Terrain-Kurorte
Terrain-Kurorte.
In Deutschland giebt’s wohl sehr viele Fette?“ befragte mich kürzlich ein Engländer, als er in einer Buchhandlung die verschiedenen Broschüren über Fettleibigkeit erstaunt betrachtete. Bei manchem unserer Leser wird wohl ein ähnlicher Gedanke aufgetaucht sein, ob nämlich die so überaus kultivirte Entfettungsfrage durch ein Bedürfniß unserer Zeit bedingt sei. Der Praktiker muß hierauf eine entschieden bejahende Antwort geben, die Ausbreitung eines der besten Fettbildner, des Bieres, in den verschiedensten Bevölkerungsschichten und in den entlegensten Gegenden hat unserem Zeitalter den Ruf eines fettreichen gesichert. Es klingt nun beinahe wie Ironie, daß die Stadt, welche vor Allem die Schuld an der Zunahme unseres körperlichen Umfanges trägt, München, den Mann besitzt, dessen Methode der Entfettung innerhalb der letzten Zeit das größte Interesse erregt hat. Professor Oertel in München ist der Erste, welcher, unter Benutzung der physiologischen Forschungen der Münchner Gelehrten Voit, Pettenkofer u. A. und gestützt auf eigene mühevolle Untersuchungen, die Ergebnisse der mechanischen und Ernährungsphysiologie zur Heilung gewisser krankhafter Processe benutzte. Die Fettabnahme ist nur eine Beigabe seines Verfahrens, der Grundgedanke seines Systems gipfelt in dem Schlagworte: „Stärkung des geschwächten Herzmuskels“.
Die Mehrzahl unserer Leser hat eine Vorstellung von dem Blutkreislauf. Das Herz besitzt vier Kammern, das rechte Vorherz empfängt das dunkelrothe unbrauchbare Blut aus den Körpervenen, die rechte Herzkammer pumpt es in die Lungen, von wo es nach Abgabe der Kohlensäure und Aufnahme des Sauerstoffs durch den linken Vorhof in das linke Herz fließt und jetzt hellroth durch energische Zusammenziehungen in die Arterien getrieben wird, deren kleinste Endigungen den Venenanfängen entsprechen. Normaler Weise müssen nun beim Herzen Zufluß und Abfluß in richtigem Verhältniß stehen, dies ist aber bei Schwächezuständen des Herzens, Fettherz, Herzfehlern nicht der Fall, das geschwächte Herz pumpt hier nicht die der Blutmenge entsprechende Masse aus den Venen, sondern weniger, und in Folge dessen staut sich das Blut in den kleinen Venen der Lungen und des Körpers an. Anfänglich sind diese Stauungen unschädlich, später werden sie größer, das Blut wird immer dünner und schlechter, weil es in den Lungen nicht mehr den genügenden Sauerstoff erhält, zuletzt treten bei solchen andauernden Zuständen wässerige Blutbestandtheile in die Gewebe, es bilden sich Schwellungen vor Allem an den Füßen. Die Schwäche des Herzens wird uns durch den Pulsschlag verrathen, dessen Kraft schon die geübten Finger des Arztes annähernd abzuschätzen vermögen. Wir haben jedoch Mittel, die Stärke des Pulses auch dem Auge wahrnehmbar zu machen. Ein auf die Pulsader befestigter Apparat giebt die Bewegungen derselben wieder und zeichnet sie vermittelst einer Nadel auf einer berußten Glastafel mit großer Genauigkeit ab. Wir stellen auf der nächsten Seite einige solcher „Pulskurven“ dar. Die erste dem Oertel’schen Handbuche der Kreislaufstörungen entnommene Kurve giebt das Bild des Pulses eines an Herzschwäche Leidenden, die geringen Erhebungen auf den Linien sind der Beweis für die schwache Blutwelle, die vom Herzen kommt. Fragen wir nun einen Kranken mit Neigung zu Fettherz oder mit einer Zusammenpressung der Lunge durch Wirbelsäulenverkrümmung, wo gleichfalls das Herz wegen Verkleinerung der Athmungsfläche mehr zu arbeiten hat, wie er gelebt hat, so finden wir fast stets bei einer genauen Berechnung der eingenommenen Flüssigkeitsmenge in Speisen und Getränken, daß er täglich 3- bis 4000 g zu sich genommen hat. Nehmen wir an, daß der Kranke 78 Kilo wiegt, so beträgt seine Blutmenge circa 12 Kilo, und unter diesen Umständen müssen täglich 4 Kilo Flüssigkeit mehr durch das geschwächte Herz und das gestaute Blut cirkuliren. Dieses wird endlich zur Unmöglichkeit, und Oertel beweist das einfach durch eine Vergleichung der Flüssigkeitsaufnahme und deren Ausscheidung durch die Nieren, es werden täglich über 100 g in dem Stauungsblute zurückbehalten und vergrößern so die Stauung. Diesem Uebelstande soll das erste Mittel der Oertel’schen Heilmethode abhelfen: Wasserentziehung in Speisen und Getränken“.
