich der Erstere hervor. „Dort vor uns liegt das schöne Wild, das Ihr für unser gnädiges Fräulein erbeuten wolltet.“
„Des Kaisers Befehl duldet keinen Aufschub,“ fertigte ihn barsch der Ritter ab.
„Es thut mir leid für die Mühe, die Ihr Euch um mich gemacht habt,“ fiel Max ein, indem er sein offenes blaues Auge mit einem eigenthümlichen Forscherblick auf den Rothbärtigen heftete. „Aber ich kann Euch nur den Waldvogt mit dem Troß und den Rüden zur Verfügung stellen. So werdet Ihr auch ohne mein Zuthun Euren Zweck erreichen. Den 'Schrecken der Wälder' aber liefert mit meinem Gruße der Herzogin ab! Wohlan, Waldvogt, begleitet die Herren mit Euren Leuten und berichtet mir schriftlich, was Ihr in der Schlucht gefunden! Es verlangt mich sehr, davon zu hören. Ihr, Herberstein, und Du, Ceschy, folgt mir mit den Reitknechten und dem Packthier!“
Wie ein armer Sünder bohrte der Rothbärtige seinen Blick in den Boden. Aber noch einen letzten Versuch wollte er machen.
„Eure Pferde sind abgetrieben, Herr,“ sagte er aufblickend. „Sollte ihnen nicht eine kurze Rast ...?“
„Zu einem Imbiß für Mann und Roß möchte auch ich mich unterstehen zu rathen,“ fiel beipflichtend der Waldvogt ein.
„Und zu einem guten Trunk – nicht so, Vogt?“ spottete der Ritter. „Ei wohl, Ihr möget ihn Euch vergönnen, denn Ihr habt gute Weile. Uns aber dürstet nach Thaten.“
„Recht, Herberstein, und ich werde Euch den Bronnen zeigen, um Euren Durst zu stillen,“ rief Maximilian, sich in den Sattel schwingend. „Gott befohlen, ihr Herren!“
Und den Zurückbleibenden mit der Hand winkend, sprengte er mit seinen Begleitern und dem Grauen davon.
„Halb schon in der Falle, und doch!“ ... knirschte der Rothbärtige für sich und stampfte mit dem Fuße. „Die Pest über den Grauen!“ Dann sich zum Waldvogt wendend, der sich bereits unter einer Erle niedergelassen hatte und, den Inhalt einer Waidmannstasche vor sich ausbreitend, eben einen kräftigen Zug aus einem ansehnlichen Fläschlein that, warf er scheinbar gleichgültig hin: „Wahrlich, ein Kunststück war’s, uns hier aufzuspüren. Kennt Ihr den Fremden, Waldvogt?“
„Habe ihn niemals gesehen.“
„Glaubt Ihr, er komme von Oestreich?“
„Da hätt’ er mögen viele Klepper zu Tode reiten.“
„Aber von Köllen?“
„Möglich. Doch ein Deutscher ist’s nicht. Wenn Ihr nicht ein Welscher wäret, wie der Herr Collega sagt, würdet Ihr wissen, wie ich, daß er nach seiner Mundart ein Gelderer ist.“
„Ein Gelderer!“ wiederholte für sich, wie von einem plötzlichen Gedanken ergriffen, der Rothbärtige, während die Mundwerkzeuge des Andern sich der angenehmeren Unterhaltung mit einem halben gebratenen Birkhuhne hingaben. „Ein Gelderer! Also einer von den halben Rebellen, die dem Kanzler, wie dem Clever längst verdächtig sind. Sollte er auf ähnlichen Pfaden wandeln, wie ich? Dem Prinzen blieb das Wort 'Wien' in der Kehle stecken. Hat wohl das Lügen noch nicht recht erlernt? Ein Meister merkt das gleich. Sapristie, da gilt es wachsam sein und auf der Fährte bleiben. Zum Glück sind die Leute zur Hand, und der Waldvogt darf ohnehin nicht erfahren, was die Schlucht birgt.“
Nach kurzer Rast trennten sich der Waldvogt und der Rothbärtige, beide Theile mit freundnachbarlichsten Versicherungen, der behäbige Deutsche ohne Ahnung, an welcher Wandlung der Geschicke eines großen Reiches er hier theilgenommen, der arglistige Welsche mit dem Eifer und der Hast des Spielers, der das Glück zu zwingen gedenkt, ihm den verlorenen Einsatz zurückzuerstatten.
Und daß er in der That diese Hoffnung nicht aufgegeben, zeigte sich bald. Denn kaum eine halbe Stunde später konnte man einen Haufen von fünfzig Fußknechten die Schlucht verlassen und innerhalb des Waldsaumes auf der burgundischen Seite eilig nach Norden ziehen sehen. Und seltsam – fast gleichzeitig kam auf demselben Jagdklepper, den bisher der Rothbärtige geritten, ein Bäuerlein, im blauen Wollkittel stark in den Schultern steckend und im niedrigen Filzhute noch zwerghafter erscheinend, mit einem großen Hafersacke vor sich auf dem Sattel, an den Bach getrabt; er ritt fein säuberlich hindurch, untersuchte jenseits die Richtung der Hufspuren, die der Zug des Prinzen und seiner Begleiter zurückgelassen, und folgte ihnen alsbald in scharfer Gangart gen Eupen.
Der Prinz aber war unterdessen eine geraume Zeit, den Seinigen vorauf, dahingejagt. Der Nordwind hatte ihm längst die heiße Stirn gekühlt, aber seine Augen starrten noch immer vor sich hin in’s Blaue, während in seinem Innern hundert Pläne wie Nebelgebilde sich kreuzten.
Endlich hielt er sein Thier ein wenig an, um den Grauen an seine Seite zu rufen.
„Wie kamt Ihr dazu, mich an so entlegener Stelle aufzufinden?“ fragte er, sogleich weiter trabend.
„Ich erfuhr in Aachen, wo Ihr wäret, Herr, und ritt die Grenze so weit hinunter, wie Ihr selbst gelangt sein konntet. Ein gewaltiger Schuß aus der Ferne lehrte mich dann das Weitere.“
„Ihr sagt, die Herzogin von Burgund habe den Plan ersonnen. Aber wer stand ihr als Rathgeber dabei zur Seite und half ihr den Plan ausführen?“
Im Gesichte des Grauen zuckte es seltsam. Es schien ihm einen Kampf zu kosten.
„Das ist ein großes Geheimniß, Herr,“ versuchte er auszuweichen.
„Ich muß klar sehen bei solchem Wagniß, muß wissen, auf wessen Beistand ich zu rechnen habe.“
„Herr ... es kommt mich hart an, und jedem Andern würde es den Kopf kosten, aber ich glaube selbst, Ihr dürft es verlangen. So will ich Euch denn sagen, so viel ich verantworten kann. ... Es besteht ein furchtbarer Geheimbund ... eine Vehme.“
„Zu welchem Zweck?“
„Gegen die verrätherischen Franzosenfreunde, gegen die Mordbrennerbanden, gegen den Clever, gegen Jeden, der die Freiheit der Herzogin und der Staaten bedroht, und ... was sonst noch für Zwecke sind.“
„Steht die Herzogin mit dem Bunde in Verbindung?“
„Ich denke wohl. Aber ohne daß sie es ahnt, Herr. Sie soll nicht mehr vom Bunde wissen, als was im Volke umgeht, daß er vornehmlich die französischen Verräther im Lande bedroht. Ihr müßt nämlich wissen, daß nicht blos in Burgund, auch in Hennegau, selbst schon bis in Welsch-Flandern hinein Alles französisch geworden ist in Sprache und Sitten. Viele Edelleute gehen dem König Ludwig in Frankreich zu Lehen. So haben die Staaten die schlimmsten Feinde im eigenen Lande. Gegen sie ist der Bund, wie man glaubt.“
„Warum denn auch gegen den Herzog von Cleve, wie Ihr sagt?“
„Weil er selbst nur für einen ehrgeizigen Freibeuter gilt. Wenn er die Herzogin an seinen Sohn verkuppelt hat, wird er die Rechte der Staaten mit Füßen treten.“
Maximilian hielt unwillkürlich die Zügel an und sah dem Grauen mißtrauisch in’s Auge.
„Und wäre das nicht noch mehr von mir zu befahren, als von einem kleinen Herrn ohne eigene Macht?“
Der Graue befand sich offenbar in ziemlicher Verlegenheit; er wiegte den Kopf hin und her; seine Nasenflügel hoben und senkten sich. Endlich hatte er seinen Entschluß gefaßt.
„Euer Verhör ist scharf, Herr. Ihr zwingt mich, noch mehr zu sagen. ... Seht, unter den Staaten ist seit einigen Jahren auch Gelderland. Ihr wißt, das Herzogthum geht dem deutschen Reiche zu Lehen. Es ist ein weites, fruchtbares Land, von der Maas bis zur Zuydersee, mit einem freien, starken Volke. Es hat immer seinen eigenen Herzog gehabt, bis Graf Adolf der Böse mit seinem alten Vater, dem Herzoge Egmont Arnold, in blutige Fehde gerieth und ihn gefangen nahm. Da half sich der Alte mit einem verzweifelten Mittel. Er rief Herzog Karl den Kühnen, seinen Schwäher, zu Hülfe und verpfändete ihm dafür sein Land an Burgund. Adolf wurde von Karl geschlagen und mußte sich fügen, aber er hielt nicht Ruhe und stiftete neue Empörung an. Es half ihm nichts; er fiel in des Herzogs Hand und wurde auf Lebenslang in das feste Schloß zu [582] Courtray gesperrt mit sammt seinen beiden unmündigen Kindern Karl und Philippine. Nun hat ihn zwar Herzogin Maria nach ihres Vaters Tode jüngst freigegeben, aber nur unter der Bedingung, daß er gegen die Franzosen zöge, und da ist er als einer der Ersten bei Tournay gefallen. Somit ist das junge Prinzlein Karl unser rechtmäßiger Herzog – denn, daß Ihr’s wißt, Herr, auch ich bin ein Gelderer – aber immer noch halten ihn die Burgunder im Kloster, und da seine Vormünderin, seines Vaters Schwester, Katharina, sich eben an den Herzog von Kalenberg nach Deutschland verheirathet, so ist das arme Herrlein einzig auf die Treue seines Gelderlandes angewiesen. Denn wisset, Herr, wir leugnen das Recht Burgunds auf Gelderland und stehen zu unserem Herzogshause und wollen uns gern abarbeiten, um die Pfandsumme einzulösen, und nur dem deutschen Reiche zu Lehen gehen. Aber den Staaten und den Räthen Maria’s mit sammt den Clever mundet der fette Bissen, und sie wollen ihn für sich behalten. Sehet, da setzt nun Gelderland seine ganze Hoffnung auf das edle Herz der jungen Herzogin und auf Euch, den Erben des deutschen Reiches, seinen künftigen Lehnsherrn, und da unter den Häuptern des Geheimbundes auch ein Gelderer sein soll, der wieder in Verbindung mit der Umgebung der Herzogin stellt, so ziehen beide, so viel Euch betrifft, was man sagt, an einem Strange.“
„Ah, jetzt verstehe ich,“ nickte Max befriedigt. „Doch Eines nimmt mich Wunder. Ihr habt wohl die Kinder Adolf's von Geldern und seine Schwester Katharina, aber nicht seinen jüngeren Bruder, Hugo von Geldern, genannt.“
Ein fast unmerkliches Zucken fuhr bei dem Namen durch das Gesicht des Grauen.
„Graf Hugo ... allerdings ... er lebt, Herr, aber in fremden Kriegsdiensten. Man weiß nichts von ihm.“
„Ei, da kann ich Euch mehr von ihm berichten,“ lächelte Max. „Er ist, ob auch älter als ich, vordem mein liebster Spielgefährte gewesen. Sein Vater, der alte Herzog Arnold, hatte ihn als Knaben zu seiner Ausbildung an den Hof nach Wien geschickt. Da haben wir manche Pagenstreiche zusammen vollführt. Später kam er an italienische Höfe, und noch vor einem Jahre hörte ich, daß Herzog Galeazzo Sforza ihn wegen außerordentlicher Kriegsthaten selbst zum Ritter geschlagen habe.“
„Glück auf, Herr!“ rief der Graue, der ihm mir größester Spannung zugehört zu haben schien. Das ist eine gute Mär. Wenn die Gelderer hören, daß Ihr durch Graf Hugo freund mit ihrem Herzogshause seid, so gehen sie für Euch durch das Feuer.“
„Es nimmt mich Wunder, daß ein so tapferer Prinz die Seinen in der Stunde der Noth im Stiche läßt.“
„In Gent herrschen immer noch seine Feinde, Herr. Was könnte er da nützen? Er wartet wohl ab, wer Herr wird in Burgund. – Aber jetzt, wenn Ihr meinem Rathe folgen wollt, verlasset die Straße, Herr, geht nicht über Eupen und nicht durch Aachen! Ihr könntet Euch nicht unbemerkt die Grenze hinaufschlagen, und Ihr müßt, wie ich meine, etliche Tage lang wie vom Erdboden verschwunden scheinen. Der Rothbärtige ist ein Fuchs, und führt er etwas Böses gegen Euch im Schilde, so läßt er sich durch die falsche Fährte, auf die wir ihn gesetzt haben, nicht lange irre führen. Glaubet mir, dann sucht er neue Witterung, und hat er sie gewonnen, so wird er uns die Cleveschen aller Heerstraßen auf den Hals hetzen, dafern wir nicht Vorsprung gewinnen.“
„Kennt Ihr den Rothbärtigen?“
„Ich sah ihn nur einmal von fern mit dem Herzog. Aber wer die Fuchsschwänze einmal gesehen, vergißt sie so leicht nicht wieder. Zudem ist bekannt, daß der Clever Herr besonderes Wohlgefallen an durchtriebenen Gesellen hat, die er glaubt benutzen zu können, wie er will. – Aber sehet dort, Herr, an jener Lichtung zieht sich ein Waldweg um Eupen herum. Wenn Ihr diesen einschlagt und an einer guten Stelle im Forste Rast haltet, so führe ich Euch am späten Abend ungesehen in den Aachener Wald, und in vier Nachtstunden kommt Ihr noch heute jenseit Aachen die Grenze hinunter bis Heerlen zu Eurem Gleite. Dann habt Ihr auf alle Fälle einen Tag Vorsprung und könnt in vier Nachtritten durch die Wälder von Nordbrabant nach Gent gelangen.“
„Wohlan,“ sagte Maximilian, „biegen wir ab in den Wald und rasten wir! Noch liegt ein Stück Arbeit vor mir, das mir schwerer ankommt, als die Fahrt nach Burgund. Bei einem guten Trunk wird es leichter gehen.“
Und sie wendeten ihre Gäule in die Lichtung. Aber noch nicht eine Minute waren sie den Seitenweg geritten, als sie hinter sich den Ruf des Ritters vernahmen und die Zügel anhielten. In wenigen Galoppsprüngen war der Alte an ihrer Seite.
Offenbar verstimmt, bisher keiner näheren Mittheilung über die kaiserliche Botschaft gewürdigt zu sein, zudem ohne Imbiß seit dem Morgen, ohne eigene Beute aus der Jagd, zeigte er seinem jungen Herrn nicht eben das freundlichste Gesicht.
„Der Weg kann nicht nach Eupen führen, Herr,“ sagte er kurz.
„Eben deshalb wähle ich ihn, Alter,“ erwiderte ihm Maximilian mit einschmeichelndstem Tone. „Wir wollen im Walde rasten und uns gütlich thun, und dort sage ich Euch mehr.“
Der Alte biß sich auf die Lippen und ritt schweigend, aber unversöhnt, neben ihm weiter. In ihm arbeitete stiller Groll. Seit der Prinz volljährig, war er nicht mehr, wie vordem, sein Hofmeister, sondern ihm vom Kaiser nur noch als Rathgeber zugetheilt. Aber so treu ergeben er an ihm hing, er fand sich nur schwer darein, das alte Verhältniß umgekehrt zu sehen. Der Prinz war jetzt der Herr, und er der Diener, und der erfahrene alte Kriegsmann mußte oft genug erleben, daß sein vorsorglicher Rath vor dem feurigen Temperamente des jungen Kaisersohnes in den Wind verhallte. So hatte er sich mit der Zeit daran gewöhnt, überhaupt mit seinem Rathe zu kargen und nur zu sprechen, wenn er gefragt wurde oder wenn sein strenges Pflichtgefühl es gebieterisch forderte, mir Vorliebe aber dann, wenn der entschiedene Verzug des Prinzen, der junge Page, sein vorlaut unfertiges, oder gar leichtfertiges Urtheil zum Besten gab, weil ein solches, ob auch im ersten Augenblick verlacht, doch seines Eindrucks auf das leicht erregbare Gemüth des jungen Fürsten nicht zu verfehlen pflegte. War doch dieser selbst noch in jenem von Thatendrang übersprudelndem Alter, in welchem unter Verwegenen stets der Verwegenste und unter Vorlauten der Lauteste den meisten Beifall findet.
Die mürrischen Züge des Ritters erhellten sich erst, als man an einem lauschigen Platze, wo unter hohen Eichen ein Bach dahinrieselte, anhielt und der Prinz sich nach dem Packthiere umsah.
„Hier lasset uns rasten!“ rief Maximilian. „Koppelt die Pferde, gebt ihnen Brod, tränkt sie und laßt sie sich am Bache Waldgras und frische Kräuter suchen! Für uns aber ladet das Packthier ab!“
[595] Sogleich lagerten sich Alle auf untergelegten Mänteln; ein inhaltsschwerer Bastkorb wurde ausgeleert, kaltes Wildpret, Geflügel mit Eiern, Brod und Salz vor ihnen ausgebreitet und ein gewaltiges Trinkhorn mit köstlichem Rheinwein gefüllt.
„He, Grauer,“ rief Max scherzend zum Boten hinüber, als er denselben am Bache seinen kleinen Klepper mit Brod füttern sah, „was habt Ihr denn in dem wunderbaren Ledersack dort am Sattel? Ich verhoffe, es ist leibliche Nahrung für Euch darin; sonst kommt und setzet Euch mit zu uns!“
„Zu viel Ehre, Ew. Gnaden!“ entgegnete der Graue. „Mein Gaul und ich, wir sind gute Cameraden und theilen Lager und Kost. Aber zum Nachtisch vergönnet, daß ich Euch zum Dank selbst etwas Ergötzliches anbiete, das in dem Wundersacke steckt!“
„Nach Eurem Gefallen; wir sind begierig auf die Herrlichkeiten,“ lachte der Prinz, das Mahl beginnend. Und so groß war Hunger und Durst der Waidmänner, daß sie sich eine geraume Zeit wortlos den Freuden des Genießens hingaben. Als aber das Trinkhorn zum zweiten Male gefüllt werden mußte, da hielt Maximilian den günstigen Augenblick für gekommen, und obwohl nicht ohne Unbehagen, machte es ihm doch sein gutes Gewissen leicht, sich die Miene jovialer Stimmung zu geben. So stemmte er sich denn scheinbar behaglich auf den Arm und sah lächelnd zum alten Ritter hinauf.
„Nun, mein getreuer Eckart, was glaubt Ihr: wohin geht die Reise?“
„Nach Eurer Art zu fragen, weder gegen Ungarn, noch gegen Türken,“ antwortete trocken der Alte.
„Wisset, ich gehe nicht mit so viel Sorge an das, was ich vorhabe, als daran, es Euch zu sagen.“
„Dann kann es nur etwas Schlimmes sein, Herr.“
„Mir scheint es gut und nothwendig und ehrenhaft, Herberstein. Vernehmt – ich gehe nach Burgund.“
„Bei Kaisers Majestät, Prinz, das werdet Ihr nicht.“
„Bei meiner Ehre, ich werde es,“ flammte Maximilian auf, indem er den Brief hoch hielt. „Leset dieses Blatt und saget selbst, ob ich den Namen eines Ritters verdiene, wenn ich bleibe. Maria von Burgund, das verwaiste Herzogskind, sie, die Königin meines Herzens, ruft mich in höchster Noth. Die Stunden sind gezählt; sie baut auf meine Hülfe. Dazu ist Alles günstig. Gent ist von Truppen entblößt; ihr geheimer Anhang ist groß, und sie hat mir fünfhundert Reiter als Geleite an die Grenze entgegengesandt. Noch in dieser Nacht brechen wir auf.“
„Giubilo!“ jubelte der Page.
„Still!“ verwies ihn der Prinz.
„Ihr könnet und dürfet Euch nicht vermessen, so gröblich wider Kaisers Befehl zu handeln,“ beharrte der Alte, nachdem er kopfwiegend den Fall überdacht, bei seinem Entscheid.
„Was mein Vater befahl, befahl er nichtwissend, und ich werde nach geschehener That an den besser Unterrichteten appelliren.“
„Alessandro!“ entfuhr es, halb unterdrückt, dem unverbesserlichen Pagen.
„Nein, eines Andern gedenkt!“ rief mit strafendem Blicke auf ihn feierlich der Alte. „Conradin's des Staufen! Auch er folgte einem lockenden Rufe, auch er hielt für Ritterpflicht, was er that, auch er sah nur den glücklichen Anfang, und mußte doch verbluten. Bedenket, daß Ihr in Gent nicht allein gegen den Clever, daß Ihr auch gegen König Ludwig zu kämpfen habt! Und wahrlich, nicht schlimmer, nicht tückischer, nicht grausamer, denn er, war jener Karl von Anjou, der dem staufischen Kaiserenkel den Kopf vor die Füße legte. Lasset Euch rathen, lasset Euch warnen, Prinz! Ich, Euer alter Hofmeister, den Kaisers Majestät Euch beigegeben hat, um Euch vor Unbedacht zu wahren, ich, der mit seiner Ehre für Euch bürgt, wie sollte ich ein Wagniß billigen, das Eure Freiheit, Euer Leben und das Ansehen des Reiches gefährden kann? ...“
Maximilian ließ ihn nicht ausreden. Mit einem Satze sprang er empor.
„Das Ansehen des Reiches?“ rief er erglühend. „Wie mögt Ihr glauben, Herberstein, daß es mir nicht heilig gelte, daß ich, dessen höchstes Gebet ist, ich möge berufen sein, das so tief gesunkene, ja, laßt es mich aussprechen, das vernichtete Ansehen in alter Glorie wieder herzustellen, daß ich es der Gefährde aussetzen möchte! Nein, höret! Weislich habe ich mir während des Rittes meinen Plan zurecht gelegt. Man muß mich nach dem, was ich vor so vielen Zeugen kundgethan, auf dem Wege nach Wien glauben. Welches Weges ich mit Euch geritten, kann in den ersten Wochen nicht offenbar werden. Von Stund' an aber legen wir unsere Namen ab. Wer kennt in Burgund den Erben des deutschen Reiches? Wer würde ihn in diesem Gewande suchen? Nein, ich bin von diesem Augenblick an 'Ritter Teuerdank'; Ihr, Alter, heißet, wie Ihr es verdient, 'Ritter Ehrenhold', der Page aber ist nach Rechtens 'Junker Fürwittig'. Die Diener werden darauf in Pflicht genommen. [596] Keiner erlaube sich, bei hochnotpeinlicher Ahndung, uns anders zu nennen! Selbst unsere Heimath bleibe verschwiegen! Unser Herr sei im fernen Osten der 'Weißkunig', und das minnigliche Fräulein, um dessen Hand ich werbe, heiße 'Ehrenreich'. Mißglückt dann das Wagniß, so war es ein fahrender Ritter, der es unternahm, und leichtlich mag er sich mit Golde lösen. Glückt es aber und habe ich Maria die freie Herrschaft zurückgewonnen, dann erscheint Maximilian wieder in Köllen und die Gesandtschaft mag für ihn werben, zu Ehren des Reiches! ... Ihr lächelt, Alter? Euch scheint das wieder ein romantisches Jugendstück? – O, gönnt doch der Jugend ihr Vorrecht! Gedenkt Eures eigenen Sohnes! Neun Jahre alt ist er freilich erst, Euer kleiner Siegmund in Wippach, aber denkt ihn Euch in meinem Alter, denkt, daß auch von ihm einst die Umstände ein warmes Herz und ritterliche That verlangten, und sagt ehrlich: Möchtet Ihr Euren Sohn in solcher Lage erst vorsorglich rechnen, ihn erst die Erlaubniß seines Vaters abwarten sehen? ... Ihr stampft mit dem Fuße. Ihr würdet es nicht – Wohl, Alter, so dürft Ihr es auch nicht von mir begehren, sonst müßte ich Euch sagen: Es ist nur die eigene Verantwortlichkeit, die Ihr scheuet.“
„Ihr habt eine glatte Zunge, Prinz,“ murrte sichtlich betroffen der Alte. „Aber sparet Eure Ueberredungskünste! Ich bin ein Kriegsmann und kenne nur die eine Pflicht, Gehorsam gegen den Befehl.“
„Herberstein, wenn Ihr jeden anderen Grund zurückweiset, so möget Ihr auch den letzten noch hören. Vielleicht daß Ihr dann doch Euch bewegen lasset, denn er kommt aus der Seele dessen, den der Himmel durch Geburt zum künftigen Herrn des deutschen Reiches berufen hat. Sehet, nicht allein wäre für mich auf ewig Maria verloren, auch für mein Haus Burgund. An unserer Statt gewönne es ein Feind, und ob für den Augenblick des Clevers Schwänke oder Ludwig's Ränke die Beute davon tragen, schließlich muß sie dem mächtigen Frankreich zufallen zum Verderben Deutschlands. Dagegen hilft keine noch so glänzende Gesandtschaft; dagegen hilft nur rasche That. O, nicht umsonst hat mich mein Vater in den Historien alter und neuer Völker unterweisen lassen. Ich habe es gelernt von den Helden aller Zeiten, vor Allen aber von Carolus Magnus, dem 'Sonnenspiegel des Reiches', was kühne That zur rechten Stunde vermag. Oder fragt der Landmann, wenn die goldene Maht zum Heimsen vor ihm liegt und drohend Gewölk am Himmel steht, ob der Erntewagen festlich geschmückt sei? Und so ist es hier, ist es mit Burgund. Diese blühenden Lande, durch Säumniß schwacher Kaiser losgelöst vom deutschen Verbande, liegen sie nicht unter der Sichel der Noth wie eine goldene Maht vor mir und harren meines Armes, daß er ihre Schätze für uns einheimse? Stellt Euch doch vor Augen, welchen Segen sie für Deutschland bieten! Denkt ihrer meerbeherrschenden Flotte, die bis an die fernsten Nordspitzen des Landes der Russen segelt! Denkt, welche Stapelplätze uns ihre Häfen sein werden, welch ein Markt für den Welthandel ihre Städte, die den Reichthum aller Welten jetzt in eitel Genuß und Prunksucht verschwenden! Denkt aber auch des köstlicheren Gewinnstes für die Bildung unseres Volkes auf ihren sechs hohen Schulen, für unsere Gewerbe in den Werkstätten ihres Kunstfleißes. Denkt des Einflusses, den der burgundische Thron als Muster in Pracht, Kunstsinn und seiner Hofsitte auf alle Höfe Europas ausübt – und ich sollte zögern, auf einen Zug solche Schätze für meine Heimath zu gewinnen, sie zu ihrem Ansehn, ihrem Ruhme zu verwerthen? O, mein schönes, großes und doch so sterbenssieches Vaterland, wie sehr bedarfst du nicht frischen, gesunden Blutes, um zu genesen, zu erstarken und zu neuer Größe zu erblühen! Ja, Herberstein, ich träume ihm noch eine goldene Zukunft, und, so Gott mir beisteht, möchte ich mein Theil dazu thun.“
Hohe Begeisterung strahlte aus dem Antlitz des schwärmerischen Kaisersohnes, als er seinen Gedankenflug zum ersten Male also verlautbarte. Mit offenem Munde und großen schwarzen Augen starrte ihn der Page in unverhohlener Bewunderung an. Tief gerührt aber schritt der Ritter auf ihn zu.
„Lasset Euch umarmen, Prinz!“ rief er. „Das sind Worte, die einem deutschen Herzen wohlthun.“
Mit vollem Entzücken umarmte ihn der Prinz. Er wähnte den Alten besiegt, für seine Sache gewonnen.
„Ja, mein alter Hofmeister,“ rief er, „Ihr sollt mir das neue Banner vortragen, und das sei eine weiße Fahne mit goldenen Glückssternen und Marienäpfeln darunter!“
Schmerzlich wandte sich der Alte ab. „Ihr habt mich gerührt, Prinz, denn Ihr habt mich einen tiefen Blick in Eure edle Seele thun lassen. Aber das Banner trage ich Euch nicht, denn Euer Unternehmen kann ich nimmermehr gutheißen.“
„Herberstein, noch immer nicht?“ rief, kaum seinen Ohren trauend, der Prinz. „Dann habt Ihr kein Herz für mich, kein Herz für das Reich in der Brust.“
„Ob ich es habe!“ sagte mit zum Himmel erhobenem Blick der Alte. „Für Euch – wie hättet Ihr mich sonst also rühren mögen? Für das Reich? O Prinz, wollte Gott, daß Ihr das edle Feuer, das in Euch glühet, einst in weise Schranken zu dämmen verstündet, auf daß es den Herd des Reiches erwärme und nicht knisternd über Rand und Band in unfruchtbaren Funken zersplittere! Aber die sicherste aller Schranken übersprüht es schon jetzt, und diese Schranke ist – das Recht.“
„Das Recht, Herberstein?“
„Mit welchem Rechte strebet Ihr in das Geschick eines fremden Staates einzugreifen und seine Schätze Euch für das Reich anzueignen?“
Mit dem Rechte des künftigen Gemahls,“ erwiderte erstaunt der Prinz. „Ist nicht Maria längst meine verlobte Braut?“
„Nein, Prinz,“ nahm, also herausgefordert, dieser das Wort. „Die Staaten sind es, die jetzt über die Hand der Herzogin zu bestimmen haben, denn sie hat eingewilliget und verbrieft, sich nicht ohne ihre Zustimmung zu vermählen.“
„Ha, Alter, und was hat ihnen die Einwilligung verschafft? Empörung gegen ihre junge Herrin in der Stunde der Noth. Noch jetzt ist sie in der Gewalt frecher Aufrührer, und nicht zum Letzten bin ich gesonnen, ihr die Freiheit und ihr angestammtes Recht zurück zu gewinnen.“
„Es mag ein zweideutig Ding um das Recht der Empörung sein und um das neue Recht, das es schaffet,“ nickte sinnend der Alte vor sich hin, „aber keinesfalls ist es klug, noch geziemet es Euch, in ein fremdes Wespennest zu stören.“
„Also hätte ich Euch schon so weit, Herberstein,“ fuhr Maximilian, scharfen Blickes die Blöße erkennend, fast erbittert in dieselbe hinein, „daß Ihr von der Pflicht zum Rechte und vom Rechte zur Klugheit heruntergestiegen seid. Die Klugheit aber rechnet, und da ich das Rechnen verschmähe, wo Ruhm und Ehre rufen, so bin ich zu Ende mit meinem Latein und kann Euch nur sagen: Rechnet, Alter, rechnet in Wien mit meinem Vater! Denn so Ihr mir nicht folgen wollt, gehe ich allein.“
Mit großen Augen sah ihn der Alte an. „Was sagt Ihr, Prinz? Welch ein Gedanke! Und das könnet Ihr für möglich halten? ... Ich Euch verlassen? O Prinz, Euch zu warnen, bis zum Aeußersten zu warnen, war ich meiner Pflicht, meiner Treue gegen Kaisers Majestät schuldig, und redlich habe ich die Pflicht erfüllt. Aber nicht ich habe über Euch zu bestimmen – Ihr seid ja selbstständig worden. Und Euch verlassen, ich, in der Stunde der Gefahr? Prinz, Prinz, wie verkennet Ihr mich!“
Mit Thränen in den Augen breitete er die Arme gegen ihn aus.
„Ich wußte es ja,“ rief gerührt der Prinz und warf sich an seine Brust.
„Bravi, bravi!“ jubelte der Page, das Trinkhorn ergreifend. „Und jetzt angestoßen, Herr!“
„Auf ihr Wohl!“ rief Maximilian, trank und reichte das Horn dem Ritter.
„Auf ihr Wohl und das Eure!“ sprach feierlich der Alte und trank.
„Nun zeige auch Du, Jünkerlein, wie viel Du schon von Liebe verstehst!“ wandte sich fröhlich Maximilian an den Pagen und reichte ihm das noch zur Hälfte gefüllte Horn.
„Alla di léi salute!“ rief ernsthaft der Junker, ließ den Wein auf einen Zug unaufhaltsam hinunterrinnen und machte lachend eben die Nagelprobe, als ein lauter Ausruf der abseits gelagerten Reitknechte Aller Augen auf einen neuen Ankömmling lenkte.
Niemand von ihnen hatte bisher auf den Grauen geachtet, der, nachdem er sein Pferd versorgt, am Rande des Baches seine einfache Kost zu sich genommen hatte. Wer ihn freilich beobachtet [597] hätte, würde an der schrägen Haltung seines Kopfes bemerkt haben, daß er mit seinem ansehnlichen, von Natur wie zum Hörrohre geschaffenen Ohre auch die leiseste der Schallwellen aufzufangen bestrebt war, die in der Stille des Waldes von den Sprechenden zu ihm herüberdrangen. Diese Stellung machte ihn aber auch ebenso empfänglich für jeden anderen Laut, und just als er mit stillvergnügtem Nicken die Umarmung begleitete, mit welcher der alte Ritter seinen jungen Herrn wider Willen so grausam täuschte, mußte wohl ein fremder Ton zu ihm gedrungen sein, denn blitzschnell, aber geräuschlos, erhob er sich, nahm die längliche Halftertasche an sich und verschwand hinter den Büschen. Der ferne Hufschlag eines Pferdes aus derselben Richtung, in der sie selbst vor einer halben Stunde gekommen, war an sein Ohr geschlagen. Lautlos schlich er hinter den Reitknechten herum zu einer Stelle, wo der Waldweg sich eine weite Strecke bis hinter eine Kreuzung übersehen ließ. Er hatte sich nicht getäuscht. Ein Reiter kam von ferne dahergetrabt. Es schien ein kleines, auffallend in den Schultern steckendes Bäuerlein in blauem Wollkittel und niedrigem schwarzem Filzhut zu sein, das einen Sack vor sich auf dem Sattel trug. Als er aber an den Kreuzweg kam, hielt er seinen Gaul an und beugte den Kopf, wie spähend, zur Erde nieder.
„Aha, ich weiß genug,“ sagte sich der Graue, zog sich wenige Augenblicke hinter einen Busch zurück und erschien in unglaublich kurzer Zeit, wie durch Hexerei verwandelt – wenn es überhaupt nicht ein Anderer war – wieder bei seinen Gefährten. Ein Ausruf des Erstaunens entfuhr den Reitknechten.
„Ah!“ rief der Prinz, „Ahi!“ der Page, als sie seiner ansichtig wurden.
Es war ein rother Spielmann, der vor ihnen auftauchte – roth die Kappe, roth die Gugel, Fiedel und Bogen am Gürtel – mit spärlich blondem, ausgezacktem Barte und einem wundersamlichen Höcker auf der Nase. Und doch erinnerte er auffallend an den Grauen. Ja, der Graue mußte es selbst sein. Das war seine Gestalt, das der Schnitt seiner Kleider, sein bastumwundenes Schuhwerk; das waren die verschmitzten grauen Augen unter den schrägen Brauen und, das Sprechendste von Allem, die beredten Nasenflügel. Aber konnte ein Mensch sich verwandeln, wie eine Schlange sich häutet? Denn zugleich mit der äußern schien er auch seine innere Natur gewechselt zu haben. Das war nicht mehr der ernsthafte Alte, der dem Prinzen eben noch über die wichtigsten Dinge verständige Auskunft und wohlbegründeten Rath gegeben hatte. Mit der Farbe der Jugend mußte auch ihr Muthwille, ihre Thorheit über ihn gekommen sein. Denn als er jetzt, scheinbar ohne alle Veranlassung, anhub, seine Nasenflügel spielen zu lassen, und Höcker und Brauen sich hoben und senkten, als seien sie durch unsichtbare Fäden mit jenen verbunden, da konnten sich weder Diener noch Herren halten – sie Alle brachen in ein helles Gelächter aus. Er aber, ohne ein Wort der Aufklärung zu verlieren, riß Fiedel und Bogen von der Seite, strich als Präludium eine schrille Weise, deren Tact er mit tänzelnder Bewegung der Fußspitzen und der Hacken markirte, und ging plötzlich zu dem beliebten brabantischen Kinderliede vom Riesen über, das er mit heiserem Tenor drastisch-komisch vortrug. Bei dem Refrain des Liedes aber, wo es heißt: „Dreh' dich schnell um! Der Riese kommt, der Riese kommt“ griff er einen der verwundert lauschenden Reitknechte, schwang sich mit dem Verblüfften im Zweitritt einmal im Kreise herum, drückte ihm von rückwärts den Nacken vor, und deutete mit dem Fiedelbogen des Weges, auf dem der Reiter kommen mußte.
Ritter und Knechte halten sich die Seiten vor Lachen, während der Fiedler mit Geigen, Singen und Grimassiren fortfuhr. Und siehe da, als er mit dem Diener jetzt denselben Umschwung hielt und ihm mit dem Bogen die Richtung zeigte, erschien vor ihnen der kleine bucklige Reiter und hielt verwundert seinen Gaul an. So drastisch aber war die Wirkung, als statt des kinderschreckenden Riesen das mißgestaltete Bäuerlein vor ihnen auftauchte, daß der Prinz niemals ähnlich Lächerliches erlebt zu haben meinte, und selbst der Bucklige sich nicht enthalten konnte, ob seiner Eigenschaft als Riese in das Gelächter einzustimmen.
Sichtbar stolz auf seinen Erfolg sang der Fiedler auch noch den dritten Vers, hielt den Umschwung, zeigte hänselnd auf den Reiter, lief dann auf denselben zu, machte ihm mit einem Fußkratz seine Reverenz und hielt ihm die Mütze hin.
Die Wirkung machte die Absicht alsbald klar; denn anstatt ihm das erwartete Stüberstück zuzuwerfen, gab der Bauer hastig seinem Gaule einen Schlag mit der Weidengerte und galoppirte von dannen, nicht ohne im Vorbeireiten noch mit einem scharfen Blicke die Gesellschaft gemustert zu haben. Der Fiedler aber drehte ihm eine Nase hinterdrein und sang ihm noch einen letzten Vers nach. Dann lauschte er, bis der Hufschlag nur noch in weiter Ferne zu vernehmen war, und kehrte zum Prinzen zurück.
„Herr,“ sagte er, ganz in der frühern Weise des Grauen, „der Hallunke war ein Kundschafter des Rothbärtigen, denn ich sah ihn deutlich am Kreuzwege die Hufspuren unserer Thiere untersuchen. Ich wette meinen Kopf, er biegt bei dem ersten Seitenwege links ab und berichtet jenseits der Grenze, was er gesehen.“
„Mag er es!“ erwiderte geringschätzig der Prinz.
„Meinet Ihr, Herr? Der Rothbärtige, dünkt mich, wird also rechnen: Hat der Prinz wirklich eiligen Befehl nach Wien, so muß er durch Eupen auf der Heerstraße nach Aachen reiten, schon um in Aachen frische Pferde zu nehmen. Er ritt aber auf einem Umwege um Eupen herum und hielt Rast im Walde – das bedeutet, daß er etwas Besonderes vorhat.“
Maximilian nickte betroffen mit dem Kopfe.
„Meine Gegenrechnung aber,“ fuhr der Fiedler mit verschmitztem Blicke fort, „ist also: Es war eine lustige Rast, die der Prinz im Walde hielt; er zechte, ließ sich von einem vlämischen Bänkelsänger Schnurren vorsingen und erlustirte sich daran. Folglich kann es nichts Wichtiges, noch ein groß Geheimniß sein, was er vorhat, denn ernste Dinge geben ernste Gedanken, und er weiß, daß der Spielmann aller Welt erzählen wird, wann und wo er ihm begegnet ist.“
„Ihr seid ein Geriebener,“ nickte der Prinz.
„Was ist's mit dem Rothbärtigen, Herr?“ fragte der Ritter, der hoch aufgehorcht hatte.
„Ich erzähle Euch das unterwegs mit Allem, was Euch sonst zu wissen nöthig,“ vertröstete ihn Maximilian, sich erhebend, „denn mich dünkt es an der Zeit, aufzubrechen. Aber vorher berichtet uns: wie in aller Welt habet Ihr die Zauberei da mit Euch möglich gemacht?“
„So, Herr!“ sagte der Fiedler, nahm seine Kappe ab, hob mit einem Ruck die Gugel über den Kopf, drehte die rothe Seite nach innen und steckte den Kopf wieder hindurch, klappte ebenso die Mütze um und setzte sie wieder auf, zog einen falschen grauen Bart hervor, heftete ihn mit den feinen Drahthäkchen daran hinter den Ohren fest, riß den Höcker von der Nase und stand in weniger als zwei Minuten vor den erstaunten Zuschauern als grauer Alter da.
„Oh bella!“ rief der Page.
„Ecco Ceschy,“ lachte der Prinz, „das Fabelthier Chamäleon von außen und von innen! ... „Wahrlich, Fiedler, eine gute Vermummung.“
„Das getreue Bild eines Gelderers, Herr!“ versetzte der Graue in plötzlich wieder ernsthaftem, fast kummervollem Tone. „Er weiß nicht, ob er Fisch ist oder Fleisch, und ist doch der getreue Wasserhund, der mit Liebe an seinem Herrn hängt.“ ...
„Und dem Wir helfen wollen, so weit Wir vermögen,“ tröstete der Erbe des römischen Reiches. „Aber jetzt läßt es mich nicht mehr. Noch einen Trunk, und dann ...“ – – – –
Die Pferde standen bereit. Man schwang sich in die Sättel, und vorwärts ging es dem Norden zu. Der Graue aber führte den Zug, indem er sorgfältig die Hufspuren beobachtete, die der Klepper des Bäuerleins hinterlassen hatte.
Vier Tage nach den Ereignissen, die sich an dem hohen Venn zugetragen, führte in Gent um die Mittagszeit Maria von Burgund, die junge Herzogin, ihre eben angekommene Base, die Aebtissin Gräfin Chimay, schweigend die Marmorstufen des Fürstenhofes hinauf. Es war ein trauriges Wiedersehen, und nur mit stummem Händedruck war Maria drunten im Stande gewesen, ihre fromme Base zu begrüßen. Kaum aber hatte sie im Empfangssaale das Gefolge verabschiedet und sah sich mit ihr allein, als sie ihren mit Mühe zurückgehaltenen Empfindungen freien Lauf ließ und sich mit dem Ausruf: „Base, Base, welche Zeiten!“ schluchzend an ihre Brust warf.
[598] „Sage, welch' ein Jahrhundert, Kind! Die ganze Welt leidet darunter,“ tröstete die Aebtissin, sich zu ihr niederneigend und ihr die Stirn küssend. „Der böse Feind geht leibhaftig um auf Erden. Wohin das Auge blickt, sieht es seine Spuren. ... Das sündhafte Erbe der schrecklichen Hussiten hat er durch Sectirer unter die Völker gestreut; die Sprache der alten Heiden verbreitet er durch Schwarzdruck. In das christliche Byzanz hat er den Saracenen geführt; jenseits des Canals schürt er das Morden der beiden Rosen. Deinen unglücklichen Vater mit der Blüthe der Ritterschaft warf er freiheitstrunkenen Bauern zum Opfer, und den ehrbarsten Städten predigt er Aufruhr um Privilegien – o Gott, o Gott!“
Noch immer lag Maria an ihrer Brust.
„Ach Base,“ schluchzte sie, „lasset mich meinen Kummer ausweinen! Zum ersten Male seit langer Zeit ruhe ich wieder an einem treuen Herzen.“
Es war eine Gruppe für den Bildner, aber mehr noch für den Maler, die schlanke Gestalt der jungen Fürstin an der Brust der ehrwürdigen Aebtissin, die Arme um ihren Nacken geschlungen.
Von den beiden trotz der eben verflossenen Trauerzeit noch in Schwarz gekleideten Frauen bot allein schon das Antlitz der älteren, obgleich es vom Scapulier bis an den Mund mit dem weißen „Rissentuche“ verhüllt war, die dankbare Aufgabe, durch überraschende Gegensätze zu wirken.
Die Sonne von sechzig Sommern hatte es dunkler, als gewöhnlich, gefärbt, aber eben so viel Lenze hatten die Wangen rosig erhalten, und doch wieder sechzig Winter ihr Haar mit dem hellsten Schnee übergossen. Und so auffallend hoben sich von dem dunkelen Colorit der Stirn und den noch dichten Brauen über schwarzen Augen die schneeweißen Löckchen ab, die unter dem spitzenbesetzten Flügeltuche hervorquollen, daß man hätte versucht sein können, diese ihre Hauptzierde für ein Gebilde von Menschenhand zu halten. Allein wie berechtigt auch eben ihre frommen Vorwürfe gegen ihr Jahrhundert gewesen sein mochten: so gottlos hatte der „böse Feind“ es doch noch nicht gemacht, daß es sich, seinen Nachfolgern gleich, vermessen hätte, den Schöpfer selbst zu verbessern – die Löckchen waren echt, gerade so echt, wie die braunen Ringeln um das Köpfchen an ihrer Brust, die dort in natürlichen Arabesken das blühende Gesicht eines neunzehnjährigen Mädchens umflossen.
Und welch eines Mädchens!
Aus dem Hermelinbesatze ihres schwarzen Obergewandes hob sich züchtig ein Hals, den selbst die beiden Streifen feinsten Linnens über dem dreieckigen Ausschnitte an ihren Schultern nicht in Schatten stellten, und ein Antlitz schaute darüber hervor, das, weich wie ein Kindergesicht und offen wie ein Buch, zu sagen schien: Sehet her – ich bin zum Lachen geschaffen, aber an Thränen gewöhnt. – Und in der That, wer Maria kannte, der wußte auch: dieselben Lippen, die jetzt, geschlossen, einen Schmerzenszug in die linke Wange gruben, dieselben hellbraunen Augen, die jetzt matt wie hinter einem Trauerflore schimmerten, konnten sich wie durch Zauberschlag in ihr Gegentheil verwandeln, sobald nur ein heiteres Wort ihre wahre Natur hervorlockte. Dann war es, als wäre plötzlich hinter dem Auge ein Vorhang hinweggezogen; ein heller Lichtblick glänzte daraus hervor; die Mundwinkel schoben sich in die Höhe und öffneten, zugleich mit den Lippen, zwei Perlenreihen, hinter denen wie aus einer Thür der Schalk hervorsprang – der Schalk des Glückes, der von Kindheit an ihr Milchbruder gewesen war.
Der Schalk des Glückes – wann sollte sie ihn wiedersehen, die junge Herrin von Burgund, Artois, Picardie, Hennegau, Flandern, Brabant und Holland mit sammt Zütphen und Gelderland – jetzt kaum anders als eine Gefangene in ihrer eigenen Hofburg!
„Ach, Base,“ nahm sie, endlich sich aufrichtend und mit dem Spitzentuche in der Hand die Augen trocknend, das Wort, „so schlimm es in der Welt sein mag, hier ist es am schlimmsten. Sehet!“ – und sie führte die Aebtissin an den offenen Balcon – „da liegt nun mein altes Gent, scheinbar friedlich wie sonst, aber es sonnt sich wie dieser heuchlerische Apriltag, der am frühen Morgen die jungen Blüthen geknickt hat. O, was habe ich ihnen gethan, daß sie mich behandeln wie eine gekrönte Sclavin, die man auf dem Prinzenmarkt für den Meistbietenden feil hält! Ja, Base, all der prunkvolle Schmuck, der um mich glänzt, ist das Bild meiner selbst. Dieser Hermelin, das Zeichen meiner fürstlichen Würde, bedeckt ein Trauergewand. Dieser Rosenkranz von Edelsteinen, der mir zum Gürtel dient, deutet mein tägliches Nothgebet, und dieses goldene Vlies“ – und ihr Finger hob spielend die Halskette mit dem Goldschäflein an ihrer Brust – „dieses höchste Ehrenzeichen, das mein Großvater Philipp für die Herrscher Burgunds gestiftet, es ist zum Sinnbild meiner Krone geworden. Schrecken aller Art umgeben es, wie das goldene Widderfell der Griechensage; ein schlimmer Drache bewacht es, aber immer noch lockt es die Bewerber von nah und fern.“
„Kind, Derer, die in scharlachenen Kleidern gehen, ist keine glücklich,“ seufzte die Aebtissin.
„Aber ich, Base, bin der unglücklichsten eine, und heute zumal. Ja, heute mußte ich meine mütterliche Freundin ihrem stillen Kloster entreißen, denn die böse Stunde, die über mein Glück entscheidet, ist nahe, und er, der Einzige, der es mir geben könnte, mein Maximilian, bleibt fern.“
„Wo weilet er denn, mein Kind?“
Scheu sich umsehend, ob auch kein Lauscher in der Nähe, versetzte Maria, den Finger an den Lippen:
„Er ist in Köllen. Ich habe ihn wiederholt zur Eile gemahnt. Aber ach, wenn er noch immer ohne Heer oder großes Gefolge ist, wie kann ich da hoffen, ja nur wünschen, daß er kommt? Aufrührerische Banden durchziehen das Land; in der Umgegend hauset ein schrecklicher Geheimbund, den sie den 'Hugh' nennen und von dem Niemand weiß, was er bezweckt; die Wege nach Deutschland soll der Herzog von Cleve besetzt haben, und hier in Gent – o, welcher Empfang würde hier seiner warten!“
„Mein Gott, läßt ihn denn sein Vater ohne Hülfe?“
„Ach, Kaiser Friedrich – Ihr kennt ihn ja – hat im Osten zu sorgen und heget, fürchte ich, noch Groll gegen uns seit dem bösen Tage von Trier. Base, Base, das war mein Unglückstag! O, mein edler, ritterlicher Max, so von mir lassen, so mit mir brechen zu müssen! – Ach, und seit sie nun auch Margarethe von York, meine edle Stiefmutter, verbannt, habe ich Niemand mehr, der mir helfen, mir nur zum Besten rathen könnte, wenn Ihr nicht helft, Ihr nicht rathet.“
„Nein, Kind, das vermag auch ich nicht; das vermag nur Einer, nur Gott. Denn auch der Hellsehendste auf Erden sieht nicht in die Zukunft, und auch der Selbstloseste steht unbewußt noch unter dem Einflusse eigener Wünsche. Darum bete mit mir zum Allmächtigen, daß er Deine Gedanken erleuchte, und dann thue nach seiner Eingebung! Aber sage mir endlich, was steht Dir heute bevor? In der beschaulichen Einsamkeit meiner Abtei Allerseelen, ob auch kaum eine Stunde von Gent, kümmere ich mich wenig um die Händel der Welt und erfahre nur vom Hörensagen.“
„So habt Ihr nichts von der Gesandtschaft des Königs von Frankreich vernommen, die heute hier eingetroffen ist?“ fragte erstaunt Maria.
„Man sagte mir, sie werde mit Friedensbotschaft erwartet.“
„Friedensbotschaft!“ rief bitter Maria. „Sagt 'Unglücksbotschaft'! Denn was kann sie anders zur Bedingung stellen, als was mir auch vom Clever droht, und was will der Clever anders, als was auch die Staaten von mir gewollt, seit sie nach meines Vaters Tode sich Gent zum Vororte gewählt, in offener Empörung ihre alten Privilegien an sich gerissen, ein eigenes Heer angeworben und mich noch jetzt nicht einmal ohne Bewachung aus den Thoren reiten lassen? Mit mir will Jeder nur die Herrschaft über mein Land. Darum hat das Volk meine Stiefmutter verbannt, darum meine Freunde von mir getrennt, darum meine unglücklichen Kanzler, den greisen Hugonet, den freundlichen Imbercourt zum Tode verurtheilt und sie – schrecklich, schrecklich! – trotz meines Flehens auf offenem Markte, trotz meines Händeringens vor dem Gravensteine enthauptet.“
Wie gebrochen von der fürchterlichen Erinnerung sank sie auf dem Damastdivan neben dem Balcone. Die Aebtissin knieete vor ihr nieder und trocknete ihr die Schweißtropfen von der Stirn.
[611] „Rege Dich nicht unnöthig auf, armes Kind!“ bat die Aebtissin. „Das Alles weiß ich ja, habe es ja erlebt. Der Allmächtige läßt vom bösen Feinde Schuldige und Unschuldige leiden zu ihrer eigenen Läuterung und zur Erziehung einer besseren Menschheit, wann die goldene Zeit gekommen sein wird, wo Sein Auge aus blauem Himmel wieder mit Wohlgefallen auf der Erde weilt. Aber, Kind, nicht Jeder ist unschuldig, der es scheint, und Deinen Räthen sagte man nach, sie hätten durch Dich Burgund an Frankreich verkaufen wollen.“
Mit keinem Trostgrunde hätte die gute Aebtissin die Lebensgeister der armen jungen Herzogin besser zu wecken vermocht, als mit diesem Angriffe auf ihre unglücklichen Räthe. Es schien fast, als fühle Maria eine wunde Stelle in sich selbst getroffen, so plötzlich fuhr sie vom Sitze empor.
„Verkaufen wollen? Ei, Base, Ihr wißt mehr, als ich glaubte, aber Ihr wißt es falsch. Was ich den Richtern bekannt, wenn es auch das Volk nicht weiß, Euch will ich es sagen: Ich selbst hatte die Kanzler bevollmächtigt, zu thun, was sie gethan. O, sie kannten nur zu gut den ländersüchtigen elften Ludwig, der nach meines Vaters Tode plötzlich die schmähliche Lüge erfunden, seine bedrängten Stammesgenossen riefen ihn in das heimgefallene burgundische Lehen. So war er über mein armes Land hergefallen, hatte eine Stadt, eine Provinz nach der andern erobert. Um meine Krone, um mein Land zu retten, riethen mir meine Kanzler, das Opfer zu bringen und mich dem Dauphin zu verloben.“
„Dem mißgestalteten, siechen Kinde! Das allein schon war ein Verbrechen, Maria. Und Dich vermochten sie dazu zu bestimmen, Dich, mit Deiner Liebe zu Maximilian im Herzen? Es war sündhafter Mißbrauch Deiner Noth, Deines Edelmuths.“
„Ach, Base, die Aermsten haben furchtbar gebüßt, wenn sie irrten. Ich aber – Ihr kennt mich ja“ – und unwillkürlich flog ein schmerzliches Lächeln über ihr Gesicht – „ich bin leicht zu heldenmüthigem Entschlusse gebracht, wenn ... wenn die That noch fern ab liegt. Und – um Euch die ganze Wahrheit zu sagen, so hoffte ich dem Himmel Gelegenheit zu geben, durch einen seiner glücklichen Zufälle, vielleicht durch ... Maximilian selbst es noch zu hintertreiben. – Ach, was hat mir jetzt der Aufschub genützt? Ludwig’s Heere haben reißende Fortschritte gemacht; schon ist Adolf von Geldern gegen sie gefallen; das Staatenheer, das der junge Präsident ihnen entgegenführt, kann sich nicht gegen sie halten; vier Meilen von hier stehen ihre Vortruppen. Da war ein Waffenstillstand unumgänglich, und heute, wo er wieder abläuft, so recht geflissentlich zur letzten Stunde, bringt des Königs Gesandtschaft auch sein letztes Wort.“
„O, nun verstehe ich,“ nickte die Aebtissin sorgenvoll vor sich hin. „Und hast Du auch Truppen, Geld und feste Städte – Du hast keinen Feldherrn.“
„Ach, hätte ich meinen ritterlichen Max statt dieses Herzogs von Cleve! Aber gerade von ihm droht mir das Schlimmste! Seht, Base, da hat sich dieser Grenzherzog an unsern Hof gedrängt, hat unter dem Vorwande, mir beizustehen, Truppen geworben, hat sich mit Schmeichelkünsten beim Volke beliebt gemacht, mit Gold den Pöbel erkauft und hält in Abwesenheit des Staatenheeres mit seinen Söldnern schon die Thore der Stadt besetzt, sodaß ich ganz in seiner Gewalt bin. Nun denkt, dieser heuchlerische Fürst, der mit der sanftesten Stimme und dem biedersten Wesen mich insgeheim wie ein Drache überwacht, plant nichts mehr und nichts minder, als mir seinen Sohn zum Gemahl aufzudrängen.“
„Also wirklich? Noch ein Freier? Mein Gott, der Zwölfte, von dem ich weiß.“
„Und was für Einer, Base! Ein gänzlich unerzogener Prinz, der hier seine Ausbildung erhalten sollte, von Grund aus treuherzig, es ist wahr, tapfer, selbst nicht ohne Mutterwitz, aber mit Lebensformen, Base, mit Lebensformen ... seht, trotz meines Elends kann ich noch lächeln“ – und die Mundwinkel hoben sich, und der Schalk lugte hinter den zwei Perlenreihen hervor – „ich sage Euch, wie ein ungeleckter junger Bär.“
„Was meinst Du, Kind,“ sann, den Kopf wiegend, die Aebtissin, „ließen sich nicht Vater und Sohn gegen die Franzosen schicken?“
„Der Rath wäre gut, aber der Alte ist schlau und nie um eine Ausrede verlegen. Er müsse mich vor dem Pöbel schützen, sagt er, und er selber ist es doch, der ihn hetzt. Täglich, ja stündlich, wo er geht und steht, läßt er um sich her schreien: 'Heil dem Herzog von Cleve! Heil dem tapferen Prinzen! Heil unserem künftigen Herzog!' Ja sogar mich umtoben sie schon bei meinen Ausritten, und Ihr stellt Euch nicht vor, Base, wie mir das durch alle Gliedern fährt! Glaubt mir“ – und wieder lugte der Schalk hervor – „ich bin nicht eigentlich zaghaft, o, ich kann recht wohl Muth haben – so unter gesitteten Leuten und [612] wenn keine Gefahr ist, aber vor einer rohen Menschenmenge könnte ich mich verkriechen aus lauter Angst. ... Da! Hört selbst!“ lauschte sie plötzlich auf.
Ein Gesumme, wie von fernen Menschenstimmen, ließ sich aus der Stadt vernehmen. Der Schall von Hufschlägen wurde erkennbar. Schon waren einzelne Rufe aus dem Getöse zu unterscheiden. Der Lärm kam näher.
Die junge Herzogin barg sich ängstlich hinter ihrer Base, welche auf den Balcon trat.
„Der Herzog von Cleve muß über den Platz reiten,“ flüsterte sie ihr zu, „das ist seine Drachensaat.“
„Fürwahr, er ist es,“ rief die Aebtissin, schnell vom Balcon zurücktretend. „Sie umtanzen ihn förmlich mit Schreien und Hutschwenken. Welche schrecklichen Gestalten! Und er nickt ihnen zu, nach rechts und links, gnädig lächelnd, als befände er sich unter seines Gleichen. O Gott, wie mag sich ein Fürst so wegwerfen!“
Immer näher kam der Lärm; von hunderten von Stimmen schrie es:
„Heil Cleve! Heil Adolf und Maria!“
„Heil unserem künftigen Herzog!“
„Hoch unsere Freiheit, hoch, hoch!“
Aber jeden neuen Ausruf angebend und mitten aus dem Chaos der Stimmen erkennbar und sie übertönend wie Posaunenton, that sich eine einzelne, machtvolle Baßstimme hervor.
„Das ist Nikol, der Baß, der Führer des Pöbels und des Herzogs berüchtigter Handlanger,“ flüsterte Maria. „Ihm folgt die ganze Rotte.“
„Die Rotte Korah!“ seufzte die Aebtissin zum Himmel, während Hufschlag und Lärm, wie ein Wirbelsturm, schnell wie er gekommen, sich in der Ferne verlor.
„Ist es denn möglich? Das unter den Fenstern des Schlosses!“
„O, das ist noch das Wenigste, Base. Aber sie entblöden sich schon nicht mehr, auch Drohungen gegen mich auszustoßen. Ich bin ja schutzlos, wie meine Kanzler es waren. ... Und doch ... nein“ ... setzte sie nach einem scheuen Blick in den Saal leise hinzu – „Ihr wißt noch nicht Alles, Base, – so ganz schutzlos bin ich nicht. Ich habe einen unsichtbaren Beschützer.“
„Den haben wir Alle, Kind, dort oben,“ lächelte die Aebtissin.
„Wohl, ehrwürdige Base, wohl! Aber ... ich habe auch einen hier unten, einen ganz irdischen. Es liegt ein wunderbares Geheimniß um ihn, so daß mir vor ihm grauen könnte, wenn er mir nicht so Gutes thäte.“
„Ich sage es ja, Kind, der böse Feind geht um. Gott behüte Dich vor ihm!“
Maria lächelte. Der „böse Feind“ schien ihr keinen Eindruck zu machen.
„O Base, wie könnte es der Böse sein?“ sagte sie schelmisch. „Habt Ihr jemals gehört; daß er auch Reimsprüchlein macht?“
„Niemals,“ betheuerte die Aebtissin.
„Ich auch nicht. Hört nur, aber von Anfang an! ... Kaum war die Schreckenskunde gekommen, daß mein armer Vater vor Nancy gefallen sei, so fand ich in meinem Boudoir einen Streifen Linnenpapier mit dem Sprüchlein:
'Gieb Deinen Vetter Adolf frei!
Dann führ' ich, den Du liebst, herbei.'“
„Also mit Geldern in Verbindung,“ nickte für sich die Aebtissin.
„Ihr wißt, Base, daß ich ihn freigab – ich hätte es auch ohnehin gethan, denn seine Strafe erschien mir immer zu hart. Aber kaum war Adolf bei Tournay gefallen, so ereigneten sich sonderbare Dinge. In Geldern sollten neue Truppen ausgehoben werden, doch siehe da, alle junge Mannschaft zwischen Maas und Zuydersee war verschwunden.“
„Seltsam!“
„Und noch auffallender ... selbst die von Adolf mitgenommenen hatten nach seinem Tode beim Dunkel der Nacht in der allgemeinen Verwirrung heimlich das Heer verlassen – Niemand wußte, wohin.“
„Aber was in aller Welt hat das mit Deinem Beschützer zu thun?“
„Hört nur weiter! Der nächste Spruch, den ich fand, lautete:
'Um Deine Kanzler sieh Dich vor!
Schon klopft der Henker an ihr Thor.'
Ich zeigte es Imbercourt und Hugonet; sie belächelten es, blieben ... und Ihr kennt ihr schreckliches Ende.“
„Also auch mit dem Volke in Verbindung!“
„Sicher. Aber noch mehr. Rathlos vor den Ereignissen, die Schlag auf Schlag auf mich einstürmten, stehe ich eines Morgens vor der Marmorbüste Maximilians, die mir in besseren Zeiten Lorenzo Medicis geschenkt, und schmerzvoll in ihren Anblick versunken, rufe ich eben: 'O Max, was soll ich thun ohne Dich?' da fällt mein Blick auf ein Papier am Postament mit dem dritten Spruch. Laßt sehen, ob ich ihn noch aus dem Gedächtniß sagen kann. ...
'Dein Brieflein ist in seinen Händen.
Doch mußt ihm noch ein zweites senden,
Mußt ihn zu rascher That bewegen
Und hier das Brieflein niederlegen.
Verbirg vor Cleve Deinen Sinn
Und König Ludwig halte hin!'“
„Das ist wunderbar,“ entfuhr es der Aebtissin.
„Nicht wahr? Als ob er in meiner Seele gelesen hätte. Und wie konnte er wissen, daß ich wirklich insgeheim längst an Max geschrieben, daß ich ihn flehentlich gebeten hatte, mich nicht zu verlassen, und daß mein Brief in seine Hände gekommen? ... Ich darf Euch wohl sagen,“ fuhr sie leise und mit schlauem Lächeln fort, „daß ich nicht zögerte, dem Rathe zu folgen. Den Brief legte ich unter die Büste nieder. Am anderen Morgen war er verschwunden. Gegen Cleve that ich ganz arglos, und König Ludwig ließ ich Waffenstillstand und neue Verhandlungen anbieten – Ihr wißt ja, das macht man immer so, wenn man nur Zeit gewinnen will. Daher heute die französische Gesandtschaft!“
„Ei, ei, Du Heuchlerin!“ drohte die fromme Frau mit erhobenem Finger. „Siehst Du, das kam vom bösen Feind. Da zeigte er den Pferdefuß.“
„Was wollt Ihr, Base?“ lachte Maria jetzt offen vor sich hin. „Es war nur das Blümchen Fuchsschwänzlein, das dem Mägdlein in der Noth wohl anstehen mag. Nun aber höret das Räthselhafteste von Allem! Gestern finde ich einen vierten Spruch, er lautet:
'Sei fest! Wenn jede Hoffnung sank,
Bin ich Dir nah' und Teuerdank.'
Teuerdank! Wer ist Teuerdank?“
„Vielleicht einer von Maximilian's Begleitern?“ fragte, überrascht aufblickend, die Aebtissin.
„Nein, nein, Base, ich hörte den Namen nie. Und doch dringt er mir wunderbar zu Herzen. Er klingt wie 'Abenteuer um Frauendank', und ich weiß, mein Maximilian liebt dergleichen. Ja, etwas Glückverheißendes muß es sein, denn das Wort schon ist mir wie ein süßer Trost.“
„Kind, Kind, wenn etwa gar der schreckliche Geheimbund ... Lächle nicht! Mir graut! Doch Dein Beschützer sagt, auch er selbst sei Dir nahe; hast Du gar keine Spur?“
„Nicht die leiseste.“
„Deine Kammerdiener?“
„Brave Grauköpfe. Meine Zofen, harmlose Geschöpfe.“
„Dein persönlicher Dienst vom Gefolge?“
„Adelheid von Helwin und Hugo von Huy. Adelheid – Ihr kennt sie ja, Base – sieht sie aus wie eine geheime Beschützerin? Nein, nein, die junge reiche Erbin, so ergeben sie mir ist, denkt doch an ganz andere Dinge, als an die Zukunft Burgunds und an hohe Politik. Der Himmel verzeihe mir, daß ich schon wieder lachen muß, aber ich habe sie eben im Verdacht, daß sie entsetzlich eifersüchtig ist, und denkt nur auf wen ... auf mich. Die Thörin! Sie könnte doch wissen, daß ich nur ein Bild im Herzen trage, und daß ich in dieser Schreckenszeit wahrlich an Anderes denke, als ihr ein Herz abspänstig zu machen.“
„Und wessen?“ fragte die Aebtissin mit jener Wißbegierde, die auch die frömmste Matrone bei so wichtigen irdischen Dingen niemals verleugnen wird.
„Eben jenes Hugo von Huy,“ warf Maria leicht hin. „Ein armer junger Edelmann, Verwandter unseres alten Freundes Huy auf Burg Huy bei Neumünster. Ist am Hofe in Mailand [613] als Page erzogen und mir vom Herzog Sforza warm empfohlen worden. Hat sich bei ihm die Sporen verdient und soll sich durch Tollkühnheit, doch auch durch seltene Klugheit einen Namen gemacht haben. Bei uns aber“ – und plötzlich hell auflachend, zwang sie nur mit Mühe den Schalk hinter seine Thür zurück – „hat er sich einen ganz andern Titel erworben. Sie nennen ihn nur den 'welschen Schmetterling', weil er sich an jedes schöne Auge hängt. Ich will ihm wohl, denn er ist mir schwärmerisch ergeben, ohne ein Hehl daraus zu machen, und ich denke, man muß seinen italienischen Sitten etwas zugute halten. Aber still – man kommt!“
Ein Geräusch ließ Beide sich umblicken. Die Thür, durch welche sie selbst eingetreten waren, öffnete sich. Man konnte den Treppencorridor übersehen.
„Sie sind es selbst,“ flüsterte Maria.
Adelheid von Helwin trat zuerst ein und blieb nach einer tiefen Verneigung gegen die Herzogin einen Augenblick an der Thür stehen, um ihren Begleiter zu erwarten, welcher draußen noch einige Worte mit dem Diener wechselte.
Sie war eine jener schlanken Sylphidengestalten, bei denen der überraschend dünne Zusammenhang zwischen Ober- und Unterkörper unwillkürlich die Flügel vermissen läßt. Nur mußte man bei ihrem Anblick nicht an jene ungefährliche Gattung von Honigdieben denken, die trotz ihres Stachels nur von Pflanzenkost leben – nein, wie sie so dastand in ihrem violettfarbenen Obergewand über gelblicher Robe, den tiefen Ausschnitt am Halse mit einem nach der üppigen burgundischen Sitte fast durchsichtigen Schleierstoff verhüllt, das Auge seitwärts auf ihren Begleiter zurückgewendet, konnte sie sehr wohl den Vergleich rechtfertigen, den ein „gewisser Jemand“ für sie erfunden hatte, den Vergleich mit der trotz ihrer Grazie zum Geschlecht der Raubthiere gehörenden Libelle – wenn sie in Erwartung eines Lieblingsinsects scheinbar regungslos in der Luft steht, aber plötzlich durch blitzschnelles Entweichen verräth, daß trotz der geheuchelten Ruhe Flügel und Fangapparat keineswegs stillgestanden hatten. Nur freilich, was bei der Libelle Flügel und Fänge, waren bei ihr einzig und allein die Augen. Diese grünen Augen, scharfkantig geschnitten unter den fein geschwungenen Brauen und dem dunkelblonden Haar, das, wie bei ihrer Herrin, leicht ihre Stirn umspielte, hatten mit ihrem durchsichtigen Smaragdton die Eigenthümlichkeit aller ihnen in Farbe verwandten, unbewußt jede Regung auf dem Grunde der Seele zu verrathen, und zwar in solchem Grade, daß sie nur durch ungewöhnliche Selbstbeherrschung einen scharfen Beobachter hätten täuschen mögen – zumal wenn ein solcher etwa der „gewisse Jemand“ gewesen sein sollte, welcher eben mit Papieren in der Hand nach ihr den Saal betrat.
Es war ein hochgewachsener, einige zwanzig Jahre zählender Cavalier, der an der Ferse seiner silbergrau ausgeschlagenen Schnabelschuhe schon die langen goldenen Radsporen trug. Sonst war er in Schwarz von Kopf bis zu den Füßen, nur daß das Barrett und das kurze Mäntelchen – die neueste Mode für junge Cavaliere – gleichfalls silbergraue Einfassung hatten. Sein Atlaswamms verschwand, von vorn gesehen, fast unter der Wolke von feinem Linnen, das bauschig durch das Nestelwerk gezogen war, und wurde über den schlanken Hüften von stählernem Kettengurte gehalten, an welchem vorn in kleinerem Gehenke der fein ciselirte Griff eines venetianischen Dolches, an der Seite aber statt des sonst noch üblichen Kreuzschwertes der neue französische Stoßdegen mit Bügel hing. Was an dem schönen jungen Mann zunächst in die Augen fiel, war das röthlichbraune Haar, das in langen Wellenlinien ein Gesicht von edlem Oval, matter Farbe und mit dünnem, ausgezacktem Barte umrahmte. Aber was den Blick an ihm fesselte, war sein Auge. Es hatte etwas von dem Grün seiner Begleiterin, aber die engere Pupille brachte den entgegengesetzten Eindruck hervor. War das ihrige die Krystallscheibe, die den Durchblick gestattet, so war das seinige der geschliffene Stein, der das hinter ihm Liegende verbirgt, während er selbst den Lichtblitz wirft. Und dieser Blitz, im menschlichen Auge der Adlerblick genannt, scharf und durchdringend, wo er erforschen, räthselhaft bestrickend, wo er spielen, oder gar wo er Herzen gewinnen will, war das entscheidende Merkmal an Hugo von Huy.
Einem Diener voranschreitend, der ihm ein schweres ledernes Säckchen nachtrug, bot er im Vorübergehen dem Hoffräulein mit leichter Neigung zur Seite die Fingerspitzen, führte sie der Herzogin entgegen und beugte dann, sich von ihr trennend, vor dieser mit der Anmuth des vollendeten Hofmannes das Knie.
„Diese Papiere und jenes Säckchen,“ sagte er, auf den Diener weisend, „sind so eben in geheimnißvoller Weise auf der Schloßwache für Eure Hoheit abgegeben worden.“
„In geheimnißvoller Weise?“ fragte erstaunt die Herzogin.
„Der Ueberbringer, ein Unbekannter, sei sogleich wieder verschwunden, meldete die Wache.“
Maria, mit der Linken die Papiere entgegennehmend, winkte dem Ritter mit der Rechten, sich zu erheben, hob dabei aber – mochte es Zufall oder Zerstreuung sein – nicht die innere, sondern die äußere Handfläche, sodaß der erfahrene junge Cavalier hierin eine noch gnädigere Aufforderung erblicken zu dürfen glaubte und keinen Augenblick zögerte, im Aufstehen sich vorzuneigen und mit seinen Lippen ihre Fingerspitzen zu berühren. Der Handkuß war in bester Form vollendet.
Adelheid verbarg ein unwillkürliches Zucken ihres Auges rasch hinter dem Fächer, den sie aus dem spitzenbesetzten Täschchen an ihrer Linken hervorgezogen hatte.
„Wunderbar!“ sagte Maria, nachdem sie einen flüchtigen Blick in die Papiere geworfen. „Kommt doch, Base, und leset mit mir!“
Dann zog sie sich mit der Aebtissin in die kleeblattförmige Nische eines entfernteren Fensters zurück, im Vorübergehen dem Diener bedeutend, das Säckchen abzusetzen und zu gehen.
„Der Handkuß, Herr Ritter,“ flüsterte währenddessen das Hoffräulein hinter ihrem Fächer dem jungen Cavalier mit einem Tone zu, der eine gewisse Schärfe nicht verbergen konnte, „der Handkuß war bei dieser Gelegenheit ganz gegen unsere Hofsitte.“
„Ich hatte die Fürstin heute noch nicht gesehen, und Ihr wißt, die erste Begrüßung ... “
„War mit dem Ueberreichen der Papiere abgethan.“
„Am Hofe von Mailand, Fräulein ... “
„Wir sind in Gent, Ritter.“
„Auch in Florenz und Paris ... “
„Ist nicht Burgund.“
„Aber als erste Regel bei Hofe gilt bekanntlich in der ganzen Welt, schöne Hände zu küssen, so oft sich die Gelegenheit bietet.“
Und ehe sie sich dessen versah, geschweige denn es hindern konnte, hatte der Verwegene auch schon einen Kuß auf ihre Hand gedrückt und spottete mit leisem Lachen:
„War das auch gegen die burgundische Hofsitte, Fräulein?“
„In Gegenwart der Fürstin sogar gegen allen Respect,“ zürnte Adelheid, während ihr[WS 1] Auge scheu die Herzogin streifte. „Saht Ihr nicht, wie sie über's Papier hinweg zu uns herüberschielte? Ihr Blick war ungnädig.“
„Mein Gott, und es war doch nur Eure Hand, die ich küßte!“ wagte der Uebermüthige zu antworten.
Das war zu viel. Adelheid ließ den Fächer nieder; die Pupille ihres Auges zog sich wie zur Nadelspitze zusammen, und, den Kopf rückwärts geworfen, maß sie ihn über die Schultern mit einem Blicke, in dem sich mehr als verletzter Stolz, in dem sich verletzte Weiblichkeit aussprach.
„Was bildet sich der 'welsche Schmetterling' ein!“ rief sie ihm mit halber Stimme zu. „Andere mögen Euch Eure fremdländischen Sitten nachsehen, ich aber bin Fräulein von Helwin ... “
„Die stolze Erbtochter aus Brabant, gewohnt, mit ihren cavalieri servienti gelegentlich zu spielen, gelegentlich ihr Müthchen an ihnen zu kühlen ... “
„Wenn übermüthige Falter darunter sind, die keinerlei Blüthe respectiren, nicht einmal die der Lilie.“
„Ei, Fräulein, wären wir in Mailand, so könnte man wahrlich auf den Gedanken kommen, das klänge wie ... Eifersucht.“
„Eifersucht! Nennet es Spott über die Verblendung des Günstlings, der seine Anbetung so offen zur Schau trägt, daß er nicht mehr sich allein damit compromittirt.“
„Ah, das Hoffräulein schwebt als schützender Engel über der Lilie. Möchte es doch dem Engel gefallen, noch ein Weniges über der Nelke zu schweben.“ [614] „Was wollt Ihr damit sagen, Ritter?“
„Daß ein gewisser Prinz von Cleve, ein so abgesagter Blumenfeind, daß er selbst der Lilie nur auf Befehl huldigt, doch auffallend gern an einer gewissen Nelke nippt.“
„Fürwahr, spaßhafter als einen Schmetterling jagen ist es allerdings, die Capriolen eines jungen Bären anzusehen. – Euch aber, Ritter, gebe ich Euer Scherzwort zurück: Wenn wir in Mailand wären, könnte man wahrhaftig auf den Gedanken kommen, aus Euch spräche ... Eifersucht.“
„Das darf man auch in Burgund, Fräulein. Ihr seht, ich bin aufrichtiger als Ihr.“
„Immer besser! Als ob ich etwas zu verleugnen hätte!“
Und mit geringschätzigem Achselzucken wandte sie sich von ihm ab. Denn wenn er jetzt in ihr Auge geblickt hätte, würde er deutlich auf dem Grunde ihrer Seele gelesen haben: „Unausstehlicher Spötter! O, wenn er ahnte, wie ihm mein Herz zufliegt! Aber zu Füßen liegen soll er mir doch.“
Hugo von Huy aber ging mit der unbefangensten Miene von der Welt, als hätte er eben das gleichgültigste Gespräch beendet, im Saale auf und ab, und sonderbar, er sowohl wie Adelheid von Helwin schienen plötzlich ein ungewöhnliches Wohlgefallen an der Decke zu finden. Beide zählten offenbar die Rosetten des Holzgetäfels, deren es dort oben so viele, wie Tage im Jahre, und jede von anderem Muster, gab. Auch die übrige Ausstattung des Saales war wohl bisher nicht genügend von ihnen gewürdigt worden, denn sie studirten dieselben mit einem Eifer, als handle es sich um ganz andere Dinge. Da waren die Muster der rothen Damastvorhänge an den Fensternischen zu betrachten, oder auf den Fensterscheiben trotz ihrer klein gegitterten Täfelchen die in anständiger Größe kunstvoll gemalten Wappen der Provinzen Burgunds und Niederlands. Da mußte der prachtvolle Kamin aus grauem Marmor, auf Säulen mit Kelchcapitälchen pyramidenförmig emporgegiebelt, einer Prüfung unterworfen werden. Da gab es endlich die kostbar gewirkten Antwerpener Tapeten zu bewundern, ein Meisterstück, das Philipp der Gute zum Andenken an die Stiftung des Ordens vom goldenen Vlies nach van Eyck'schen Skizzen hatte fertigen lassen, und das die Hauptmomente des Argonautenzuges in seltener technischer Vollendung darstellte. An diesen schienen Beide ein besonders lebhaftes Interesse zu nehmen, vielleicht daß sie kunstkritische Betrachtungen anstellten, daß ihnen anatomische Mängel an Hals, Füßen oder Händen der Personen auffielen – denn mehr als diese unverhüllt zu zeigen, gestattete die neben aller Ueppigkeit hergehende burgundische Prüderie auf Bildern nicht –, oder daß ihrem der Zeit vorausgeeilten Kunstgeschmack der wunderliche Anachronismus ein Lächeln entlockte, Jason und Medea sammt Gefolge in der Tracht des fünfzehnten Jahrhunderts paradiren zu sehen. Jedenfalls aber waltete ein entschieden sympathischer Zug in ihnen, denn während Beide bisher getrennt die einzelnen Abtheilungen gemustert hatten, trafen sie plötzlich bei dem Schlußbilde, der Abfahrt der Argo, von deren Mast das erbeutete goldene Vlies leuchtend niederhing, wieder zusammen. Hugo war es, der trotz seiner Vertiefung in das Bild zuerst Adelheid bemerkte. Er machte mit stummem Lächeln eine höfliche Bewegung, als wolle er ihr den Platz räumen. Als sie aber durch schnelles Abwenden des Kopfes unzweideutig zu erkennen gab, daß er irre, wenn er etwa an einen magnetischen Rapport als Ursache ihres Zusammentreffens glaube, so fand er sich mit anscheinendem Gleichtmuth auch in dieses Schicksal und schlenderte unbefangen dem Balcon zu. Allein kaum hatte er von dort einen Blick auf den Schloßplatz geworfen, als er sich eilig der Herzogin zuwandte.
„Eurer Hoheit zu melden,“ sagte er, „das Volk beginnt schon sich zu sammeln. Die Stunde für den Aufzug der Gesandtschaft ist nicht mehr fern. Wenn es Eurer Gnaden belieben wollte – im Thronsaal ist Alles bereit.“
Maria brach schnell ihr Gespräch mit der Aebtissin ab, schien aber nicht gesonnen, auch ihre Empfindungen zu unterbrechen.
„Unglaublich, was man mir zu bieten wagt!“ rief sie vortretend im Tone höchster Erregung. „O, Ihr dürft es Beide hören. Was erhalte ich hier? Abschrift aus den geheimen Papieren des französischen Botschafters! Denkt Euch, er soll, wenn ich das Verlöbniß mit dem Dauphin weigere, Verräther erkaufen, um seinem Herrn die Thore Gents zu öffnen. Dort liegt das Judasgold, eintausend Ducaten.“
„Es schreit zum Himmel,“ rief die Aebtissin.
„Aber wie war es möglich, daß man in den Besitz desselben kam?“ fragte Hugo mit dem Ausdruck offenen Erstaunens.
„Man hat dem Geheimschreiber des Gesandten in der letzten Nachtherberge die Cassette eröffnet, Abschrift von den Papieren genommen und Alles wieder hineingelegt, bis auf das Gold.“ Und dann sich zur Aebtissin wendend, fügte sie leise hinzu: „Glaubet mir, Base! Es kommt von Niemand als meinem Beschützer. Das Billet trägt seine Züge.“
„Schrecklich! Dann gehört er zum 'Hugh' oder steht mit Räubern in Verbindung,“ rief entsetzt die fromme Frau.
„Aber mit großmüthigen, Base! Und jedenfalls ist es ein Liebesdienst, der mir gegen einen Feind freie Hand giebt. Ja, meine Getreuen,“ steigerte jetzt Maria ihre Stimme, „mit Ludwig bin ich von Stund an fertig ein für allemal. O, sie sollen nur kommen, die Herren Gesandten, und der Audienz gedenken, die ich ihnen bereitet werde. Nichts soll ihnen erspart sein. Umringt von den Meinen, fühle ich mich muthig und werde ihnen zeigen, wie tief ich beleidigt bin, werde ihnen sagen“ – und ihr Köpfchen hob sich; ihre Augen nahmen einen Ausdruck an, der an ihren heldenmüthigen Vater erinnerte, und ihre Stimme zitterte vor Eifer – „sagen werde ich ihnen: Dieses ist schamlose Verletzung des Völkerrechts, ihr Herren, ist schnöde Mißhandlung einer jungen Fürstin, eines neunzehnjährigen Mädchens, das ihr für furchtsam haltet, weil es euch wehrlos erscheint. Aber ihr vergesset Eines, ihr vergesset, daß die Furcht auch bei mir ihre Grenzen hat, daß noch immer die Wälle meiner Städte mich schirmen, noch immer Tausende für mich in den Tod gehen, und daß die Tochter Karl's des Kühnen das Andenken ihres Vaters nicht ungestraft an sich beleidigen läßt.“
Erhobenen Hauptes wendete sie sich mit ihrer Base dem Eingange in ihre Gemächer zu.
Entzückt sah ihr Hugo nach.
„Welche Hoheit!“ rief er aus. „Welch ein Blitz in dem wundervollen braunen Auge!“
„Wenn er nur vorhält, der Blitz in dem wundervollen braunen Auge!“ war die sarkastische Antwort Adelheid's neben ihm.
Und siehe da, wie wenn es die Herrin mit ihrem Hoffräulein abgeredet hätte, kehrte dieselbe plötzlich, ihre Base an der Thür zurücklassend, wieder um. Der kühne Anflug war aus ihren Zügen[WS 2] schon wieder verschwunden; ihr Blick irrte unsicher, fast verlegen umher, und sie vermied Hugo's Auge, als sie zögernd vor ihm stehen blieb.
„Freilich,“ sagte sie, nach Worten suchend, „wenn ich bedenke ... Was glaubt Ihr, Ritter Huy, wird es eine große Versammlung werden? Ist ein zahlreich Gefolge französischer Edelleute um den Gesandten? Und draußen – wird nicht viel Volk vom Platze heraufhorchen?“
„Ohne Zweifel, gnädige Frau!“ erwiderte verwundert der Ritter.
„Das ist mir ... ungelegen. Das ... ändert die Sache. Meint Ihr nicht, ich könnte meiner Würde vergeben, wenn ich ihnen vor so vielen Zeugen selbst sagte, was ihnen unter solchen Umständen gesagt werden muß? Ja, wenn ich sie überhaupt noch vorließe?“
Und ohne seine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: „Nein, nein, nicht ich darf ihnen ihr Gold vor die Füße werfen. Das geziemt dem Kanzler. Wir wollen die Audienz abbestellen; Ravestein soll Unsere Antwort übernehmen.“
Jeder Einwand war abgeschnitten, denn mit dem letzten Worte hatte sie sich zur Aebtissin zurückgewendet.
„Ja, Base, so ist mir leichter um's Herz,“ hörte man sie hochaufathmend noch zu derselben sagen, und als die Aebtissin mit schelmisch-drohendem Finger in der Thür mit ihr verschwand, erklang aus dem Nebenzimmer, leise lachend, Maria's melodische Stimme: „Nein, Base, auf den Beinamen meines Vaters hat man mich nicht mitgetauft.“
Die Thür schloß sich hinter ihnen; ein Diener erschien, das Säckchen zu holen, und entfernte sich sogleich wieder. Hugo und Adelheid waren allein. Das Hoffräulein warf einen Blick voll boshafter Schadenfreude auf den Ritter, der, stumm vor sich [615] hinstarrend, seiner neuen Erfahrung in der Menschenkenntniß nachsann.
„Welche Hoheit!“ parodirte sie. „Bemerktet Ihr nicht den Blitz in dem wundervollen braunen Auge?“
„Was wollt Ihr, Fräulein?“ entgegnete Hugo, schnell gefaßt mit ironischem Lächeln. „Ein junges Mädchen bedarf des Muthes nicht, um bezaubernd zu sein. Im Gegentheil, für das zartere Geschlecht erscheint mir der Muth überhaupt als ein sehr zweifelhaftes Geschenk des Himmels. In unseren Augen wenigstens verleiht weibliche Schüchternheit dem Mädchen doppelten Reiz, weil es sie auf den Schutz unseres starken Armes anweist. O, wie war sie schön selbst noch in ihrer Zaghaftigkeit! Auf eine [616] einzigen hülfeflehenden Blick aus diesem Auge könnte ich durch’s Feuer für sie gehen.“
„Seid Ihr zu Ende mit Eurer Träumerei?“ spottete Adelheid.
„O, noch Stunden lang könnte ich fortschwärmen.“
„Dann fahrt nur fort, Ritter! Es ist so unterhaltend, und“ – fügte sie achselzuckend hinzu – „ich darf es ja hören.“
„O Fräulein, auch sie weiß es längst. Ich habe es ihr selbst schon gesagt.“
Das war zu viel für die Selbstbeherrschung der Eifersüchtigen.
„Unglücklicher,“ fuhr sie, sich vergessend, auf, „das wagtet Ihr? Einen so gröblichen Verstoß ...“
„Gegen alle Hofsitte,“ fiel er gleichmüthig ein.
„Und sie ließ Euch auch nur ausreden?“
„Im Gegentheil, sie lächelte mich huldvoll an und bot mir als Lohn die Hand zum Kusse.“
„Unerhört! Die Herzogin von Burgund und Niederland, vielleicht schon verlobte Braut eines Königs oder Kaisers – –“
„Ließ sich mit Wohlgefallen von einem simplen jungen Edelmann huldigen. Seht, Fräulein,“ und plötzlich den ironischen Ton aufgebend und ihr tief in die Augen sehend, fuhr er mit einer Stimme, wie sie dieselbe noch nie von ihm vernommen, ernst, ja fast vorwurfsvoll fort: „Ihr kennt Eines nicht, oder stellet Euch, als ob Ihr es nicht kenntet: daß es Augenblicke im Leben giebt, vor denen jede Form wie Dunst dahinfliegt, Augenblicke der überwältigenden Empfindung. Ja, wie die Granden der Welt ihre Vorrechte haben, so haben es diese Granden der Zeit, und glaubt mir: ob ein Mächtiger noch so hoch steht, noch so abgeschlossen ist – wenn wir in solchen Momenten die Schranke um ihn durchbrechen, so verzeiht er es gern. Ein solcher Fall aber war auch der meinige.“
Mit offenem Erstaunen hatte Adelheid’s Auge an ihm gehangen. Wenn er aber glaubte, sie bekehrt zu haben, irrte er sich. Ihr Mißtrauen, und noch mehr, ihr Zorn darüber, wieder, wie sie glaubte, einem neuen Spiel der Täuschung bei ihm zu begegnen, bedurfte stärkerer Beweismittel.
„Augenblicke der überwältigenden Empfindung,“ spottete sie. „Wunderbare Augenblicke, die auch das Unverzeihlichste verzeihen lassen! Wenn Ihr also, von der Gewalt solchen Augenblickes hingerissen, der Fürstin eine Liebeserklärung macht, so glaubt Ihr ...“
„Daß Ihr es meisterlich versteht, Fräulein, das Erhabenste zum Alltäglichen zu verkehren. Nein, Fräulein, die Liebe, die ich meine, hat mit der Liebe, die Ihr meinet, nichts weiter gemein, als daß der Mann für beide vielleicht sein Leben läßt, aber für die Eurige um einen Preis, für die meinige um nichts.“
Aber auch diese stolzen Worte waren in den Wind gesprochen.
„Wahrlich,“ lachte sie, „ich könnte Euch bewundern, wenn der Gegenstand Eurer Liebe nicht zufällig auch den alltäglichen Vorzug hätte, sehr jung und sehr schön zu sein. 'O, auf einen einzigen Blick aus diesem wundervollen braunen Auge könnte ich durch's Feuer für sie gehen.' Natürlich, nur erhabenste Begeisterung!“
Hugo's Auge blitzte. Sein Mund verzog sich zu einem verächtlichen Lächeln. Dann aber, wie wenn der Humor in ihm die Ueberhand behalten, zuckte er vielsagend mit den Achseln und mit der selbstgefälligen Miene des glücklichen Galans, dem nur die Discretion verbietet, sich seiner Erfolge zu rühmen, warf er leichtfertig hin:
„Allerdings ... es ist wahr .. . das kommt hinzu. Das giebt die Würze. Und so war es auch. Ja, da Ihr den Kern der Sache nun doch einmal errathen habt, so muß ich Euch die Geschichte im Vertrauen erzählen. Seht, sie saß in ihrem Boudoir, ganz allein auf dem Divan ... O, ich sehe sie noch vor mir, das Köpfchen in die linke Hand gestützt, in schmerzliche Gedanken versunken, mit schmachtendem Auge. ... Ich trete ein, stehe wie gebannt von ihrem Anblick. Die Meldung, die ich zu machen hatte, stockt mir auf der Zunge: da wirft sie mir unter den langen Wimpern einen Blick zu, einen Blick, der mir in der Seele liest, einen Blick, der mir durch Mark und Bein dringt, und nur das eine Wort kommt über ihre Lippen: 'Ritter Hugo, ich weiß Alles.'“
Adelheid mußte sich umwenden; der Zorn drohte sie zu ersticken. Aber gewaltsam sich zum Lächeln zwingend, warf sie ihm von der Seite einen geringschätzig fragenden Blick zu.