Normaler Weise brauchen wir täglich 2000 g Nahrung, während Dertel die Menge auf 900 bis 1000 g herabsetzt. Daran schließt sich eine entsprechende Kostordnung, welche ich nur kurz berühren will. Unsere Nahrungsmittel bestehen aus Eiweiß, Fett, Kohlenhydraten (Zucker, Mehl, Gemüse), Wasser und Salzen, und um den Körperbedarf zu decken müssen eiweißhaltige und eiweißlose Stoffe in dem Verhältniß wie 1:3–4 gemischt sein. Bei Kranken unserer Art verlangt dagegen das eiweißärmere Blut und der sehr oft vorhandene Eiweißverlust durch die Nieren eine vermehrte Eiweißnahrung, die beabsichtigte Fettabnahme aber eine geringere Beigabe von Fett und Kohlenhydraten, welche vorzüglich Fett bilden. –
Während der gesunde Mensch durchschnittlich aufnimmt: 130 g Eiweiß, 84 g Fett, 404 g Kohlenhydrate, gestattet Oertel 169 g Eiweiß, 43 g Fett, 114 g Kohlenhydrate. Nicht zu verwechseln ist dabei Eiweiß und Fleisch. 100 g mageres gebratenes Ochsenfleisch enthalten z. B. 59 g Wasser, 38,2 g Eiweiß, 1,7 g Fett.
Der vermehrte Eiweißgenuß erfordert eine vollständige Ausnutzung der Verdauungssäfte, welche die Aufsaugung des Eiweißes im Darme ermöglichen, das Trinken muß deßhalb, um letztere nicht zu sehr zu verdünnen, erst eine Stunde nach dem Essen und überhaupt nur in kleinen Quantitäten auf einmal erfolgen, weil hierdurch das Herz am wenigsten belastet wird.
[769] Der Erfolg dieser Kur wird schon nach kurzer Zeit ersichtlich. Der Anfangs peinigende Durst beginnt bald zu schwinden, das Herz kann sich durch den geringeren Zufluß erholen, die nachlassende Stauung vorzugsweise in den Nierenvenen liefert als wichtiges Ergebniß eine bedeutende Zunahme der Wasserausscheidung durch die Nieren. Die Lungen werden hierdurch freier, die Athmung tiefer, dem Blute wird mehr Sauerstoff zugeführt, und weil jetzt mehr Flüssigkeit fortgeht als eingeführt wird, gelangt endlich auch die Schwellung in den Beinen zur Aufsaugung. Ein Haupttheil der Behandlung ist geschehen, die Entlastung des Herzens und des gesammten Kreislaufes bewerkstelligt. Doch haben wir immer noch ein geschwächtes Herz vor uns.