„Nun? ... Ihr fahrt nicht fort? ... Es wird ja immer verführerischer. Und Ihr erzählt es so ... so indiscret getreu, daß es Euch wohl ein besonderes Vergnügen sein muß. Welche wichtige Meldung stockte Euch denn auf der Zunge? Daß das Frühstück servirt sei?“
„So Wichtiges nicht, Fräulein! Nur, daß man ... auch ihre letzten Freunde ... geköpft habe.“
[627] Adelheid sah den Ritter Hugo mit großen Augen an. „Ah! In dem Augenblicke war es?“ fragte sie.
„In dem Augenblicke, Fräulein,“ erwiderte Hugo. „Aber erlaubt – ich bin noch nicht zu Ende. Sie zerfloß, wie Ihr Euch denken könnt, in Thränen. Nun kann ich Alles, aber ich kann kein schönes Auge weinen sehen. Das ist stärker als ich; das überwältigt mich. Und so zog es mich denn auch jetzt, ich mochte wollen oder nicht, zu ihren Füßen, und ich schwur ihr, daß ich sie anbete und ihr Blut und Leben weihe. – Seht, das ist die Geschichte meines gröblichen Verstoßes gegen alle burgundische Hofsitte, für den mir Maria, ebenso gröblicher Weise, die Hand zum Kusse gereicht hat.“
Tief beschämt schlug Adelheid die Augen nieder; nur mit Mühe hielt sie die Thränen zurück.
„Diesmal,“ sagte sie, schon fast schluchzend, „diesmal that ich Euch vielleicht Unrecht, aber – aber – Ihr habt Euch bitter gerächt.“ Und die Thränen perlten in ihren Augen.
„Thränen?“ rief Hugo. „Zu viel, Fräulein!“ Und im Augenblicke lag er zu ihren Füßen. „O, ich bete auch Euch an und schwöre –“
Aber sie ließ ihn nicht ausreden. Es lag eine gewisse leichtfertige Galanterie in seinen Worten, die sie tiefer verletzte, als die Beschämung, die er ihr eben bereitet hatte.
„Spielt Eure italienische Komödie in Mailand oder Florenz, Ritter!“ rief sie, ihre Thränen erstickend. „Euer Herz weiß nichts von dem, was Ihr sagt. Aber Eines wisset“ – und ihre Stimme zitterte vor tiefer, ernster Erregung – „wenn Ihr wirklich nicht seid, wofür ich Euch halten möchte, dann –“
„Nun? Dann?“ fragte er, sich langsam erhebend.
„Dann – verachte ich Euch.“
Und schroff wandte sie sich von ihm ab und wollte gehen. Aber nur einen Schritt hatte sie gethan, so fühlte sie ihre Hand ergriffen und sich zurückgehalten.
„Halt, Fräulein! Auch von mir ein Wort!“ Sie heftete kalt ihr Auge auf ihn. „Wenn Ihr wirklich seid, wofür ich Euch jetzt halte, dann –“
„Nun? Dann?“
„Dann möchte ich –“
„Was möchtet Ihr?“ fragte sie mit einem Blicke, der, plötzlich aufleuchtend, ihr vor Erregung bebendes Herz verrieth.
„Wohl der Prinz von Cleve sein –“ zog sich der halb schon Gefangene mit ironischem Lächeln noch rechtzeitig aus der Schlinge.
Grausam enttäuscht, kehrte ihm Adelheid den Rücken und wandte sich zum Balcon. Ihr Fächer knickte noch unter den zusammengepreßten Fingern. Und dennoch war sie glücklich – sie hatte, ob auch nur für eine Secunde, einen Blick in sein Innerstes gethan, und „Er liebt Dich dennoch, und Alles ist Maske –“ rief es tief auf dem Grunde ihrer Seele.
Keine der beiden streitenden Parteien hatte bisher bemerkt, daß wenige Augenblicke, ehe Adelheid mit so bezeichnender Geberde den Ritter verlassen, die Thür vom Corridor her geöffnet worden und ein Herr, offenbar ein vornehmer Herr vom Hofe, eingetreten war. Sein mit kostbarem Zobel verbrämter Sammetüberwurf, die goldene Kette über der Brust, das goldgetriebene Wehrgehenk mit dem reichen Schwertgriff und die Sporen bezeichneten seinen hohen Rang. Offenbar war er eben vom Ausritte heimgekehrt, denn er trug auf dem kurzgeschnittenen grauen Haare noch das Sammetbarett mit weißer Feder, von einer Rubinagraffe gehalten, und an den Händen noch die ledernen Stulphandschuhe, deren einen er, in der Thür stehen bleibend, eben auszog.
„Ah, da ist ja, was ich suche,“ murmelte er vor sich hin und warf unter den zusammengezogenen Brauen einen stechenden Blick von Hugo auf Adelheid. „Ein Auftritt zwischen Beiden! So, so! – Also doch ein Verhältniß. Ravestein mag Recht haben, aber – 'Traue, schaue, wem!' ist mein Wahlspruch.“
Dann trat er vor und gab mit klirrendem Tritte seine Gegenwart kund, während zugleich seine Züge ein völlig verändertes Gepräge zeigten. Die Falten zwischen den Brauen waren verschwunden; die Stirn war frei und offen; die schmalen Lippen öffneten sich zu einem humoristischen Lächeln, und die wasserblauen Augen blickten aus dem bartlosen Gesicht mit kurzem Kinn so treuherzig über der spitz gebogenen Nase hervor, daß für den Physiognomen höchstens diese letztere einen Zweifel an seiner Redlichkeit aufkommen lassen konnte. Als er aber jetzt das Wort nahm, um Hugo anzureden, und seine Stimme einen Brustton anschlug, so weich, so voll und sonor, als ob er unmittelbar dem Herzen entquelle, da mußte auch der letzte Zweifel schwinden: Der Herzog von Cleve war ein Biedermann.
[628] „Ah, Freund Huy!“ sprach er launig. „Wie immer im Gefecht mit dem Fräulein?“
„Im Scheingefecht, Herr Herzog.“
„Als Vorübung zum wirklichen,“ lachte Cleve.
„Dazu fehlt der Dritte, Herr Herzog.“
„Welcher?“
„Der Priester.“
„Lustig das! Nennt Ihr die Ehe ein wirkliches Gefecht, Ritter?“
„Einen Zweikampf auf Leben und Tod, Herr Herzog.“
„Aha, darum scheint ihm hier der eine Theil bei Zeiten durch Flucht ausgewichen zu sein ... Was sehe ich, Fräulein?“ rief er dann Adelheid zu. „Ihr habt das Turnierfeld geräumt?“
„Ich liebe nur gegen offenes Visir zu fechten, Herzog,“ erwiderte Adelheid, den Balcon verlassend und sich eifrig fächelnd.
„Und doch führt das Fräulein selbst ein Visir,“ warf Hugo spottend ein. „Denn was ist anders der Fächer für die Frau, als das Visir für den Mann?“
„Ganz recht, beide verbergen das verrätherische Auge,“ lachte Cleve, indem er aus seinem eigenen biederen Auge einen sonderbaren Blick auf ihn warf.
Adelheid aber, welche die Bemerkung auf sich bezog, ließ den Fächer nieder und sah dem Herzoge gerade in’s Auge.
„Das meine bedarf des Fächers nicht, Herr Herzog.“
„Also das seinige?“ vervollständigte Cleve scherzend ihren Gedankengang. „Ei, Ihr macht mich neugierig. Was hat denn der Günstling der Herzogin zu verbergen? ... Intriguirt doch nicht am Ende für den Dauphin?“
„Um in Gent geköpft zu werden,“ lachte Hugo.
„Oder für einen gewissen Erzherzog?“ fuhr Jener nicht ohne einen lauernden Blick fort.
„Oder für einen gewissen Prinzen von Castilien,“ spottete Hugo, „oder einen gewissen König von Neapel, oder einen gewissen Herzog von Savoyen, oder für George von Clarence, oder Karl von Angoulême, oder Ludwig von Luxemburg, oder Reinhardt von Lothringen, oder – Gott hab’ ihn selig – für Adolf von Geldern noch nach seinem Tode, oder wer sich sonst noch das Goldene Vlies von Burgund holen möchte. ... Nein, Herzog, da würde ich doch, schon aus Dankbarkeit, für den eilften Freier, meinen bisherigen Herrn, Sforza, Partei nehmen, wenn sich nicht ein guter Hofmann allemal nach dem Winde richtete, und hier weht, wie bekannt, Clever Wind.“
Der Hieb oder die Schmeichelei, wie man’s nehmen wollte, saß.
Adelheid war fast erschrocken von der Kühnheit, gegen den Allmächtigen in Gent eine solche Antwort zu wagen. Bei Cleve aber, als er einen Augenblick an seiner Lippe genagt hatte, mußte wohl die günstigere Auffassung überwiegen, wie sie auch nach der Betonung des Wortes „Clever“ grammatikalisch die richtigere war.
„Ihr schmeichelt, Ritter,“ sagte er mit sanftestem Tone, indem er nach Art Verschämter vor sich niedersah, „aber Ihr habt Recht. Eure erhabene Gebieterin beginnt einzusehen, daß sie Niemand finden könnte, der ihr mit mehr Hingebung zur Seite stände. Und ein günstiger Wind thut bei Gott Noth, um ihr die Krone zu retten – der Himmel wolle ihn uns gnädig gewähren!“
Ein frommer Augenaufschlag der wasserblauen Augen hatte die letzten Worte begleitet. Dann wandte er den Blick seitwärts. „Ah, Ravestein!“
Der Kanzler Adolf von Ravestein war eingetreten. Ein Mann im Alter des Herzogs, etwas kleiner als dieser, das Haar stark mit Grau untermischt, mit klugen Augen, angethan mit einer talarartigen, pelzverbrämten Schaube und schmucklosem Barett, eine goldene Kette gleich dem Herzog auf der Brust, zeigte er im Gesicht die Spuren überstandener Leiden. In der That war nach der Hinrichtung seiner Vorgänger auch er, als franzosenfreundlich verdächtig, nur mit Mühe dem Tode entronnen und durch formlosen Richterspruch verbannt worden. Der Herzogin aber war es bald gelungen, das Urtheil wieder aufheben zu lassen; Ravestein hatte sich von der Anklage zu reinigen vermocht, wurde Kanzler und schien, seit er die Segel des Herzogs von Cleve sich schwellen sah, das Staatsschiff mit dem zerbrochenen Ruder unbedenklich an das Fahrzeug desselben zu hängen.
Dieser ging ihm jetzt entgegen und nahm ihn wie einen vertrauten Freund auf die Seite.
„Sind alle Maßregeln getroffen?“ fragte er eifrig.
„Genau nach Eurer Angabe, Herzog. Der Bote, der die Gesandtschaft abbestellt, ist angewiesen, zu spät zu kommen, angeblich, weil ihn das Gedränge der Volkshaufen gehindert.“
„Gut, gut. Ein Glück, daß ich Euch rechtzeitig begegnen mußte! Mein ganzer Plan hätte Schiffbruch gelitten durch diese Weiberlaune. Ich selbst habe unterdessen das französische Gold austheilen lassen. Jetzt – wirbt es für mich unter dem Volk. Lustig! Zwei Fliegen auf einen Schlag! Das gute Volk von Gent nimmt Euch mit seinen kräftigen Lungen die Last ab, die Euch die Herzogin so großmüthig auf Eure schwachen Schultern geladen. Ludwig zieht mit seiner Werbung heim, ja, er bezahlt mir noch die meinige, und wir waschen vor ihm unsere Hände in Unschuld.“
„Dennoch fürchte ich, die Folgen werden nicht ausbleiben. Des Königs Heer steht zu nahe. Seine Rache wird uns treffen, wer ihm auch den Schimpf angethan haben mag.“
„Pah! Laßt mich nur erst Regent sein! Vom eilften Ludwig läßt sich Alles erkaufen. ... Nein, nicht er ist es, der mir Unruhe macht. Vor Maximilian und vor Verräthern hier gilt es auf der Hut zu sein. Dieser geheimnißvolle Raub der Papiere steht auch damit in Verbindung.“
„Der kommt sicher vom 'Hugh'.“
„Hörtet Ihr Neues über den Bund?“
„Nichts, mein gnädiger Herr. Der gemeine Mann schwört darauf, es sei ein schrecklicher Waldgeist, der jedem Verräther den Hals umdrehe. Der Bürger glaubt, es sei ein Bund gegen Frankreich, und dieser Raub der Papiere spricht so auffallend dafür und ist so vortheilhaft für Euch, daß man glauben könnte, der Thäter sei ein halber Verbündeter von Euch.“
„Die halben sind die schlimmsten, Kanzler,“ versetzte der Herzog. „Aber das Alles täuscht mich nicht. Wisset, Maximilian ist nicht mehr in Köllen. Ich habe die neuesten Nachrichten. Kommt in jene Nische!“ Und, ihn unter dem Arm nehmend, dämpfte er seine Stimme bis zum leisen Flüstern. „Der Erzherzog war Jagens halber an der Grenze. Fast hatte ich ihn schon in meiner Gewalt, und nur wie durch ein Wunder ist er mir entschlüpft – angeblich durch einen Ruf nach Wien, aber es war eine Finte, denn man hat seine Spur bis über Aachen hinaus die Grenze nordwärts entlang verfolgt. Mein Leibjäger berichtet es mir durch Eilboten. Er selbst ist ihm auf den Fersen, um ihm auf kürzerem Wege den Paß zu verlegen, wenn er sich etwa durch Nordbrabant schlagen will. Ein Verräther von hier scheint im Spiele zu sein. Ich habe Verdacht auf den 'Hugh' und wittere etwas von einer Mittelsperson im Schlosse. Aber sie werden sich täuschen. Alles, was mir von Reitern zur Hand, habe ich die Straße nach Brüssel geschickt, und eine Kette von Wachen ist rings um Gent gezogen, die Niemand frei passiren läßt. Keine List, keine Verkleidung wird schützen. Nein, fiele es dem Erzherzog wirklich ein, zu kommen, so könnte er mir nicht entgehen.“
„Die Schwierigkeit wäre nur, was dann mit ihm anfangen.“
„Meint Ihr?“ lächelte Cleve.
„Sein Vater ist Euer höchster Gebieter und er selbst der Erbe des römischen Reiches. Und wenn Ihr Euch nicht schnell durch ein französisches Bündniß schützet ...“
„Rathet Ihr das?“ fragte Cleve, indem er ihn mit einem eigenthümlichen Blicke fixirte.
„Ich meine nur, die Reichsacht müßte Euch sicher Euer Herzogthum kosten,“ wich der Kanzler aus.
„Pah, wer fragt nach dem Schilling, wenn sich’s um Rosenobles handelt. Aber immerhin schlimm, sehr schlimm!“ nickte der Herzog, scheinbar zustimmend.
„Was bliebe Euch also übrig?“
„Das will ich Euch sagen, Kanzler, nachdem ich einen Einblick in Eure Gedanken gewonnen und Eurer Zustimmung sicher bin. Seht, Kanzler –“ und ein ironisches Lächeln flog über seine Lippen – „hätte ich den Prinzen, so würde ich ihn, wohl oder übel, mit devotester Höflichkeit über die Grenze zurückgeleiten lassen und ihn submissest bitten, nicht eher wiederzukommen, bis hier sein kostbares Leben nicht mehr von Aufrührern bedroht [629] sei. So darf ich hoffen, mir Kaisers Majestät noch zu Dank zu verpflichten und nicht nur mein eigenes Land zu behalten, sondern Burgund und Niederland dazu.“
„Alle Achtung!“ sagte der Kanzler, sich verneigend. „Und meinen Glückwunsch für Burgund und Niederland, wenn Ihr es regiert!“
„Den gedenken wir noch heute Abend entgegenzunehmen – verlaßt Euch darauf! Ihr aber, Ravestein, müßt mir herausbringen helfen, welcher Verräther hier den Vermittler gespielt hat. Der Vertraute der Herzogin ist jetzt dieser Huy.“
„O, der ist ungefährlich, Herzog, denn er ist verliebt bis über die Ohren.“
„Soll aber doch ein kühner Parteigänger gewesen sein. Das giebt mir zu denken, Kanzler. Beobachtet ihn scharf!“
„Da steht er auf dem Balcon mit dem Hoffräulein,“ lächelte Ravestein, „der Eine rechts und die Andere links, als wären sie, sich wildfremd – man kennt das schon. Wenn irgend Jemand, wäret Ihr der Mann, ihn zu erforschen, Herr Herzog.“
„Habe es schon versucht!“ versetzte Cleve mit einer bitteren Zuge. „Er ist glatt wie ein Aal und hat eine scharfe Zunge, aber was verschlägt's? Man faßt ihn einmal mit einem festen Griffe – dann ist's aus mit dem Winden; und giebt er den leisesten Verdacht, dann ... dann ... ist er geliefert. He, wie steht's draußen, Ritter Huy?“ rief er mit raschem Entschlusse sogleich diesen selbst an.
„Kopf an Kopf gedrängt!“ antwortete Hugo, den Balcon verlassend. „Seltsam, Herr Herzog, man scheint noch nicht zu wissen, daß die Audienz abbestellt ist.“
Der Herzog blickte wie fragend auf den Kanzler. Dieser zuckte die Achseln.
„Es kann doch keinerlei Mißverständniß vorgekommen sein?“ sagte der Herzog ihm offen in's Auge blickend.
„Kaum möglich!“ erwiderte der Kanzler. „Ich selbst habe dem höchsten Befehle gemäß, den Boten abgesendet. ... Indessen, es ist doch auffallend. Ich werde selbst Nachfrage halten.“ Und eilig verließ er den Saal.
„Gut, daß wir allein sind, Huy!“ wandte sich jetzt der Herzog an diesen. „Ich traue hier Keinem, der in Verdacht stehen könnte, zu Frankreich zu halten. Sagt doch“ – und vertraulich ihn unter den Arm nehmend, fuhr er mit gedämpfter Stimme fort –: „hat die Herzogin, oder habt Ihr schon von einem Spuk gehört, der sich 'Hugh' nennen soll?“
„Ah, doch kein wirkliches Gespenst?“ lächelte Hugo, scherzhaft zurückschreckend.
„Jedenfalls eines, das schon bis in's herzogliche Schloß dringt!“ erwiderte der Herzog, ihm fest in's Auge blickend und mit einer Betonung, als ob der Scherz hier nicht am Platze sei.
„Das wäre! . . .“ war die erstaunte Antwort.
„Auch der angebliche Raub der Papiere und ihre Ablieferung an die Herzogin scheint damit zusammenzuhängen.“
„Dann müßte der Spuk in Eurem Solde stehen,“ versetzte Hugo lächelnd.
„Wie das?“
„Nun, mich dünkt, er hätte dann das Möglichste gethan, Euch von dem Dauphin zu befreien. Wenigstens benutzt Ihr die Gelegenheit meisterlich.“
„Woher glaubt Ihr ...?“
„Auch wenn es nicht von Eurer Staatsklugheit vorauszusetzen wäre, Herr Herzog,“ antwortete Hugo mit verbindlichster Miene, „so glaubte ich es doch eben drunten auf dem Platze deutlich zu erkennen. Ich sah verschiedene Eurer ... Anhänger, unter Anderen einen gewissen baumlangen Nikol, sich auffallend durch das Volk drängen und hinter ihnen viele Arme und Bewegungen, wie wenn man ... Gold austheilt – das französische jedenfalls,“ fügte er lachend hinzu.
Jetzt war es am Herzoge, sich der Verlegenheit zu erwehren, so beruhigt er sich im Uebrigen durch den unbefangenen Ton des jungen Hofmanns fühlte.
„Wie möget Ihr mich solcher Handlung für fähig halten!“ stieß er heraus. „Ich glaube überhaupt noch nicht an die Wahrheit der Geschichte von dem Raub und weiß von keinem Golde.“ Dann aber, einen Augenblick zögernd, überlegte er eben, auf welche Weise er seinen Abscheu vor solcher Zumuthung am treffendsten mit der Erforschung des Anderen vereinigen möge, als ihm der natürlichste aller Verbündeten erwünschten Aufschub verschaffte.
Hinter ihm erklirrte ein schwerer Fußtritt; er wandte sich um: der junge Prinz von Cleve, sein Sohn, war eingetreten und begrüßte ihn.
Es hätte sich für den Physiognomen wohl der Mühe verlohnt, die Beiden, wie sie so neben einander standen, prüfend zu vergleichen.
Der Sohn war auf den ersten Anblick das entschiedene Ebenbild des Vaters und doch bei näherer Betrachtung, offenbar durch das Erbtheil einer vielleicht innerlich mehr, aber äußerlich weniger fürstlich ausgestatteten Mutter, grundverschieden von ihm.
Von Natur derb untersetzt, ja vierschrötig, glich er in den wasserblauen Augen mit dem treuherzigen Ausdruck und in der Form des Gesichts mit dem kurzen Kinn, nur mit stärkeren Backenknochen, ganz dem Herzog. Aber die ein wenig, wenn auch nicht unangenehm aufgestülpte Nase und die aufgeworfenen Lippen unterstützten bei ihm den Ausdruck der Augen durch eine so unzweideutige Ehrlichkeit, und das mitten auf der Stirn gerade weggeschnittene, zu beiden Seiten der Schläfen flach herunterhängende blonde Haar, sowie die am Kinn vorstehenden beiden Hörnchen von lichtem Flaumbart gaben, im Verein mit dem gewaltigen Knochenbau und den tatzenartigen Händen und Füßen, der ganzen Erscheinung etwas so ungemein Groteskes, daß es der für einen jungen Mann seines Standes ganz ungewöhnlichen Eckigkeit seiner Bewegungen kaum bedürft hätte, um schon, bevor er noch ein Wort gesprochen, den Schmeichelnamen zu rechtfertigen, mit welchem ihn die Herzogin ihrer Base geschildert hatte. Und was etwa an dem Bilde des „ungeleckten jungen Bären“ noch fehlte, das vervollständigte sein Anzug. Zwar würde das Auffallendste an demselben, die fast eine Elle langen Schnabel-Ueberschuhe mit je zwei Absätzen unter den Holzsohlen und rückwärts mit Sporen so lang, wie die Schnäbel vorn, seinen Zeitgenossen als Mode des Tages kaum befremdend erschienen sein, aber im Verein mit dem dichten Zobelbesatz an seinem dunklen Scheckenrock würden sie einen weit in's Nordmeer gefahrenen flandrischen Seemann doch unwillkürlich an einen Grönländer auf Schuhschlitten erinnert haben. Auch das turbanförmige Barett mit Reiherfeder, das er in der Hand hielt, war seit den Türkenkriegen nur modern, aber die ganz uncavaliermäßig langen, der Größe seiner Hand entsprechenden Kreuzgriffe seines Schwertes und seines Dolches würden jeden harmlosen Wanderer, der ihm auf einsamem Waldwege begegnet wäre, fürchten gemacht haben, und gar als er jetzt ein „Gott grüß Euch, Herr Vater!“ herausstieß, kam ein so unmusikalisches, in der Mittellage unausgeglichenes Organ zum Vorschein, daß es dem Gebrumm eines jungen Bären nicht unähnlich war.
Der Herzog erwiderte den rauhtönigen Gruß seines Sohnes mit kurzem Nicken und fertigte ihn, als er sich während des kräftigen Händedrucks, den derselbe mit Hugo wechselte, seine Antwort zurecht gelegt hatte, wie einen augenblicklich ungelegenen Gast kurz ab.
„Laß uns jetzt, Adolf! Ich habe noch mit Huy zu sprechen. Sage unterdessen dem Fräulein dort Schönes! Die beste Schule für Dich!“
Dann nahm er den jungen Ritter wieder unter dem Arm und zog sich, eifrig auf ihn einsprechend, in den Hintergrund mit ihm zurück.
Der Prinz aber blieb auf halbem Wege zum Balcon stehen und brummte unwillig für sich:
„Schule! Immer Schule, wie ein Lateinschüler! ... Wenn man die ersten Kämpen schon dutzendweise in den Sand gesetzt hat ... Und mit den Sporen da ... In's Feld will ich, in's Feld und nicht in die Schule.“
Als er jedoch sein Auge auf den Balcon richtete und den erwartungsvoll lächelnden Seitenblick bemerkte, mit dem ihn Adelheid eben zum Kommen einzuladen schien, flog es wie ein Lichtschein über seine Züge. Diese Lateinschule hatte offenbar etwas von einem Feldzuge. Und ein Feldzug war von jeher so sehr das Ideal seiner Wünsche, daß er sich selbst mit Gedanken und Worten im Lagerleben bewegte und schon seinen Magister zu Cleve vermocht hatte, ihm das beliebte Musterzeitwort der ersten Conjugation in „pugnare“ zu verwandeln. Jetzt freilich mußte er sich wohl auch mit dem sonst üblichen schon ganz leidlich [630] befreundet haben, denn als ihm die neue Magisterin eben auf halbem Wege entgegenkam, stieß er, wie zum „Salut“, seiner Gewohnheit gemäß, zwei kurze Lachtöne heraus und ging sofort zum Gefecht über.
„Ha, ha, mein Herr Vater schickt mich wieder gegen Eure Feldschlangen, Fräulein.“
„Dünken Euch meine Augen so gefährlich, Prinz?“ lächelte das Hoffräulein nicht ohne ihre Smaragden spielen zu lassen.
„Potz Blitz, sie leuchten wie Lunten in der Nacht.“
„Ei, Prinz, wenn Ihr doch dergleichen Schönes einmal der Herzogin sagen möchtet!“
„Nicht im Stande. Versagt mir allemal.“
„Aber Prinz, was hat sie Euch gethan?“
„Nichts hat sie mir gethan. Aber die Festung liegt mir zu hoch, und ein Sturm auf Weiberschanzen ist mir zuwider!“
„Ein Sturm? Wozu ein Sturm? Ihr sollt Euch um ihre Gunst bewerben, wünscht der Herzog. Und daß es Euch nicht allzu schwer fällt, zeigt Ihr ja an mir. Ich bin doch auch nur eine –“ und ihm nachahmend, stieß sie rauh heraus: „Weiberschanze.“
„Nein, Fräulein,“ lachte er treuherzig, „da irrt Ihr. Ihr seid keine Schanze. Wahrhaftig nicht. Ihr seid nur zum Scharmützeln.“
„Bedanke mich!“
„Potz Bomben, gegen Euch ist gut anreiten. Da geht's wie gegen ein leichtberittenes Fähnlein. Das hält nicht Stand; das weicht aus, parirt und ist von hinten herum wie der Wind wieder da. Ha, ha, und mit den Augen – da ist's eine Lust.“
„Aber Prinz!“ that Adelheid schmollend. „Das klingt gerade, als hieltet Ihr mich selbst für eine Art 'Wind'. Da muß ich doch bitten! ... Und daß Ihr es wisset, ich halte mich für zu gut für ein 'leichtberittenes Fähnlein', das nur zum 'Scharmützeln' taugt.“
„O, o, Fräulein! Das ist die beste Hülfstruppe – just wie sie mir noth thut. Und Euch will ich dazu werben, wenn es doch einmal, wie mein Herr Vater will“ – und er seufzte tief auf – „zur großen 'Action' kommt da oben. Ja, Fräulein, thut es mir zu Liebe, sagt 'gut Freund' und werdet meine Verbündete! Zu Euch habe ich Vertrauen – Ihr müßt mir die Wege ebnen, mir die Zugbrücke niederlassen. Schlagt ein!“
Und er hielt ihr die breite Hand hin.
„Was denkt Ihr von mir, Prinz?“ fuhr, wie erschrocken, das Fräulein zurück, wenn sie auch den geheimen Kitzel nicht verleugnen konnte, den es ihr bereitet hatte, den jungen Bären so kirre gemacht zu haben. „Ich sollte meine Herrin verrathen?“
„Nicht verrathen, Fräulein! Zureden sollet Ihr, den Parlamentär machen und zur Capitulation auffordern, wenn es so weit ist.“
„Immer besser! Auch noch den Trompeter spielen? Nein, Prinz, da kann ich Euch nicht zu Diensten sein, denn erstlich habe ich nicht zu 'blasen' gelernt, und zweitens will ich Niemandes 'Hülfstruppe' sein, dem an meiner Herrin so wenig liegt, daß er sich nicht einmal um ihre Gunst bewerben mag.“
„Höret, Fräulein, da will ich Euch ehrlich Antwort geben. Sehet, ich weiß sehr wohl, was an mir ist, und habe eine fein demüthige Meinung von mir. Wohl ist mir an der schönen jungen Herzogin gelegen. Aber ich weiß auch, daß unseres allergnädigsten Kaisers Sohn, Herr Maximilian, schon einmal ihr Verlobter war. Sehet, da geht mir nun durchaus wider den Mann, was mein Herr Vater mit mir vorhat. Es schnürt mir allemal die Kehle zu, wenn ich nur den Anlauf nehme, der Herzogin ein Wort zu sagen. Immer sehe ich Kaisers Majestät neben ihr stehen und die lombardische Krone auf ihrer Stirn. Das ist's einzig und allein. Wie sollte ich mich also hoch versteigen? Mein Herr Vater freilich, der kehrt sich nichts daran. Glaub's gern – er soll sie ja auch nicht heirathen. O, er ist ein kluger Mann, viel klüger als ich.“
„Und das will etwas heißen,“ entfuhr es wider Willen seiner Lehrmeisterin, obwohl eine so rührende Bescheidenheit selbst auf sie ihren Eindruck nicht verfehlt hatte.
Aber auch diese kleine Bosheit war nicht im Stande, ihn in Harnisch zu bringen.
„Das will gar nichts heißen, Fräulein,“ erwiderte er, treuherzig wie zuvor. „Ich bin viel zu ehrlich, um gescheidt zu sein, wie mein Herr Vater. Darin sticht er mich aus. Aber ich sage Euch, lasset mich im Sattel sitzen, und ich steche ihn aus, denn ich setze Jeden in den Sand, der nicht wie angenagelt sitzt.“
Mit dieser – wie sein blitzendes Auge zu erkennen gab – schlagendsten Ehrenrettung seines inneren Werthes schienen auch seine Gedanken eine andere Richtung genommen zu haben, denn, als eben sein Vater auf den Balcon trat und Ritter Huy, wie Jemand, der nicht stören möchte, vorüberschritt, wendete er sich eifrig an diesen.
„He, Huy!“
„Mein Prinz?“
„Wann machen wir den Wettrit mit Eurem Schimmel und meinem Rappen?“
„Wann das gnädige Volk von Gent der Herzogin einmal wieder das Ausreiten gestatten wird,“ war die ironische Antwort.
„Das gnädige Volk von Gent! Ha, ha, das Pferd lasset mich erst reiten!“
„Ich dächte, Ihr cajolirt es, Prinz?“
„Nicht ich, mein Herr Vater,“ erwiderte leise, wie beschwichtigend, der Prinz. „Mein Herr Vater, Huy! Man muß doch erst im Sattel sitzen. Aber dann, Huy, dann! – Den Zaum in's Gebiß und den Sporn in die Rippen! Warte nur, Krämervolk!“
„Ei, ei,“ lachte Huy, „allzu dankbar ist das eben nicht gegen die guten Genter, die Euch so sehr lieben. Aber,“ fügte er bedeutungsvoll hinzu, „nicht zu früh gelacht, Prinz! König Ludwig treibt längst sein Spiel in der Stadt, und sein Gesandter ist der rechte Mann dazu. Wißt Ihr wohl, wer es ist?“
„Ein Graf Meulan, so viel ich hörte.“
„Ganz recht, der König hat ihn dazu gemacht. Aber sonst hieß er – Olivier le Dain und war Seiner allerchristlichsten Majestät Hofbarbier, jetzt gefährlichstes Factotum.“
„O Schande, Schande!“ brauste der Prinz auf.
„Seine eigenen Edelleute sind entrüstet darüber, solchem Menschen zum Gefolge dienen zu müssen. Ihm ist kein Mittel zu schlecht. Aber Euer Vater will trotz aller Beweise nicht daran glauben, daß ein Gesandter so niedrig denken könne, Bestechung und Verrath zu üben. So lasset Ihr Euch warnen!“
Augenblicklich wendete sich der Prinz, zu Hugo's stiller Befriedigung, an seinen Vater.
„Herr Vater!“ rief er. „Ritter Huy sagt mir eben, wer Meulan ist, und warnt mich vor ihm. Soll ich den Schuft nicht, wenn er in's Schloß kommt, die Treppe hinunterwerfen?“
Der Herzog trat vom Balcon herunter.
„Was denkst Du, Adolf!“ sagte er strafend, nach einem raschen Blicke auf Hugo. „Die Warnung mag gut gemeint sein, aber“ – und er schlug die wasserblauen Augen zum Himmel auf – „ein Gesandter, weß Standes er auch sein möge, ist eine geheiligte Person, und, bei Gott, niemals werde ich zugeben, daß Recht und Sitte auch nur um Haarbreite verletzt werden.“
Der Ton seiner sonoren Stimme war ein salbungsvoller geworden. Er mußte wohl sittlich entrüstet sein, der deutsche Biedermann.
Ebenso andächtig aber hörte ihm auch Hugo zu, und sichtlich beschämt schlug er die Augen nieder. Er mußte wohl tief durchdrungen von seinem Irrthum sein, der welsche Schmetterling.
Doch sonderbar – das Senken der Augen schien ihn nicht gehindert zu haben, einen Seitenblick auf den Balcon zu werfen und zu bemerken, daß Adelheid plötzlich, die Hand über dem Auge, mit allen Zeichen höchster Spannung auf den Platz hinunterschaute. Er beeilte sich daher, mit ehrerbietiger Verbeugung sich vom Herzoge zu verabschieden und zu ihr hinüberzutreten. Aber kaum hatte auch er mit einem Blick den Platz überflogen, als seine ganze Haltung sich änderte. Seine Arme kreuzten sich; seine Lippen schlossen sich aneinander, und sein fester, kalter Blick schien zu sagen: „Genug der Worte, genug der Künste – die Entscheidung naht.“
Dem Herzoge freilich entging diese Wandelung. Er hatte schnell seinen Sohn auf die Seite genommen.
[631] „Lasse Dich zu keiner Unüberlegtheit verleiten!“ flüsterte er ihm zu. „Dank diesem Gesandten, den ich zur Stadt hinaus jagen lassen werde, wirst Du noch heute Abend Herzog von Burgund.“
„Ah!“ stieß der Prinz heraus, seinen Vater mit offenem Munde anstarrend.
Plötzlich ertönte vom Platze herauf der jähe Aufruf von tausenden von Stimmen.
Die Augen des Herzogs leuchteten.
„Das Vorspiel beginnt. Bleibe! Ich komme wieder,“ sagte er und verließ eilig den Saal.
[643] Das Schauspiel, welches sich draußen vor Adelheid’s und Hugo’s Blicken eröffnet und bis zu dem tausendstimmigen Aufruf gesteigert hatte, wäre in seiner Großartigkeit von allen Städten des Landes wohl nur in Gent möglich gewesen. Die vier Stunden im Umfange messende Hauptstadt Burgund’s und der Niederlande, mit ihren dreihundert Brücken, welche unter dem Schutze von Thürmen und zinnengekrönten Mauern die sechsundzwanzig Inseln zwischen der Schelde und ihren drei Nebenflüssen mit einander verbanden, war seit zwei Jahrhunderten durch Handel und Kunstfleiß so übermäßig bevölkert und so reich geworden, daß sie allein vierzigtausend Mann Wohlbewaffneter in’s Feld zu stellen vermochte. Und hatte sie auch jetzt ihre gesammte Wehrkraft mit dem Staatenheer gegen die Franzosen geschickt, so waren doch allein in ihren Linnengarn- und Wollspinnereien noch über dreißigtausend Arbeiter beschäftigt, von denen es sich heute ein großer Theil nicht nehmen ließ, ihre eine freie Mittagsstunde in deren zwei zu verwandeln, um ein so wichtiges Ereigniß, wie der Aufzug der Friedensgesandtschaft ihres mächtigen Feindes, mit angaffen zu können. Ihre Zahl wurde aber noch überboten durch die Masse des arbeitslosen Pöbels, der, leicht kenntlich an den nackten Beinen, der rothen Gugel, verblichenem Strohhut und dem Beil im Gürtel, bei solchen Anlässen eine Hauptrolle zu spielen pflegte, zumal wenn er, im Solde politischer Parteiführer, eine besondere Aufgabe damit zu verbinden hatte.
Zu diesen schon in den buntesten Farben schillernden Tausenden kamen noch Abtheilungen der vierundfünfzig Genter Innungen, die in Abwesenheit der bewaffneten Macht in ihren Festtrachten an den Brücken Spalier bildeten, um der Gesandtschaft den Weg freizuhalten. Da waren zuerst Vertreter der edlen Bruderschaften der vornehmen Waffengilden, die Schützen vom „edlen Voetbogen“ in lichten Waffenröcken mit Franzen, die Schwertkämpfer aus der „Schermerschool“ mit Gottfried's von Bouillon silbernem Kreuz, die stets bewaffnet einhergehenden Kornmesser, die Zimmerleute, feuerwehrartig in Helm und Panzer, die Fleischhauer in blauen Kleidern mit goldenen „Brandenburgs“, die Fischverkäufer in grünen Anzügen mit silbernen Litzen, die „Hoftmans van den grisen Frocken“, die „van den Swarten“, die „Soudeniers metten witten Frocken“ und „metten rooden Crusen“, die Wollenarbeiter, die „Sargiemakers“, „Dobbelwerkers“ und „Legwerkers“, die Blaufärber, die Weißgerber und Schwarzgerber in den Farben ihres Handwerks, die Tuchscheerer, die schon damals besonders beliebten Bierbrauer und selbst ein kleiner Trupp der noch zum Gewerbe zählenden Gilde der Maler und sonstiger Künstler. Ihre gradlinigen Reihen hoben sich aus dem bunten Gedränge ab wie künstlich gleichfarbige Beete aus dem buntwogenden Rasen eines Naturparks, denn um sie her und bei ihnen vorüber strömte die große Menge fast eine Viertelstunde Weges von der Herberge der Gesandten jenseits des Gravesteins, der altflandrischen Grafenburg, an dem vierhundert Fuß hohen Belfried mit dem gewaltigen Drachen als Windfahne vorüber, zwischen Tuchhalle, Stadthaus und Nikolausthurm hin dem Schlosse zu, überall Straßen und Plätze füllend und Treppen und Brunnen besteigend, um die Franzosen zu sehen. Ab und zu sah man auch absichtlich für diese Letzteren die schwarz-grau-rothe Fahne des herzoglichen Hauses aus den Fenstern gehängt oder das Banner des schwarzen Löwen von Flandern oder des silbernen Löwen von Gent – unzweideutige Zeichen, daß die Bürgerschaft trotz Allem an ihrer Selbstständigkeit nicht rütteln zu lassen gesonnen sei.
Die Hauptmasse des Volkes aber war längst dem Endziele zugeströmt und füllte Kopf an Kopf, wie Hugo dem Herzoge gemeldet, den weiten Platz vor dem Fürstenhofe, der Hofburg der Herzogin. Dieses alte, im Laufe der Zeiten vielfach zerstörte, von Balduin dem Achten im romanischen Uebergangsstil renovirte Schloß war unter den burgundischen Herzogen mit gothischen Giebeln und vorspringenden Erkern zwischen stumpfen Eckthürmen geschmückt und in der Mitte des inneren Hofraumes mit einem Paar Glockenthürmen ausgestattet worden, die unter dem Namen „Beffroy“ in Frankreich und „Belfried“ in den Niederlanden damals bei keinem Prachtbau fehlen durften. Ueber dem weitbauschigen Kleeblattbogen-Portal nach dem Platze zu aber hatte man ein reiches, schräg crenelirtes und mit Thürmchen geziertes Frontispiz angebracht, aus dessen erstem Geschoß unter einem Metallbaldachin, von schlanken Säulen getragen und von durchbrochener Steinbalustrade eingefaßt, eben jener Balcon vorsprang, von welchem Adelheid und Hugo die Entwickelung des Schauspiels beobachteten, das sich jetzt vor ihnen abspielen sollte, während der Prinz von Cleve sich, offenbar in der Absicht, nicht gesehen zu werden, im Saale hinter ihnen an der offenen Thür aufstellte.
Denn am entgegengesetzten Ende des Platzes war soeben ein zahlreicher Trupp Reiter, in bunten Farben, mit Feldbinden, [644] wallenden Federn und Helmbüschen, um eine schwarze Fahne mit einem goldenen Mann und einem Stern darin, das Banner des Königs von Frankreich, geschaart, über die letzte Brücke geritten und von der gesammten Menge mit weithin dröhnendem Schrei empfangen worden. Was bedeutete der Schrei? War es ein Ausruf der Bewunderung? War es freudiger Zuruf? War es Drohung? ... Der Trupp hielt an. Er befand sich vor einer lebendigen Mauer, die ihm keinen Durchgang bot und ihm keine Pforte öffnen zu wollen schien. Einige Trompetenstöße schallten zum Schlosse herüber – offenbar die Aufforderung, Platz zu machen. Neues Geschrei, schon mit Gelächter untermischt. Die Trompeter, als Cleve'sche an den roth und weiß gestreiften Wämmsern erkennbar, die ihnen gleich den Hoornern den Spottnamen „Bunte Krähen“ eingetragen hatten, ritten vor und bahnten mit Mühe eine schmale Gasse. Das Volk preßte sich noch gutwillig genug nach beiden Seiten zusammen. Die Gesandtschaft kam näher. Sie mochte etwa zwanzig Pferde zählen; an ihrer Spitze ritt auf hohem Roß eine wunderliche kleine Gestalt, pfauenartig herausgeputzt, in den grellsten Farben, das Barrett mit hochwallender Feder geschmückt. So gelangten sie unter zunehmendem Geschrei, Gelächter, Gepfeife bis in Bolzenschußweite von der Hofburg. Hier aber sah sich der Zug unbedingt zum Halten genöthigt. Sei es, daß die wie eine Heerde in der Pferche zusammengedrängte Menge wirklich nicht mehr ausweichen konnte, sei es, daß man auf eine böswilligere Schicht gestoßen war – der Zug saß fest, wie in einer Sackgasse, die sich hinter ihnen sogleich wieder schloß. Auf dem Balcon konnte man schon einzelne Drohrufe vernehmen; der Lärm nahm einen tumultartigen Charakter an. Vergebens tönten die Trompetenstöße der Cleve'schen dazwischen.
In diesem Augenblicke verließ Adelheid den Balcon; Hugo blickte ihr nach; die Herzogin war mit der Aebtissin wieder in den Saal getreten.
„Mein Gott, was geht vor?“ rief sie in Aufregung. „Die Gesandtschaft ... der Tumult! Ich habe doch die Audienz abbestellt.“
„Es scheint ein Mißverständniß zu sein,“ meldete das Hoffräulein, „aber der Kanzler ist schon hinunter geeilt, um es aufzuklären.“
„Und mein Herr Vater auch,“ fiel der Prinz von Cleve, Maria begrüßend, ein.
„Gottlob! Das beruhigt mich,“ rief diese aufathmend, und alsbald zeigte sich mit dem ihr eigenthümlichen schnellen Wechsel der Empfindungen schon wieder der Schalk hinter ihren halbgeöffneten Perlen, als sie mit den Worten: „Der Prinz von Cleve, ehrwürdige Base!“ den jungen Fürsten der Aebtissin vorstellte.
Die rechte Hand zum Gruße niedersenkend, neigte der Prinz weniger den Kopf als den Oberkörper in einer so unglaublich eckigen Weise zum Gruße, daß Maria sich nach dem kurzen Gegengruße ihrer Base schnell dieser zuwandte, um den Verräther hinter den Lippen zu verbergen.
Diesen Moment benutzte das hinter dem Prinzen stehende Hoffräulein. „Jetzt, Prinz!“ flüsterte sie ihm zu. „Sagt ihr doch etwas!“
Der Prinz nickte ihr heimlich zu, trat einen Schritt näher zur Herzogin, stockte einen Augenblick, bog sich in den Schultern, als ob er die Worte emporwinden müßte, stieß zwei Lachtöne heraus und hob, auf den Platz deutend, an:
„Alle Achtung, Frau Herzogin! Das ist tapfer von Euch, daß Ihr den Gesandten abblitzen laßt. Potz Bomben, Euch als Parlamentär einen Barbier zu schicken! Als ob auf Eurem schönen Kinn ein Bart wüchse!“
Maria und die Aebtissin wechselten überrascht einen lächelnden Blick.
„Und Euch gilt es auch gar nicht,“ fuhr der Prinz, als er so glücklich im Zuge war, fort. „Nein,“ – und er deutete auf das Goldene Vlies an Maria's Halskette – „nur das Goldschäflein dort will er scheeren.“
Die Betonung des Wörtchens „dort“ wirkte zu drastisch. Maria lachte ihrer Base offen in's Gesicht. Die Aebtissin schlug die Augen zum Himmel auf.
„Aber Prinz!“ flüsterte es vorwurfsvoll hinter ihm.
Der Prinz sah sich mit einem verwunderten Blicke um.
„Ja, ja, mein lieber Vetter,“ nahm jetzt Maria seufzend und zugleich mit einem Ausdruck in ihren gutmüthigen Augen das Wort, wie wenn es ihr leid thue, ihn belacht zu haben. „Da sehet Ihr, was der König mir zu bieten wagt. Und wem bietet er es? Mir, deren Mutter aus dem Hause Valois war, wie er selbst es ist – er, der mich ein über das andere Mal seine 'geliebte Pathe', seine 'theuerste Freundin und Cousine' nennet.“
„Ha, ha!“ lachte der Prinz. „Das sagte der Fuchs auch, als er der Gans die Gurgel abbiß.“
Wieder sah, und diesmal fast erschrocken, Maria ihre Base an. Wieder himmelte die Aebtissin.
„Um Gotteswillen, Prinz!“ flüsterte es entsetzt hinter ihm.
„Was wollt Ihr? Das war ja nur durch die Blume gesprochen,“ versetzte der Prinz, halb ärgerlich, nach rückwärts. „Mit der Gurgel meinte ich Burgund.“
„Unglaublich!“ lächelte die Aebtissin, als sich Maria an ihren Arm hing und sie auf die Seite zog, um ihre Fassung wieder zu gewinnen. „In der That unglaublich für einen jungen Prinzen. Er ist ein Original, aber sicherlich ohne Falsch.“
Ein erneuter, heftiger Ausbruch des Geschreies draußen, das sich seit einigen Augenblicken gelegt zu haben schien, machte der heiteren Episode ein schnelles Ende. Von Neuem horchte Maria ängstlich auf.
„Um Gott, was giebt es schon wieder?“ rief sie Hugo zu.
„Die Gesandtschaft scheint Rath gepflogen oder mit dem Volke parlamentirt zu haben,“ rief der Ritter. „Vergebens drängt sie vorwärts; sie sitzt wie in der Falle.“
Plötzlich ertönte durch den wüsten Lärm hindurch eine furchtbare Baßstimme, bis in den Saal hinein verständlich.
„Nieder mit den Verräthern, den Spionen, die uns verkaufen!“
Und „Nieder mit den Verräthern!“ hallte es tausendstimmig im Volke nach.
„Base, Base, wie wird das enden?“ rief Maria, sich angstvoll hinter ihr bergend.
„Es kommt zum Handgemenge,“ meldete Hugo. „Man fällt Meulan in die Zügel. Die Edelleute ziehen ihre Schwerter.“
„Dann sind sie verloren. Ich kenne den Pöbel,“ stöhnte Maria.
„Jetzt ... jetzt! ... Nein ... siehe da ... endlich! Ein Clevischer Hauptmann an der Spitze einiger Reiter bricht sich Bahn von der Seite. Er hat Meulan erreicht ... er spricht mit ihm ... redet ihm zu ... Meulan wendet sein Pferd.“
Ein gewaltiger Jubelruf erfüllte die Luft. Rohes Gelächter und Spottnamen klangen dazwischen. „Bartscheer, Bartscheer!“ schrieen und lachten hundert Stimmen.
„Der Hauptmann drängt rückwärts das Volk aus einander,“ fuhr Hugo fort. „Man öffnet ihm eine Gasse.“
Da erdröhnte wiederum die gewaltige Baßstimme:
„Jagt sie aus der Stadt! Hinaus mit ihnen!“
Und „Hinaus mit ihnen!“ brüllte der Pöbel.
„Das war's, was ich erwartete,“ murmelte Hugo vor sich hin. „Ha, der Feigling!“ rief er dann. „Er galoppirt davon. Ein Pöbelhaufe mit Knitteln hinterdrein. Die Edelleute halten drohend. Man läßt von ihnen ab. Alles stürzt Meulan nach. Jetzt wenden auch sie und folgen langsam. Nun hat's das Volk gethan,“ fügte er, mit dem Kopfe nickend, leise für sich hinzu.
Der Lärm verlor sich in der Ferne.
„Gott sei Lob und Dank!“ athmete Maria auf. „Ich zittere an allen Gliedern.“
Da erklang hinter ihr eine volle, weiche, sonore Stimme, die sie erst recht erbeben machte.
„Wie? Schönes Bäschen, Ihr zittert?“ redete sie mit inniger Theilnahme der Herzog von Cleve an, der unbemerkt eingetreten war.
Es dauerte einen Augenblick, ehe Maria im Stande war zu antworten. „Wie sollte ich nicht, Herzog, nach Allem, was ich schon habe erleben müssen?“ erwiderte sie, sich mit Mühe fassend. „Der Herzog von Cleve, theure Base!“
„Beruhigt Euch, Bäschen!“ warf Cleve nach Begrüßung der Aebtissin leicht hin. „Es war ein unglücklicher Zufall, den sich das Volk zu Nutze gemacht hat. Die Menge hatte sich zu früh versammelt; des Kanzlers Bote konnte nur auf Umwegen hindurchdringen und traf die Gesandtschaft nicht mehr in der Herberge. Das Volk muß wohl vorzeitig Kenntniß von dem verrätherischen Plane Meulan's erhalten haben, vielleicht durch Unvorsichtigkeit [645] seiner eigenen Partei. Kein Wunder, daß es in Wuth gerieth. Aber ich habe ihn schützen lassen. Gent hat Euch gerächt – die kehren nicht wieder.“
„Aber die Folgen, Herzog, die Folgen!“
„Leider!“ stimmte Cleve mit besorgter Miene zu. „Auch ich fürchte, so unschuldig wir sind: Gent wird der Männer und eines starken Armes bedürfen.“
„Was ist das?“ rief plötzlich Hugo vom Balcon. „Das Volk kehrt von Neuem auf den Schloßplatz zurück. Die Hauptschreier voran!“
In der That ließ sich ein Getöse, wie heranschwellende Fluth, mit lärmenden Stimmen untermischt, vernehmen.
„Um des Heilands willen, was wollen sie noch?“ rief Maria, ihre Frage unwillkürlich an den Herzog richtend.
Cleve zuckte die Achseln.
„Ich höre den Namen des Prinzen von Cleve rufen,“ meldete Hugo.
Der Prinz wandte sich unwillig ab.
Immer näher schwoll der Tumult heran. Wieder erzitterte die Luft von hunderten von Stimmen vor dem Schlosse.
„Prinz von Cleve! Prinz von Cleve!“ rief es in wüstem Durcheinander.
Der Prinz stampfte mit dem Fuße.
„Prinz von Cleve! Prinz von Cleve!“ erdröhnte es, durch neuen Zuruf verstärkt, noch gewaltiger.
„Mein Gott, Prinz, sie rufen Euch. Zeigt Euch doch auf dem Balcon!“ flehte Maria.
Widerwillig, mit finsterer Miene, trat der Prinz hinaus.
Lautes Gebrüll empfing ihn.
„Heil, heil! Lang lebe der Prinz! Der tapfere Prinz! Heil unserm Herzog! Heil Adolf und Maria!“
Aber der letzte Ruf: „Heil Adolf und Maria!“ behielt die Ueberhand. Es war das Stichwort des gewaltigen Basses, das zuletzt alle Stimmen auf sich vereinigte.
Der Prinz, der einen Augenblick wie betäubt von dem Empfange dagestanden, fühlte jetzt offenbar Scham; er machte eine zornig abwehrende Bewegung mit der Hand und verließ rasch den Balcon.
Die Menge aber, die keine Ahnung von seinem persönlichen Widerwillen gegen ihre Absichten, geschweige denn gegen sie selbst hatte und längst darauf vorbereitet war, daß Maria ihren Wünschen nicht günstig sei, legte das auffallende Benehmen des Prinzen in diesem Sinne aus. Ein unbeschreiblicher Tumult folgte.
„Sie will nicht. Sie muß. Zwingt sie, zwingt sie!“ tobte es drunten in allen Tonarten, und als die bekannte Baßstimme jetzt den Empfindungen Aller in den zwei Worten Ausdruck gab: „In’s Schloß!“ da klirrten die Fenster im Saale von dem donnernden Rufe: „In’s Schloß, in’s Schloß!“
Maria warf sich in die Arme der Aebtissin.
„Sein letzter Schachzug!“ murmelte Hugo, mit verschränkten Armen beobachtend, für sich.
Die Thür öffnete sich. Der Kanzler trat herein. Blasser als gewöhnlich, warf er einen fast vorwurfsvoll flehenden Blick auf Cleve, als wolle er sagen: „Deine entfesselten Gewalten schlagen uns über dem Kopfe zusammen – nun hilf!“ und trat vor die Herzogin.
„Seid gefaßt, Hoheit!“ redete er sie mit erregter, leise zitternder Stimme an. „Die furchtbaren Drohungen der Franzosen haben das Volk erschreckt. Sie sollen geschworen haben, noch in dieser Nacht mit dem Heere vor der Stadt zu erscheinen und keinen Stein auf dem anderen zu lassen. Das Volk verlangt einen Feldherrn, einen Herzog – den Prinzen Adolf.“
„Base! Base!“ schluchzte Maria an der Brust der Aebtissin.
„Bete, armes Kind, bete mit mir!“ war der einzige Trost ihrer frommen Beschützerin.
Cleve trat vor. Ein friedlicher Ernst, ein fast wehmüthiges Mitgefühl lag in seinen wasserblauen Augen.
„Theure Herzogin,“ sagte er mit dem Tone eines väterlichen Freundes, „es ist gekommen, wie ich gefürchtet. Aber das Volk hat so Unrecht nicht. Die Gefahr ist groß. ... Es ist wahr, ich muß Euch parteiisch erscheinen, denn es ist mein Sohn, den sie zum Herzog verlangen. O, könntet Ihr mir in’s Herz blicken! Nur den einen Wunsch, Euch zu retten, Euch Krone und Land zu erhalten, würdet Ihr darin finden – das habe ich mir gelobt; das will ich als Ehrenmann halten. Aber um Eines beschwöre ich Euch, flehe ich Euch an: Wer es auch sei, den Ihr erkoren, zögert nicht, ihn jetzt dem Volke zu nennen und dem Lande freiwillig zu geben, was es verlangen kann, ja wozu es Euch zwingen würde mit Bedrohung Eurer Freiheit, Eures Lebens – einen Mann, einen starken Arm, einen Retter in der Noth!“
„So ist es,“ bestätigte Ravestein. „Der Herzog spricht die Wahrheit.“
„Herr Gott im Himmel, was soll ich thun?“ flehte Maria verzweifelnd nach oben.
Wieder wurde die Thür aufgerissen. Ein Diener stürzte in den Saal.
„Sie dringen auf die Schloßwache ein.“
Der Prinz sprang vor. „Soll ich hinunter und Feuer geben lassen?“ fragte er Maria.
„Der Dummkopf!“ raunte Cleve erbittert dem Kanzler zu.
„Nein, nein, nein!“ wehrte angstvoll Maria.
„Dann entschließet Euch!“ sagte fast streng der Herzog.
„Entschließet Euch!“ wiederholte flehend der Kanzler.
„So ist denn gar kein Ausweg?“ jammerte, mit Thränen in den Augen, die unglückliche Fürstin. „Base – Herzog – Kanzler!“ Und mit bittend gefalteten Händen ging sie von Einem zum Andern.
„Keiner!“ sagte Cleve und nahm sie, wie ein willenloses Opferlamm, das nur noch des Gnadenstoßes bedarf, mit dem Kanzler auf die Seite, wo beide mit gedämpfter Stimme auf sie einsprachen.
Der Prinz horchte während dessen an der offenen Thür nach unten. Vom innern Schloßhofe drang ein Gewirr von Stimmen herauf, wie wenn zwei streitende Parteien im Begriff sind, von Worten zu Thätlichkeiten überzugehen.
Die Aebtissin war auf die Kniee gesunken und betete. Adelheid zitterte am ganzen Leibe und starrte mit vorgebeugtem Kopfe auf die Thür, als ob von dort jeden Augenblick das Verderben auf sie hereinbrechen könne. Hugo behauptete mit verschränkten Armen seinen Platz am Balcon und beobachtete fast lächelnd den Vorgang.
„Gut in Scene gesetzt!“ murmelte er. Dann blieb sein Auge entzückt auf Adelheid’s Gestalt haften.
Der Lärm wurde drohender; er wälzte sich, wie es schien, schon die Treppe hinauf. Da warf Adelheid entsetzt einen hülfesuchenden Blick durch den Saal. Ihr Blick fiel auf Hugo, und instinctmäßig ihren einzigen Beschützer in ihm erkennend, flog sie blitzschnell zu ihm hinüber.
„Verlaßt mich nicht, Ritter! Ich bin in Todesangst,“ flehte sie mit gefalteten Händen.
„Ei, so verzagt, Fräulein?“ lächelte er.
„Ach, Ritter, ich bin auch nur tapfer, wenn keine Gefahr ist. Hört nur die schreckliche Pöbelhorde!“
„Wofür fürchtet Ihr denn?“
„Für meinen Kopf! Für meinen Kopf!“
„Aber Fräulein, verliert ihn doch nicht selbst! Dieses Alles gilt ja nur der Herzogin.“
„O Ritter, die ist gut daran. Die braucht nur zu heirathen, um sich zu retten. Aber ich! – Sie werden sagen, ich hätte ihr schlecht gerathen, werden mich köpfen, wie Hugonet und Imbercourt, und ich kann doch schwören, daß ich niemals gefragt worden bin.“
„Schwöret nicht! Helfet lieber retten!“ sagte Hugo mit gedämpfter Stimme.
„Ich?“
„Pst! – Spielet der Herzogin ganz heimlich dieses Billet in die Hand!“ Und damit steckte er ihr ein Streifchen Linnenpapier zu. „Wollt Ihr?“
„Von Euch? – Ein Billet?“ fragte sie, trotz ihrer Todesangst noch von Mißtrauen erfüllt.
„Leset es denn!“
Die Eifersüchtige konnte sich nicht enthalten, einen ängstlich begierigen Blick hineinzuwerfen.
„Teuerdank?“ sagte sie aufblickend. „Wer ist Teuerdank?“
„Ihr werdet es erfahren. Pst! Man beobachtet uns.“
So war es allerdings. Während Cleve eben der Herzogin die Vorzüge ihrer künftigen Stellung unter seiner Aegide in’s [646] hellste Licht setzte, hatte Ravestein einen Blick auf Hugo geworfen und, so geschickt auch Adelheid ihm den Rücken zuwendete, doch genug bemerkt, um sich zu sagen: „Aha, ich habe mich nicht getäuscht. Er benutzt die allgemeine Aufregung, um der Geliebten ein Billet-doux zuzustecken – der ungefährliche Schmetterling!“ Und sehr zufrieden mit seiner Entdeckung, wandte er sich zu Cleve zurück.
Adelheid barg das Billet in ihrer Hand.
Plötzlich donnerten von unten Axtschläge gegen ein Thor. Ein Krach und ein allgemeiner Aufschrei folgte. Der Prinz stürzte zur Thür hinaus.
„Mein Gott, mein Gott, sie kommen, um mich zu morden. Ich will ja Alles thun,“ rief händeringend Maria und flüchtete unwillkürlich auf die entgegengesetzte Seite, Hugo zu. „Ritter Huy, Ihr steht so theilnahmlos – helft doch, schützet mich!“ flehte sie ihn an.
Des Ritters Auge sprühte. Ein leichter Blitzstrahl flammte daraus hervor; seine Rechte fuhr krampfhaft an den Degengriff. Aber ein rascher Seitenblick auf Cleve – und er verneigte sich achselzuckend, wie in schmerzlicher Entsagung, vor der Fürstin.
„Adelheid, Adelheid, Alles verläßt mich,“ rief Maria in Verzweiflung und ließ, wie gebrochen, die Hand mit dem Spitzentuche sinken.
Adelheid's Entschluß war gefaßt; ihr edleres Gefühl hatte gesiegt. Sie neigte sich auf die Hand der Herzogin nieder, wie um sie in ehrerbietiger Theilnahme zu küssen, und drückte ihr dabei das Billet auf das Tuch.
„Leset es!“ flüsterte sie.
Maria sah sie groß an, that dann einen Schritt zum Balcon und hielt das Tuch vor sich.
„Ha, diese Schrift!“ entfuhr es ihr leise. Und sie las:
„Teuerdank ruft Dir: Füge Dich,
Aber begehre vorher zu beten
In der Capelle Allerseelen!
Dort wirst Du finden, was Du suchst.“
„Von Dir?“ fragte sie leise, sich in namenlosem Erstaunen zu Adelheid umwendend, welche, sie deckend, hinter ihr stand.
„Nein, von ihm,“ gab diese, mit einem schrägen Blick auf Hugo, zurück.
„Himmel!“
Polternde Schritte und Waffengeklirr erscholl von der Treppe.
„Halt! Steht!“ dröhnte die rauhtönige Stimme des Prinzen.
Maria wankte auf Cleve zu.
Die Aermste! Ihres kindlichen Herzens hatte sich zwischen Todesangst und plötzlichem Hoffnungsschimmer auch noch ein Seelenkampf bemächtigt. Aufschub, Aufschub – das war ja der letzte Strohhalm, den zu erfassen sie sich gesehnt. Jetzt lag er greifbar vor ihr. Aber das Mittel, ihn zu erreichen, war die Lüge, war mehr als Lüge. Unter dem Vorwand des Betens zu täuschen, erschien ihrem reinen Sinn wie Mißbrauch des Heiligsten. Unwillkürlich gedachte sie des „bösen Feindes“ ihrer frommen Base. Und doch war keine Secunde zu verlieren – sie mußte sprechen. Was, wußte sie nicht; nur Eines wußte sie: keine Sünde!
Von solchen Empfindungen erfüllt, stand sie bebend, fassungslos vor dem Gefürchteten.
„Nun wohl denn, Herzog!“ hub sie an und wagte erst jetzt die Augen zu ihm zu erheben. „Nun wohl denn!“ Aber sie vermochte nicht fortzufahren. Hinter der innigen Theilnahme seiner Mienen lauerte ein so triumphirender Blick, daß sie sich schaudernd von ihm ab zu der neben ihm stehenden Aebtissin wandte.
„Nein! Sagt Ihr es ihm, fromme Base! ... Er soll ... befehlen, was er will, soll nur das Volk beruhigen ... nur kein Blut vergießen lassen! ... Ich füge mich in Alles ... heiße Alles gut. Aber ich muß ... freie Luft ... muß Stärkung suchen ... bei Euch ... sogleich! Lasset mich Euch zur Abtei zurückbegleiten! Hier ... erstickt es mich.“
„Recht, mein Kind, bete, bete mit mir! Das ist ja, was ich Dir gerathen!“ sagte die fromme Frau. „Herr Herzog, Ihr habt es gehört – thut nach Eurem Gefallen!“
„Ich kann nicht mehr,“ stöhnte Maria, sank auf den Arm der Aebtissin und wankte, von ihr gestützt, aus dem Saale.
„O, über die Frauen!“ sagte, ihr nachsehend, Hugo zu sich. „War das geheuchelt, so war's ein Meisterstück.“
Aber er irrte; es war kein Meisterstück. Ein Meisterstück würde Alles verdorben haben. Diesmal hatte die sittliche Reinheit ihres Gemüthes Maria gerettet. Denn so sicher Cleve die geringste Verstellung gewittert, so argwöhnisch er unter allen anderen Umständen in dieser wichtigen Stunde den Wunsch der Herzogin aufgenommen und ihn vereitelt haben würde: er kannte Maria zu gut, um nicht in ihren ohne all und jede Berechnung gesprochenen Worten die letzte Zuckung eines durch Todesangst gebrochenen Widerwillens und stille Ergebung in das Unvermeidliche zu finden. Keine Spur von Mißtrauen regte sich in ihm. Im Gegentheile, für die vollständige Ausbeutung seines Triumphes kam ihm eine kurze Abwesenheit der Herzogin gelegen. Im Augenblicke war sein Plan gefaßt. Nach einigen leisen Worten an Ravestein sprang er auf den Balcon und schwenkte sein Barett.
Zwei Trompetenstöße von unten antworteten, als wären sie bestellt gewesen. Lautlose Stille trat ein.
„Volk von Gent,“ rief er, „die Herzogin willigt ein, sich Euren Wünschen zu fügen.“
Ein tausendstimmiger Freudenruf ertönte.
Der Herzog winkte wieder. Erwartungsvoll zu ihm aufschauend, verstummten die Rufer.
„Das Verlöbniß mit dem Prinzen, meinem Sohne, findet noch heute Abend statt. Die Herzogin ladet Euch Alle zu Schmaus und Trunk auf die Plätze in Stadt und Schloß. Ein Karthaunenschuß wird den Anfang verkündigen. Nun ziehet in Frieden!“
Ein unbeschreiblicher Jubel bemächtigte sich des Volkes. Der glänzendste Sieg seines Heeres würde ihm in diesem Augenblicke nicht gleich dem eigenen Triumphe gewesen sein, seinen verblendeten Willen durchgesetzt und sich einen Festabend mit Schmaus und Trunk erobert zu haben.
„Panem et Circenses!“ murmelte Cleve hohnlachend vor sich hin, als er den Balcon verließ.
„Gardez la Reine!“ lächelte Hugo.
Das lärmende Gewoge draußen verlor sich. Die Fluth wälzte sich vom Schlosse der Stadt zu. Auch der Prinz kehrte zurück. Freudestrahlend trat Cleve zu den Anwesenden.
„Der ganze Hof ist zum Verlobungsabend geladen,“ rief er. „Die Herzogin begleitet zuvor noch ihre Base zum Kloster Allerseelen. Du, Adolf, führst das Ehrengeleite Deiner Braut.“ – Und ihn auf die Seite nehmend, fügte er leise hinzu: „Ich gebe Dir doppelte Mannschaft. Jeder bürgt mir mit seinem Kopfe für sie. Während dessen berufe ich die Abgeordneten und lasse mich zum Regenten ernennen. Habe Acht auf Alles und sei spätestens vor Dämmerung zurück! ... Auf Wiedersehen heute Abend!“
Mit diesem Gruß an Adelheid und Hugo verließ er mit Ravestein das Zimmer.
Der Prinz, im Begriff zu folgen, wendete sich an Hugo.
„Ihr begleitet uns doch, Huy?“
„Zum Wettritt mit Euch, mein Prinz,“ versetzte lächelnd der Ritter.
„Und mit Euch, Fräulein, bleibt es, wie verabredet. Ihr seid meine getreue Verbündete bei der großen Action.“
Hugo sah Adelheid groß an. Sie bemerkte es mit stillem Vergnügen.
„Ei, Prinz,“ erwiderte sie, nicht ohne ihre Smaragden spielen zu lassen, „wollt Ihr wirklich thun, was Euch zuwider ist? Ihr hasset ja den Sturm auf ... Weiberschanzen.“
„Eine ausgenommen – ha, ha!“ lachte der Prinz, und grüßend verließ er den Saal.
„Fräulein!“ sagte Hugo vorwurfsvoll.
„Ritter?“ fragte Adelheid, ihre schlanke Gestalt auf der Fußspitze wiegend.
„Ihr die Vertraute des Prinzen?“
„Ihr der Vertraute der Herzogin? ... Wohl gar Teuerdank selbst?“
„Bei Gott, Ihr irrt Euch. Aber was muß ich von Euch glauben?“
„Ei, Ritter, das müßtet Ihr doch am besten wissen, denn ich bin, wofür Ihr mich haltet, und Ihr sagtet ja selbst, dann möchtet Ihr wohl ... der Prinz von Cleve sein.“
Noch ein Lächeln, und sie entschwand.
„Libelle! rief Hugo, ihr nachblickend. Dann ging auch er, sein Pferd satteln zu lassen.
Der Apriltag, der seit dem Mittag in hellem Sonnenschein lachte, zeigte selbst am späten Nachmittag noch die Spuren der Schneeschauer, mit denen frühmorgens ein scharfer Nordwind über Gent hinweggestrichen war und Knospen aller Art aus ihrem frühlingsseligen Traume gerissen hatte.
Am erkennbarsten war dies in den kleinen Wäldern in der Umgegend der Stadt. An dem schon grünenden Unterholz von Buchen und Eichen wurde auf der Nordseite der braune Anhang des Vorjahres, der sich nur mit Mühe gegen die unaufhaltsam verbrechenden jungen Knospen wehrte, noch von tropfendem Schnee niedergebogen, und die zähen alten Blätter fielen mit leiser Klage unter dem doppelten Angriff. Auf dem feuchten Grunde, der mit Ginster, Jelängerjelieber, Zwergstechpalmen und Buchenschößlingen schon fast in Grün gehüllt war, schimmerte in Vertiefungen noch blendendes Weiß, oft seltsam abstechend gegen das Violett der wilden Veilchen und anderer Erstlinge des Lenzes, während die kahlen Aeste bemooster Hochstämme wie Denkmäler abgestorbenen Lebens in die Luft starrten.
Es war im kleinen Rahmen der Natur ein Spiegelbild der stürmischen Uebergangszeit, in welcher sich das Jahrhundert selbst von langem Winterschlafe zum Völkerfrühling befand.
Ein solches Wäldchen lag auch eine halbe Stunde Weges östlich von Gent, da wo sich die Heerstraße nordöstlich nach Mecheln und südöstlich nach Brüssel theilte, in dem Winkel zwischen beiden Straßen. Dasselbe würde die Gestalt eines Dreiecks gehabt haben, wenn sich nicht auf seiner breiteren Ostseite wieder zwei Flügelstreifen neben den Straßen hingezogen hätten, so daß es dort die Form annahm, die man bezeichnend genug mit dem Namen Schwalbenschwanz benennt. Ein Verbindungsweg zog sich von Süden nach Norden mitten hindurch. Kaum hundert Schritte von demselben, schon in der Nähe der Flügel, öffnete sich eine lichtere Stelle mit den Ueberbleibseln einer alten flamländischen Burg, oder vielmehr einer Warte mit Umfassungsmauern, die einst zum Auslug nach Osten bestimmt gewesen sein mochte, jetzt aber nur noch einen kleinen, mit Trümmerstücken eingefaßten Hofraum und dahinter den Rundbogen der früheren Eingangsthür aufzuweisen hatte. Das Ganze war mit Epheu und Schlinggewächsen aller Art überwuchert; nur das Portal zeichnete sich dadurch aus, daß durch irgend wie und wann herübergewehten Samen drei Zwergföhren auf demselben gewachsen waren und ihm jetzt eine natürliche Krone verliehen.
Ein breiter Fußpfad wand sich von dem Verbindungswege her dicht an der Ruine vorüber, um bald durch eine zweite Lichtung zwischen den beiden Flügelstreifen auf eine schmale Ebene hinauszutreten, über welche hinweg sich die Aussicht auf das Hauptgebäude einer stattlichen alten Abtei öffnete.
Mit seinen zwei Reihen kleiner, von Säulen eingefaßter Rundbogenfenster über dem großen runden Einfahrtsthor und den Eckthürmen mit den kurzen, spitzen Ziegeldächern zeigte das Gebäude sich von dieser Seite wie in einen Rahmen eingefaßt. Die schmale Ebene zwischen den Waldstreifen war kurzer Rasen, der seine Benutzung zur Fohlenweide in zahllosen Abdrücken kleiner Pferdehufe kenntlich machte. Ein Spazierweg von der Abtei führte den oberen Waldstreifen entlang zur Ruine. Das Wäldchen hieß von dieser der Burgwald, und die Abtei war das Kloster Allerseelen.
Eben klang von dort die Vesperglocke herüber, als auf dem Hofraume der Ruine ein Fußgänger auftauchte. Mit dem letzten Glockenschlage stand er unter dem Rundbogen und sah sich vorsichtig spähend um. Seiner Kleidung nach schien er nicht mehr als ein Knecht zu sein, aber ein großes Bund Schlüssel, das ihm am Ledergurt hing, und ein weinseliges Gesicht mit einem gewissen launigen Blick deuteten an, daß seine gewöhnliche Beschäftigung nicht unter freiem Himmel, sondern in jenen unterirdischen Gewölben zu suchen war, mit denen es der böse Feind verstanden hat, selbst die Klöster zu unterwühlen, um in lockendster Gestalt auf fromme Opfer zu lauern – woher es denn auch kommen mag, daß selbst der Tugendhafteste nur in seltenen Fällen aus solchen Räumen ohne Gewissenspein und schweres Kopfleid an die freie Luft zu treten vermag.
In die Tugend Bastian’s, des Kellerknechtes vom Kloster – denn das war er –, würde man freilich gerechtes Mißtrauen haben setzen können, auch wenn er sich nicht selbst eben darüber ausgesprochen hätte.
„Die Vesperglocke, und noch Niemand da,“ sagte er. „Um so besser! Da kann ich mich erst zauberfest machen. Habe mir mit der Wünschelruthe hier das rechte Kräutlein dazu gehoben.“ Dabei fuhr seine Hand vom Schlüsselbunde unter den faltigen Rock und zog ein gefülltes Fläschlein hervor. Er hielt es mit Wohlgefallen gegen die Sonne. „Malvasier nennen es die frommen Frauen,“ lachte er still vor sich hin. „Es glänzt wie Gold und wächst in Griechenland – ich weiß es für gewiß, wenn auch Ihre Gnaden, die Frau Aebtissin, sagt, es komme aus [674] dem gelobten Lande. ... Um so besser! Dann muß es Wunder thun.“ ... Er that einen langen, langen Zug. „Weibermäßig süß, aber hält Leib und Seele zusammen! So! ... Nun mag der Spuk losgehen! Hier soll ich den Fiedler erwarten beim Zorne des 'Hugh'. Hu ... das ist der Waldteufel. Wer ihm nicht gehorcht, dem dreht er den Hals um.“
„Holla!“ rief es, als er die Flasche wieder einsteckte, leise hinter denn Portal hervor.
Trotz des Zaubertrankes wäre er vor Schrecken fast niedergesunken. „Das ist der Hugh,“ murmelte er zitternd.
„Parole!“ rief es leise zum zweiten Male – die französische Sprache mischte sich mit der flämisch-deutschen schon stark auch im gemeinen Volk.
„Teuerdank!“ antwortete Bastian, allen seinen Muth zusammennehmend.
„Gut!“ flüsterte es, und eine graue Gestalt trat plötzlich hinter der Ruine aus dem Gebüsch.
Bastian sprang, sie anstarrend, einen Schritt zurück. Sie folgte ihm in den Hofraum und trat dicht vor den Entsetzten, ihn mit großen Augen messend.
„Beim heiligen Sebastian, seh' ich recht?“ rief er plötzlich.
„Pst!“ mahnte der Graue.
„Das ist ja,“ lachte er leise, „Jan der Fiedler, der lustige Fiedler aus Geldern. ... Aber ... aber seid Ihr alt geworden in acht Tagen!“
„Kummer und Sorge, Bast!“ seufzte der Graue, seine Nasenflügel bewegend. „Oder auch nicht!“ Und den falschen grauen Bart ein wenig lüpfend, lachte er leise: „Kennst Du mich jetzt besser?“
„Mein Seel', das ist der echte Jan, mit dem Bart, wie ein burgundischer Junker. Wenn nur der ... der Berg auf der Nase nicht wäre!“
„Ein böser Schlag, Bast! ... Oder auch nicht!“ ... Und mit einer einzigen Handbewegung hob er vor dem Erstaunten auch dieses Hinderniß.
„Gottes Wunder! Aber was soll das? Was habt Ihr vor?“
„Vorerst melde schnell: Wie steht es in der Abtei?“
„Ihre Gnaden und unser gnädiges Fräulein beten drinnen, die Cleveschen draußen.“
„Die beten auch?“
„Zu ihrem Gott!“ bestätigte Bast, die hohle Hand an die Lippen haltend.
„Wer führt sie?“
„Der Prinz von Cleve.“
„Jetzt paß auf, Bast!“ nahm der Graue ernsthaft das Wort. „Wir sind hier halbwegs nach Gent. Der 'Hugh' – hörst Du? – der 'Hugh' hat mir zu wissen gethan, daß die Herzogin mit der Aebtissin zu Fuß hierher kommen wird, und daß sie später dort“ – er deutete westlich auf den Verbindungsweg – „aufsitzet und mit den Cleveschen heimreitet. Ich aber muß vor ihr nach Gent. Ist der Weg besetzt?“
Bast stieß mit dem Zeigefinger nach rechts oben und links unten aus. „Stechpalmen die ganze Straße entlang. Spitzen oben und Spitzen unten!“ flüsterte er.
„Clevesche?“
„Freilich. Und tausend Berittene sind heute auf der Straße nach Brüssel.“
„Gut! Recht weit weg!“ lachte Jan leise vor sich hin. „Auf die Fährte habe ich sie gesetzt.“
Plötzlich lauschte Bastian auf. „Hört, da rasseln die Stechpalmen wieder.“
„Die müssen fort,“ sagte Jan. „Haben wir auch hübsche Jungens mit schönen grünen Zweigen, wie ich, um uns her, so muß doch diese Ruine hier eine Weile ungestört bleiben, und ich selbst will nun einmal nach Gent.“
Bastian schüttelte den Kopf. „Sie lassen Keinen passiren, bis sie den Rechten haben. Und Bart und Nase nutzen Euch nichts. Sie trauen keiner Verkleidung. Haben sie doch um Mittag erst ein altes Weib durchsucht, ob kein Prinz drinn stecke. Die Alte hat mir's selbst geklagt.“
„Nicht so dumm!“ lachte Jan. „Steckt manchmal in einem Prinzen ein altes Weib – warum nicht auch einmal umgekehrt? Aber hinter's Licht geführt werden sie doch. Sind Ausländer, die Clever! Nun höre, Bast, was der Hugh ... verstehst Du? ...“ – und er ließ seine Augen rollen, aber die Nasenflügel zuckten – „was der Hugh Dir durch mich befehlen läßt!“
Bastian schauerte. Jan sprach feierlich:
„Ein fremder Ritter, ein Gesandter von einem großen König, dem Weißkönig, darf hier nicht überrascht werden. Würde sonst groß Spectakel in der Welt geben. Verstehst?“
Bastian nickte mit dummen Augen.
„Bist zu großen Dingen ausersehen. Sollst Welthistorie machen helfen.“
„Welthistorie? Danke für mein Part! Dabei geht's dem Kleinen an den Kragen.“
„Aber wenn's glückt, sollst im Genter Schlosse Kellermeister werden, verspricht der Hugh.“
„Kellermeister? Ah, das nennt Ihr Welthistorie? Ist ein Anderes. Ich bin dabei. Was muß ich thun?“
„Hingehen und Dich greifen lassen, ob sie in Dir auch vielleicht einen Prinzen suchen. Und wenn sie dumm genug dazu sind ...“
„Ja sagen?“ fiel Bast mit entschlossener Miene ein.
„Nein, Bast. Niemals gelogen. Merke Dir das ein für alle Mal! Erstlich ist's eine Sünde, und zweitens hilft es doch nichts. Nein, Du giebst Dir nur so eine gewisse Haltung und sagst nicht Nein ... Glauben“ – Jan's Nasenflügel zuckten – „thun sie Dir's doch nicht. Aber sie geben Dir sicher so einen artigen Rippenstoß oder dergleichen. Dann thust Du jämmerlich, schlotterst ein Weniges mit den Knieen, zum Beispiel so“ – er zeigte es; Bast machte es nach – „und bittest um Gotteswillen, sie möchten Dich nur laufen lassen. Du wüßtest auch etwas. Das gehen sie ein und dann sagst Du leise: es folge Dir Einer, der sich für Jan den Fiedler ausgebe und doch hier und hier“ – er faßte an Nase und Bart – „ganz anders aussehe. Das ist genug gesagt und wiederum nicht gelogen. Hernach komme ich an die Reihe, und wenn sie weit genug mit mir fort sein werden, rufst Du dort unter dem Thurm leise 'Teuerdank!' Der Ritter mit zwei Begleitern wird erscheinen. Dem sagst Du einen Gruß vom Fiedler, und hier solle er den 'Hugh' erwarten.“
Bastian nickte mechanisch, aber ihm grauste.
„So! Nun stelle Dich auf den Fußweg und klirre mit Deinen Pfropfenziehern da, als drohte Dir die Hölle mit allen den Flaschen, die Du schon sündhafter Weise getrunken hast!“
Leise vor sich hinlachend, verschwand er.
Bastian blieb einen Augenblick nachdenklich stehen.
„Sündhafte Weine?“ fragte er sich. „Das sind Frauenweine. Hab's ja immer gewußt, ich bin für bessere geboren. Im herzoglichen Keller, da liegen sie. Ich klirre.“
Er trat auf den Fußpfad und klirrte.“
„Halt! Werda?“ erklang es sofort vom Verbindungswege her, und mit gedämpfter Stimme rief es nach rechts und links. „Herbei, herbei! Waffengeklirr!“
Auf zwei Seiten brach man durch die Büsche, daß sie rauschten. Dann wurde es stiller, als ob man sich genöthigt sehe, in dem dichten Unterholze zu schleichen. Amseln flogen mit ängstlichem Glucktone auf.
„Solch ein schwarzer Vogel ist immer eine böse Vorbedeutung,“ murmelte Bast, zusammenfahrend. Da flog ein noch größeres Wesen aus dem feuchten Grunde empor, arbeitete sich flügelklatschend durch das Gezweige und schoß, den langen Schnabel vorgestreckt, in unregelmäßigem Fluge wie aus gewundenem Rohre geblasen, schattenhaft über die Ruine hin. Mit Bastian's Muth war es zu Ende. Die böse Vorbedeutung, die Aufregung, das geisterhafte Flügelthier, die sündhaften Flaschen – es fiel ihm auf die Glieder, und als jetzt auf zwei Seiten zugleich die Büsche auseinander gerissen wurden und die Cleveschen „bunten Krähen“ auf ihn einstürmten, sank er vor Schrecken in die Kniee.
„Nur Einer!“ rief dumm verwundert der Vorderste einem Andern zu, der ein spöttisches Wesen zur Schau trug.
„Und das nennst Du Waffengeklirr?“ höhnte dieser, auf Bastian's Schlüsselbund weisend.
Die Andern lachten. Bast richtete sich auf; das Lachen gab ihm seine Fassung wieder.
„Wer bist Du?“ schrie man auf ihn ein.
Er suchte sich eine Haltung zu geben.
„Seht mich an!“
[675] Gelächter war die Antwort.
„Könnte doch ein Prinz sein,“ meinte der Erste.
„Das ein Prinz?“ sagte verächtlich der Spöttische. „Bin viel in der Welt herumgekommen und habe schon manchen Prinzen gesehen – die sahen aber anders aus.“
„Wer kann’s wissen?“ entgegnete der Erste mit der Zähigkeit des Dummen. „Der Hauptmann sagte: Vorsicht! Und Jeden scharf in’s Auge gefaßt! Adlernase, kühne Augen, fürstliche Haltung.“
„Richtig!“ bestätigte der Spöttische, auf Bastian deutend. „Stimmt genau.“
Die Andern lachten; der Erste schämte sich und ließ es Bast durch einen derben Stoß entgelten.
„Du Esel, warum klirrtest Du denn?“
„Gnade, Ihr Herren!“ jammerte dieser, mit den Knieen schlotternd. „Ihr seht es ja, ich bin der Kellerknecht vom Kloster. Lasset ab von mir! Das Geklirre galt einem Andern.“
„Einem Andern? Welchem Andern? Sprich!“
„Wenn Ihr mich um Gotteswillen laufen lassen wollt.“
„Nun ja doch! Sprich!“
„Pst! Es folgt mir Einer. ... Bald muß er hier sein. ... Einer, der sich für Jan den Fiedler ausgiebt. Aber der Jan sieht anders aus, ganz anders. Alles falsch hier, Nase falsch, Bart falsch!“ ...
„Aha!“ riefen, bedeutungsvolle Blicke tauschend, die Andern. „Gut! Lock’ ihn uns und dann lauf’!“
Alle verbargen sich. Bast klirrte und verschwand in den Büschen. Hinter der Ruine trat der Graue hervor. Seine Gestalt mit einem Anstriche von Vornehmheit in die Höhe reckend, schritt er aus dem Hofraume heraus, hakte die Fiedel ab, entlockte einer Saite mit dem Finger einen Ton, horchte, sie wieder einhakend, auf und rief leise, wie im Zorne:
„Bast, wo bist Du? Ist Alles sicher?“
„Halt, ergebt Euch!“ war die Antwort, und im Nu hatten ihn die Cleveschen umringt.
„Holla, was ist das?“ rief der Fiedler, stolz an die linke Hüfte greifend.
„Ihr verrathet Euch, Herr!“ höhnte der Spötter.
„Was wollet Ihr Leute von Jan dem Fiedler?“
„Zuvörderst ihm den Bart abnehmen,“ erwiderte Jener und riß ihm den Bart herunter.
„Ah!“ staunten Alle.
„Und dann ihm die Nase putzen!“ ... Auch der Höcker flog davon.
„Das ist der Prinz,“ riefen jubelnd Alle. „So sieht ein Prinz aus,“ bestätigte der Spötter.
„Laßt erst einmal sehen!“ meinte prüfend der Dumme, der seine Ehre wieder herstellen wollte. „Kühnes Auge? Paßt. Fürstliche Haltung? Paßt. Adlernase ...?“ Er blickte zweifelnd die Andern an. Die Andern schienen ungläubig. Die Gefahr für des Fiedlers Plan lag nahe. Aber auch hier wußte sich dieser zu helfen.
„Adlernase!“ rief er verächtlich. „Habt Ihr je eine Nase an einem Adler gesehen?“
„Das ist der Schnabel,“ rief der Dumme.
„Und was ist das, wenn ich Dir sage: Halt den Schnabel?“ fragte der Fiedler.
„Das ist der Mund.“
Gelächter war die Antwort.
„Folglich ist der Schnabel ein Mund und nicht eine Nase, und es giebt keine Adlernase – das sagt Eurem Hauptmann!“
„Ei was Nase, Schnabel oder Mund! Ihr habt Mummerei getrieben. Ihr seid als Prinz verdächtig und unser Gefangener,“ rief der Spöttische, und die Andern stimmten bei.
„Gut denn! Wenn ich ein Prinz sein soll, so führt mich nach Gent! Denn ein Prinz kann sein Schwert nur einem anderen Prinzen übergeben.“
Mit diesen stolzen Worten griff Jan, wie aus Gewohnheit, wieder an die Hüfte und zog den Fiedelbogen.
Unmäßiges Gelächter folgte.
„Den Fiedelbogen! Er verräth sich wieder. Es ist der Prinz. Wir haben ihn. Herrlicher Fang, große Belohnung! Zum Herzog mit ihm nach Gent! Nach Gent, nach Gent!“ rief es und lachte es und jubelte es durch einander, und Jan der Fiedler wurde auf dem Fußpfade westwärts geführt.
So lange noch die Schritte der Davoneilenden zu hören waren, blieb vor der Ruine Alles stumm. Als aber die letzten Laute verhallten, lugte der Kopf Bastian’s hinter dem Portale hervor. Nachdem er sich versichert hatte, daß die Luft rein sei, drehte er sich rückwärts und rief leise:
„Teuerdank!“
Man hörte ganz nahe hinter der Ruine Geräusch in den Büschen. Unter schweren Tritten brach trockenes Gezweige am Boden. Die Büsche theilten sich. Eine jugendlich klangvolle, nur mäßig gedämpfte Stimme rief, abwärts gewandt: „Die Pferde lasset zurück!“
Bast zog sich mit tiefer Verbeugung in den Hofraum. Der alte Ritter, der Junker und Maximilian traten durch das Portal.
Wahrlich, das Wagniß des Fiedlers, für diesen gelten zu wollen, war nur da möglich, wo man ihn niemals gesehen. Denn wie er jetzt, in einfacher Waidmannstracht, statt im Purpur des Kaisersohnes, und unter der Tannenkrone der verwilderten Ruine, statt unter dem Thronbaldachin, dastand, zweifelte selbst Bastian, der doch die Abstufungen der Menschen nur nach ihrer Weinzunge zu bemessen gewohnt war, keinen Augenblick, an wen er das Wort zu richten habe.
„Einen Gruß vom Fiedler, und Ihr sollet hier den – den 'Hugh' erwarten, Herr,“ brachte er stammelnd hervor.
„Den 'Hugh'? Ich weiß von keinem 'Hugh'. Aber wo ist der Fiedler? Ich hörte Lärmen,“ fragte Maximilian, mit den Augen suchend.
„Der ist ein Prinz geworden, Herr Ritter, und hat sich fangen lassen,“ erwiderte schlau lächelnd Bast. „Jetzt führen sie ihn nach Gent.“
„Welche neue Kriegslist, Ehrenhold?“ wandte sich Maximilian an den Alten. „Wußtet Ihr darum?“
„Gerade so viel, als um das, was nun geschehen soll,“ brummte der Ritter. „Nur das weiß ich, daß wir jetzt führerlos sind. Hab’s ja immer gesagt: Fremder Schutz, schlechter Schutz.“
„Und wer ist der 'Hugh', den ich erwarten soll?“ fragte Max, wie Jemand, der das Peinliche der Lage empfindet und es doch nicht eingestehen möchte.
„Pst, Herr Ritter! Leise – leise!“ flüsterte Bastian. „Das ist ein mächtiger Waldgeist, der allen Franzosen den Hals umdreht.“
„Ah!“ rief Max in höchster Freude. „Ist es der? Ich wußte es ja. Dann sind wir in den besten Händen. Du aber, Freund, sag’ an, wer bist Du?“
„Nur der Kellerknecht vom Kloster, Eure Gnaden. Nicht der Rede werth! Wenn ich aber Welthistorie machen helfe, sagt der Fiedler, dann will 'Er' – Ihr wißt ja – mich zum herzoglichen Kellermeister machen.“
„Dann denke, Du wärest es schon!“ lachte der Junker.
„Nicht vorlaut, Fürwittig!“ strafte Maximilian, aber er mußte selbst lächeln. „Spaßhafter Kauz!“ sagte er, „gut denn, kannst sogleich Dein neues Amt beginnen. In dieser Ruine sollen wir rasten. Der Ritt durch die Wälder, der erste fast am hellen Tage, hat uns Durst gemacht. Geh’, Kellermeister, und bringe uns Wein vom Packthier!“
Bastian verschwand hinter der Ruine. Maximilian suchte mit den Augen nach einem bequemen Platze, sich niederzulassen. Diensteifrig breitete ihm der Junker den Reitermantel über eine Stelle, wo ein epheuumranktes Mauerstück eine Stütze für den Kopf bot. Jener streckte sich der Länge nach nieder, legte die Hände unter den Kopf, daß ihm das Goldhaar über die Schultern quoll, und richtete das blaue Auge zum Himmel, daß er sich darin wiederzuspiegeln schien.
„Räthsel rings umher!“ sagte er träumerisch. „Aber der Himmel über mir mit seinem ewigen Geheimniß, und der Himmel in mir mit seinem süßen, sie rufen mir zu: Vertraue auf Gott und sie, Teuerdank!“
Dann, wie wenn ihn der Name wieder auf die Erde zurückzöge, wendete er sich lächelnd den beiden Anderen zu, die ihm gegenüber Platz genommen hatten.
„Beim heiligen Maximilian, der meinem Vater im Traume erschienen, ehe denn man mich taufte – besser als mein Taufname taugt für mich der Name, den ich mir selbst gegeben. [676] Und auch Ihr, Ehrenhold und Fürwittig, möget die Eurigen nun behalten für alle Zeiten! ... Wisset, 'Teuerdank' nannte ich mich schon als Knabe, wenn ich im Garten der Hofburg mit meinem jungen Freunde Abenteuer träumte und Märchen und Ritterspiele erfand. Hugo von Geldern war's – dient jetzt in Welschland nach dem Falle seines Hauses. Dann gaben wir uns Heldennamen und vollführten Fahrten und Fahrnisse aller Art. Wie hätte ich ahnen können, daß die Spiele der Kinderzeit mich im Ernste schon so früh in's Leben begleiten würden. ... Wahrlich, ist das eine Fahrt! Zieht ein Königssohn hinaus mit zwei Getreuen, um die Krone der Jungfrauen zu gewinnen. Aber mir ist fröhlich zu Muthe. Meine Ehrenreich soll ich wieder sehen. Schon athme ich ihre Luft. Der eine Gedanke macht nach glücklich und läßt mich jedem Unfall trotzen.“
„Aber die Klugheit rechnet mit ihm, Herr, und was nützet Euch die Luft, die Ihr athmet? Euer Königskind ist in aufrührerischer Stadt und in fremder Gewalt.“
„Ich kann es noch nicht glauben, Ehrenhold. Wie hätte sie mir dann eine solche Bedeckung, ein halbes Tausend Mann entgegensenden können?“
„Wundersames Geleite das!“ brummte der Alte. „Habt Ihr, außer den fünfzig Reitern um uns, die anderen je bei Tage gesehen, Herr? Warum scheuen sie das Licht? Vergebens habe ich in der Dämmerung nach ihnen ausgespähet. Huschte aber ja einmal einer unvermerkt über den Waldweg, so sah er einem von der wilden Jagd ähnlicher, als einem ehrlichen Reitersmann. Und ihre Hauptleute, die sich Euch an der Grenze Namens der Herzogin vorstellten, glichen sie in ihren langen Bärten unter den Filzkappen mit grünem Gezweig nicht unheimlichem Waldgezücht eher, als christlichen Kriegsleuten?“
„Alle guten Geister ...“ spottete der gereizte Junker.
„Und beantworteten sie nicht jede Frage mit stummem Achselzucken oder mit Nichtwissen?“ fuhr Jener, ohne den Pagen einer Antwort zu würdigen, fort.
„Sie sind von der holländischen Grenze, Ehrenhold!“ warf Maximilian ein. „Was sollen sie da wissen? Kaum daß wir ihr Deutsch verstanden. Aber sei es drum! Unser Führer durch die Wälder, der lustige Fiedler, war jedenfalls von Fleisch und Blut und hat uns auf der Fahrt weidlich ergötzt.“
„Um zu verschwinden, wo wir seiner am nöthigsten bedürfen. Wahrlich, Prinz, Ihr gehabt Euch, als lebten wir in tiefster Sicherheit, und doch wisset Ihr, daß wir verfolgt sind und jede Minute überrascht werden können. O, ich hörte wohl die besorgten Meldungen von der Nachhut an den Hauptmann. Leichte Reiter, die rückwärts gestreift waren, brachten sie. Es war von dem Rothbärtigen die Rede und von dem buckligen Bäuerlein, das uns bei Eupen überraschte. Die Spürhunde haben trotz des Fiedlers Künsten unsere Fährte gefunden und müssen von Lüttich aus versucht haben, uns auf kürzerem Wege den Vorsprung abzugewinnen.“
„Haben ihn aber nicht gewonnen, Alter. Unsere Südschwenkung in letzter Nacht hat sie getäuscht. Ihr Haufe folgt der Brüsseler Straße nach, und Ihr seht es, wir sind durch die Wälder längs der Mechelner Straße vor ihnen hier. Noch meldeten die Streifwachen nichts Verdächtiges, und selbst von der Cleveschen Postenkette vor uns scheint uns des Fiedlers List befreit zu haben.“
„Desto mehr thäte Eile Noth, statt müßigen Harrens.“
„Geduld, Ehrenhold! Glaubet mir, hier waltet eine mächtigere Hand. Längst ahne ich sie, ohne sie zu erkennen, aber Eines weiß ich: der Spielmann ist ihr Werkzeug, und was er thut, geschieht zu unserem Besten. Lasset uns darum treulich befolgen, was er uns geheißen, und uns einstweilen stärken für die entscheidende Stunde. – He, Kellermeister, kommt Ihr endlich?“ rief er dann Bastian entgegen, der mit gefülltem Trinkhorn nahte, nahm ihm den Becher ab und ließ ihn die Runde machen.
„Da ist gut Kellermeister sein,“ nickte Bastian still für sich. „Diese Fremden trinken noch, wenn es rings von Schwertern blitzt. Aus welchem Lande die wohl sein mögen?“
Plötzlich aber horchte er auf.
„Man kommt. Schnell hinter die Ruine, Ihr Herren!“ Und er entriß dem Pagen das Trinkhorn und entschlüpfte durch das Portal. Die Anderen folgten.
Auf dem breiten Fußpfade vom Kloster her nahten der Prinz von Cleve und Hugo von Huy in eifrigem Gespräche. Hugo, der unter dem lang nach rückwärts fallenden Reitermantel ein silbernes Horn am Gürtel und am Barrett einen grünen Zweig trug, blieb etwa zwanzig Schritte vom Hofraum stehen und sprach mit auffallend lauter Stimme.
„Ich sage Euch, Prinz,“ gab er diesem eben zur Antwort, „Euer friesischer Hengst hätte mich überholt, aber der umgestürzte Baumstamm am Waldstreifen war für ihn zu hoch. Meine Stute ist leichter; sie nahm ihn noch.“
„Nein, nein, Huy,“ entgegnete heftig der Prinz. „Eure Stute hat gesiegt – abgemacht: aber ich sage Euch, mein Hengst setzt spielend über das Hinderniß; er scheute nur und wich seitwärts aus, weil in demselben Augenblick ein Mann, der darunter verborgen lag, aufsprang und wie der Blitz im Walde verschwand.“
„Ein Mann?“
„Mit einem grünen Zweige am Hute, wie Ihr da. Er kam mir fast verdächtig vor.“
„Wird wohl ein Waldhüter gewesen sein, der im Schatten geschlafen haben mochte.“
„Mag sein.“
„Aber der Stamm liegt doch zu hoch für ein so schweres Thier, mit Eurem Gewichte dazu. Ah, fünf Fuß, es ist nicht möglich. Ich möchte meine Stute gegen Euren Hengst wetten.“
„Ihr wolltet?“ rief mit großen Augen der Prinz. „Wenn ich nur die Herzogin einen Augenblick verlassen dürfte, Ihr solltet Eure Stute die längste Zeit geritten haben.“
„Sind ja keine fünfhundert Schritte von hier zur Fohlenwiese,“ warf Hugo leicht hin. „Und die Herzogin?“ Er drehte sich rückwärts und hob sich auf den Fußspitzen, um durch eine lichte Stelle des Unterholzes zu sehen. „Dort hinter der Krümmung des Weges folgt sie im Gespräche mit der Aebtissin; fragt sie nur um Erlaubniß, Prinz! Nach fünf Minuten ist die Wette entschieden und Euer Hengst mein.“
Wieder blickte er, wie ungeduldig, rückwärts.
„Sehet, dort sitzen Eure Leute eben in der Lichtung ab. Ah, Fräulein von Helwin! ... So allein?“
Adelheid, durch die Krümmung des Weges bis dahin verdeckt, stand plötzlich vor ihnen. –
[694] Es war wunderbar, daß man das Fräulein nicht schon früher bemerkt, da ihre Gestalt jetzt eine so auffallende Verlängerung angenommen hatte, daß sie selbst das ansehnlich hohe Gebüsch noch überragte. Die burgundische Mode war zu jener Zeit in ihrem Bestreben durch äußersten Prunk zu glänzen und insonderheit der Schaustellung von Gold und Edelsteinen an der eigenen Person den denkbar größesten Raum einzuräumen, auf den Einfall gekommen, ein zuckerhutförmiges Monstrum zu erfinden, das als Kopfputz à la hénin bald die Höfe Europas eroberte. Ein solches kegelförmiges, zwei Kopflängen übersteigendes Thurmdach von violettgemustertem Goldstoff ragte über der Sylphidengestalt Adelheid's, das Haar an Stirn und Schläfen freilassend, schräg nach rückwärts und ließ bis zur Erde einen seiner ganzen Breite nach an ihm befestigten, spitzenbesetzten Schleier niederwallen, welcher, wenn er aufgerafft, wie jetzt, über den Arm geschlagen wurde, bei leisem Gegenwinde einem rückwärts geblähten, durchsichtigen Segel nicht unähnlich war – die Libelle hatte Flügel bekommen. Und dennoch, so sehr es wider die Natur zu sündigen schien, den zur Krönung des Menschen bestimmten Kopf also herabzusetzen: für schlanke Gestalten war es, im Verein mit den schmalen, lang nach vorn geschnäbelten Schuhen, eine höchst kleidsame Tracht. Und die Trägerin wußte dies wahrscheinlich selbst am besten, denn ein leichtes Schmollen umspielte ihre Züge, als sie jetzt auf Hugo's Frage, die Augen wie gelangweilt nach oben gerichtet und mit der Reitgerte vor sich hinwedelnd, antwortete:
„So allein, sagt Ihr? Wenn freilich die Herren Wichtigeres zu verhandeln haben, als eine verlassene Waldläuferin zu beschützen ...!“
„Waldfee!“ verbesserte Hugo lachend. „Euer Anblick gemahnt daran in dieser Umgebung. Und ich hörte wohl, Fräulein, daß die Feen die Sterblichen, aber niemals, daß Sterbliche die Feen zu beschützen hätten.“
„Ich aber glaubte Euch bei der Herzogin,“ entschuldigte sich der Prinz, als sie eben den Hofraum betraten.
„Die Aebtissin geht gar so langsam, Prinz. Der Weg hat sie ermüdet, und sie will hier ein wenig ausruhen, ehe sie zum Kloster zurückkehrt und wir nach Gent heimreiten.“
„Nach Gent!“ wiederholte seufzend der Prinz.
„Ihr seufzet? Es geht ja zur 'großen Action', wie Ihr es nennt, Prinz.“
„Ach, Fräulein, ich ritte lieber mit Euch durch Wald und Haide, als nach Gent.“
„Ich glaub's,“ murmelte Hugo.
„Wenn Euch das ein Vergnügen ist, Prinz,“ lachte Adelheid, scheinbar gar nicht unangenehm berührt von der naiven Aeußerung in Gegenwart Hugo's, „so möget Ihr es noch oft haben, wenn Ihr erst – unser gnädiger Herr und Gebietet seid.“
Ihr Blick streifte Hugo. Hugo biß sich auf die Lippen.
„Ja, recht oft, Fräulein,“ wiederholte eifrig der Prinz. „Dann reiten wir zusammen auf die Reiherbaize.“
Adelheid mußte den Blick senken – ein solcher Blitz traf sie aus Hugo's Auge. Sie fühlte, daß sie zu weit gegangen sei. Strafe mußte sein.
„Fürchtet Ihr nichts dabei, Prinz?“ fragte Hugo, sarkastisch lächelnd.
„Ich – fürchten – was?“
„So käme Euch nicht der Gedanke, die Herzogin könnte – eifersüchtig auf ihr Hoffräulein werden?“
„Alle Bomben – auch das noch!“ rief der Prinz mit Entsetzen.
„Ich dächte, sie hätte Grund genug dazu.“
„Aber nicht in Bezug auf den Prinzen,“ stach jetzt Adelheid um so gereizter auf Hugo ein, als sie sich getroffen fühlte.
Hugo erschrak. Er bereute offenbar, sie herausgefordert zu haben, und fürchtete weitere Erklärungen, denn mit einem ängstlich bedeutungsvollen Blick auf das Portal flüsterte er ihr ein „Still doch!“ zu, ehe er mit auffallend erhobener Stimme fortfuhr:
„Ei, wenn sie keinen Grund hat, wegen des Prinzen eifersüchtig auf Euch zu sein, Fräulein, so müßtet Ihr nothwendig von Jemand Anderem geliebt werden, der ihr Herz besitzt – ich kenne aber nur einen Solchen.“
„Ich auch,“ fiel ihm die Unverbesserliche in's Wort.
„Ihren früheren Verlobten, den Erzherzog Maximilian,“ fuhr Hugo hastig fort. „Und es wäre wirklich erstaunlich, Fräulein, wenn er Euch lieben sollte, ohne Euch noch gesehen zu haben.“
Niemand konnte ein verblüffteres Gesicht machen als der Prinz.
„Wa – was, Fräulein?“ stotterte er. „Liebt ihn Maria wirklich?“
Hugo war in peinlichster Angst. Er wußte, hinter dem Portale mußte Maximilian jedes Wort des Gespräches hören. Wie schrecklich, auf so unglückselige Weise, aus so gänzlich irrigem Grunde die gefährlichste aller Leidenschaften in ihm zu wecken! Alles konnte verdorben werden, das Schicksal der Herzogin, des Landes, ja mehr konnte auf dem Spiele stehen. Aber so unruhige Blicke er auf das Portal warf, so energische Zeichen er Adelheid machte, die Frage des Prinzen zu bejahen: sah sie ihn verwundert an, als verstehe sie ihn nicht, und weidete sich an seiner Qual.
„Vielleicht,“ erwiderte sie dem Prinzen nach kurzem Sinnen zögernd, „vielleicht hat sie ihn einmal geliebt, aber“ – Hugo vermochte sich kaum noch zu halten – „wie das auf den Thronen öfters vorkommen soll –“
„Aha!“ unterbrach sie lachend der schnell wieder beruhigte Prinz.
„Es kostet Euch den Kopf,“ raunte Hugo ihr zu.
„Wer's noch glaubte!“ gab sie ihm mit spöttischer Handbewegung zurück.
„Also, wie das auf den Thronen öfters vorkommen soll –?“ nahm der Prinz eifrig den Faden wieder auf.
„So wird auch ihr Herz noch immer Platz haben für –“ fuhr Adelheid unschlüssig fort.
Vergebens wehrte ihr Hugo.
„Für –?“ drang der Prinz in sie.
„Einen Anderen!“ stieß sie diplomatisch als einzige Concession heraus, die ihre Bosheit zuließ.
Hugo athmete auf. Noch war nicht Alles verloren, denn wenn auch das ihm wohlbekannte leicht entflammbare Temperament des unsichtbaren Zuhörers schon Feuer gefangen haben mußte, noch gab es einen Ausweg, noch war der nur mit halber Schärfe geführte Streich zu pariren, und rasch ersah er sich diesen Vortheil.
„Prinz,“ warf er harmlos scherzend hin, „das Fräulein beurtheilt die Herzogin nach sich, und nachdem Ihr Eurer künftigen Gemahlin heute zum ersten Male so schmeichelhafte Dinge gesagt habt, meint das Fräulein, daß auch Ihr wohl einen Platz in ihrem Herzen gewonnen haben könntet.“
Ein leises Rauschen wie von schleifenden Frauenkleidern kam ihm zu Hülfe. Hinter der Krümmung des Fußpfades trat die Herzogin mit ihrer Base hervor. „Gott sei Dank!“ sagte er sich, als Adelheid und der Prinz sich nach ihnen umwendeten.
„Nun denkt an unsere Wette, Prinz!“ mahnte er diesen.
Der Prinz, der Hugo's ihm so schmeichelhafte Erklärung mit offenem Munde und einem Ausdrucke der wasserblauen Augen zugehört hatte, als ob er im Zweifel sei, ob er Ernst oder Scherz höre, schien sich für erstere Auffassung entschieden zu haben, denn er nickte freudig und schritt mit zuversichtlicher Miene der Herzogin entgegen.
Der Ritter war auf einige Augenblicke mit Adelheid allein.
„Ihr ahnet nicht, was Ihr angestiftet haben könnt,“ flüsterte er ihr vorwurfsvoll zu. „Und ich machte Euch doch so verständliche Zeichen, daß wir nicht allein sind und Zuhörer haben. Ich glaubte, wir wären Freunde und Bundesgenossen seit dem Billete von heute Mittag.“
„Freunde?“ flüsterte sie, erstaunt seinem Blicke auf das [695] Portal folgend, zurück. „Mag sein! Aber Bundesgenossen? Ich habe es längst bereut. Ihr leugnet, selbst Teuerdank zu sein – aber dieses unverständliche Billet, Eure Unruhe, dieser ganze sonderbare Ausritt ... o, Ihr täuschet mich nicht ... die Vermählung mit dem Prinzen wird Euer Verhältniß zu Maria nur begünstigen. Ihr werdet künftig herrschen, und hier soll ungestörte Abrede darüber gehalten werden. Dieser Ausritt gilt nur einem maskirten ... Stelldichein.“
„O Gott, ist es möglich? Vertrauen!“ flehte Hugo.
„Wer möchte Euch noch vertrauen, hinter dem ewigen Visir? Wozu auch sonst dies Alles? Und dann ... Ihr habt mich gereizt, Ritter. Der Prinz ist so gut von Herzen und hängt wahrhaft an mir.“
„Adelheid!“
Ein momentanes Aufleuchten zuckte bei dem vertraulichen Ausrufe in Adelheid's Auge, aber sie war gewitzigt und nicht gesonnen, sich wieder eine Blöße vor ihm zu geben.
„Der Arme!“ fuhr sie fort, als ob ihre Gedanken, so glühend sie dem Ritter zuflogen, nur mit dem Prinzen beschäftigt wären. „Ich fühle Mitleid mit ihm.“
„Adelheid!“ und noch inniger klang seine Stimme – „Mitleid ist nur ein erster Schritt zur –“
Sie konnte ihn nicht vollenden lassen; ihr Herz klopfte zu laut; sie hätte sich nicht mehr halten können. Gewaltsam raffte sie sich auf.
„Wer weiß!“ brach sie achselzuckend kurz ab, indem sie sich der Herzogin entgegenwandte. Aber ihr Schritt war wie der einer Fiebernden, und mit wunderbar glühendem Auge blickte sie noch einmal auf ihn zurück.
„Sie liebt Dich, aber Du hast ihr Vertrauen verloren. Wie könnte sie auch!“ murmelte Hugo vor sich hin.
Nicht viel anders schien es mit der Zuversicht des Prinzen bestellt. Trotz seines kühnen Anlaufs mußte er wohl auf halbem Wege stehen geblieben sein; denn erst jetzt, als er Adelheid's Schritte hinter sich vernahm, entschloß er sich, der im Gespräche mit ihrer Base stehenden Herzogin entgegenzutreten.
Maria hielt die linke Hand im Arme der Aebtissin, während ihre Rechte den langen schwarzen Schleier, der von ihrem goldgemusterten, aber mit einem Kranze von schwarzen Perlen geschmückten Hut à la hénin herniederwallte, zusammengerafft trug. Der reiche Kopfputz und die lange Hermelinschleppe würden ihr etwas Königliches gegeben haben, wenn sich nicht die wahre Natur ihres Wesens durch die beiden Händchen verrathen hätte, welche, die eine über dem Ellenbogen der Aebtissin, die andere vorn den Schleier haltend, dicht nebeneinander lagen. Schmal und zierlich gebaut, wie Kinderhändchen, schauten sie neugierig aus dem der Sitte gemäß fast bis an die Finger reichenden farbigen Vorstoß der engen Aermel heraus. Und doch hatten sie ein Königreich zu vergeben, diese Händchen, und ein Herz zu verschenken, das selbst ein Königreich aufwog. ... Aber freilich, daß kein Prinz von Cleve der Glückliche sein konnte – das war eine Wahrheit, die Niemandem lebhafter vor Augen trat, als dem armen Prinzen selber, als er sie so in ihrer Herrlichkeit vor sich stehen sah. Des Ritters Worte mußten doch Scherz gewesen sein. Wie wäre es möglich, daß er in diesem Herzen einen Platz gewonnen? So sagte ihm seine einfach-ehrliche Selbsterkenntnis; und unwillkürlich mußte er wieder ihres früheren Verlobten gedenken, und der Nimbus von Kaisers Majestät umstrahlte sie wieder mit unnahbarem Glorienscheine.
Aber Adelheid erschien neben ihm – er mußte sprechen.
„Wünschet Ihr,“ stotterte er, auf Maria zutretend, „oder vielmehr befehlet Ihr, gnädige Muhme, in jener Ruine etwas zu verweilen?“
„Meine Base wünscht ein wenig zu rasten, ehe sie zurückkehrt,“ antwortete Maria.
„Es ... gilt ... eine Wette mit Huy, die im Augenblicke entschieden sein könnte, aber ... mein Herr Vater ... Ihr wisset ... Würde ich Euer Gnaden in einigen Minuten sicher hier wieder antreffen?“
„Verlasset Euch darauf!“ erwiderte Maria mit schmerzlichem Lächeln. „Ich bin Eure Gefangene – auf Ehrenwort.“
„Was sagt Ihr, gnädige Fürstin?“ stammelte der Aermste fast erschrocken. „Ihr seid meine erhabene Gebieterin. Das Andere ... geht meinen Herrn Vater an.“
Und froh, das peinliche Gespräch abbrechen zu können, verabschiedete er sich stumm, rief nach seinem Rappen, winkte Hugo herbei und entfernte sich mit ihm der Lichtung zu.
Maria aber führte ihre Base, während Adelheid auf und ab wandelte, noch die wenigen Schritte bis zum Hofraume der Ruine, suchte ihr dann sorgsam ein Plätzchen aus, ließ sie sich setzen und knieete auf dem Moose neben ihr nieder, die Hände in ihren Schooß legend.
„Wir sind allein,“ flüsterte sie. „Gott stehe mir bei!“
„Dir zu Liebe that ich, was ich nicht sollte,“ seufzte die Aebtissin.
„Ach, Base,“ erwiderte Maria, „ich bebe vor innerer Angst. Dieser räthselhafte Huy, der jeder Frage ausweicht und mich mit dem Zauberklange des einen Namens wie am Gängelbande bis in diese einsame Ruine gelockt hat – darf ich ihm vertrauen, wie ich so gern möchte? ... Was kann ich hier finden? Wen sucht meine Seele, als Einen – und ach, er ist fern.“
„Maria!“ erklang es unter dem Portale.
Jäh zusammenschreckend, wendete Maria den Kopf, sprang empor, trat einen Schritt vorwärts, breitete die Arme aus und stand einen Augenblick wie gebannt einer Bildsäule gleich.
„Ist es möglich? – Maximilian!“ entfloh es ihren bebenden Lippen.
Aber schon lag Maximilian zu ihren Füßen; schon preßte er ihre Hand an seine Lippen, nur daß er, aufblickend, den Finger erhob, als warne er vor jedem unvorsichtigen Ausrufe.
„Hier heiße ich Teuerdank,“ flüsterte er.
Nicht anders mochte einst vor den Augen des Bildners Galathea in rosiger Gluth zum Leben erwacht sein, als jetzt Maria.
„Teuerdank, mein Teuerdank!“ rief sie, ihn zu sich emporziehend und mit strahlender Liebe ihm in’s Auge blickend. „O, ich ahnte es; ich wußte es und wagte doch nicht, es für möglich zu halten – nur Du konntest es sein. Sei mir willkommen, edles deutsches Blut, das ich so sehr verlanget und nun bei mir sehe!“
Noch hatte es über Maximilian’s Stirn, trotz seines Entzückens, wie der Schatten eines bösen Gedankens gelegen. Nach diesem unverhohlenen Ausrufe ihres kindlichen Gemüthes aber flog der Schatten dahin.
„Meine wonnigliche Braut!“ rief er. „Nein, dies ist ungeheucheltes Entzücken. Hinweg mit jedem Argwohn! Mein Leben für Dich, Geliebte!“
Und sie lagen sich in den Armen.
„Allgütiger, Dein Werk!“ betete die fromme Frau.
„O Gott, was habe ich gethan!“ sagte sich Adelheid, die am Eingange des Hofraumes mit namenlosem Erstaunen Zeuge des Vorganges gewesen war.
„Aber was meintest Du, Geliebter?“ fragte Maria, sich der Umarmung entwindend, wie wenn auch sie erst einen bösen Schatten aufzuhellen hätte. „Du sprachest von Argwohn – Du meintest mein Zuvorkommen gegen den Dauphin ... O wenn Du wüßtest ...!“
„Beruhige Dich! Ich weiß es jetzt,“ lächelte Maximilian, einen seltsamen Blick zu Adelheid hinüberwerfend. „Und vielleicht auch eine Andere.“
Adelheid erröthete über und über. Maria aber ging so vollständig in ihrer eigenen Gedankenrichtung auf, daß sie weder auf sie, noch auf Maximilian’s Anspielung achtete.
„O wenn Du wüßtest, Geliebtester,“ wiederholte sie, „wie ich um Dich geweinet, wie viel ich um Dich gelitten! Was hat mir die Welt nicht Leides angethan seit dem Tode meines Vaters! Was ist nicht auf mich eingestürmt, auf mich armes, schwankes Rohr! Aber jetzt habe ich Dich; jetzt stütze ich mich auf Deinen starken Arm; jetzt jubelt mein Herz – Alles, Alles ist vergessen, und die ganze Welt könnte ich umarmen.“
Und sich zur Aebtissin wendend und ihr um den Hals fallend, jubelte sie auf: „Base, er ist da,“ und nach ihr Adelheid umarmend: „Adelheid, er ist da,“ und dann wieder zu Maximilian: „Mein Bräutigam, mein Retter, Du bist da.“
Und wieder lagen sich Beide in den Armen.
Eine Thräne der Rührung glänzte in den Augen der Aebtissin – es sei denn, daß es, trotz des Klosters, eine Thräne wehmüthiger Erinnerung gewesen wäre.
[696] Hoch auf aber athmete Adelheid. Ihr war ein Stein vom Herzen gefallen. „Sie liebt ihn und nur ihn,“ jubelte es in ihr. „Wer könnte noch zweifeln? Wie konnte ich so verblendet sein! O, über mich selbst möchte ich lachen.“ Und unbewußt lachte sie still vor sich hin.
Mit Verwunderung bemerkte es die Aebtissin.
„Du lachst, Kind?“ fragte sie, zu ihr tretend.
Verwirrt fuhr Adelheid empor, aber schnell gefaßt deutete sie auf Maria.
„Sehet doch selbst, ehrwürdige Frau,“ lächelte sie. „Ist das burgundische Hofetiquette? O, Huy hatte Recht – es giebt Granden der Zeit, die jeder Form spotten.“
„Maria liebt,“ seufzte entschuldigend die fromme Frau.
„Sie ist geliebt,“ seufzte das Hoffräulein.
Mit einem seltsam weltlichen Blicke sah ihr die Aebtissin in’s Auge; dann erhob sie schalkhaft drohend den Finger, und ein „Ei, ei, Fräulein!“ kam eben über ihre Lippen, als eine rasche Bewegung der Herzogin ihr Auge dorthin lenkte.
„Aber o Gott, mein Geliebter,“ rief Maria, sich scheu umblickend, wie wenn sie erst jetzt zur Wirklichkeit zurückkehre. „Du kommst doch nicht ohne starke Macht, ohne Heer?“
Maximilian lächelte.
„Siehe da, meine Theure,“ sagte er launig, auf den alten Ritter und den Pagen deutend, die, von Allen unbemerkt, längst hinter der Warte vorgetreten waren, „Ritter Ehrenhold und Junker Fürwittig; sie sind mein ganzes Heer.“
Trotz ihres Schreckens konnte Maria dem Schalke hinter ihren Lippen nicht Einhalt thun; er sprang hervor.
„Führwahr, mein Lieber,“ lachte sie mit kindlicher Lust, indem sie unmuthig die sich vor ihr Neigenden begrüßte, „Du hast die zahlreichste Macht, denn Dir folget Alt und Jung.“ Und dann seine eigene Weise nachahmend, fuhr sie fort: „Du aber, mein Theurer, sieh hier meine ehrwürdige Base Chimay und das Hoffräulein von Helwin – sie sind mein ganzes Heer.“
„Der Segen des Himmels, ehrwürdige Frau,“ sprach Maximilian verbindlich die Aebtissin an, „gilt mehr als ein Heer.“
Die Aebtissin verneigte sich vor ihm, nicht ohne zum Danke mit ihrer Hand das Zeichen des Kreuzes zu schlagen.
„Das Fräulein aber,“ wendete er sich mit einem Zuge von Schelmerei an Adelheid, „scheint mir in irdischen Dingen sehr wohl berathen.“
„Das ist sie, das ist sie,“ nickte Maria. „Sieh, welche Menschenkenntniß!“
In tiefster Beschämung neigte sich Adelheid. Aber ohne Erbarmen fuhr er fort:
„Nicht so, Fräulein? Im Herzen des Menschen, zumal auf den Thronen, muß neben dem Hauptplatze immer noch ein Sessel leer stehen?“
„Verzeiht, Herr!“ stammelte sie kaum hörbar.
„Wie weißt Du?“ fragte erstaunt Maria.
„Pst, meine Liebe!“ lächelte Maximilian. „Auch ich habe meine kleinen Geheimnisse unter allen den großen, die uns hier umgeben. Aber mit solcher Hülfe und mit dem bewaffneten Geleite, das Du mir entgegensandtest, verzweifle ich an nichts.“
„Bewaffnetes Geleite, Max?“
„Ei, meine Liebe, Du weißt ja, die beiden Hauptleute mit fünfhundert Mann, die mich an der Grenze in Deinem Namen empfingen.“
„In meinem Namen? Träume ich denn? Ich weiß von nichts.“
„Nun, dann, bei meinem Schutzpatron, hat Ritter Ehrenhold Recht, und es sind keine Leute von Fleisch und Blut, die uns bisher durch die Wälder geleitet.“
„Mir graut, Max,“ flüsterte Maria. „Denn wisse, auch ich stehe unter unsichtbarem Schutz. Aber ich ahne jetzt wenigstens den räthselhaften Vermittler, der mich arme Gefangene im letzten Augenblicke der Noth Dich hier finden ließ.“
„Dich arme Gefangene? Im letzten Augenblicke der Noth? Und spazierest doch frei in Wald und Ruinen umher?“
„O mein Geliebter, dort seitwärts halten fünfzig Mann Cleve’scher Reiter, die mich überwachen. Und Du weißt noch nicht das Schlimmste, weißt nicht, daß ihr Herr mich durch den blutdürstigen Pöbel gezwungen hat, noch heute Abend mein Verlöbniß mit seinem Sohn feiern zu lassen.“
„Ehrenhold, Ehrenhold,“ rief Maximilian zu dem alten Ritter hinüber, „hatte ich Recht, zu eilen? Ha, zur guten Stunde bin ich gekommen. Bei meinem Schwerte, das Fest gedenken Wir zu stören. Einen mächtigen Drachen glaubte ich im Kampfe bestehen zu müssen, aber kein winziges Eidechslein.“
„Vorsicht, Vorsicht, Max!“ flehte Maria. „O fürchte den Clever! Seine Macht ist groß beim Volke, und sein Sohn ist ein Tapferer. Horch!“
Alle lauschten auf. Von der Lichtung her erscholl Galoppschlag, der alsbald wieder verstummte. Dann klang die laute Stimme Huy’s herüber: „Führet die Pferde fort! Meine Stute gehört dem Prinzen.“
„Das ist Huy mit dem Prinzen von Cleve,“ flüsterte Maria. „Um Gott, Max, verbirg Dich!“
„Ich mich verbergen? Vor ihm?“ antwortete Maximilian stolz lächelnd. Und ruhig sich auf sein Mauerstück setzend, fuhr er fort: „Ein einziges Mal in meinem Leben habe ich mich verstecken müssen – als Kind – damals, als im Bruderkriege meine lieben Wiener, die allezeit unruhigen Köpfe, die Hofburg belagerten und meine Mutter sich mit mir in das feste Erdgeschoß flüchtete. Aber bei Gott, nie wieder!“
„Wenn Du mich liebest, Max – Du hörest es ja, sie kommen,“ drang Maria in ihn.
„Ich höre sie, und ich liebe Dich sehr,“ sagte er gelassen. „Darum bitte ich Dich: ziehe Dich ein wenig hinter die Ruine zurück! Auch Ihr, lasset mich!“ befahl er kurz zum Ritter und zum Junker hinüber.
Die Schritte ließen sich schon dicht hinter der Krümmung des Fußpfades vernehmen. Deutlich war die rauhtönige Stimme des Prinzen zu erkennen.
„Ich sagte es ja,“ sprach er, „mein Hengst setzt wie ein Hirsch. Aber jetzt mache ich mir wahrlich ein Gewissen vor meinem Herrn Vater daraus. Ich eile voran, Huy, nach meiner gnädigen Braut zu sehen.“
„Seiner Braut!“ brauste Maximilian auf. Und emporspringend und auf das Portal deutend, gebot er: „Geht!“
„Max!“ flehte noch einmal, mit gefalteten Händen zu ihm aufblickend, Maria.
„Geh!“ antwortete er streng. Und Alle gingen.
Es war die höchste Zeit gewesen. Kaum war Maria gesenkten Hauptes hinter dem Portal verschwunden, als der Prinz von Cleve den Hofraum betrat. Den fremden jungen Rittersmann erblickend, stutzte er und trat einen Schritt zurück; seine Hand legte sich auf den Degenknauf.
„Wo ist die Herzogin?“ rief er.
Maximilian deutete auf das Portal.
„Dort ist sie, und unter meinem Schutze.“
„Schutz? Vor wem?“
„Vor Jedem, der ihre Freiheit bedroht.“
„Was wagt Ihr?“ fuhr der Prinz auf. „Bei meines Herrn Vaters Zorn, das geht Euch an den Kopf, Mann!“
„Denkt an den Eurigen – er sitzt sehr lose ... Mann!“
„Ha, kennet Ihr mich nicht? Sehet in mir den künftigen Herrn von Burgund und Niederland!“
„So hoch hinauf?“ spottete Max. „Sieh da, ein Hofhahn will in’s Adlernest.“
„Frecher Bube!“ knirschte der Prinz, „ein Wort von mir genügt, Dich binden zu lassen – aber erst steh’ mir Rede! Wer bist Du?“
Maximilian’s Augen funkelten. Mit all seiner angeborenen Hoheit den Kopf zurückwerfend, maß er die vierschrötige Gestalt des Prinzen von oben bis unten.
„Wer ich bin? Einer, der gewohnt ist, mit dem Schwerte Antwort zu geben. Hie Teuerdank!“ Und sein Schwert flog aus der Scheide.
Der Prinz that es ihm nach. Aber einen so ungewöhnlichen Eindruck hatten ihm Haltung und Wesen des Anderen gemacht, daß er, wie um sich eines Rückhaltes zu versichern, noch während des Ziehens den Kopf wandte, um Huy, der mit verschränkten Armen am Hofraum stand, ein „Hollah“ zuzurufen.
In demselben Augenblicke fühlte er einen flachen Klingenhieb.
„Ha, Feigling! Auch noch Hülfe?“ höhnte Maximilian.
„Tod und Teufel! Ich züchtige Euch allein. Hie Prinz [698] von Cleve!“ rief wüthend der Prinz, und mit gewaltigen Schwertschlägen hieb er auf seinen Beleidiger ein.
Es war ein nicht zu verachtender Gegner, den Maximilian vor sich sah. Seine mächtigen Armknochen ließen das Schwert, einem Schmiedehammer gleich, auf- und niedersausen. Auch war seine Ausbildung an dem entlegenen kleinen Hofe fast ausschließlich der Waffenübung zugewendet gewesen, und schon manchen handfesten Ritter hatte er siegreich bestanden. Aber Maximilian's nicht mindere Körperstärke hatte durch Anlage, wie durch Schulung berühmter Lehrmeister, jene Stahlkraft gewonnen, die dem Eisen Biegsamkeit und Schärfe, den Muskeln aber die blitzartige Schnellkraft verleiht, die auch überlegenen Angriff nicht nur zu brechen, sondern unmittelbar und überraschend zu erwidern im Stande ist. Und dennoch machten ihm Adolf's Gewalthiebe zu schaffen. Es geschah offenbar mit Absicht, daß er dieselben eine Zeitlang unerwidert an seiner Klinge sich brechen ließ. Die Hand des Gegners sollte erst erlahmen. Dann aber – plötzlich – ließ er, nach damals im Schwertkampf beliebter Ueberraschungsweise, die ganze Wucht seines Schwertes in schräger Linie von oben nach unten so gewaltig gegen den Kreuzgriff des Gegners schmettern, daß die Waffe, der krampfhaften Umklammerung der Finger entrissen, jählings zu Boden flog.
Mit wildem Blick starrte ihr der Prinz nach. Aber nicht eine Secunde, und er war auch schon einen Schritt zurückgesprungen und riß den Dolch aus der Scheide.
„So denn zum Dolchkampf!“ schrie er wüthend und legte sich zum Sprunge aus.
Es wäre für einen Meister, wie Maximilian, ein Leichtes gewesen, ihn jetzt mit dem Schwerte niederzustoßen. Aber gegen einen nicht mehr ebenmäßig Bewaffneten und einen Tapferen dazu seinen Vortheil zu mißbrauchen, würde ihm als Schmach erschienen sein. Im Gegentheil, wie wenn ihm gelüste, auch in der zweiten Kampfart seine Ueberlegenheit zu beweisen, warf er geringschätzig sein eigenes Schwert zu Boden, zog den Dolch und erwartete festen Blickes seinen erbitterten Gegner.
Aber die Gefahr einer so mörderischen Waffe war zu unberechenbar, als daß der Erbe des heiligen römischen Reiches seiner großmüthigen Tollkühnheit überlassen werden durfte.
Gleichzeitig und von demselben Gedanken beseelt, sprangen von rechts und links Huy und der schon längst besorgt lauschende Ritter Herberstein hinzu und kreuzten ihre Klingen zwischen den Kämpfenden.
„Zu viel der Großmuth, Herr!“ rief Hugo.
Der alte Ritter aber, mit flammendem Blick auf den Prinzen, erhob feierlich die Linke:
„Des Deutschen Hand verdorre, der den Dolch zückt wider Diesen!“
In namenloser Bestürzung ließ der Prinz den Arm sinken; der Dolch entfiel ihm.
„Was muß ich ahnen?“ stammelte er, mit wirrem, fragendem, ehrerbietigem Blick zu Maximilian aufstarrend.
„Euer Wort, daß Ihr verschweigen wollt, was Ihr hören werdet!“ sagte Maximilian, ihm offen in's Auge blickend.
„Mein fürstlich Wort!“
„Hie Maximilian von Oesterreich!“
Der Prinz stand sprachlos da. Hinter dem Portal aber kamen, durch den frischen, fröhlichen Ton, mit dem Max das Wort gesprochen, hervorgelockt, als wären sie von bösem Zauber erlöst, Maria und die übrigen Verborgenen hervor.
„Gelobt sei Gott, kein Blut!“ rief Maria.
Selbstbewußt lächelte Max.
„Der soll erst noch geboren werden, der Uns im Kampf bestehet,“ sagte er, indem er sein ihm vom Pagen dargebotenes Schwert in die Scheide zurückstieß.
Erst jetzt gewann der Prinz seine Fassung wieder. „Euer Gnaden hier?“ rief er, bewundernd zu Maximilian aufblickend. „Bei Gott, das ahnte ich nicht, und mich gereuet, was ich gethan.“
„Das eine Wort genügt, Prinz. Alles ist vergessen.“
Aber bei dem Prinzen schien, trotz des freimüthig-fröhlichen Blickes, mit dem ihm Max zugenickt hatte, keineswegs Alles vergessen zu sein; eine böse Erinnerung mußte wohl mit seinen augenblicklichen Empfindungen kämpfen; seine Brauen zogen sich zusammen, wie wenn er nur mit Widerwillen dem Drucke eines stärkeren Pflichtgefühls weiche.
„Und dennoch, Euer Gnaden,“ brachte er endlich stockend und mit sichtbarster Verlegenheit hervor, „es fällt mir wahrlich schwer, aber ... wir sind in fremdem Lande ... in fremder Sache – und die Pflicht gegen ... gegen meinen Herrn Vater ... gebietet mir, Euch zu sagen: Eure Hoheit wird mir ... zu meinem Herrn Vater folgen müssen.“
„Ich Euch folgen? Ei, das ist lustig. Ich glaubte, Euch entwaffnet zu haben, und Ihr wäret mein Gefangener.“
„Euer Gnaden irren. Es bedarf nur eines Rufes von mir ...“
„O Gott!“ entfuhr es der Herzogin.
Maximilian warf einen schnellen Blick auf seine Begleiter.
„Umgekehrt, Prinz! Ein Wort von mir, und Ihr seid des Todes,“ erwiderte er mit einem Ausdruck, der keinen Zweifel zuließ, und im Augenblick sah der Prinz das Schwert des alten Ritters auf sich gezückt, und auf seine Brust schon das des Junkers gesetzt, der nur noch fragend am Auge seines Herrn hing.
Jetzt erst ging dem Prinzen ein volles Licht über seine verzweifelte Lage auf, und doch wußte er noch nicht einmal Alles, denn er hatte während des Kampfes nicht bemerken können, wie Ritter Huy. am Eingange des Hofraumes wachehaltend, zweimal sowohl nach der Cleveschen, wie nach der entgegengesetzten Seite abwehrende Handbewegungen gemacht, wie wenn er unberufene, durch den Lärm angelockte Störer fern halten wollte. Aber Eines begriff er völlig klar, daß sein Leben jetzt an einem Blicke Maximilian's hing, und so verblüfft war er von dieser Erkenntniß, daß er, ob auch ohne jede Furcht, mit offenem Munde von den Schwertspitzen auf Max und von diesem wieder auf jene blickte.
[701] „Wohlan!“ raunte während dessen der Junker seinem Herrn zu. „Nieder mit dem Rebellen! Weg mit dem Rivalen!“
„Rühr' ihn nicht an! Nur zum Schein!“ gebot ihm Maximilian mit strafendem Blick.
„Es gilt die Krone!“ wagte noch einmal der Page ihn anzustacheln.
„Nicht um alle Kronen der Welt!“ rief zürnend, fast feierlich Maximilian. Und eine unnachahmliche Hoheit umgab ihn, als er jetzt mit lauter Stimme fortfuhr: „Nein, kein Blut! Wen ein Kaiserssohn gewürdigt, das Schwert mit ihm zu kreuzen – und wär' es ein Verbrecher am Reich, den hat er begnadigt. Stecket Eure Schwerter ein, meine Getreuen! – Und Ihr, Prinz, nehmet das Eurige zurück! Es ist dort nicht an seinem Platze. Ihr seid ein Tapferer und seid frei.“
Mit einem innigen Blicke auf ihren hochherzigen Geliebten faltete Maria, mit gerührtem Dankesblicke gen Himmel die Aebtissin die Hände. Der Prinz hob beschämt das Schwert vom Boden. Ritter und Junker steckten gehorsam die ihrigen ein. Aber was war das? Hugo von Huy, der mit auffallender Besorgniß den Worten Maximilian's gefolgt war, hatte unbemerkt sein Silberhorn an den Mund gesetzt und stieß in diesem Augenblicke einen langgezogenen seltsam klingenden Ton hinaus.
„Was thut Ihr?“ fragte Maximilian erstaunt und zum ersten Male Huy näher in's Auge fassend.
„Verzeihet, Herr!“ versetzte dieser sich tief verneigend. „Es ist für die persönliche Sicherheit unserer erhabenen Gebieterin.“
„Für die Sicherheit der Herzogin! Ich verstehe,“ sagte Max, den Cavalier mit seltsamem Blicke messend, und wie beschämt, von ihm daran gemahnt zu werden, daß sie in nächster Nähe von Feinden bedroht, aber auch von Freunden umgeben seien. Zugleich aber auch erkennend, daß er in seiner Großmuth zu weit gegangen sei, wandte er sich, wenngleich entschlossen, sein Wort zu halten, so doch nicht gesonnen, eine falsche Deutung desselben zuzulassen, zum Prinzen zurück.
„Allerdings, Prinz, seid Ihr frei, wie ich Euch angekündigt. Aber, wie Ihr selbst mir entgegenhieltet, sind wir hier in fremdem Lande, in fremder Sache, und wenn wir persönlich auch Frieden halten können, so doch nicht die Unserigen. Darum höret einen Vorschlag zur Güte! Gelobet mir für Eure Person Urfehde, wie ich verspreche, sie Euch zu halten. Ich habe Euch ohne fremde Beihülfe außer Gefecht gesetzt. Ihr waret in meiner Hand, und ich kann nicht ritterlicher gegen Euch verfahren.“
„Das ist ehrlich, Herr. Ich schlage ein,“ rief der Prinz und schlug in die dargebotene Rechte.
Plötzlich erdröhnte der Wald von wildem Getümmel. Lauter Aufschrei, Waffengeklirr, Hülferuf und kurzer Siegesjubel, mit Wiehern und Stampfen der Pferde vermischt, wurde von der Lichtung her vernommen. Lautlos horchten Alle auf. Maria schmiegte sich zitternd an Max; Adelheid suchte Schutz bei Huy. Ritter und Junker hielten die Hand am Schwertgriff. Aber nur wenige Minuten, und Alles war wieder still, wie zuvor.
„Verstehe ich recht?“ wandte sich Maximilian an Huy.
„Wir werden es sogleich erfahren, Herr,“ erwiderte dieser, sich nochmals verneigend.
Und es geschah nach seinem Wort. Eilige Schritte kamen von der Lichtung her. Eine seltsame Kriegergestalt, halb einem Waidmann, halb einem Reiterhauptmann ähnlich, betrat den Hofraum. Von oben bis unten in Grau gekleidet, mit langem grauem Bart, trug er einen grünen Zweig an der hohen, helmartigen Filzkappe. Mit auffallender Erregung die Versammlung überfliegend, blieb sein Blick, ohne bei Maria oder Maximilian zu verweilen, auf Hugo haften. Bei dem Anblicke dieses, wie von plötzlicher Freude ergriffen, zuckte er zusammen, hob die Arme, aber – ein strenger Blick aus Hugo's Auge, und ehrerbietig sich neigend, meldete er ihm: „Die Cleve'schen sind entwaffnet, Herr.“
„Kein Mann entkam?“ fragte Hugo kurz.
„Nicht einer, Herr! Sie lagerten noch bei den Pferden, als wir sie von allen Seiten umzingelten.“
Erstaunt hatten die Anwesenden das Benehmen des Hauptmanns gegen Huy gesehen; erstaunt hörten sie seine Meldung. Der Prinz schleuderte einen wüthenden Blick auf Hugo, der mit dem Hauptmanne leise weiter sprach.
„Der Verräther!“ knirschte er für sich.
Adelheid aber schien sich während dessen in einer besonders anmuthigen Stellung zu gefallen. Sie hatte ihren rechten Fuß über den linken geschlagen, so daß die Spitze des ersteren kaum den Boden berührte, und – mochte es nun die natürliche Folge dieser graziösen Haltung sein, oder nicht – mit Kopf und Oberkörper neigte sich auch ihr linkes Ohr auffallend zu Hugo hinüber. Vielleicht daß sie es selbst nicht wußte, aber zu ihrem Nachtheil ließ die Höhe ihres Zuckerhutes à la hénin nach geometrischen Grundsätzen die Neigung ihres Kopfes zur Seite um so größer erscheinen, als ein verlängerter Radius von einem größeren Kreisbogen [702] umschrieben wird. Auch Maximilian schien diese Bemerkung gemacht zu haben, denn Maria lächelte, als er, auf Adelheid deutend, ihr einige leise Worte zuflüsterte.
„Sie ist neugierig von Natur,“ gab Maria zurück, „aber in diesem Falle hat sie Grund, es zu sein, wie wir Alle. Wer ist der graue Kriegsmann?“
„Einer der Hauptleute meines Geleites, die sich in Deinem Namen vorstellten. Geldern’sche Hülfstruppen gegen die Franzosen sind es.“
„Geldern’sche? Immer räthselhafter! Also deshalb verschwunden!“ sann Maria.
„Sie Alle reizen meine Neugier nicht, meine Liebe – sie sind nur Werkzeuge. Offenbar ist es der junge Cavalier, der hier gebietet. Wie heißt er?“
„Hugo von Huy.“
„Seine Macht erscheint so wunderbar, wie sein Wesen ungewöhnlich. Mir ist, als hätte ich diese Züge schon gesehen. Und doch wieder nicht – irgend eine Ähnlichkeit wird mich täuschen.“
„Er ist mein Ehrencavalier. Aber freilich, seit heute weiß ich nicht mehr, was ich von ihm halten soll, denn sicher steht er in Verbindung mit meinem geheimen Beschützer.“
„Huy?“ sann Maximilian. „Nein, nein, mir unbekannt! Und doch – dieser schöne Kopf ... Stelle ihn mir vor! Eben verläßt ihn der Hauptmann.“
„Ritter Huy,“ rief Maria, Hugo herbeiwinkend, und stellte ihn Maximilian vor.
„Ihr scheinet Zauberei zu üben, Ritter,“ redete dieser ihn verbindlich an.
„Im Gegentheil, gnädiger Herr, ich stehe selbst unter einem Zauber und diene ihm,“ gab der Cavalier mit leichter Neigung gegen Maria zurück.
„Fürwahr, Ihr verstehet das Wort im Munde zu drehen, wie mir“ – und geflissentlich erhob er die Stimme zu Adelheid – „das Fräulein dort bezeugen wird.“
„O, an ihr habe ich meinen Meister gefunden, Herr, und sie kennt kein Mitleid gegen mich,“ lächelte Hugo mit einem Blicke auf die Hinzutretende.
„Vielleicht, weil sie dessen zu viel gegen Andere empfindet?“ scherzte Maximilian.
„Wenn sie das Unglück haben, Glücklicheren gegenüber zu stehen, hoher Herr,“ verbesserte das Hoffräulein.
„Hört doch, Ritter! Erkennet Ihr den Doppelsinn?“
„O Herr, wer möchte da trauen!“ erwiderte der Angeredete. „Das ewige Fächerspiel verdirbt das Gemüth.“
„Saget selbst, Herr,“ schloß Adelheid das Gefecht, „erkennt Ihr nicht meine eigene Münze wieder, mit der er mich bezahlt?“
Maximilian erinnerte sich dessen, was er erlauscht hatte, und lachte. Maria, ohne den Schlüssel zu dem launigen Spiel zu haben, lachte mit. Aber die Lage war zu ernst, um auch der heitersten Unterbrechung länger als für Augenblicke Raum zu gestatten. Als Maria um sich blickte, und auf der einen Seite das finster vor sich hinstarrende Gesicht des Prinzen, auf der anderen das sorglich spähende Auge des alten Ritters wahrnahm, bahnte sich, was vor Allem ihre Seele beschäftigte, den Weg über ihre Lippen.
„Ihr allein, Ritter,“ wandte sie sich an Hugo, „könnt Auskunft darüber geben, wie sich alles dieses zugetragen und wohin es führen soll – werdet Ihr uns endlich das Räthsel erklären?“
„Ein Räthsel will erst gelöst sein, ehe denn man es erklärt, gnädiges Fräulein,“ erwiderte Hugo ehrerbietig. „Und es ist hohe Zeit, damit zu beginnen, denn noch steht das Schwierigste bevor. Erlaubt daher zuvörderst, daß ich in Eurem Auftrage zu diesem edlen Prinzen spreche.“ Und ohne die Bejahung abzuwarten, vielmehr die stumme Verwunderung der Herzogin als solche annehmend, redete er den Prinzen mit ernstem, aber theilnahmsvollem Tone an. „Prinz, der Pflichten gegen Euren Herrn Vater hat Euch das Geschick überhoben. Die Herzogin von Burgund ist aus unwürdiger Ueberwachung befreit; ihre Getreuen haben Eure Leute entwaffnet und führen sie eben auf eine Zeitlang an einen sicheren Ort. Sollte man, wie ich besorge, auch Euern Rapphengst mitgenommen haben, so bleibt Euch mein Schimmel, Euer wohlerworbenes Eigenthum. Diesen nehmet und jaget auf ihm den tausend Reitern nach, die Euer Herr Vater des Weges gen Brüssel geschickt hat! Denn Ihr werdet begreifen, daß Ihr in Gent nicht mehr an Eurem Platze seid, nachdem Ihr diesem hohen Ritter“ – er deutete auf Maximilian – „nicht nur versprochen, seinen Namen zu verschweigen, sondern auch Urfehde gelobt habt.“
„Gut,“ sprach finster der Prinz.
„He, meine Stute für den Prinzen von Cleve!“ rief Hugo der Lichtung zu.
Sofort tauchten zu beiden Seiten des Fußpfades graue Gestalten hervor und verschwanden hinter der Krümmung des Weges.
„Sie steht bereit, Prinz,“ meldete Hugo. „Hat Euer Gnaden sonst noch etwas zu befehlen?“
„Ihr glaubet meiner spotten zu können,“ grollte mit einem drohenden Blick seines sonst so treuherzigen Auges der Prinz, „aber hütet Euch! Ihr irret und sollt bald anders von mir denken – ich kenne Euch jetzt.“
„Längst hättet Ihr mich kennen sollen, Prinz,“ erwiderte Hugo, seine Worte nachdrücklich betonend, „denn Ihr wußtet, daß ich der Diener unseres Fräuleins von Burgund und nicht der Eures Herrn Vaters, noch der Eurige bin. Aber dennoch sage ich Euch: Ihr kennet mich nicht, Prinz.“
„Und Euch sage ich: Ihr werdet mich kennen lernen, Ritter,“ versetzte dieser, kehrte ihm den Rücken und richtete mit finsterer Miene das Wort an Maximilian und Maria:
„Euer Gnaden wünsche ich ehrlich Glück und Segen – und Euch dazu, gnädiges Fräulein, so arge Kriegslist Ihr auch gegen mich üben ließet. Daß ich Euer nicht würdig bin, dessen war ich mir bei Gott bewußt. Mein Herr Vater ist ein kluger Mann, aber seinen Sohn kannte er schlecht, als er ihn zu Euch erheben wollte. Ich gehe. Habt Ihr auch gegen mich das Spiel gewonnen, so doch nicht in Gent gegen die Staaten und meinen Herrn Vater. Mögen die Würfel rollen! Ihr werdet noch von mir hören.“
Nach dieser Rede stürzte er ohne Gruß über den Hofraum davon dem Fußpfade zu, auf den scheinbar absichtslos Adelheid hinausgetreten war.
Nicht ohne Theilnahme blickte ihm Maria nach.
„Der Aermste!“ sagte sie zu Maximilian. „Er ist tief gekränkt und hält mich für schuldig an seinem Unglück. ... Sei es drum! Einmal mußte es ja doch mit ihm zum Bruche kommen.“
„Das Unglück,“ tröstete die Aebtissin, „wird ihm eine Wohlthat sein, wie so Vielen. Es wird ihn erziehen. Sein Gemüth ist gut.“
„Aber seine letzten Worte klangen wie Drohung,“ fiel der alte Ritter ein, indem er Maximilian warnend anblickte.
„Soll ich ihm nach, Herr?“ rief der Junker, die Hand am Schwerte.
„Nein, nein!“ gebot kurz abweisend Maximilian. „Ich kann es und mag es nicht glauben. Lasset ihn, und berathen wir, was zu thun!“
Dann Maria und Herberstein auf die Seite nehmend, pflog er mit ihnen Rathes.
Der Prinz aber war schon bei Adelheid vorüber gestürzt gewesen, als er, sei es daß er einen leisen Ruf vernommen zu haben glaubte, sei es daß er es nicht über’s Herz bringen konnte, ohne Gruß von ihr zu gehen, sich noch einmal zu ihr umwandte.
„Lebt wohl, Fräulein!“ sagte er traurig, ihr die Hand bietend.
Mitleidsvoll blickte ihm Adelheid in’s Auge.
„Nun ist ja Euer Wunsch erfüllt, Prinz,“ sagte sie theilnehmend, „und Ihr seid des Sturmes überhoben, der Euch so zuwider war.“
„Ja, Gottlob!“ stieß er mit Galgenhumor heraus. „Die 'Weiberschanzen' habe ich kennen gelernt. – Aber noch ist nicht Alles zu Ende; noch habe ich nicht ausgespielt.“ Und dann, mit einer fast rührenden Naivetät, brach er ab: „Nur Eines wird mir schwer, Fräulein – von Euch zu scheiden, denn Ihr allein von Allen habt – mich niemals zum Besten gehalten.“
Noch ein kräftiger Händedruck, daß Adelheid zwischen den Tatzen fast aufgeschrieen hätte, und er riß sich gewaltsam von ihr los.
[703] „Ihr allein habt mich niemals zum Besten gehalten,“ murmelte sie vor sich hin. Ihr Auge trübte sich; aber dennoch konnte man hindurchsehen und auf dem Grunde ihrer Seele etwas für die Naturgeschichte höchst Merkwürdiges wahrnehmen – die Libelle fühlte Gewissensbisse.
Leider wurde sie in dieser sehr nützlichen Selbsterkenntniß unterbrochen. Ritter Huy hatte sich ihr genähert, und er kam ihr gerade gelegen, um einen Theil dessen, was sie drückte, auf ihn abzuladen.
„Der arme Prinz!“ seufzte sie, ihn vorwurfsvoll anblickend. „Ihr habt ihm übel mitgespielt.“
„Und Ihr habt dabei 'mitgespielt',“ gab er lächelnd zurück.
„Gott sei's geklagt! Ihr waret der Versucher.“
„Als Euch um Euren Kopf bangte. ... Ein günstiger Augenblick!“
„Jetzt bangt mir um meine Seele.“
„Schrecklich! So bin ich Euch wirklich der – Böse?“
„Aus Geldern,“ ergänzte sie schlau lächelnd.
Hugo stutzte.
„Woher glaubt Ihr?“
Mit geheimnißvoller Miene neigte sich Adelheid zu seinem Ohre.
„Ihr sprachet mit dem Hauptmann leise, aber ich verstand dennoch jedes Wort, denn ... ich kenne die Geldernsche Mundart.“
„Und das ist Alles?“ lachte, als ob er sich erleichtert fühle, der Cavalier.
Aber die Hofgewandte kannte nur zu gut solche Finten, und sich selbst nach alter Hofregel den Anschein gebend, als wisse sie noch viel mehr, als sie wußte, drohte sie:
„O, wenn es Euch unverfänglich dünkt, so will ich sogleich der Herzogin melden, was ihr sicher von Werth –“
Sie brach ab und machte Miene zu gehen. Hugo erschrak. Schnell vertrat er ihr den Weg.
„Pst! Halt! Ihr werdet mich nicht verrathen wollen.“
„Was hindert mich?“
„Ich wäre verloren, und Ihr mit mir.“
„Bah, die alten Schreckmittel!“
„Was muß ich thun, daß Ihr schweigt? Nur bis diesen Abend? Adelheid!“
Wieder erbebte ihr Herz bei dem Namen; wieder trat das wunderbare Leuchten in ihr Auge. Jetzt oder nie,“ sagte sie sich, und ihm mit tiefem Blicke in's Auge sehend, sprach sie, jedes Wort betonend:
„Ihr müßt überzeugt sein, Ritter, daß ich bin, wofür Ihr mich haltet.“
„Ich will's,“ rief Hugo in der ersten Aufwallung des Entzückens, aber selbst jetzt noch hatte er genug Gewalt über sich, um leicht hinzuzufügen: „... versuchen.“
„Er ist Dein,“ jubelte ihr Herz dem Davoneilenden nach, denn der Page war gekommen, ihn zu rufen; Maximilian hatte ihn zu sich entbieten lassen.
„Nachdem ich jetzt die Lage übersehe,“ begann Maximilian, als er auch Huy seinem Kriegsrath zugesellt sah, „so finde ich keinen Grund, noch zu schwanken. Die Aussichten Cleve's auf seinen Sohn sind glücklich vereitelt. Wir reiten nach Gent.“
„Um Gott, Maximilian!“ fiel ihm Maria bestürzt in's Wort. „Bedenke, die Thore sind von den Cleveschen besetzt. Und kämen wir auch hindurch, wie wolltest Du Dich der Tausende des Pöbels erwehren, die dem Herzoge anhängen? Stelle Dir vor, auf den Straßen Gents woget es so dicht vom Gedränge des Volkes, daß die Mütter am Feierabend ihre Kinder heraufrufen, damit sie nicht erdrückt werden. Und gar heute, wo Alles zum Feste geladen ist! Nein, nein, Du kennst Cleve nicht; er wird das Mißgeschick seines Sohnes an Dir rächen; Dein Leben wäre in Gefahr.“
„Wolle doch nicht von mir sprechen, Maria!“ entgegnete Maximilian fast unwillig. „Dir Deinen Thron wieder zu erobern, bin ich gekommen. Und so Jemand zu diesem Ziele einen besseren Weg weiß, möge er reden.“
„Könnten wir uns, wenn Gent also feindlich ist, nicht lieber nach Lüttich werfen?“ meinte Herberstein. „Dort, nahe der deutschen Grenze, sammeln wir leicht ein Heer aus dem Reich, und Kaisers Majestät wird es an Beistand nicht fehlen lassen.“
„Oh bella!“ murmelte abseits halblaut der Junker. „Verkehrt, den Schwanz statt des Zaumes in der Hand.“
„Wir hätten die Fürstin mit uns, hätten die Krone,“ ergänzte der Alte mit zornigem Seitenblick.
„Nein, Alter,“ fiel Maximilian ein, „Deine Sorge um mich trübet Dir den Blick. Nicht zu gedenken, daß der Bischof von Lüttich zu Frankreich hält – sollte ich mit der Herrin dieser Lande vor dem Clever fliehen? Wirst Du den Adler kriechen lehren? Nein, Ehrenhold, wer aus einem Geschlecht entsprossen, das seine Ahnen bis Noah hinaufleitet, den gelüstet es wohl, des Weges zurückzublicken, aber er gehet ihn nicht.“
„Und Ihr thut wohl daran, Herr,“ fiel Hugo ein. „Das eine Wort: 'die Herzogin geflüchtet' gälte in Gent gleich ihrer Abdankung. Burgund ginge an Frankreich; die Vierstaaten gingen an Aufrührer verloren. Nein, Herr, in Gent ist der Thron, und Gents Thore stehen Euch offen.“
„Offen?“ rief Maria.
„Vergaßet Ihr, gnädiges Fräulein, daß auf Euren Befehl die Rüststücke und Abzeichen der entwaffneten Cleve'schen an die gleiche Zahl der Geldern'schen abgegeben wurden?“
Mit großen Augen sahen Alle von Hugo auf Maria und von Maria wieder auf Hugo, der ihr das einfachste aller Zaubermittel mit einer Natürlichkeit zugeschoben hatte, die kaum an der Wahrheit zweifeln ließ.
„Laß Dich umarmen, Maria!“ rief entzückt Maximilian. „O wie Du Dich verstellen konntest! Ich wußte es ja: Alles, Alles kommt von Dir. Der geheime Schutzgeist bist Du selber.“
„Nicht doch, nicht doch!“ wehrte Maria. Und wie selbst über etwas Unmögliches noch nachsinnend, fuhr sie mit der Hand über die Stirn:
„Auf meinen Befehl, sagt Ihr, Ritter?“
„So meldete mir der Hauptmann,“ versicherte Hugo.
„Dann kommt's vom 'Hugh',“ flüsterte sie der Aebtissin zu, und entsetzt schlug die fromme Frau ein Kreuz.
Maximilian aber deutete auf die sich röthenden Wolken im Westen.
„Komme es von wem es wolle,“ rief er, „sehet da den letzten Sonnenstrahl! Jede Minute ist kostbar. Lasset uns eilen! Mein Herz ist voll Siegeszuversicht.“
Und schon rüsteten sich Alle zum Aufbruch und selbst Maria's banges Herz fühlte sich durch den frischen Zuspruch zu froher Hoffnung gehoben – da, als solle des Wechsels an diesem Tage kein Ende sein, kam ein zweiter Hauptmann eilig daher gestürzt.
„Habt Acht, Ihr Herren, habt Acht!“ rief er schon vom Fußpfade aus. „Die Cleve'schen Reiter auf der Straße gen Brüssel sind plötzlich umgekehrt. Schon sind sie nahe der Abtei. Der Rothbärtige ist an ihrer Spitze, und Allen vorauf reitet der Prinz im vollen Jagen auf Gent.“
„Verrath!“ schrie Herberstein.
„Verrath!“ wiederholten Alle.
„Also doch!“ rief Max, krampfhaft die Faust ballend, mit der Bitterkeit schmählich getäuschten Vertrauens. „Ich hätte mein Leben für ihn verwettet. Aber sei es drum! Wohlan denn, zu Pferde, und braucht Eure Sporen! Es gilt den Wettritt um die Krone! Und sagt das Sprüchwort wahr: 'Gott verläßt keinen Deutschen', so verläßt er auch keinen deutschen Kaiserssohn.“
Nicht zwei Minuten, und die Pferde waren auf den Verbindungsweg geführt. Von den Segenswünschen der Aebtissin begleitet, saß der Trupp auf und sprengte bald in rasendem Galopp die Heerstraße nach Gent zu. Dämmerung war angebrochen; schon konnte das Auge nichts mehr erkennen, aber dicht hinter ihnen scholl es wie von Hufschlägen der Cleve'schen Reiter.
Im Hofraume des Fürstenhofes zu Gent lag auf der dem Portale gegenüberliegenden Seite ein Erdsaal, die im alten Stile erhaltene Trinkhalle der früheren Grafen von Flandern. Eine doppelte Galerie gedrungener romanischer Pfeiler zwischen Rundbogengewölben, welche laubenartig rings den weiten Hof einfaßten, vertiefte sich hier zu einer länglichen Halle, die, auf drei Seiten geschlossen, das Licht durch den offenen Säulengang erhielt. Ihre Decke bestand aus einem Kreuzbogengewölbe, das nach der Hofseite zu auf den thierkopfverzierten Würfelcapitälen [704] der Pfeiler mit viereckiger Deckplatte ruhte, um sich von dort in kürzeren Bogen zur äußeren Pfeilerreihe des Laubenganges fortzusetzen. Auf den inneren Seiten aber wurde es von gleichen, halb aus der Wand hervorragenden Pfeilern getragen und bildete Rundbogennischen, in welchen sich alle Arten von Jagdtrophäen, wie Bären- und Wolfsfelle, riesige Hirschgeweihe und Büffelhörner wirksam von dem lichtgrauen Grunde abhoben. Von den Knotenpunkten des Kreuzgewölbes hingen künstlich verschlungene Damwildschaufeln nieder, welche auf gekreuzten Eberhauern ampelförmige Lämpchen trugen, und die Ecken der Wände waren mit künstlich geschnitzten Holzgestellen ausgefüllt, aus denen Speere und Jagdgeräthe der verschiedensten Gattung emporstiegen. Rechts und links aber an den schmaleren Seiten des Saales hatte man die Mittelnischen, die eine zu einem staffelförmigen Schenktische mit Krügen und Trinkgefäßen aller Zeiten, die andere durch einen pyramidenförmigen Vorbau von grauem Marmor mit Thierkopfverzierung zu einem riesigen Kamine umgewandelt, der im Laufe der Jahrhunderte schon mancher heimkehrenden Jagdgesellschaft die Füße gewärmt haben mochte.
Zunächst diesem Kamine endlich, und zwar vom Hofe aus jenseits desselben, war eine Thür, die einzige Verbindung des Erdsaals mit den übrigen Räumen des Schlosses, durch welche einstmals die Grafen von Flandern eingetreten waren, wenn sie mit ihrem Jagdgefolge einen frischen Trunk theilen und die Erlebnisse des Tages im fröhlichen Kreise austauschen wollten.
Heute aber erschien unter ihrem Rundbogen um jene späte Nachmittagsstunde, in welcher der Hof schon in Schatten lag, während durch das Portal gegenüber noch sonnige Streifen den Schloßplatz beleuchteten, mit musterndem Blicke aus den wasserblauen Augen der Herzog von Cleve.
Er nickte zufrieden vor sich hin, als er die Halle vollständig ausgeräumt und nur vor dem Schenktische drei Reihen Sessel und rechts und links von dem Kamine zwei Tische mit je vier dem Saale zugewandten, ledergepolsterten Lehnstühlen sah.
„Ist sonst Alles vorgekehrt, Verno?“ fragte er eintretend einen ihm folgenden Rittersmann in mittleren Jahren, der anscheinend sein dienstthuender Begleiter war.
„Alles, gnädiger Herr,“ erwiderte Ritter Verno. „Der Vicepräsident der Staaten, der Bürgermeister und die übrigen Abgeordneten wollen pünktlich um sechs Uhr erscheinen, die Notare desgleichen. Kaum noch eine Viertelstunde ist bis dahin.“
„Gut. Und die Vorrichtungen zum Schmause?“
„Sehet dort, gnädiger Herr!“ Und Verno zeigte auf den Schloßhof, der mit roh gezimmerten Tafeln und Bänken übersäet war. „Auf dem Schloßplatze und auf allen Plätzen der Stadt haben die Zimmerleute Gleiches verrichtet, und Metzger- und Bäckerzünfte beginnen schon alle Vorräthe Gents zusammenzuschleppen.“
„Und Meth und Wein?“
„Die Fuhrwerke der ganzen Stadt sind in Bewegung, um die Fässer aus Schloß- und Stadtkellern und allen verkäuflichen Vorrath an gemeinem Trunke auf die Plätze zu fahren. Es wird kosten, Herr.“
„Bah, die Krone von Burgund und Niederland wird es bezahlen.“
„Die Krone ist in Gefahr, Herr!“ fiel plötzlich eine Stimme hinter ihm ein. Es war der Kanzler Ravestein, der unbemerkt eingetreten war. „Schlechte Nachrichten, Herzog!“ fuhr er fort, als Verno unter den Säulengang getreten war, um jede Störung fern zu halten. „Ein reitender Bote bringt eben Depeschen. Der junge Präsident hat sich noch vor Ablauf des Waffenstillstandes aus Verzweiflung über die Lage, in die er Heer und Land gebracht, das Leben genommen.“
„Ist es nur das?“ athmete Cleve auf. „Ich glaubte wahrlich, Maximilian sei da. ... Der Präsident! ... So, so ... der Präsident! Haha, das kommt davon, wenn der Bürger zu allem Anderen auch noch Feldherr spielen will! Schuster, bleib' bei Deinem Leisten!“
„Der Bote will aber auch im Heimreiten den Himmel hinter sich voll Rauch gesehen haben, als ob die Franzosen schon wieder angefangen hätten zu sengen und zu brennen. Und da die Gesandtschaft seit zwei Stunden bei ihrer Vorhut angelangt sein kann, so ist es nur zu wahrscheinlich, daß sie uns noch diese Nacht Mord und Brand vor die Thore tragen.“
„Laßt sie sengen und brennen! Gent ist bereit, sie zu empfangen, und das Staatenheer bedroht ihnen immer noch Rücken und Flanke.“
„Die Ansicht scheint der Präsident nicht getheilt zu haben, Herzog.“
„Lasset das meine Sache sein, Ravestein, und sorget nur, daß man von alledem in den nächsten Stunden noch nichts erfährt! Die französische Partei könnte Oberwasser bekommen, und ich darf mir um Alles in der Welt nicht Verlöbniß und Regentschaftserklärung stören lassen. Ihr habt Euch doch des Boten versichert?“
„Ich ließ ihn sogleich in strengen Gewahrsam nehmen.“
„Sehr umsichtig, sehr löblich.“
„Und was gedenkt Ihr ferner zu thun?“
„Ihr fraget? Ei, Ravestein, lasset mich die Gewalt haben, und ich rühre noch heute Abend die Trommeln, rufe das Volk zur Vertheidigung der Stadt unter die Waffen und schicke meinen Sohn mit Gepränge zum Heere, um die von allen Seiten aufgebotenen Verstärkungen an sich zu ziehen. – Was aber in der Nacht geschieht ... das ... gebe ich meinem klugen Freunde, dem neubestätigten Kanzler und baldigen 'Ritter des goldenen Vlieses'“ – er betonte lächelnd diese höchste Ehre – „zu rathen auf.“
„Wie sollte ich ahnen? Ihr wollet doch nicht etwa ...?“ fragte, sich dankbar neigend, mit kaum verhehlter Freude der Kanzler.
„Ahnet nur! Ja, ich will. ...“ nickte lachend der Herzog. „Noch heute Nacht schicke ich Euch selbst in das französische Lager, um Ludwig den Frieden anzubieten.“
„Mich selbst?“ rief in schon weit bedenklicherem Tone Ravestein.
„Ich kenne keinen besseren Vermittler,“ lachte sarkastisch der Herzog. „Zu solchen heiklen Sendungen nimmt man nur eine 'persona grata'. O, ich kenne Euch besser, Ravestein, als Ihr vielleicht meinet, aber sorget nicht! Ich theile Eure Politik. Zwischen zwei Nachbarn, von denen der eine schwerfällig und ungefährlich, der andere raublustig und arglistig ist, giebt es für mich keine Wahl. Man muß dem Gefährlichen den Mund stopfen und ihn sich zum guten Freunde machen.“
„O Herzog, Ihr aber habt ihm einen schimpflichen Backenstreich gegeben.“
„Geben lassen, Ravestein. Und das büße, wer's gethan – das Volk! Wir haben ihn gegen dasselbe geschützt. Ludwig mag zürnen, mag mir grollen, daß ich ihm mit meinem Sohne den fetten Bissen weggeschnappt, allein wenn er bedenkt, daß sich sein Heer in der keineswegs beneidenswerthen Lage zwischen einer uneinnehmbaren Stadt mit fünfzigtausend bewaffneten Bürgern und dem verstärkten Staatenheere befindet, so wird er nicht spröde sein, sich mit einem guten Handel abfinden zu lassen. Hochburgund, Artois, Picardie sind ein annehmbarer Brocken, und was liegt mir an einem Fetzen Land mehr?“
„Um Gotteswillen, gnädigster Herr, sehet Euch vor!“ rief erschrocken der Kanzler. „Fremde Federn sind leicht verschenkt, aber das flandrische Volk verträgt nicht Alles. Wie sollte ich solche Sendung überleben? Denket an Hugonet und Imbercourt!“
„Bah, sie waren keine Kriegsleute, waren ohne Truppen, ohne Macht. Lasset mich nur erst Regent sein!“
„Aber auch das seid Ihr noch nicht, Herzog, und glaubet mir, Ihr werdet es nie, so man nur ahnet, was Ihr denkt! Der gebildete Bürgerstand ist Euch schon jetzt minder hold, als der niedere. Wisset Ihr, daß schon Schmähschriften gegen Euch im Umlauf sind?“
„Gedruckte?“ fuhr Cleve auf, als ob ihn eine Tarantel gestochen hätte.
„Gedruckte, Herr!“
„Ha, französisches Gold!“ rief der Herzog, erbittert mit dem Fuße stampfend.
„Ich bin einer anderen Fährte auf der Spur – dem 'Hugh'.“
[717] „O, auch mit dem Spuk werde ich aufräumen, aber vor Allem mit dieser satanischen Erfindung der Druckerkunst, die aus hinterlistigem Verstecke ihre vergifteten Bolzen schießt. Wisset Ihr, Ravestein, was eine meiner ersten Regierungshandlungen sein soll? Ein peinliches Verbot gegen den vermaledeiten Bücherdruck! In meinem künftigen Musterstaate darf überhaupt Lesen und Schreiben nur noch vom Junker an aufwärts gelernt werden.“
Ravestein's Züge waren bei dieser Rede sehr ernst geworden. Mochte er auch ein zweideutiger Politiker sein, er stand doch auf der Höhe der Bildung seiner Zeit, und weder sein Muth, noch sein Ehrgeiz ging so weit, sich um der Gnade eines kleinen Despoten willen dem Gelächter der Welt preiszugeben.
„Herr Herzog,“ sagte er, sich ein Herz zu freimüthigem Bekenntniß fassend, „ich bin gern und weit mit Euch gegangen, aber da ... dürften sich unsere Wege doch trennen.“
Cleve sah ihn groß an; dann lächelte er, und seine wasserblauen Augen hatten plötzlich wieder den alten treuherzigen Ausdruck, seine Worte wieder den sonoren, einschmeichelnden Ton.
„Was fällt Euch ein, alter Freund? Könnet Ihr glauben, daß ich jemals ein Tyrann sein werde? Das mißbildete Volk bedarf nur eines Vormundes, und Niemand kann heißer wünschen als ich, ihm im Verein mit Krummstab und Langschwert den Segen wiederzugeben, dessen es, bei Gott, so benöthigt ist.“
Ein feierlicher Augenaufschlag bekräftigte den frommen Wunsch. Aber Ravestein schüttelte den Kopf.
„Ihr kennt nicht unsere Staaten.“
„Aber ich kenne meine Soldaten,“ versetzte kurz und scharf abschneidend der Herzog. „Und wie man mit dem 'gebildeten Bürgerstand' umspringen muß, werde ich Euch alsbald beweisen. Die Stunde naht. Sehet, da kommen sie schon in's Portal, die Herren Abgeordneten Eurer 'Schmähschriften lesenden' Classe! Ich nehme sie auf mich. Empfanget Ihr unterdessen die Herzogin, wenn sie mit meinem Sohne heimkehrt! Es ist mir angenehm, daß Ihr bei meiner Verhandlung außer dem Spiele bleibt. Gottlob“ – und er athmete hoch auf – „auch von Maximilian habe ich nichts mehr zu fürchten, denn wenn Ihr mich wiedersehet, sehet Ihr ... den Regenten.“
Der Kanzler zog sich, so formlos er eingetreten war, so ehrerbietig förmlich durch die Thür zurück.
„Er ist die längste Zeit Kanzler gewesen,“ murmelte Cleve vor sich hin. Dann glättete sich seine Stirn, und die alte Leutseligkeit nahm wieder ihre Stelle ein.
Der „Wekkering“ der Belfriede in Stadt und Schloß kündete sechs Uhr. Die Glocken und Glöcklein im „Beijaard-Toreken“, der Spitze des hohen Belfrieds, ließen ihr „plaisantes und melodieuses Gheclanck“ erschallen. Die vor der Säulenhalle als Ehrenposten stehenden Hellebardiere stießen aus, Verno meldete die Abgeordneten.
In langem Zuge betraten sie die Halle, die aus den angesehensten Bürgern der großen Städte gewählten Vertreter der Intelligenz und der Freiheiten der niederländischen Staaten. Voran schritt der würdige, charakterfeste Vicepräsident mit dem Vicebürgermeister von Gent – denn der im Felde abwesende Präsident war zugleich der Bürgermeister des Vororts – Beide um den Kopf die rothseidene, unter dem Kinn über die Schulter geschlungene Sendelbinde, den schwarzen, auf den Seiten offenen Ueberwurf, am Halse mit Pelz ausgeschlagen, das Haar in der Kolbe geschnitten, den schwarzen Filzhut ehrerbietig in der Hand. Ihnen folgten Gelehrte, kurzhaarig, in langem Talare und hoher Mütze, Kaufherren in den verschiedensten Farben aus dem Norden düsterer, aus den Südstaaten bunter, unter Ersteren Holländer, ganz in Grau oder Schwarz, schweigsame Mynheer's von behäbigem Gleichmuth, unter Letzteren ein junger Papageifarbener aus Welschflandern, der am Federvolke der afrikanischen Küste seinen Farbensinn ausgebildet haben mochte, denn er trug ein grünes Wamms mit gelben Beinkleidern und rother Sendelbinde, auch hier und da ein ehrbarer Handwerksmeister, den das Vertrauen seiner Mitbürger berufen, in Zaddelmütze und bescheidener Tracht. Sie Alle betraten nach einander den Säulengang und entblößten die Häupter, als der Herzog von Cleve jetzt ihre Spitzen begrüßte.
„Ah, willkommen, Herr Vicepräsident der Staaten, willkommen, Herr Bürgermeister!“ redete er dieselben an, Jedem die Hand schüttelnd. „Gute Nachrichten vom Herrn Präsidenten? Noch immer nicht? O, ich hoffe das Beste. Vorzüglicher Feldherr, nach dem was man hört!“ Und ohne sie zu Worte kommen zu lassen, deutete er auf die Sessel am Tische jenseits des Kamins. „Wenn es euch gefällig ist, werthe Herren!“ Dann sich zu den Uebrigen wendend, bewillkommnete er sie mit zuwinkender Handbewegung. „Ihr lieben Freunde, seid gegrüßet und verzeihet, daß ich euch in der Eile keinen würdigeren Raum zum Empfange bieten konnte! Nehmet Platz auf den Sesseln – ich bitt' euch – ganz ohne Ansehen der Person, ohne Rang und Stand; wir sind hier unter Brüdern, ganz unter uns.“
[718] „Ein leutseliger Herr!“ sagte der Papageifarbene geschmeichelt zu seinem Nachbar, einem grauen Holländer, neben dem er Platz nahm.
„Recht niederträchtig,“ antwortete der Holländer einsilbig, indem er das „nieder“ betonte und demnach beistimmte.
Cleve aber begrüßte erst noch am vorderen Tische zwei Notare, die eben Documente vor sich ausbreiteten, und folgte dann Verno, der den Präsidenten geleitet hatte und ihm selbst jetzt ehrerbietig entgegenkam.
„Nehmt zu meiner Linken Platz!“ raunte er ihm zu. Dann trat er vor den mittleren Sessel, links vom Vicepräsidenten und überschaute die Versammlung. Aller Blicke waren erwartungsvoll auf ihn gerichtet. Da ertönte ein summendes Geräusch, wie von nahendem Menschenschwarme, und zog die allgemeine Aufmerksamkeit auf den Schloßhof.
In der That wälzte sich ein Haufe von ein paar Hunderten aus der niedersten Volksclasse daher, verzweifelte Gestalten, wie sie in gährenden Zeiten der Schrecken des Bürgers zu werden pflegen. Voran schritt, ein seltsames Instrument, wie ein Scepter, vor sich tragend, eine baumlange, schwindsüchtig hagere Figur mit schlotternden Gliedmaßen, in rother Gugel, barfüßig und barhaupt, einen spitzen Bocksbart am Kinn, mit langflatterndem, blondem Haar und einem so unstäten Ausdruck des Auges und so unbeschreiblichem Hochmuth in der Haltung des Kopfes, daß man glauben konnte, hier habe der Irrsinn in Gestalt des Größenwahnes seinen Thronsitz aufgeschlagen. Und nicht viel anders war es auch. Das schwindende Hirn Nikol’s, des Basses, war durch seinen jähen Aufschwung vom Flickschneider zum Gebieter des Pöbels und Freunde eines Herzogs bis zum Wahnwitz überreizt. Er hatte die fixe Idee, der erste Würdenträger des künftigen Königs von Burgund zu werden, und sah schon jetzt in seiner klafterlangen, unten keulenartigen, oben spitzen Eisenstange, jener unter dem Namen „Goedentag“ bekannten mörderischen Waffe, nichts Anderes, als seinen künftigen Marschallsstab. Um aber der erstaunten Welt zu zeigen, daß er nach Art großer Männer sich seiner Herkunft nicht schäme, hatte er das obere Ende der Stange mit rothen Streifen zum Ellenmaß umgewandelt.
„Platz da für das Volk von Gent!“ donnerte Nikol’s Stentorstimme, und widerstandslos, wie farbige Muscheln von brandender Fluth, waren die „bunten Krähen“ augenblicklich hinweg geschwemmt; unaufhaltsam hatte in wenigen Minuten der ganze Schwarm den Säulengang besetzt, ja Einzelne drückten sich schon, die Hände mit auffallender Absichtlichkeit hinter sich verbergend, frech neugierig bis in den Saal hinein, als der Herzog seine Rechte erhob.
Nikol, in vorderster Reihe stehend und mit vorgestrecktem Halse jeder Bewegung des Herzogs folgend, erkannte sofort die Bedeutung des Signals und erwiderte dasselbe, indem er sein Eisenscepter hoch hielt. Augenblicklich verstummte der Lärm, die Vorgedrungenen zogen sich in die Reihe zurück, und der Herzog, mit unbeschreiblichem Wohlwollen in den wasserblauen Augen, nahm das Wort:
„Ah, sieh da! Auch das liebe Volk von Gent dränget sich herzu. Wir haben es zwar erst zum Abendschmause geladen, aber – unserer Berathung, ihr werthen Herren, darf Jedermann beiwohnen. Wir haben nicht Augen und Ohren des Volkes zu scheuen. Unser Wahlspruch ist und sei fortan immerdar“ – wieder erhob er die Rechte – „Freiheit und Oeffentlichkeit!“
Nikol schwang sein Scepter und „Freiheit und Oeffentlichkeit! Heil dem Herzog!“ scholl es hundertfältig seinem Donnerrufe nach.
Cleve ließ die Hand sinken, Nikol sein Scepter.
„Still, ihr lieben Brüder, still!“ fuhr der Erstere fort. „Ich danke euch für eure Begrüßung und bitte euch, fortan unsere Berathung nicht zu stören. ... Ihr aber, meine Herren Abgeordneten, vernehmet, was ich euch mitzutheilen habe! – Es ist euch bekannt, daß eure erhabene Gebieterin, den vereinten Bitten ihres Landes nachgebend, sich einen Gemahl erkoren hat. Ihre Wahl ist, dem Wunsche des Volkes gemäß, auf meinen Sohn gefallen. Mich aber hat sie mit dem Auftrage beehrt, in ihrem Namen das Weitere vorzukehren. So habe ich euch denn eingeladen, um nicht nur als Zeugen bei dem feierlichen Verlobungsacte im Thronsaale zu dienen, sondern jetzt schon hier mit mir zu berathen, was weiter zum Heile des Landes ersprießlich sein möchte. Vor Allem werdet ihr, liebe Getreue, eure Gebieterin nicht im Zweifel über eure freudige Zustimmung lassen wollen, und so fordere ich euch auf, ihr, wenn sie in ihre Hofburg heimkehrt, eure Glückwünsche in dem einstimmigen Zurufe darzubringen: 'Heil der Herzogin und dem neuen Herzog!'“
Da Cleve dieses Mal, um der Loyalität der Abgeordneten nicht vorzugreifen, seine Rechte nicht erhob, statt der erwarteten Begeisterung aber nur ein überraschtes Umsichblicken erfolgte, so entstand augenblicklich eine peinliche Pause. Cleve’s Gesicht zuckte, aber es glättete sich sogleich wieder, als der Vicepräsident, sich neben ihm erhebend, das Schweigen brach.
„Heil der Herzogin und ihrem erwählten Gemahl!“ rief er würdig, mit Betonung der wohlerwogenen beiden letzten Worte. Und „Heil, Heil!“ fielen die Abgeordneten ein, und „Heil, Heil!“ pflanzte es sich im Volke fort.
„Ich danke euch, lieber Herr und werthe Freunde,“ fuhr der Herzog mit sichtbarer Zufriedenheit fort. „Mein Sohn wird euren Beifall zu verdienen wissen, denn er ist wohl in der Kriegskunst unterwiesen und wird noch in dieser Nacht zum Heere abgehen, um eurem tapferen Präsidenten Hülfstruppen zuzuführen. Wer aber soll in der Bedrängniß dieser Zeit, und wenn der Feind vor unseren Thoren hält, der jungen Herzogin an seiner Statt als Berather und Beistand zur Seite stehen?“
Wieder erhob sich der Vicepräsident.
„Verzeihet, Herr Herzog! Diese Eigenschaft dürfte wohl erst Eurem Sohne selbst gesetzlich zuzusprechen sein, und dazu bedarf es noch vor dem Verlöbnisse der feierlichen Verbriefung unserer Privilegien von seiner Seite.“
„Sehr richtig bemerkt, Herr Vicepräsident! Umsichtig und pflichttreu, wie es das Volk von Euch gewohnt ist. Wie Ihr aber sehen wollet, so sitzen dort zwei Notare, welche bereits sämmtliche Documente bis zur Unterschrift vorbereitet haben, indeß ich mir vorbehalte, die Ehepacten genau nach den Wünschen der Staaten mit Euch und dem Kanzler zu vereinbaren. Somit dürfte die Frage der Stellvertretung eine wohlberechtigte, ja Angesichts des drohenden Feindes eine Pflicht sein.“
„Euer Gnaden weise Vorsicht ist bekannt,“ antwortete mit höflicher Zähigkeit der Andere, „allein das Wohl der Staaten würde die Vertagung der Frage doch bis dahin verlangen, daß die Befugnisse eines 'Berathers und Beistandes' gesetzlich festgestellt sind.“
„Da hören wir den gewiegten Beamten und den Vertreter des öffentlichen Rechtes,“ lobte Cleve mit verhaltenem Grolle. „Aber scheinet Euch nicht, daß die Worte 'Berather und Beistand' schon so treffend diejenigen Befugnisse ausdrücken, welche nicht überschritten werden dürfen, daß es unnöthig Zeit verlieren hieße, sie noch zu interpretiren? Denn der 'Berather' der Krone hat nicht zu handeln, und ihr 'Beistand' kann ihr nach der Logika nicht mehr Rechte ausüben helfen, als sie selber verfassungsmäßig hat.“
„Nichts Anderes als diese treffliche Auslegung ist es auch,“ nahm gleich verbindlich, wenn auch nicht ohne Ironie, der Vicepräsident das Wort, „was ich Namens der Staaten documentirt sehen möchte.“
„Schreibet es, ihr Herren Notare, schreibet es so, daß keinerlei 'Mißtrauen' aufkommen kann!“ rief fast unwillig der Herzog, indem er seinen Blick im Vorüberschweifen mit vielsagendem Ausdrucke auf Nikol haften ließ.
Ein unwilliges Gemurmel, in leisem Basse beginnend und in verdächtiger Weise sich fortpflanzend, war die Folge dieses Blickes. Dann ertönte grollend das Wort „Mißtrauen!“, und „Mißtrauen!“ rollte es drohend weiter von Mund zu Mund. Ein offener Ausbruch stand bevor. Aber Cleve selbst war es, der ihn hemmte. Seine Loyalität litt keinen Act der Drohung.
„Ruhe, meine Kinder, Ruhe!“ rief er den Murrenden zu. „Der Herr Vicepräsident ist im vollsten Rechte! Selbst übergroße Vorsicht ist besser, als leichtfertige Nachsicht, wo es sich um eure Privilegien handelt, und läge auch eine Kränkung eurer besten Freunde darin. Erst der Staat, dann der Herzog und sein Stellvertreter! Jetzt aber, werthe Herren, nachdem jedes Bedenken beseitigt, dünkt es mich an der Zeit, wenn es euch genehm ist, zur Wahl des Stellvertreters zu schreiten. Gefällt es noch Jemand, darüber zu sprechen?“
Einer der Abgeordneten erhob sich.
[719] „Ah, Riom, der Schreiber, Ihr wollet sprechen? Recht so! Nur ohne Umschweif, ohne Hintergedanken, von der Leber weg!“ – „Der Kerl,“ murrte er, sich setzend, Verno in's Ohr, „hat zwanzig Ducaten von mir in der Tasche.“
Riom, der Schreiber, ein blasses Männchen mit pfiffigem Gesicht und großem Munde, dem das Flachshaar wohlgescheitelt und gewellt um den Nacken hing, räusperte sich und nahm mit einer gewissen Salbung seiner schnarrenden Stimme, daß man nicht wußte, wollte er Befangenheit unterdrücken oder war es sarkastisch gemeint, also das Wort:
„Hochwerthe Herren und fürstliche Gnaden! Wir Schreiber von der Zunft, 'Ghesellen van Rhetorike' und von der edlen Dichtgenossenschaft, schreiben und sprechen, wie ihr Alle wisset, sonder Ansehn der Person nur für den Ruhm der lauteren Wahrheit. Ich, von der Gesellschaft der 'Fonteneisten', der Wohlredenden und Wohlerzogenen, schlage an meine Brust und behaupte kühnlich: wir brauchen einen Regenten, und so dieser im Felde stehet, einen Stellvertreter für ihn, und ich meine, wir haben nicht weit zu suchen nach dem Stellvertreter, wenn ich auch, um nicht als Lobhudler zu erscheinen, seinen Namen jetzt nicht nenne – denn 'nomina sunt odiosa', sagt der Lateiner. ... Ich habe gesprochen.“
Ein Gemurmel des Beifalls lief durch die Reihen, als der kleine Mann, nicht ohne einen selbstbewußten Blick auf den Herzog zu werfen, sich niederließ.
„Gut angelegte Ducaten!“ murmelte Cleve.
„Ein feiner Kopf!“ sagte ein ehrbarer Handwerksmeister bewundernd zu seinem Nachbarn. Der Nachbar nickte.
Cleve war eben im Begriff, sich zu erheben, als ihm der Vicepräsident zuvorkam.
„Mit Verlaub, Herr Herzog,“ nahm er das Wort, „es ist da ein Ausdruck gefallen, den zu gebrauchen Euch selber nicht beliebte, weil Euch ohne Zweifel bekannt ist, daß bei uns kein fremder Herr, und sei es der Gemahl der Herzogin, 'regieren', also auch nicht 'Regent' sein kann.“
Einen so groben Strich durch die Rechnung schien der Herzog nicht erwartet zu haben. Leidenschaftlich schnellte er empor.
„Ein fremder Herr? Und sei es der Gemahl der Herzogin?“ rief er mit zornfunkelndem Blicke. „Ihr meinet also meinen Sohn, meinet mich. Herr Präsident, Ihr beleidiget mich. Machte es mich hier zum Fremden, daß ich ein deutsches Fürstenthum besitze, so müßte es mich auch in Deutschland zum Fremden machen, daß ich Brabanter Bürger bin. Aber gelten Euch denn Dienste und Verdienste nichts? Gilt Euch Aufopferung für das Gemeinwohl minder, als der Wohnort? – Ihr lieben Brüder, theure Freunde – ihr Alle, Abgeordnete, wie Volk von Gent, euch rufe ich an: Ich, euer Mitbürger, euer Freund in der Noth, ich ... euch ein Fremder?“ Und wie den Himmel zum Zeugen solchen Frevels anrufend, hob er die Rechte empor.
„Ein Schuft, ein Lügner, der das sagt!“ dröhnte die Stimme Nikol's, der sein Scepter schwang. Eine unbeschreibliche Scene folgte.
„Schlagt ihn todt! Schlagt ihn todt!“ brüllte das Gesindel, und wie auf Commando starrte der Säulengang plötzlich von Knitteln, Keulen, kurzen Spießen, welche die bisher sorgsam hinter dem Rücken gehaltenen Arme plötzlich in der Luft schwangen. Erschrocken fuhren die nächstsitzenden Abgeordneten von ihren Sesseln zurück. Unwillkürlich rückte der Vicepräsident vor den auf ihn Andrängenden näher an den Herzog.
„Herr Herzog!“ stieß er halb vorwurfsvoll, halb entsetzt heraus. Schützend streckte dieser seine Hand über den Bedrohten, und, wie selbst betroffen über die Wirkung seines Appells, rief er ein lautes:
„Halt, Freunde, halt!“
„Heil dem Herzog von Cleve! Heil dem Regenten!“ brüllte Nikol, sogleich ablenkend, und „Heil dem Herzog, Heil dem Regenten!“ hallte es hundertfach wieder.
„Ein recht leutseliger Herr!“ redete der Holländer kalt ironisch den Papageifarbenen an.
„Recht niederträchtig! gab der Papageifarbene zitternd und mit unzweideutiger Betonung der letzten Sylben zurück.
„Wir sind verrathen und verkauft,“ flüsterte ein Anderer seinem Nachbarn zu.
„Gott schütze Niederland!“ seufzte der Nachbar.
Cleve aber hatte seine ganze Beherrschung wieder gewonnen. Die gewaltsame Machtenfaltung, die er sich für den Augenblick der Noth aufgespart, hatte ihre Wirkung gethan. Jetzt galt es die Einschüchterung der Gemüther ohne Säumen zu benutzen. Er winkte mit der Hand. Stille trat ein.
„Nein, ihr lieben Leute,“ redete er mit den weichsten Tönen seines Organs das Volk an, „so war es nicht gemeinet. Sparet euren tapferen Muth, bis uns wirkliche Feinde bedrohen. – Nur daß ich kein Fremder, solltet ihr mir bezeugen, und ich danke euch für den energischen Protest, den ihr dagegen eingelegt. Was aber das Wort 'Regent' betrifft, so ist es eben nur ein Wort, das nichts zur Sache thut. Denn die Befugnisse sind die Sache, und sie sind dort niedergeschrieben. Schreibet doch auch dieses alsbald hinzu, ihr Herren Notare, damit wir auch den letzten Argwohn zerstreuen mögen – und ihr, werthe Abgeordnete, wollet nunmehr zur Wahl schreiten, nach dem einfachen Modus, den ihr bei den Berathungen über eure Privilegien adoptiret habet! ... Hat Jemand einen Vorschlag zu machen?“
Riom erhob sich.
„In Anbetracht meiner ... rein sachlichen Gründe schlage ich den Herrn Herzog von Cleve zum – zum – mit einem Worte: zum Regenten vor.“
Man hätte ein Sandkorn zur Erde fallen hören können, so tief und peinlich war die Stille.
„Hat Jemand noch einen anderen Vorschlag zu machen?“ fragte Cleve.
Ein verdächtiges Rasseln in den Reihen des Pöbels – sonst tiefe Stille.
„So erübrigt mir nur, über den Antrag des ehrenwerthen Riom nach dem Modus der Staatenkammer abstimmen zu lassen. Wer gegen die Wahl des besagten Herzogs von Cleve zum Regenten stimmt, wolle sich erheben!“
Das Messer war den armen Opfern des von ihnen selbst gegen das Regiment ihrer Herrin erfundenen „Modus“ an die Kehle gesetzt. Mit langen Hälsen starrten vom Säulengange her hundert Späheraugen, Mordlust im Blick, auf jede ihre Bewegungen. Sich erheben, hieß dem Tode in's Auge sehen, sitzen bleiben, sich unter das Joch zu beugen. Aber wie stets die Scheu, etwas zu lassen, überwogen wird von der Scheu, etwas zu thun, so auch hier. Nur der Vicepräsident erhob sich sofort, verließ seinen Sessel und schritt mit Würde, nicht aber ohne die Schritte um ein Merkliches zu verlängern, hinter dem Sessel des Präsidenten herum auf der geschützten Seite den Abgeordneten zu. Der behäbigere Bürgermeister hinter ihm kämpfte noch mit sich, erhob sich, schielte ängstlich zur Seite und entzog sich fluchtartig und nicht ohne Schaden für seine Würde der Gefahr. Auch von den Abgeordneten rückte einer und der andere auf seinem Sessel; zumal der Papageifarbene reckte sich, wie ein halbflügger Vogel über den Rand seines Nestes, flugbereit von seinem Sitze empor, aber drohendes Gemurmel unter den Säulen mit dem Zornruf: „Auf die Plätze! Auf die Plätze!“ genügte, um ihn, wie die Andern auf die Sitze zurückzuschrecken, und als Präsident und Bürgermeister in ihre Nähe kamen, fanden sie Niemanden auf ihrer Seite, als die Holländer, welche, unbeirrt durch Drohung oder Zuruf, ohne eine Miene zu verziehen, mit stoischem Gleichmuth ihre Sessel verlassen hatten. Verächtlich sah ihnen Cleve nach und dann einen triumphirenden Blick über die Versammlung werfend, rief er, die Rechte erhebend:
„Sehet es Alle, und bekundet es, ihr Notare! Die Staaten haben entschieden. Ich bin Regent.“
„Es lebe der Regent!“ erklang die Posaunenstimme Nikol's.
„Es lebe der Regent!“ brüllte der Pöbel ihm nach, daß die Wände zitterten und der Schall, zurückgeworfen, wie Donnerrollen durch den Hofraum wiederhallte.
„Wer rettet uns aus dieser Noth?“ seufzte der Präsident, als er den Holländern die Hände schüttelte.
Dämmerung war angebrochen. Die Notare hatten Mühe, die Beurkundung zu Papier zu bringen. Auf ein Zeichen des Herzogs erhob sich Verno, öffnete die Thür und winkte. Herzogliche Diener, die schon des Zeichens kundig, erschienen, stellten Pechfackeln in die eisernen Ringe an den Pfeilern und zündeten mit brennenden Luntenstäbchen die Ampeln an, so daß in wenig Augenblicken ein Lichtmeer vom düstersten Roth, von [720] Rauch umhüllt, bis zum hellsten Goldschein Saal und Hof durchleuchtete.
Mit den Dienern zugleich aber war eiligen Schrittes Ravestein eingetreten und hatte Cleve über die Schulter zugeflüstert: „Wichtige Neuigkeit, Herr Herzog! Prinz Maximilian ist gefangen. Sie bringen ihn.“
„Gefangen? Er?“ jubelte der Herzog auf. „Zweifaches Glück – denn wisset: ich bin Regent.“
„Ich hörte es noch auf dem Schloßplatze durch die Jubelrufe des Volkes und gratulire.“
„Habt Ihr den Erzherzog gesehen?“
„Nein. Das Gedränge der Tausende, die auf den Plätzen des Signals zum Schmause harren, ist zu groß, als daß man ohne Escorte sich Bahn brechen könnte. Ein Hauptmann meldete mir, man führe den Gefangenen in's Schloß.“
„Hierher? In's Schloß? Das ist gegen meinen Wunsch. Und die Herzogin? ... Mein Gott, Dämmerung ist angebrochen – und mein Sohn noch nicht mit ihr zurück?“
„Zum Glück, Herzog! Denn ... ihren früheren Verlobten dürfte sie doch wohl nicht wiedersehen.“
„Ganz recht, Kanzler, ganz recht! Aber auch ich darf ihn nicht sehen. Alles muß vom Volke gegen ihn ausgegangen scheinen.“
Ravestein horchte auf.
„Höret den Lärm am Portale! Bei Gott, man bringt ihn schon.“
„Dann ist keine Minute zu verlieren – wartet!“
Und wieder vor seinen Sessel tretend, hob der Herzog in der blendenden Lichthelle seine Rechte empor.
„Stille!“ gebot der mächtige Baß Nikol's. Tiefes Schweigen trat ein, aber auf dem Schloßhofe begann es zu wogen, wie wenn sich vom Portal her eine dunkle Masse über Tische und Bänke heranwälze.
„Eine glückliche Nachricht!“ nahm Cleve das Wort. „Man bringt soeben einen hohen Gefangenen ein, einen Prinzen, von welchem Niederland große Gefahr droht. Wohl könnte ich als Regent selbst über ihn beschließen, aber gern beweise ich schon bei diesem ersten Anlaß, daß ich die Vertreter des Staates als die Seele, mich nur als ihren Arm betrachte. Und so lasse ich denn jetzt den hohen Gefangenen für die Staatenkammer in Verwahrung nehmen; sie beschließe –“
„Wer ist es? Wer ist es?“ unterbrachen ihn Rufe von allen Seiten. Aber schon kam das Getöse näher; schon hörte man kaum noch sein eigenes Wort.
„Die Herzogin kehrt zurück. Ich muß ihr entgegen. Das Weitere nachher!“
Trotz seiner mächtigen Stimme konnte Cleve kaum diese Worte noch zur Geltung bringen. Dann wandte er sich an Verno.
„Eilet! Lasset den Prinzen nicht in die Halle! Nehmet ihn draußen in ritterlichen Gewahrsam, nicht in meinem Namen, im Namen der Stadt! Fraget er nach mir, so sagt: ich sei nicht zugegen, sei abgehalten durch den Empfang der Herzogin und ihres Bräutigams, meines Sohnes! Kommt, Ravestein, begleitet mich!“
Und hastig verließ er durch die Thür die Halle. Verno aber eilte durch den Säulengang dem Getöse entgegen.
„Platz da! Platz da!“ rief eben, schon dicht vor der Halle, ein Cleve'scher Hauptmann und bahnte durch die gaffende Rotte Nikol's eine Gasse, während ein Zug Hellebardiere hinter ihm einen Gefangenen umgab. Von rückwärts aber wogte, Tische und Stühle überfluthend, oder auf ebener Erde nachdrängend und schiebend, eine endlose Menge Volkes, zumeist aus der Arbeiterclasse, die, des Schmauses harrend, sich auf dem Schloßplatze neugierig dem Zuge angeschlossen hatte.
„Der Prinz von Deutschland! Der Prinz von Deutschland!“ rief es von allen Seiten und vergebens bemühten sich die auf den Tischen Stehenden, des merkwürdigen, durch die Hellebardiere verdeckten Gefangenen ansichtig zu werden.
Verno nahm schnell den Hauptmann bei Seite, wechselte einige Worte mit ihm, trat in den Zug, der sich vor ihm öffnete, und redete achtungsvoll den Gefangenen an.
„Prinz,“ sagte er, „im Namen der Stadt habe ich Eure Gnaden in ritterlichen Gewahrsam zu nehmen. Wollet mit mir umkehren!“
„Umkehren? Ich? Und Eure Gnaden?“ antwortete dieser mit einem wunderbaren Arbeiten seiner Nasenflügel. „Im Leben nicht! Wer hat Euch Macht über mich gegeben? Sind die Cleve'schen Kaiser oder Könige, daß sie zum Prinzen machen können, wen sie wollen? Sehet mich an! Ich bin Jan der Fiedler, der lustige Fiedler aus Geldern! He, ihr Genter, erkennt ihr mich nicht?“ Und dabei sprang er mit einem Bockssprunge in die Höhe und rückte seinen langen Hals, um beim grellen Scheine der Pechfackeln sein Gesicht erkennen zu lassen.
Ein plötzlicher Ausruf des Erstaunens von einzelnen Stimmen der Arbeiter erscholl.
„Jan, der Fiedler!“ „Bei Gott, der lustige Fiedler!“ „Der Fiedler ein Prinz!“ so schrie es bald durch- und übereinander, von unmäßigem Gelächter begleitet, das sich wellenweise, in Absätzen, je nach Weitererzählung der wunderbaren Begebenheit, über den Hof, den Schloßplatz, ja durch die ganze Stadt fortsetzte, um sich erst an den geschlossenen Thüren zu brechen.
„Ist es möglich?“ wandte sich Verno in peinlicher Verlegenheit an den Hauptmann zurück. „Wie konntet Ihr Euch also täuschen lassen?“
„Er sei vermummt gewesen, wurde mir gemeldet, habe sich versteckt und geschworen, sich nur dem Herzoge ergeben zu können,“ stotterte verwirrt der Hauptmann.
„Ich wäre vermummt gewesen?“ schrie vorspringend Jan, dem kein Wort entgangen war. „Lügen! Lügen! Ein Spaßvogel hatte mir einen Bart angehängt und mir einen garstigen Klecks auf die Nase gesetzt – das ist Alles, und das ist wahr und bei Gott nicht gelogen. Aber protestirt hab' ich, daß ich ein Prinz sei, und wenn ich durchaus einer sein solle, wollte ich zum Herzoge geführt werden. ... Ich bin ein freier Bürger der Staaten. Ausländische haben mich wider das Gesetz in Haft genommen. Der Herzog selber darf es nicht dulden. Helft mir, ihr Bürger!“
Und in zwei Sätzen war er in die Halle gesprungen, mit den Augen vergebens nach dem Herzoge suchend.
„Greift ihn!“ befahl wüthend der Hauptmann. Einige Hellebardiere eilten ihm nach, aber auch eine große Zahl Arbeiter hatte sich inzwischen durch Nikol's Rotte bis zu dem Tische gedrängt, an welchem die Notare, ihre Papiere mit den Händen schützend, saßen. Als dem Fiedler auf seiner Flucht vor den Verfolgern der verlassene zweite Tisch in die Augen fiel, ersah er sich diesen, sprang mit flinkem Satze hinauf, zog seinen Fiedelbogen wie ein Schwert, und in der grellen Beleuchtung mit weithin sichtbarer Grimasse den Bogen schwingend, rief er:
„Wer mich anrührt, ist des Todes.“
Unbändiges Gelächter war die Antwort, und ehe noch die Cleve'schen ihn erreichen konnten, trennte ihn ein Haufe Lachender von denselben.
„Wir spielen eine unwürdige Rolle,“ raunte Verno dem Hauptmanne zu. „Es kann nicht im Sinne des Herzogs liegen, das Volk zu erbittern.“ – Und laut seine Stimme erhebend, rief er: „Lasset ihn! Es war ein Irrthum,“ und verschwand durch die Thür. Der Hauptmann aber zog sich beschämt mit seinen Leuten durch den dunkleren Theil des Laubenganges um den Schloßhof zurück.
Jan hatte gesiegt. Mit gekreuzten Armen stand er da, wie ein Triumphator, und sah ihnen lächelnd nach.
„Ha, da schleichen sie hinweg. In den dunkelsten Gang mit ihren bunten Federn!“ „Lacht sie aus, Bürger, lacht sie aus, die Cleve'schen!“
Jetzt erst ging Nikol ein volles Licht auf.
„Nichts auf die Cleve'schen. Du Lump!“ brüllte er. „Heil dem Herzog von Cleve! Heil dem König von Burgund!“ Und er erhob seine Signalstange.
„Heil, Heil!“ hallte es wieder.
Aber der Fiedler ließ sich nicht einschüchtern.
„So? Den laßt ihr hoch leben?“ spottete er. „Wünsche euch viel Glück mit ihm! Wenn nur die Herrlichkeit lange dauert! Ich bringe da eine verfluchte Neuigkeit. – Wollt ihr sie hören?
„Nichts da!“ schrie Nikol. „Stopft dem Rebellen den Mund!“
Aber Andere waren anderer Meinung.
„Hört ihn! Hört ihn! Her mit Deiner Neuigkeit, Fiedler!“
[733] Jan that den Mund auf. Aber der Lärm der beiden durcheinander schreienden Parteien, die er, ohne es zu wollen, geschaffen hatte, machte es ihm unmöglich zu Worte zu kommen. Da riß er seine Fiedel vom Gürtel und that ein paar schrille Bogenstriche.
„Er spielt auf. Er spielt auf. Still!“ rief es und lachte es. Endlich trat ein Moment leidlicher Ruhe ein.
„Ihr Genter, sperrt die Ohren auf!“ rief er, den Moment benutzend, mit gellender Stimme. „Große Neuigkeit! Der Präsident ist todt.“
Die Wirkung dieser Worte war eine augenblickliche. Ein leises Gemurmel wie von Hunderten sich gegenseitig Fragender rollte durch die Halle und über den Platz; dann folgte unmittelbar ein concentrisches Vordrängen gegen den Tisch, auf welchem der Sprecher stand. Auch die Abgeordneten traten mit erschreckten Mienen herzu.
„Der Präsident todt, sagt Ihr?“ rief es fragend von allen Seiten.
„Mausetodt! Hat das Ende vom Waffenstillstand nicht abgewartet. Wußte, daß er Gent nicht retten konnte. Mord und Brand geht wieder los. Ihr seid verloren mit sammt euren Cleve’schen.“
„Er lügt, er lügt,“ brüllte Nikol, und suchte zu ihm vorzudringen. Aber vergebens; die Menge um Jan stand Schulter an Schulter. Das Gefühl seiner Sicherheit erhöhte seine Zuversicht.
„Ich lüge nie,“ sagte er stolz.
„Von wem willst Du, Hund, denn Deine Neuigkeit haben, da Du doch gefangen eingebracht worden bist?“
„Von wem? Von wem anders, als von Einem, der hundert Augen und hundert Ohren hat? Höre und sinke in die Kniee, du Schneiderseele: Vom 'Hugh'.“
„Vom 'Hugh',“ raunten ihm die Umstehenden leise nach, indem sie sich bedeutsame Blicke zuwarfen.
„Ein Feind Burgunds ist er. Ein französischer Spion!“ schrie Nikol.
„Hört doch! Kann man dümmer sein, als dieser großmäulige Baßtrompeter? Ein Gelderer französisch! Das wäre gerade so viel wie: der Clever ist ehrlich.“
„Königsbeleidiger! Hochverrath! Schlagt ihn todt! Schlagt ihn todt!“ wüthete Nikol und fuchtelte mit seiner Eisenstange in der Luft umher, aber kräftige Arme wehrten ihrem Niederfalle.
„Frieden,“ rief Jan. „Frieden! ... Volk von Gent, er soll mich todtschlagen. Ich biete ihm einen Vergleich. Ich will für die Wahrheit sterben. Er soll mich verschlingen mit Haut und Haar, der lange Menschenfresser, wenn ich ihm nicht beweise, daß er ... ein Esel ist.“
Unmäßiges Gelächter begrüßte den Vorschlag.
„Beweise, beweise!“ rief es rings. „Aber beweisen mußt Du, Fiedler, sonst geht Dir’s schlecht.“
Jan that einen Geigenstrich und setzte sich in Positur.
„Vielwerthe Zuhörer,“ hub er würdevoll nach Art der Rhetoriker an: „Wisset ihr wohl, wie’s der Neuntödter mit dem Hornkäfer macht? Seht, weil er ihm von oben nicht beikommen kann, so faßt er ihn fein säuberlich mit dem Schnabel und trägt ihn auf seinen Thronsitz. Das ist aber allemal ein Dornstrauch. Dem Käfer ist dabei kreuzwohl zu Muthe; er kommt ja auf den Thron und braucht nicht einmal zu fliegen. Aber warte nur, Käferlein! Hat dich dein Patron erst oben, dann spießt er dich langsam an einen Dorn und frißt dich bei lebendigem Leibe von unten auf. Nun saget doch, ob es nicht gerade so der Clever mit euch klugen Leuten macht und zumal mit seinem Posaunenbläser da? Faßt er den nicht auch mit seinem sanften Schnabel und hebt ihn mit sich in die Höhe? Und er dünkt sich wunders was. Aber warte nur, Meckerbock! Du gehst auf’s Eis, um zu tanzen, und darum sage ich: du bist ein Esel.“
Zwei Fiedelstriche beschlossen die Argumentation.
„Der versteht’s,“ flüsterte es unter den Abgeordneten.
„Er hat Recht. Das ist bewiesen,“ lachte es unter den Arbeitern.
„Das ist nichts bewiesen. Königsschänder! Galgen und Rad! Gebt Raum!“ tobte Nikol, und eine freie Bahn zwischen den nächsten Köpfen ersehend, faßte er seinen Goedentag an der untersten Spitze und holte zum tödtlichen Schlage mit dem Keulenende aus. Der Fiedler bog sich vor dem drohenden Verderben bis an den äußersten Rand des Tisches, aber ehe noch der Schlag gefallen war, schnellte er plötzlich der Länge nach in die Höhe, schwenkte den Fiedelbogen dem Schloßhofe zu und rief: „Sie kommen. Sie kommen. Das ist der Adler, der den Aasgeier zwingt.“
Aller Augen richteten sich seitwärts. Selbst Nikol’s Kopf wandte sich, während sein Arm, zum Schlage erhoben, in der Luft blieb. Pferdegetrappel tönte durch das Portal. Getümmel [734] nahte. Abgesessene Reiter bahnten rücksichtslos eine breite Gasse zwischen den Tafeln über den Schloßhof. „Platz für die Herzogin von Burgund!“ rief es, und rechts und links flog auf die Seite, was im Wege stand. Beim Scheine der Pechfackeln sah man die Herzogin vom Zelter steigen. Ein hochgewachsener junger Mann war vor ihr abgesprungen und hob sie aus dem Sattel. Sie schritt mit ihrem Gefolge geradeswegs auf die Halle zu. Ein weiterer Trupp Bewaffneter schloß den Zug. – Neugierig, aber schweigend gaffte das Volk. Noch schien Niemand etwas Auffallendes in dem Ereigniß zu finden; war doch die Herzogin anscheinend wiedergekommen, wie sie ausgeritten war. Nur Nikol's Auge bohrte sich immer stierer in die nahende Gruppe. Die Worte des Fiedlers, die Art wie die Bewaffneten mit dem Volke umsprangen, das hatte seinen Argwohn, die hohe Gestalt des jungen Ritters, soweit sie erkennbar, aber seine Aufmerksamkeit erregt.
„Hollah. was ist das?“ rief er plötzlich, als die bahnbrechenden Reiter näher vorgedrungen waren, und mit glühenden Augen streckte er sich vor wie zum Sprunge.
„Die Cleve'schen werden grob,“ meinte ein Anderer.
„Das sind im Leben keine Cleve'schen,“ rief ein Dritter.
„Seht doch die Helme, seht doch die Farben!“ entgegnete Jener.
„Platz für die Herzogin von Burgund!“ erscholl es jetzt dicht vor der Halle, und vor den wuchtigen flachen Hieben nach beiden Seiten zurückprallend, drängten und preßten sich Arbeiter und Pöbel so dicht zusammen, daß selbst Nikol, unfähig ein Glied zu rühren, sich in ihrer Mitte wie eingemauert fand. Eine breite Gasse von Spalier bildenden Bewaffneten hielt den Zugang in die Halle offen. Die Abgeordneten aber ordneten sich, ihre Sessel zurückschiebend, um die Herzogin in corpore zu begrüßen. Von dem hochgewachsenen jungen Ritter an der Hand geführt, betrat Maria den Säulengang. Ihr wirres Haar unter dem spitzen Hut und ihre gerötheten Wangen deuteten auf einen ungewöhnlich scharfen Ritt, ihre unruhigen Blicke auf eine tiefe innere Erregung. Vor der Halle hielt ihr Begleiter an und überflog mit einem stolzen, forschenden Blicke das Innere des Raumes, doch schien er nicht zu finden, was er suchte, denn er wandte sein Haupt gebieterisch rückwärts und rief mit befehlender Stimme einem älteren Ritter zu:
„Der Herzog ist nicht zugegen. Lasset alle Stadtthore besetzen!“
„Es geschieht soeben, Herr,“ war die Antwort.
„Sperret die Einfahrt zum Schloßhof! Niemand kommt von hinnen. Wer Widerstand leistet, wird niedergemacht. Ihr selbst mit hundert Hakenschützen suchet den Herzog!“
Der alte Ritter eilte durch die Reihe der Bedeckung zurück, und jetzt erst gewahrte man, daß hinter dieser noch ein langer Zug in Grau Gekleideter und mit Luntenflinten Bewaffneter folgte; sie trugen Filzkappen mit grünen Zweigen; eine Hälfte dieser Kriegsleute nahm der Ritter mit sich.
Es war kein Zweifel mehr. Nikol ging ein schreckliches Licht auf – sein Königstraum war in Gefahr; ein plötzlicher Wechsel, ein Ereigniß war eingetreten.
„Verrath! Ueberfall! Kronenraub!“ brach er plötzlich mit Donnerstimme los, die noch erhobene Eisenstange hoch über sich in der Luft schwenkend. „Brecht Bahn, läutet Sturm! Schlagt sie nieder! Hoch der König von Burgund! Hoch Cleve!“ Und „Hoch Cleve!“ scholl es ihm aus hundert Kehlen, vereinzelt oder in Gruppen, wie seine Rotte unter dem Arbeitervolk stand, in dröhnenden Rufen nach, und mit gewaltsamer Anstrengung der Arme hoben sich Knittel und Spieße über der Menge hervor, während ihre Träger[WS 3] sich von drei Seiten zu dem Führer durcharbeiteten, der an der Spitze eines Trupps, wie ein Rasender Alles vor sich niederstoßend, geradeswegs auf den „Kronenräuber“ durchzubrechen strebte.
Das war der Augenblick, welchen Maximilian für Maria gefürchtet, als er sie noch beim Absteigen vom Zelter dringend gebeten hatte, sich mit dem Hoffräulein in ihre Zimmer zurückzuziehen und abzuwarten, bis er mit Cleve in der Halle abgerechnet haben würde. Aber sie war nicht zu bewegen gewesen, den Geliebten allein der Gefahr zu überlassen. Dieses kindlich-schreckhafte Gemüth konnte sehr wohl wirklichen Muthes, nicht bloßer Anwandlung dazu, fähig sein, wenn ... ihr Herz dabei in Frage kam, und sie hatte ein richtiges Urtheil über sich ausgesprochen, als sie ihm geantwortet: an seiner Seite werde sie die wirkliche Tochter ihres Vaters, ja, werde seine Beschützerin werden. Denn allerdings konnte nur ihre Gegenwart und ihre Vollmacht allein dem Prinzen das Recht, für sie zu handeln, und damit einen gewissen Schutz für ihn selbst verleihen. Daß Cleve die Abgeordneten in der Halle um sich versammelt habe, war ihnen bekannt geworden, als sie, nach dem tollen Ritt durch das Brüsseler Thor sprengend und die den Plätzen der Stadt zuwogenden Menschenmassen erblickend, unter Hugo's Führung auf Seitenstraßen dem Schlosse zugeeilt, zuletzt aber dennoch genöthigt waren, sich den Weg durch die Menge zu bahnen. Ihr ganzes Heil hatten sie nach kurzer Besprechung auf dieser Strecke in überraschendem Auftreten in der Versammlung erkannt, aber selbst wenn es Maximilian gelingen sollte, mit seiner Geleitsmacht sich Cleve's zu versichern, so ließ sich doch bei den Abgeordneten nur von der Autorität der Herzogin selbst auf Entgegenkommen hoffen.
Unter solchen Umständen war es Maria's liebendem Herzen unmöglich erschienen, Maximilian zu verlassen, zumal das für sie Schrecklichste, ein Zusammenstoß mit feindlichen Pöbelmassen im Schloßhofe selbst, gar nicht in Frage stand. Jetzt aber war Alles anders gekommen. Anstatt dem Herzog von Cleve sah sie sich dem wuthentbrannten Pöbel gegenüber. Hier war ihre Autorität gleich Null. Hugonet's und Imbercourt's blutige Häupter schwebten vor ihren Augen; Nikol's furchtbarer Drohruf erschütterte alle ihre Nerven – sie zitterte wie Espenlaub.
Wenn dagegen irgend etwas im Stande gewesen wäre, Maximilian's Kampfbegierde auf den Höhepunkt zu treiben, so war es dieser Anblick. Die jugendliche Braut, die rechtmäßige Herrin dieses Landes, bedroht vom Pöbel, mißachtet in ihrer Hauptstadt an seiner Seite zu sehen, war zu viel für ihn. Das Blut schoß ihm in den Kopf, sein Auge sprühte. Ohne eine Secunde zu verlieren, schob er sie rückwärts in die Halle, rief Hugo zu: „Schützt Eure Herrin, Ritter!“ zog sein Schwert und stürzte sich mit dem Ruf: „Hie Maria von Burgund!“ Nikol's Rotte entgegen.
Aber wunderbar – kaum hatte er sich in dem wüsten Durcheinander, das entstanden war, bis auf Schwerteslänge den Weg zu ihm gebahnt, als der Riese, die Eisenstange fallen lassend und mit den Armen in der Luft herum fuchtelnd, vor seinen Augen plötzlich lautlos zusammenbrach. Ein allgemeiner Aufschrei folgte. Die Pöbelhaufen blieben, wie versteinert von dem Anblick, mit weit aufgerissenen Augen und noch erhobenen Waffen festgebannt an der Stelle, wie Jeder stand – ihr Häuptling, ihre Seele war gefallen; was sollten sie beginnen? Sein Loos theilen? Und was für ein Loos? Welche unsichtbare Hand hatte ihm den Tod gebracht? War ein Blitz vom Himmel gefahren? Denn von den Bewaffneten der Herzogin – das stand fest – war noch Niemand mit ihm handgemein geworden.
Die gleiche Frage that sich auch Maximilian, als er sich so plötzlich der unwürdigen Aufgabe überhoben sah, seine Hand mit dem Blut des Volks zu beflecken. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
„Ecco Signor mio!“ meldete Junker Fürwittig, der, neben ihm auftauchend, eine klafterlange Eisenstange mit rothem Maßzeichen daran mühsam niederwarf. „Hier lege ich Euch das Schwert des grimmigen Riesen zu Füßen. Es muß wohl ein Schneider gewesen sein, wie Ihr seht.“
„Du, Fürwittig?“ rief erstaunt Maximilian. „Du selbst hättest –“
„Con permesso, mi Principe! Da Ihr mich immer noch auf die Sporen vertröstetet, so habe ich mir einstweilen das Maß dazu genommen. Schmächtig wie ich bin, konnte ich mich zu dem groben Gesellen durchwinden und habe ihn todtgestochen. Es war kein Kunststück.“
„Heia!“ jubelte jetzt zur nicht minderen Ueberraschung Maximilians die gellende Stimme seines alten Freundes, des Fiedlers, vom Tische her durch die Menge – und zwei schrille Geigenstriche begleiteten sie über den Platz hinweg. „Heia, Bürger von Gent, der lange Schreihals hat das Zeitliche gesegnet. Der Clever hat das Weite gesucht. Der Sohn des Weißkönigs mit den Fünfzigtausend ist da, und der spaßt nicht. Füget euch drein, sage ich, und folget wieder eurer rechtmäßigen Herzogin! Sonst könntet ihr für euren Durst faßweise zu trinken bekommen, aber Blut statt Wein, und: 'aus wär' der Schmaus'.“
[735] Es war ein Wort zur rechten Zeit. Die Arbeiter, die in Erwartung eines Festabends und ohne Waffen gekommen waren, hatten ohnehin von Anfang an keine Neigung verspürt, um unerklärter Vorkommnisse willen an Thätlichkeiten theilzunehmen, und sich für den Fiedler nur als Verfolgten und als humoristische Persönlichkeit interessirt. Zudem sahen sie in der Herzogin und den Abgeordneten das rechtmäßige Regiment vertreten. Und für was sollten sie sich auch noch schlagen, wenn der herzogliche Schutzpatron wirklich das Weite gesucht hatte? Was war überhaupt der Zweck der ganzen Begebenheit? Des Fiedlers Wort fiel so entscheidend in den aufgeregten Haufen, daß, gleichsam als ob bei allen diesen verzweifelten Gestalten ein und derselbe Nervenstrang angezogen worden wäre, eine nach der anderen die erhobene Waffe heimlich sinken ließ, ja sichtlich bemüht war, sie an derselben verschämten Stelle wieder zu verbergen, wo sie bei ihrem ersten Auftreten einen so zweideutigen Platz gefunden hatte.
Mit einem einzigen Blicke erfaßte Maximilian die Lage der Dinge. Einige Schritte zurücktretend, um besser gesehen zu werden, hob er sein Schwert empor und rief mit klangvoller Stimme:
„Höret mich, ihr Genter! Die Herzogin, eure Gebieterin, verzeiht Jedem, der sich gegen sie vergangen, wenn er zum Gehorsam zurückkehrt. Aber Gesetz und Ordnung wird hergestellt werden. Denn so wenig wie ihr mit dem Kopfe nach unten, so wenig vermag der Staat mit den Füßen in der Luft zu stehen. Erwartet in Frieden den Ruf zu Braten und Wein! Die Herzogin will euch den Schmaus gewähren. Aber betragt euch fein säuberlich, wie geladene Gäste, und nicht auf die Art, die der Clever euch gelehrt! Hinweg mit den Spießen, hinweg mit den Knitteln! Halloh, ihr Schützen, nehmt ihnen die Waffen und gebt ihnen Kellen und Löffel dafür! Keine Rücksicht, keine Gnade – den Knittel oder den Kopf!“
Die Wirkung dieser energischen Worte war eine mehr als drastische; sie war eine tragikomische. Denn kaum waren die Hakenschützen dem Befehle gemäß in die Reihen gebrochen, um nach Waffen zu suchen, so gab es deren schon nicht mehr. Lachend wiesen die friedlichen Arbeiter mit den Fingern auf den Boden, um den Soldaten die Spieße und Keulen zu zeigen, die jetzt von ihren Besitzern mit der unschuldigsten Miene schmählich verleugnet wurden.
„Victoria!“ jubelte Jan und sprang vom Tische.
„Siehe da, meine heldenmüthige Braut!“ wandte sich Maximilian lächelnd zu Maria zurück, „mit denen wären wir fertig trotz Hugonet und Imbercourt.“
„O Max,“ rief sie mit Thränen des Dankes, „Gott sei dafür gepriesen in Ewigkeit! Dieser Stunde will ich gedenken mein Leben lang. Noch beben mir die Glieder von dem Ritte, wie in wilder Jagd, mit den Hufschlägen der Cleve'schen hinter uns, aber von dieser furchtbaren Scene erzittert mir das Herz. Und doch droht uns noch immer das Schlimmste vom Clever selbst.“
„Beruhige Dich, Geliebte! Mein Ehrenhold ist der rechte Mann für ihn. Jetzt aber ein Wort mit den Herren Abgeordneten! Sie scheinen Dich ansprechen zu wollen. Unterrichte mich schnell, wer und was ihre Führer sind!“
Und ihn auf die Seite nehmend, setzte ihn Maria von dem Nothwendigsten in Kenntniß.
Eben erst waren die Abgeordneten im Stande gewesen, Maximilian voll in's Gesicht zu sehen. Längst schon hatten sie im Verlauf der Ereignisse unter sich gefragt und hin und her gerathen, wer der Begleiter Maria's sein möge. Wohl wäre ihnen in ihrer jetzigen Bedrängniß unter allen Prinzen Maximilian von Oesterreich, sowohl wegen des Rufes, der ihm voran ging, wie wegen der Macht, die er gegen Frankreich in die Wage werfen konnte, der erwünschteste gewesen, aber schließlich mochte es sein, wer es wollte – er kam ihnen wirklich als Erlöser aus einer Gefahr, deren Furchtbarkeit sie zu ihrem Schrecken kennen gelernt hatten. Als daher der Vicepräsident plötzlich voll freudiger Zuversicht ausrief: „Bei Gott, Erzherzog Maximilian! Er ist es; ich sah ihn in Trier,“ da zog ein einstimmiges Beifallsgemurmel durch ihre Reihen, und freudig folgten sie seiner Aufforderung, die Herzogin mit dem edlen Prinzen zu bewillkommnen.
Maria hielt Maximilian's Rechte, als die Vertreter ihrer Staaten sich ehrerbietig vor ihr verneigten.
„Gnädiges Fräulein,“ begann der Vicepräsident, „die Stadt Gent und die Vierstaaten sind glücklich, ihre erhabene Gebieterin mit dem edlen Prinzen als Retterin aus großer Noth zu begrüßen.“
Voll Hoheit hob sich Maria empor. Die Anrede stand in zu großem Gegensatz zu den Scenen tiefster Erniedrigung, die man sie in der jüngsten Zeit hatte erleben lassen, als daß sie ihr nicht das traurige Bild derselben wieder vor die Seele geführt hätte.
„Und das sagt ihr mir jetzt,“ erwiderte sie, Maximilian's Hand lassend und einen Schritt vortretend, mit tiefem Vorwurf, „jetzt, nachdem ihr mich von meinen Freunden getrennt, meine edle Stiefmutter verbannt, meine Räthe hingerichtet habt? Gott verzeihe euch, was ihr gethan! Ich selbst kann ihm nur knieend danken, daß er mich die Prüfung gnädig bestehen ließ. Denn durch sie bin ich mit dem Prinzen vereinigt worden, den ich liebe und dessen starker Arm mich künftig schützen wird. Ja – höret es Alle – ich bin nicht mehr gesonnen, mir einen fremden Prinzen zum Gemahl aufdrängen zu lassen, weder von unberufenen Dritten, noch von meinen Unterthanen. Aus meiner Hand sollt ihr euren neuen Regenten empfangen – hier steht er.“
„Ja, hier steht er, der neue Regent. Und er dankt Euch, schönes Bäschen,“ erklang plötzlich zu ihrer Linken die treuherzig sonore Stimme des Herzogs von Cleve, der unbemerkt durch die Thür hinter den Abgeordneten eingetreten war und, wie der gerufene Wolf, in diesem Augenblicke neben ihr auftauchte.
Sprachlos vor Erstaunen starrte Maria auf den gleichsam dem Boden entstiegenen, unwillkommensten aller Gäste. Sprachlos blickten Präsident und Abgeordnete auf den gefürchteten Peiniger, den sie glücklich entflohen geglaubt hatten. Aber sie kannten ihn schlecht. Je kleiner das Raubthier, je frecher. Als er auf die falsche Nachricht von der Gefangennahme Maximilians die Halle verlassen, war er zu Pferde gestiegen, um in Begleitung eines Dieners die Herzogin mit seinem Sohne am offengehaltenen Brüsseler Thore zu empfangen und mit ihr, ehe sie noch von Maximilian's Anwesenheit Kenntniß habe, das Protocoll über das Verlöbniß und die Regentschaft unterschriftlich zu vollziehen. Das dichte Gewoge des Volkes hatte auch ihn genöthigt, auf Umwegen das Thor zu gewinnen. Aber siehe da, als er es erreicht, hatte er es geschlossen gefunden, eine verdächtige Wache gesehen und noch rechtzeitig durch Rufe Vorübereilender erfahren, daß die Herzogin mit fremdem Hülfsvolke dem Schlosse zugesprengt sei. Sofort schlug nun auch er den Rückweg ein, aber es war nur noch möglich, Schritt für Schritt zum Schloßplatze zu gelangen; hier mußte er sogar absitzen, um überhaupt das Schloß erreichen zu können. Am Portale erwartete ihn Verno mit der Schreckenskunde, daß Maximilian nicht gefangen, daß die Herzogin in fremder Begleitung, aber mit geringer Bedeckung geradeswegs nach der Halle gegangen sei. Von einem ihrer Reitknechte aber habe er auf seine Frage nach dem Prinzen Adolf erfahren, derselbe sei mit den tausend Reitern auf der Straße nach Brüssel dicht hinter ihnen drein gewesen. „Ah!“ hatte der Herzog triumphirend ausgerufen. In diesem Augenblicke erscholl die Donnerstimme Nikol's „Verrath! Ueberfall! Kronenraub!“ und Cleve, verwegen, wie er war, und vertrauend auf die Menge des bewaffneten Pöbels vor der Halle, zögerte keinen Augenblick in seinem Entschlusse. Verno auf alle Fälle Befehle hinterlassend, schlüpfte er in's Schloß, flog in fieberhafter Eile durch die Corridore zu ebener Erde und erschien, unbekannt mit dem, was in den letzten Minuten geschehen, mit der unbefangensten Miene neben Maria.
„Ja, hier steht der neue Regent, und er dankt Euch, schönes Bäschen,“ wiederholte er lächelnd und um so zuversichtlicher, als er die Bestürzung in Maria's Mienen, wie in denen der Abgeordneten las. Dann aber, als ob er erst jetzt den Prinzen bemerke, der über solche Frechheit schier verwundert dastand, trat er mit sichtlicher Freude auf diesen zu:
„Ah, wen erkenne ich? Mein gnädigster Herr! Ihr hier? Welche freudige Ueberraschung!“
„Ich lese sie in Euren Zügen,“ erwiderte ironisch Maximilian.
Er aber ließ sich nicht beirren, und es war ein Schauspiel für Götter und nicht minder für eingeweihte Sterbliche, wie den mit verschränkten Armen von fern beobachtenden Hugo, diese beiden Gegner, von denen der eine den anderen in seiner Gewalt wußte, der andere aber dasselbe von jenem zu glauben [736] vorgab, unter den höflichsten Formen hinter der Maske fechten zu sehen.
„Euer Gnaden kommen doch mit guten Nachrichten von Kaisers Majestät?“ fragte mit äußerster Höflichkeit Cleve.
„Mit den besten, Herzog,“ war die lakonische Antwort.
„Und machen vermuthlich einen kurzen Abstecher von Cöllen?“
„Einen längeren, Herzog, zu dauerndem Aufenthalt.“
„Euer Gnaden, Euer Gnaden!“ wiegte Cleve besorglich den Kopf. „Kaisers Majestät wird erschrecken über die Gefahren, denen Ihr bei so unruhigen Zeiten in fremden Landen Euer kostbares Leben aussetzet.“
„Beruhigt Euch, Herzog! Ich wünschte manchem Anderen, daß sein Leben hier so wohl geborgen sei, als das meine.“
„Jedenfalls dient es mir zu Beruhigung, daß ich Eurer Hoheit eine sichere Bedeckung von tausend Reitern anbieten kann, mit denen mein Sohn soeben durch das Thor von Ypern eingeritten ist.“
Bei diesem mit besonderem Nachdruck ausgespielten Trumpf bemerkte der Schlaue mit Vergnügen, wie Maria zusammenschrak. Maximilian’s Züge konnte er nicht beobachten. Derselbe wandte eben den Kopf seitwärts, um Hugo einen unruhig fragenden Blick zuzuwerfen. Hugo’s Antwort beschränkte sich auf ein ironisches Lächeln.
„Ich danke für Eure Güte, Herzog,“ erwiderte beruhigt der Prinz. „Mein eigenes Geleite wird für mich und Andere genügen.“
„Dennoch kann ich mir nicht versagen, für Eurer Gnaden Schutz auch sonst Sorge zu tragen. Ich habe“ – und ein stolzes Selbstgefühl sprach aus seinen Augen – „einige Macht über die unruhigen Köpfe in Gent. Wenn es Euch beliebt, Euch selbst davon zu überzeugen, so gestattet – – “ Und er wandte sich dem Volke zu, das neugierig gaffend dreinschaute, suchte mit dem Blicke über die Köpfe hinweg offenbar nach einer die Anderen überragenden Persönlichkeit und redete, als er sie zu seinem stillen Schrecken nicht fand, die Menge nur mit um so herzgewinnenderen Tönen an.
„Ihr lieben Brüder, theuren Freunde, ihr machet mich staunen. Ich hörte noch nichts von dem herzlichen Zuruf, mit dem ihr eure geliebte Herzogin zu begrüßen kamt. O, ich weiß, ihr wartetet auf mich, den durch euren und der Staaten Willen zu eurem Sprecher Erwählten. Aber jetzt bin ich da; jetzt dürfen eure Herzen sich in Jubel ergießen, und so stimmet denn ein mit mir in ein einmüthiges 'Heil der Herzogin, Heil!’“
Begeistert streckte er die Rechte empor, daß sie wie ein Signal in der Luft ragte.
Aber o Schrecken! Kein Gegensignal erwiderte das Zeichen; keine Posaunenstimme antwortete darauf; das ihm einst so lieblich tönende Echo war ... verstummt. Aber noch mehr – was war das? Auch die Hunderte, ja Tausende des Volkes, die dort leibhaft vor ihm standen, warum hatten auch sie die Sprache verloren? Vorsichtig genug, hatte er nur der Herzogin Heil gerufen – und dennoch Stille?
Noch einmal, als wäre es ein böser Traum und keine Wirklichkeit, hob er mechanisch den Arm, und noch einmal stieß er krampfhaft ein „Heil, Heil!“ hervor. Vergebens! Keine Antwort, kein Laut. Nur höhnisch zum Lachen verzerrte Mienen starrten ihm schadenfroh entgegen.
Maria wandte sich von dem peinlichen Auftritte ab. Auch in Maximilian kämpften schon großmüthigere Regungen mit den strengen Geboten der Nothwendigkeit. Da machte der Fiedler, er, der bis dahin bescheiden hinter dem Lehnsessel des Herzogstisches verborgen gestanden hatte, rasch entschlossen der Sache ein Ende. Mit einem Satze sprang er auf den Tisch, hob den Bogen und rief:
„Es lebe der Sohn des Weißkönigs! Prinz Teuerdank–Heil!“
Und „Heil, Heil!“ fielen einmüthig Abgeordnete, Arbeiter, Soldaten und selbst das Gesindel ein.
Maximilian erhob mit strengem Blicke und würdevoller Haltung die Hand. „Genug, alter Freund!“ rief er dem Fiedler zu. „Dank Euch, aber genug!“ Der Fiedler sprang vom Tische. Stille trat ein.
„Kommen wir zum Schluß, Herzog! Ihr seht, Eure Macht beim Volke würde mich nicht mehr schützen, ja, sie genügt nicht einmal zu Euerer eigenen Sicherheit.“
„O dieses Volk, dieses Volk!“ knirschte Cleve vor Scham und Wuth. „Aber mit den Reitern, die mein Sohn bringt, will ich es züchtigen.“
„Hoffet auch nicht auf Euren Sohn, Herzog!“ fuhr Maximilian ernst, fast mitleidig, fort. „Die Thore Gents sind für ihn geschlossen.“
Aber dieses Mal strafte ihn der Augenschein Lügen, denn eben eilte durch die Gasse im Schloßhofe schnellen Schrittes eine gedrungene Gestalt mit weißer Feder auf schwarzem Barrett, und in erstaunten Ausrufen rief es: „Der Prinz! Der Prinz!“
„Wahrlich, das ist er,“ entfuhr es mit fast erschrockenem Tone Maximilian. Cleve’s Augen leuchteten. Aber ein Blick auf das unstäte Aussehen des ohne jede Bedeckung daher Eilenden genügte für den alten Fuchs, um Unheil zu wittern, und während alle Anwesenden, durch ein so unerwartetes Ereigniß gefesselt, sich dem Prinzen entgegenwandten, zog er sich vorsichtig einige Schritte hinter Maria und Maximilian zurück.
Wie richtig sein Argwohn, zeigte sich sogleich. Mit unsicherem Blicke stürzte Prinz Adolf in die Halle und ohne aufzublicken, sich vor Maximilian auf die Kniee niederlassend, stammelte er:
„Verzeihung, gnädiger Herr!“
„Ha!“ murmelte Cleve für sich und that heimlich einen weiteren Schritt rückwärts, der ihn der Gesichtslinie der nächsten Abgeordneten entzog.
„Wie soll ich das verstehen, Prinz?“ ließ Maximilian mit finster zusammengezogenen Brauen den vor ihm Knieenden an. „So haltet Ihr Euer Wort? Ihr suchtet mit Euren Reitern vor mir Gent zu gewinnen, und nun ich Euch dennoch zuvorgekommen ...?“
„Bei Gott, Ihr irret, Herr,“ fiel ihm der Prinz in die Rede. „Ja, bei meiner Ehre, ich hielt mein Wort. Aber kaum war ich auf der Heerstraße nach Brüssel eine Strecke geritten, so sah ich auch schon unsere Reiter auf dem Rückwege. Was thun? Fast gedankenlos hielt ich an und lenkte die Zügel rückwärts. Aber kaum hatte sich Huy’s Stute gewendet, so griff sie in’s Gebiß und ging mir durch, unaufhaltsam ... ihrem alten Herrn entgegen, zumal dann, als Ihr gleich darauf in der Ferne vor uns hersprengtet – fast hätte ich Euch noch am Thore eingeholt.“
Mit lächelndem Blicke sah Maximilian auf Maria.
„Wahrlich,“ sagte diese, den Prinzen mit leichter Handbewegung einladend, sich zu erheben, „Ihr seid an mir gerächt, Prinz – ich habe Todesängste ausgestanden, als ich die Hufschläge hinter mir hörte.“
„Und wo sind jetzt Eure Reiter?“ fragte Maximilian.
„Sie werden vor der Stadt halten, denn sie konnten mir nicht schnell genug folgen. Kaum war ich durch das Thor gesprengt, als Eure Wache es hinter mir schloß.“
„Und was seid Ihr gesonnen zu thun?“
„Ich habe Euch Urfehde gelobt,“ sagte freimüthig der Prinz, „und wollte draußen in Geduld erwarten, ob das Schicksal hier für oder gegen Euch entscheide, um fortan Euch oder meinem Herrn Vater zu dienen.“
„Ei, Herr Herzog, höret doch! ...“ wandte sich Maximilian rückwärts.
Aber siehe da – Cleve war verschwunden.
„Wo ist der Herzog?“ fragte er überrascht die Umstehenden.
„Wo ist er?“ wiederholten Alle, Einer den Andern fragend. Aber Niemand wußte Auskunft zu geben; Einige wollten zwar bemerkt haben, daß Cleve sich schrittweise zurückgezogen, aber sie hatten die Bewegung dem Unwillen des Herzogs über die bittende Stellung seines Sohnes zugeschrieben und nicht weiter auf ihn geachtet.
Da trat der Fiedler vor. Er kam von der Verbindungsthür.
„Herr,“ meldete er, „der Herzog ist ...“ und statt jeder weiteren Bezeichnung blies er über die Finger hinweg. „Aber ... noch einen Anderen habe ich gesehen.“
„Wen?“
„Den Rothbärtigen.“
„Ha! Den müssen wir haben. Berichte!“
[749] „Ich hatte ein Auge auf den Herzog,“ sagte der Fiedler, „und als er heimlich durch die Thür verschwand, folgte ich ihm. Zu spät! Er entschlüpfte eben durch ein Nebenpförtlein in dem halbdunklen Corridor. Noch starrte ich ihm nach – da schleicht etwas heran und ruft leise:
'Wo ist der Herzog?'
'Hier,' sage ich, und siehe da, zwei lange Fuchsschwänze tauchen vor mir auf. 'Ha,' rufe ich, aber 'Ha' ruft auch er, und ich sage Euch, Herr, so schnell dreht sich kein Kreisel auf dem Flecke herum, wie er vor mir – und weg war er.“
„Wie konnte er durch die geschlossenen Thore Gents kommen?“
„Bah, Herr, die Art kennt alle Schleichwechsel. Aber seid auf Eurer Hut!“
„Ja, seid auf Eurer Hut!“ bestätigte der jetzt gleichfalls zurückkehrende Herberstein. „Die Stadt zwar ist ruhig; die Absperrung des Schlosses hat ihre Dienste gethan; man hält uns in der Stadt, wie ausgesprengt worden, für holländische Hülfstruppen, mit denen zur Abwehr gegen die Franzosen alle Thorwachen besetzt würden. Die Ueberrumpelung ist überall eine vollständige gewesen. Aber der Herzog von Cleve, er, der Gefährlichste, war nirgends zu finden.“
„Wir glauben's Euch, Alter, lächelte, sichtlich befriedigt von der Meldung, Maximilian, „denn Seine Gnaden war bei Uns. Sein letzter Versuch! Doch als er Lunte gerochen – verzeihet mir, Prinz! – hat er uns Alle überlistet und das Weite gesucht.“
„Soll ich ihm nach, Herr?“ bot sich wiederum der Junker an.
„Nicht doch, Fürwittig!“ beschied ihn launig Maximilian. „Laß genug sein an Deinen Heldenthaten! – Nein, die beste Bürgschaft für ihn ist uns sein Sohn. Und was Euch betrifft, Prinz ...“ Er hielt inne; seine Brauen zogen sich zusammen; die Entscheidung wurde ihm schwer.
Aber der Prinz wartete sie nicht ab. Nochmals ließ er sich auf ein Knie nieder.
„Wagt es mit mir, Herr!“ bat er mit inständig flehendem Ausdrucke in Blick und Ton. „Der Ritt hierher hat mich abgekühlt. Ich war erbittert, als ich Euch verließ, aber aller Groll ist aus meinem Herzen geschwunden. Ich bin Euch so wahrhaft ergeben, daß ich selbst einem Feinde, wenn er Euch zum Siege verholfen, nicht mehr zürnen könnte. Beurtheilt mich nicht nach dem Scheine, sondern glaubet mir! Ich bin ein ehrlicher deutscher Prinz, zum Kriegshandwerk erzogen, und Ihr seid mein künftiger Herr und Kaiser, dem ich einst Heerfolge schulde. Schlagt meinen Arm nicht aus, weil er sich gegen Euch erhoben! Hat mich das Schicksal Euch in den Weg geworfen, so geschah es wider meinen Wunsch und Willen. Gottlob, daß ich dabei unterlegen bin, sonst säht Ihr mich nicht zu Eueren Füßen, und könntet mich nicht aufheben. Thut es, Herr! Mit eintausend Reitern und fünfhundert Fußknechten, von mir selber angeworben, stelle ich mich Euch.“
Es lag etwas so rührend Treuherziges in der Art, wie er diese Rede, die längste und fließendste, die er jemals gehalten, vortrug, daß das stumme Augenspiel der Umstehenden das beste Zeugniß für die Theilnahme gab, die er erweckt hatte. Selbst Maria sah mit bittendem Auge zu Maximilian auf, und Adelheid gar machte eine so auffällige Bewegung mit ihrem Spitzentuche in der Richtung ihrer Wimpern, daß Hugo, sich eines stillen Verdachtes nicht erwehren konnte.
Maximilian aber bot mit kurzem Entschlusse dem Prinzen die Hand und hob ihn auf.
„Ihr habt gesprochen wie ein deutscher Fürstensohn,“ sagte er. „Möchte sich Mancher im Reiche ein Beispiel an Euch nehmen! Wohl denn! Ihr sollt Eure Mannen behalten und mein Feldoberst sein. ... Ritter Ehrenhold, brecht augenblicklich mit dem Prinzen auf, damit es seinem Vater nicht etwa gelingt, trotz der geschlossenen Thore, vor Euch zu den Reitern zu gelangen, und nehmt seine Leute für die Herzogin in Eid und Pflicht! Dem Herzoge, wenn Ihr seiner ansichtig werden solltet, gebt sicheres Geleite nach Deutschland. ... Keine Einwendung, Alter! Das Wort dieses Prinzen und mein Vertrauen in ihn steht mir höher, als jede Vorsicht. – Und nun zu Euch, Prinz! Sobald Mann und Pferde nothdürftig geruht haben, stellt Ihr Euch mit dem Ritter an ihre Spitze und streifet unverzüglich die Straße nach Ypern den Franzosen entgegen. Ihre Vorhut soll nicht weit sein. Wo Ihr sie auch findet, überrascht, überfallt sie in der Nacht, jagt sie auseinander, daß ein heilsamer Schreck in sie fahre und ihr König ersehe, daß deutsche Klingen über ihn gekommen! ... Gott befohlen!“
Freudestrahlend verabschiedete sich der Prinz. Aber noch im Abgehen konnte er nicht umhin, eine Secunde auf Adelheid zu verwenden.
[750] „Jetzt bin ich ganz glücklich,“ rief er ihr zu. „Ich bin Feldoberst, Fräulein. Nun hat es ein Ende mit all dem Firlefanz. Nichts mehr von Weiberschanzen ... halloh, zur Männerschlacht!“
Dann folgte er schleunigst dem Ritter durch den Schloßhof.
Maximilian aber, Maria bei der Hand nehmend, redete jetzt die Abgeordneten an.
„Das letzte Hinderniß ist beseitigt,“ sprach er, „um eure angestammte Fürstin wieder in ihre Rechte einzusetzen. Aus unwürdiger Gewalt befreit, besteigt sie wieder den Thron ihrer Väter und ergreift die Zügel des Regiments. Habt keine Besorgniß für eure Privilegien! Die Herzogin verbürgt euch jede Freiheit, die man euch seit fünfzig Jahren nicht ohne eigenes Verschulden der Städte entzogen. Ihr künftiger Gemahl aber wird ihr zur Seite stehen, um mit starker Hand die Ordnung im Lande, den Schutz dieser Stadt und das Waffenglück gegen den Feind wieder herzustellen. Das Alles wollen wir sogleich urkundlich verbriefen. Fraget nicht nach meinem Namen! Noch heiße ich einfach 'Teuerdank'. Aber der Tag ist nicht ferne, wo ich in anderer Gestalt, mit fliegenden Bannern und vollem Glanze, in eure Thore einreiten werde.“
„Heil Euch!“ rief der Vicepräsident.
„Heil Euch!“ fielen die Abgeordneten ein.
„Dort sehe ich die Notare der Stadt, die der Clever fürsorglich herbeschieden. Kommt, ihr Herren, und verbriefen und versiegeln wir einstweilen in Kürze die neue Ordnung der Dinge!“
Mit tiefer Verneigung folgten ihm die Vertreter der Staaten zum Tische der Notare. In dem übrigen Raume der Halle blieben nur Hugo, Adelheid und der Fiedler.
Hugo hatte sich bisher bei Allem, was geschehen, schweigend und nur in zweiter Linie, gleichsam als Reserve, gehalten. Er beobachtete und verfolgte die naturgemäße Entwickelung der Dinge, deren Fäden er gesponnen, stets bereit, im äußersten Falle helfend beizuspringen, aber sichtlich bestrebt, bis dahin unbeachtet zu bleiben, sodaß Adelheid schon oftmals zu ihm aufgeblickt hatte, als frage sie, ob dieser so theilnahmlos dastehende Mann derselbe sei, den sie im Stillen und nicht ohne Herzklopfen für den geheimen Lenker der merkwürdigen Ereignisse dieses Tages hielt. Nur einmal, bei dem Wuthausbruch des berüchtigten Nikol, hatte sie seine Hand nach dem Degengriff zucken sehen; dann wieder, auf den Zuruf Maximilian's, hatte er das Horn ergriffen, dasselbe, welches schon einmal eine so wunderbare Wirkung gehabt, alsbald aber hatte er auch dieses wieder wie spielend an den Gürtel gehängt und war in die alte Theilnahmlosigkeit zurückverfallen.
Das Alles hatte Adelheid im Stillen beobachtet, und als sie sich jetzt endlich allein mit ihm befand, brannte sie vor Begierde, sich vermittelst ihres beliebten Fangballspiels Aufklärung darüber zu verschaffen. Allein zu ihrer Beschämung und mehr, zu ihrem tiefen Herzeleid, mußte sie sehen, daß selbst sie nicht im Stande war, seine Theilnahme zu fesseln, denn als sich jetzt außer ihr in dem freien Raume der Halle nur noch der Fiedler gegenwärtig zeigte, eilte er, ohne ihr auch nur einen Blick zu gönnen, zu diesem hinüber. Und noch mehr – in welchem Verhältnisse konnte der vornehme, feine Cavalier zu diesem so wunderlichen Manne stehen, der eben noch dem großen Haufen zur Belustigung gedient hatte, daß er ihm beide Hände schüttelte und in vertrautester Weise die Hand auf seine Schulter legte? Vergebens neigte sich die Spitze ihres Zuckerhutes, unter welchem das kleine, schmal angewachsene Ohr neugierig hervorlugte, diesmal ebenso auffallend nach rechts, als es am Nachmittage nach links der Fall gewesen war. Der Raum der Halle zwischen ihnen war zu groß, als daß man ein Wort hätte auffangen können. Vergebens versuchte sie, mit dem Fächer spielend, sich unbemerkt näher zu schieben – die Scheu, sich in seinen Augen herabzusetzen, überwog. So ergab sie sich denn darein, zu warten. Die Libelle „stand“.
Und es war vielleicht gut für sie. Denn hätte sie ihren Wunsch befriedigen, hätte sie hören können, was die Beiden verhandelten: ihr Spitzentuch würde sich nicht minder in Bewegung gesetzt haben, als da der Prinz ihr leicht erregbares Herz zu rühren verstanden hatte.
„Mein treuer Freund in der Noth,“ sprach Hugo fast wehmüthig zum Fiedler. „Nun kommt auch unser Geheimniß zu Tage, und wenn auch das Band, das uns verbindet, niemals gelöst werden kann, so werden wir doch aufhören, Geschichte mit einander zu machen, und Jeder von uns wird in den Kreis zurücktreten, auf den er angewiesen ist. Womit kann ich Dir lohnen, der Du für mich und mein Haus mehr als einmal Freiheit und Leben gewagt? Willst Du ein großer Herr werden?“
Jan schüttelte den Kopf.
„Der liebe Gott,“ sagte er, „läßt die Bäume nicht höher wachsen, als ihre Wurzeln sie tragen, Herr.“
„Du könntest leicht des künftigen Kaisers lustiger Rath werden.“
„Lustiger Rath? Danke, Herr! Ich bin kein Kukuk und lege meine Eier nicht in fremde Nester. Nein, zu Euren Ohren habe ich mein Nest gebaut und manches lustige Stücklein hineingepfiffen. Bei Euch laßt mich bleiben! Euch habe ich die Knabenspiele gelehrt, habe Euch in die Fremde gebracht – nun lasset mich auch alt bei Euch werden!“
Und dieselben Nasenflügel, die so unwiderstehlich zum Lachen reizen konnten, hoben und senkten sich jetzt gewaltsam, um die Thränen zu unterdrücken, die in den Augen des Mannes perlten, als er sie bittend auf das Antlitz seines jungen Herrn richtete.
„Du treue Seele!“ rief Hugo gerührt, und ohne Scheu, ob es von allem Volk gesehen werde, umarmte er ihn, drückte einen Kuß auf seine Wange und rief:
„Wir bleiben zusammen.“
Dann ging er raschen Schrittes, wie als suche er seine Rührung zu verbergen, zu der Gruppe am Tische der Notare.
„Das ist ein Herr. Und das ist ein Lohn,“ schluchzte der Fiedler für sich – „O, thut das einem Geldern'schen Herzen wohl!“
Ein leiser Stoß an den Ellenbogen riß ihn aus seinem Entzücken. Er wandte sich um: Adelheid stand vor ihm. Starr vor Staunen über das, was sie gesehen, war sie unhörbar zu ihm herangeschwebt.
„Fiedler!“ sagte sie leise.
„He?“
„Welchem Herrn gehören denn alle die mit den grünen Zweigen?“
Aber sie irrte, wenn sie glauben mochte, einen schwachen Augenblick bei ihm ersehen zu haben. Der sich noch eben die Augen gewischt hatte, war schon wieder der Alte.
„Möchtet Ihr's wissen?“ sagte er, schlau mit den Augen zwinkernd. „Ich will's Euch sagen, aber verrathet mich nicht! Sie gehören“ – und beide Hände an den Mund legend und diesen an ihr Ohr haltend, blies er mit Schauerton hinaus: „dem 'Hugh'!“
Erschrocken fuhr Adelheid zurück, aber schnell den Spaßvogel erkennend, fragte sie vertraulich neugierig:
„Wer ist denn das?“
Jan's Nasenflügel arbeiteten.
„Ein erschrecklicher Waldgeist,“ raunte er ihr in's Ohr, „der Gottseibeiuns.“
„Ich weiß,“ lachte sie pfiffig, „der von Geldern.“
Jetzt war es Jan, der sie verwundert, fast bestürzt, ansah.
„Ihr wißt? ... Aber, wenn Ihr es wißt ... warum fragt Ihr?“
„Weil – weil – der 'Hugh' – der von Geldern“ – stotterte sie, sich auf eine Ausrede besinnend: da kam ihr, plötzlich, nur durch die Wortstellung vermittelt, ein Gedanke, so natürlich, daß sie ihn für sich selbst erst mit einem „Ah“ begrüßte – „weil der 'Hugh', der von Geldern ... der 'Hugh' von Geldern ist.“
„Bei Eurem Kopf, Fräulein, schweigt!“ rief entsetzt der Fiedler. „Der Tod steht darauf, und spräche einer von den Fünfhundert mit grünen Reisern den Namen aus, es wäre sein letztes Wort.“
„Ich bin aber keiner von den Fünfhundert,“ lachte das Fräulein, „und Ihr sollt gleich sehen, der Hugh reißt mir darum den Kopf noch lange nicht ab.“
Sprach's und schlenderte, da ihr nicht entgangen war, daß Hugo sich eben mit einem Seitenblicke auf sie wieder vom Notartische entfernt hatte, in einer Richtung fort, die ihm nothwendig den Weg abschneiden mußte.
[751] „Die jagt, wie ein Dachshündel auf der Fährte,“ murmelte Jan, ihr nachsehend, „und – weiß Gott – sie stellt ihn.“
Er mußte viel mit Wald und Wild verkehrt haben, der Spielmann, denn es kam, wie er gesagt. Genau auf dem Punkte, auf dem die beiden convergirenden Linien sich schneiden mußten, traf sie, wie zufällig, auf Huy.
„Nun, edler Ritter, sonnet Ihr Euch im Abglanz Eurer Thaten?“ leitete sie das Fangballspiel ein.
„Im Gegentheil, meine Thaten sonnen sich im Abglanz zweier Augen,“ nahm Hugo den Kampf auf, indem er zum Notartische hinüberblickte.
„Wirklich? Und dabei seht Ihr dort hinüber?“
„Gewiß, Fräulein, denn dort steht die Herzogin, die anbetungswürdigste der Frauen.“
„Welch ein Unglück für Euch, daß ihr Bräutigam gleich daneben steht!“
„Im Gegentheil, welch ein Glück! Denn was hätte ein armer Edelmann zu hoffen, auf den selbst Erbtöchter aus Brabant so tief herunterblicken?“
„Hört, Ritter, was nun das betrifft, so gebe ich auf Eure Demuth nicht so viel,“ – und sie schnippte mit dem Finger. „Meint Ihr, ich wüßte nicht längst, daß Ihr Euch nur tief stellt, um übersehen zu werden?“
„Wer sagt Euch das?“
„Mein kleiner Finger.“
„Und ich sage Euch, ich wette meine rechte Hand gegen Euren kleinen Finger, daß Ihr mich für mehr haltet, als ich bin.“
„Wie unvorsichtig, Ritter! Kaum habt Ihr Eure schöne Stute verwettet, so wollt Ihr auch Eure Hand verlieren. Nur her damit, Ihr seid ... der Hugh von Geldern.“
„Der Hugh? ... und von Geldern? ... Das sind zwei Namen, von einem Waldgeist und von einem Lande,“ suchte er auszuweichen.
„Gleichviel, es sind die Eurigen. Ihr seid nicht mehr und nicht weniger, als wofür ich Euch halte – und um mehr habe ich nicht gewettet.“
„Hütet Euch, Fräulein! Denn wäre wirklich seine Rechte verwirkt, so hätte der Hugh immer noch die Linke, um jeden Verrath schrecklich zu bestrafen.“
„Hu ... Kopf ab!“
„Nein, mehr – langsame Todesqual.“
„Bei offenem Feuer ... Gnade! Gnade! Macht’s kurz!“
„Nichts da – lebenslang.“
„Zu Eins?“
„Nein, zu Zweit.“
„Dann mag’s noch angehn,“ lachte die Libelle mit scherzenden Lippen, aber mit einem Blick aus ihren Smaragden, der alle Seligkeit ihres Herzens spiegelte.
„So macht Euch bereit, denn Euer Stündlein hat geschlagen!“ schloß Hugo, einen letzten Blitz aus seinem Auge in das ihrige werfend. Dann nahm er plötzlich die formvolle Haltung des Hofmannes an, um Maria und Maximilian zu erwarten, die er vom Notartische auf sich zukommen sah.
Volles Glück strahlte aus den Augen der beiden jugendlich schönen Verwandten, die eben mit Zustimmung der Staaten die Grundzüge des neuen Regiments, die Gerechtsame der regierenden Herzogin in Burgund und Niederland und die Stellung ihres künftigen Gemahls in kurzer Form festgestellt hatten. Aber die erwartungsvollen Blicke, die sie auf Hugo richteten, als sie sich ihm näherten, bezeugten die Spannung, mit der sie, selbst nach diesem wichtigsten Acte, den Aufklärungen über die geheimnißvolle Macht entgegen sahen, der sie ihr Glück verdankten.
„Jetzt, Ritter Huy,“ nahm Maximilian das Wort, „kommen wir zu Euch! Die Aufgabe ist gelöst; wollet uns nun auch die Lösung erklären, damit wir die Pflichten erfüllen können, die sie uns auferlegt! Denn es ziemt uns nicht, Schuldner zu bleiben, wo wir so viel zu verdanken haben, und, bei unserem Wort, so weit unsere Macht reicht, sei Euch jeder billige Wunsch zum voraus gewährt!“
Hugo ließ sich vor Maria auf ein Knie nieder. Aller Augen hingen an seinen Lippen. Adelheid's Hutspitze bog sich so weit vorüber, daß sie den vorfallenden Schleier zurückhalten mußte.
„Anbetungswürdigste Fürstin“ – begann der Ritter, zum Erstaunen Aller über solche Kühnheit der Anrede – „glaubet mir: nur Euch zu Liebe ...“
Ein leises „Ha“ erstarb auf Adelheid’s Lippen, um sich in ein „er lügt“ zu verlieren.
Maximilian aber konnte sich nicht enthalten, ihn offen zu unterbrechen.
„Ei, Ritter,“ sprach er mit Laune, „das klingt sehr verfänglich. Ich hoffe, Ihr wisset: das stände nicht in unserer Macht.“
„Vollendet nur, Ritter!“ sagte vertrauensvoll lächelnd Maria.
„Bei Gott, nur Euch zu Liebe, Herzogin,“ betheuerte Hugo, „wenn auch zugleich für ein gutes Recht, habe ich unternommen, was der Himmel jetzt mit Erfolg gekrönt hat. Ja, Fürstin, laßt es Euch sagen, Ihr steht meinem Herzen näher, als Ihr glaubt ...“
„Um Gotteswillen!“ stöhnte Adelheid.
„Das wird immer besser!“ suchte Maximilian zu scherzen.
Erschrocken blickte Maria auf den Knieenden.
„In Wahrheit näher, als Ihr glaubt,“ wiederholte unbeirrt Hugo, nachdem er sich mit einem Seitenblick an Adelheid’s Entsetzen geweidet hatte, „denn wisset, ich bin nicht allein das, was ich scheine, bin nicht allein ein Verwandter des Ritters Huy auf Neumünster: nein, ich bin auch der Bruder des weiland Herzogs Adolf von Geldern, Euer leiblicher Vetter Hugo.“
Es lag offenbar eine der Natur abgelauschte Berechnung darin, durch den künstlich voraufgeworfenen Schatten einer Angstwolke den Lichteffect der überraschenden Nachricht zu erhöhen. Aber die launige, spannende Art des Vortrags ließ die Absichtlichkeit vergessen, und so war die Wirkung eine volle.
Maria und Maximilian traten beide unwillkürlich einen Schritt zurück.
„Ist es möglich?“ rief Maria. „Mein Vetter Hugo ... Ihr?“
„Hugo von Geldern ... mein alter Spielfreund ... Du?“ rief Maximilian, ihn emporhebend und ihm kräftig die Hand schüttelnd.
Maria aber schloß ihn im Uebermaße der Freude und des Dankes in ihre Arme und drückte ihm einen Kuß auf die Wange. Mit einem eigenthümlichen Lächeln sah sich Maximilian nach Adelheid um, die, durch solche Auszeichnung ihrer Herrin an den hohen Rang Hugo’s gemahnt, schier betroffen dastand.
„Wie gefällt Euch das, Fräulein?“ neckte er, auf die Scene zwischen Beiden deutend.
„Wenn es Euch gefällt, gnädigster Herr –“ gab sie achselzuckend zurück, – „ich bin unbetheiligt dabei.“
„Ei, Fräulein, Ihr scheint ein bösartig Raubthierlein zu sein, daß Ihr nicht einmal Mitleid mit ... der Wahrheit kennt,“ lachte Maximilian. Dann aber überließ er sie ihrer eigenen besseren Selbsterkenntniß und gab Hugo beide Hände.
„Hugo, alter Freund, wie war es möglich, Dich nicht wiederzuerkennen! Wohl las und las ich in Deinen Zügen und suchte darin, aber das Jünkerlein von ehedem hat sich gewaltig verändert – nur nicht in den Pagenstreichen ...“
„Vom Hofburggarten in Wien,“ vollendete lachend Hugo. „Ihr nanntet Euch damals schon Teuerdank.“
„Ganz recht, und Dich, obgleich Du der Aeltere, Junker Fürwittig. ... Der steht nun dort.“ Und er zeigte auf den Pagen.
„Eccolo!“ sprach dieser, keck hervortretend. „Und er will sich ein Beispiel an Euch nehmen, Herr Graf von Geldern.“
„Non bisogna, cavaliere!“ neigte sich ihm Hugo launig. „Ich sah nur erst Einen Streich von Euch, der aber sagt mir, daß Ihr den Pagenrock nicht mehr lange tragen werdet.“
„Und jetzt berichte!“ drängte Maximilian. „Wie hast Du alles dies in’s Leben gezaubert?“
„Ich war ein armer Flüchtling,“ wandte sich Hugo an Maria, „und beobachtete beim Herzoge Sforza die Verfolgungen, die mein Haus zu erleiden hatte. Mein Bruder in lebenslänglicher Haft, sein Land eingezogen, seine Kinder im Kloster – was gab es in der Heimath für mich zu hoffen? Da fiel Euer Vater, und das Unglück brach über Euch herein. Aber Ihr waret umgeben von meinen Gegnern, waret selbst nicht frei. Was hätte ich unter meinem Namen hier nützen [752] können? Und dennoch war der Augenblick gekommen, meinem Bruder, Euch selbst beizuspringen. Da half der alte Huy, mein Verwandter mütterlicherseits; er lieh mir den Namen seines Neffen, der in Ungarn gegen die Türken kämpft. Sforza, eingeweiht, empfahl mich Euch. Ihr nahmt mich gnädig auf. Huy's Name machte mir selbst Gegner gewogen. Aber was mußte ich sehen? Eure Rechte mit Füßen getreten, Euch selbst unwürdig behandelt! Da empörte sich das verwandte Blut in mir. Wer sein Leben so oft im Kampfe für Fremde gewagt, der sollte dulden, daß die eigene Fürstin, eine schutzlose Waise, vor seinen Augen beschimpft werde? Zu viel. Ich entdeckte mich einem einzigen Getreuen, der als Spielmann und Waidmann die Provinzen zu durchstreifen gewohnt war, und setzte mit ihm und durch ihn den geheimnißvollen Spuk des Hugh in's Werk. Um die Fahne dieses mit selbsterfundenen Schrecken umgebenen Bundes warb er schnell ringsum die mißvergnügten Vaterlandsfreunde, vor Allem aber wußte er die Gelderer zu entflammen, die, treu meinen Hause, seit Adolf's Tode an seinem Sohne hängen. Ein geheimer Aufruf mit meinem Siegel lief im Gelderlande umher: 'Steht auf, ihr Gelderer! Der Hugh will euch retten. Sein Haupt ist Graf Hugo. Er ruft euch zu den Waffen. Sein Bote ist der Spielmann. Auf Verrath steht der Tod.' Und Keiner blieb aus. Selbst unsere Mannen aus dem Staatenheere stellten sich nach dem Falle meines Bruders sammt ihren Hauptleuten insgeheim wieder im Gelderlande. Sie waren es, die ich Herrn Maximilian entgegensandte. Den Erfolg des großen Werkes aber verdankt Ihr nicht mir. Ich war nur die Seele, die stets unterrichtete, von hundert Augen und Armen bediente – das Verdienst gebührt Diesem.“
Und er schritt auf den Fiedler zu, nahm den sich verlegen Sträubenden bei der Hand und führte ihn Maria und Maximilian vor.
„Ah, sieh' da, alter Freund! Wer hätte das in Euch gesucht!“ rief Maximilian, ihm die Hand schüttelnd. „Eure lustigen Späße haben gar manche lange Stunde verkürzt, und bei Gott, der Dank dafür soll Euch reichlich werden. Euch und Eurem Herrn, denn gern bin ich ein Fürst freudiger Menschen, und gern höre ich, es sei mir gut dienen, und man möge sich wohl bei mir erwärmen.“
Und dann einige leise Worte mit Maria wechselnd, wandte er sich an Hugo.
„Dein Sinn steht auf Geldern?“
„Für den jungen Karl, meines Bruders Sohn, gegen dereinstige Zurückerstattung der Pfandsumme an die Staaten,“ erwiderte Hugo ehrerbietig, aber fest. „Denn ich bin jetzt sein Vormund für Katharina, meine Schwester.“
Maximilian ergriff feierlich seine Linke. Maria seine Rechte. Hugo, die Bedeutung erkennend, ließ sich auf ein Knie nieder.
„Wohlan, mein Vetter!“ sprach Maria. „So wie Wir Unsere Hände in Eure legen, so legen Wir Geldern in Eure Hand. Ihr möget sein pflegen, bis Karl einst mündig ist!“
Gerührt drückte Hugo Maria's Hand an seine Lippen.
Jan der Fiedler aber war mit einem Satze wieder auf den Tisch gesprungen, warf seine Kappe in die Luft und rief jubelnd:
„Ihr Gelderer, hört es! Gelderland gehört dem Hugh.“ Und hundert Kappen mit grünen Reisern flogen draußen empor, und hundertfach erscholl es ihm jubelnd nach:
„Gelderland, Gelderland! Hugh, Hugh!“
Zu Hugo's Füßen aber lagen in demselben Augenblick die beiden Hauptleute mit grauen Bärten:
„Willkommen, willkommen für Gelderland, Sohn Herzog Arnold's!“ riefen sie und küßten ihm die Hände, daß ihm vor Rührung ob solcher Treue die Thränen in die Augen traten.
„Dank, edle Muhme, Dank, gnädiger Prinz!“ wandte er sich, als er mit Handschlag die Getreuen begrüßt hatte, an die Spender des Glückes zurück, „und seid versichert, Maria, ich gedenke wieder gut zu machen, was leider mein Bruder einst verschuldet. Hier meine Rechte darauf!“ ... Und treuherzig bot er ihr die Hand dar, aber noch hatte sie dieselbe nicht ergriffen als er, wie auf einen plötzlichen Gedanken und mit einem eigenthümlichen Seitenblick auf Adelheid, sie wieder zurückzog. Erstaunt suchte Maria einen Augenblick in seinen Zügen zu lesen. Adelheid's Augen leuchteten.
„Verzeiht, gnädige Muhme!“ verbesserte er sich, „es muß dieses Mal doch die Linke sein. Die Rechte habe ich nicht mehr zu verpfänden.“
„Wie, Hugo?“
„Sie ist nicht mehr mein, ist verwettet, verwirkt.“
„Erklärt!“
„Durch schnöden Verrath hatte sich Jemand vor der Zeit in mein Geheimniß zu drängen gewußt ...“
Wieder zögerte er einen Augenblick.
„Paßt auf,“ flüsterte Adelheid über die Schulter hinweg dem eben wieder hinter ihr stehenden Fiedler zu – „paßt auf! Jetzt beißt er mir den Kopf ab.“
„Armes Fräulein!“ bedauerte Jan.
„Aber nicht genug an dem Verrath – man ließ mich arglistig auch meine Hand verwetten. ... Gerechtigkeit, Fürstin!“
„Sie soll Euch werden,“ lächelte Maria.
„Dann bitte ich mir den Verräther auszuliefern. Es ist Euer Hoffräulein, Adelheid von Helwin.“
„Adelheid! Was soll das heißen?“
„Das soll heißen,“ nahm Hugo das Wort für die Gefragte, die wie eine arme Sünderin, gesenkten Hauptes, dastand und nur unter den Wimpern Funken spielen ließ – „daß ich mir Adelheid von Helwin, als Strafe, zur Gemahlin ausbitte.“
„Das nennt er Strafe!“ lachte Maximilian.
„Nur aus heuchlerischer Bescheidenheit, Herr!“ wagte Adelheid ihn schon wieder anzuschwärzen.
„Wird bald anders sprechen,“ drohte Hugo.
„Aber hoffentlich nicht allzusehr bereuen,“ meinte Maximilian.
„Wenn Ihr Gnade für Recht ergehen lassen wollt, Vetter,“ entschied Maria, „so nehmet sie!“
Kaum aber war das inhaltsschwere Wort gefallen, als Hugo auch schon die Erröthende beim Arm ergriffen hatte und sie wie eine Art Curiosum mit den Worten vorführte:
„Seht, edle Herrschaften, da habe ich eines der zierlichsten, aber raublustigsten Geschöpfe von der Welt gefangen – eine Libelle.“
Ein donnernder Knall aus Karthaunenrohre erscholl. Wekkering und Glockenspiele kündeten sieben Uhr. Vieltausendstimmige Rufe schallten über die Stadt zum Abendhimmel empor. Das Signal für den öffentlichen Schmaus, das letzte Vermächtniß weiland des allmächtigen Cleve, wurde in Stadt und Schloßhof mit Begeisterung begrüßt. Schon drängte die Menge auch vor der Halle nach rückwärts den Tafeln und Bänken zu, als ein Schauspiel sie zurückhielt, ein Aufzug so wunderlicher Art, wie ihn selbst die an Schaustellungen und Mummereien jeder Gattung gewöhnten Flamländer noch nicht gesehen zu haben vermeinten.
Zwischen zwei Reihen fackeltragender Diener schritt ein Trupp phantastisch mit Hahnenfedern aufgeputzter Küchenjungen und Bratenwender, umgehängte kupferne Kessel mit Kochlöffeln bearbeitend und gewaltige Trichter als Trompeten behandelnd. Ihnen folgte das gesammte Hofküchenpersonal in weißen Barretts mit Truthahns- und Fasanenfedern, mit weißen Gugeln, die langen Küchenmesser im Gurt und Jeder würdevoll, wie einst die Lictoren die Fasces, ein Bündel von riesigen Kellen und Kochlöffeln tragend.
Hinter diesen aber in unbeschreiblicher Würde stolzirte die wohlbeleibte Gestalt Bastian's, des Kellermeisters, einen Ritterhelm mit natürlichem Pfauenschweif auf dem Haupte, eine Toga vom feinsten Tafeltuch mit dem einen Ende anmuthig über die linke Schulter geworfen, ein ungeheures Trinkhorn in der Hand, einem von zwölf Mann auf riesiger Guirlanden-Bahre getragenen Ungethüme vorauf.
„Ein Drache, ein Drache!“ „Nein, ein Eber, ein Ungeheuer!“ rief es im Volk.
Hinter den Bänken schwenkte der Zug. Vor Maria wurde die Bahre niedergesetzt. Bastian, er, der sich seit kaum einer Stunde, Dank der Schnelligkeit der Geldernschen Pferde und des Glückswechsels im Schlosse, zum unumschränkten Usurpator von Küche und Keller der Hofburg aufgeschwungen, setzte sich in Positur, um eine Anrede zu halten.
„Bei Gott, was erkenne ich?“ rief Max. „Das ist ja mein 'Schrecken der Wälder'!“
„Erhabenste Gebieterin, gnädiges Fräulein,“ nahm Bastian das Wort, „Euer getreuester Knecht, der Wildmeister in Verviers, sendet Euch dieses gewaltige Unthier. 'Der Schrecken der Wälder'
[754] hieß es bei Lebzeiten in den Ardennen. Ein kühnlicher Held, ein berühmter Prinz, Herr Maximilian von Deutschland, hat es erleget mit eigener Hand und entbietet Euch seinen Gruß mit sothanem Angebinde.“
„Ist dem so?“ fragte Maria, erstaunt zu Maximilian aufblickend.
„Wahrlich, es ist so,“ bestätigte Max. „Aber was sehe ich? Führt ein Zauber hier Alles zusammen?“
„Ahi, la barba rossa!“ rief auch der Junker.
Und in der That, von Bewaffneten wurde, die Hände auf den Rücken gebunden, der Rothbärtige herangeführt. Der Führer des Trupps trat vor Maximilian.
„Ritter Ehrenhold,“ meldete er, „hat die Cleve’schen in Pflicht genommen. Der Herzog ist die Schelde stromaufwärts geflohen. Der Kanzler Ravestein mit dem Rothbärtigen dort ist auf dem Wege in’s französische Lager von Streifwachen eingeholt worden. Den Kanzler hat Prinz Cleve freigegeben. Den Rothbärtigen schickt Euch Ritter Ehrenhold. 'Er sei ein Spion und reif für den Galgen', läßt er Euch entbieten.“
„Löset ihm die Bande und führt ihn vor!“ befahl Maximilian.
Mit scheuen Blicken nahte der Gefangene.
„Ei, Wildmeister von Theux, Ihr wolltet zu den Franzosen?“
„Pardon, mon Prince, in meine Heimath wollte ich.“
„Und waret mir doch noch Bericht schuldig, welche Gattung von Schwarzwild Ihr in der Waldschlucht gefunden. Gleich dem Stücke hier war es nicht, Herr Leibjäger des Herzogs von Cleve.“
Der Rothbärtige fiel auf die Kniee.
„Gnade,“ bat er, „Gnade! Es war Befehl meines Herrn.“
Maximilian lächelte.
„Ihr habt mir hart auf den Fersen gesessen und mich manchen heißen Ritt gekostet,“ sagte er, „aber der Himmel war mit mir; ich bin glücklich – und will nur Glückliche sehen. Sobald die Franzosen uns den Rücken kehren, seid Ihr frei.“
Damit überließ er ihn seiner Wache.
Die Pause des ernsten Zwischenfalls aber war auf minder ernste Weise von Bastian benutzt worden. Mit dem Commandoruf: „Man bewaffne das Volk!“ war er mit seinen Bündelträgern in die Menge eingedrungen, und sich mit Kennerblick die burleskesten der Pöbelgestalten heraussuchend, theilte er massenweise Löffel und Kellen an sie aus, indem er die Widerstrebenden ohne Umstände mit so schallendem Kellenschlag auf die Backen bekehrte, daß es helles Gelächter hervorrief.
„Was soll’s mit der Posse?“ – rief Maximilian, sich umwendend, dem eben wieder Vortretenden zu.
„Buchstäblich nach Euer Gnaden Befehl, der mir pflichtschuldigst hinterbracht worden,“ erwiderte der Kellermeister, „für Knittel und Spieße Kochlöffel und Kellen!“
Und an die Spitze des Zuges tretend, ließ er denselben unter dem Jubel des Volkes und dem eigenen Gelächter der so lächerlich Bewaffneten vor Maximilian und Maria defiliren. Da litt es auch den Fiedler nicht länger. Wie in toller Begeisterung sprang er vor, riß die Fiedel vom Haken und stimmte mit mächtigen Bogenstrichen den flamländischen Schlachtgesang an, daß alles Volk, elektrisch berührt, einfiel und wie auf gemeinsames Commando dem Zuge sich anschloß.
„Via, via! Su su! Zum Bärentanz!“ hetzte der Junker.
„Der gezähmte Pöbel marschirt zur Fütterung,“ lächelte Maximilian Maria zu. „Ein lehrreich Exempel für alle Zeiten.“
„Und ein würdiger Schluß zu 'Maximilian’s Brautfahrt',“ ergänzte Maria mit innigen Blicken und dem Schalke hinter den Lippen.
Maximilian aber drohte ihr mit dem Finger: „Pst, meine Liebe! Noch heiße ich Teuerdank. Dem mochte es ziemen, mit lustigem Ende seine Werbung zu schließen. Doch nicht so der Andere. Den sieht die Geschichte. Seine Würde verlangt eine fürstliche Brautfahrt mit glänzendem Prunke von Prinzen und Rittern, wie der Kaiser sie schon nach Köllen entboten. Aber zeichnen wir’s auf, was Teuerdank gethan! Und die Welt mag’s vernehmen, wenn ich nicht mehr, wie heute, ein fahrender Ritter, wenn ich einstmals – so Gott will, zum Ruhme des Reiches – Maximilian, König der Deutschen!“
- ↑ Mit dieser historischen Erzählung glauben wir unseren Lesern eine Gabe von ungewöhnlicher Bedeutung darzubieten. Nicht nur der Gegenstand, die blühende Jugendgestalt des ritterlichen Lieblingskaisers der Deutschen im tapferen Ringen um die schöne Maria von Burgund, ist von fesselnder Kraft. Die Dichterarbeit selbst, die uns den Kampf um die Braut im glänzenden historischen Rahmen zeigt und in deren Anschauen wir kaum wissen, ob wir die tiefen geschichtlichen Studien oder die lebensfrische, farbenprächtige Darstellung mehr bewundern sollen – sie bestimmt uns, im voraus dieses Urtheil über die vorliegende Erzählung auszusprechen. Der Verfasser, Gustav Freiherr von Meyern-Hohenberg in Constanz, hat in unserer Literatur bereits einen klangvollen Namen als ausgezeichneter Lyriker und Dramendichter und hat selbst längere Zeit dem Coburg-Gothaischen Hoftheater als Intendant vorgestanden. Die so vielen unserer Dichter abgehende genaue Kenntniß des Lebens „am Hofe“ kam ihm auch bei diesem „Zeitbild“ sichtlich zu Gute. Ein freundlicher Zufall ist es, daß wir mit der Veröffentlichung desselben zugleich das vierhundertjährige Jubiläum der Hochzeitsfreude von Max-Teuerdank und Maria-Ehrenreich feiern. D. Red.
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