Wie dieses zu stärken ist, zeigt uns Professor Oertel in einer in nächster Zeit im Verlag von F. C. W. Vogel in Leipzig erscheinenden, auch für Nichtmediciner bestimmten Broschüre „Terrain-Kurorte“, welche er der „Gartenlaube“ vor der Veröffentlichung gütigst zur Verfügung stellte. Das rohe Fleisch, wie wir es täglich vor dem Kochen sehen, nemnt man Muskeln, welche durch Ansätze an den Knochen die Bewegung vermitteln. Ein vollkoenmen gleicher Muskel ist das Herz; wie nun der Körpermuskel durch Uebung gekräftigt wird, so auch der Herzmuskel, und die beste Uebung für ihn ist das Bergsteigen. Die Anstrengung der Beinmuskulatur drängt das Venenblut schneller nach dem Herzen, die Lungen müssen öfter und tiefer athmen, um aus dem rasch cirkulirenden Blute die Kohlensäure zu entfernen, die Lungenluft wird fast vollständig erneuert, das Herz treibt mit energischen Zusammenziehungen eine größere Blutmenge in die Arterien. Das merkwürdige Bild der nebenstehenden zweiten Kurve (Fig. 2) zeigt die schnelle, hohe Ausdehnung der Blutgefäßwand unmittelbar nach einer längeren Bergbesteigung. Dieser Puls, also auch die Zunahme der Herzkraft, erhält sich noch Stunden nach der Rückkehr.
Die Fettabnahme bei der Oertel’schen Kur ist hierdurch ersichtlich. Sie beruht in der außerordentlichen Verbrennung des Körperfettes durch das sauerstoffreiche Blut bei eiweißreicher, fettarmer Nahrung. – Während bei ruhigem Gehen 1,5 g Kohlensänre in der Minute ausgeathmet werden, kommen beim Bergsteigen 3,8 g auf die Minute.
Die Wichtigkeit dieser Heilmethode hat nun mehrere günstig gelegene Orte, Meran, Bozen Arco, Baden-Baden, Abbazia und andere veranlaßt, nach Prof. Oertel’s Angaben Einrichtungen treffen zu lassen, wie derselbe sie für seine Heilmethode nothwendig erachtet. Die Wege sind in vier Kategorien getheilt und auf Karten genau gezeichnet. 1/4 Stunde zu 1/4 Stunde benachrichtigt eine große rothe, an einen Baum oder Felsen gemalte I den Wanderer von der zurückgelegten Strecke. Ein Hauptgewicht legt Oertel darauf, daß an solchen Orten in sein System eingelebte Aerzte die jedesmaligen Wege verordnen, denn ein Weg, welcher einem Herzkranken Nutzen bringt, kann bei einem anderen Schaden verursachen. Am geeignetsten für Terrain-Kurorte sind nicht zu breite Gebirgsthäler inmitten von verschiedenen Anhöhen und Bergen. Schattige Wege sind nicht immer nothwendig, da gerade die Sonnenstrahlen die Wasserabgabe durch Haut und Lungen fördern.
1. Ebene. 2. Geringe Steigung. 3. Längere andauernde Steigung. 4. Steile mühsame Bergpfade. VonBringen wir nun unsere Kranken nach einem solchen Terrain-Kurort, so sind im Beginn nur ebene Touren gestattet, bis man mit dem Bergsteigen beginnen kann. Nicht sprechen, langsam steigen, ist die Grundbedingung. Die Anstrengung ist im Beginne groß. Der Athem fliegt, das starke Herzklopfen nöthigt den Kranken nach 8 bis 10 Schritten stehen zu bleiben; setzen ist nicht gestattet, ein Stock oder eine Bank dient nur den Händen als Stütze; nach kurzem Ausruhen geht es weiter und erst nach Erreichung des Zieles ist eine Ruhepause erlaubt. Um die Athmung der Bewegung anzupassen, giebt Oertel den Rath, auf den ersten Schritt ein- und auf den zweiten auszuathmen, eine wichtige bisher nicht beachtete Beihilfe, welche auch beim Marschiren in der Ebene und beim Treppensteigen mit Erfolg verwendet werden kann. Diese körperliche Anstrengung erfordert die kräftigste Nahrung, und Oertel verurtheilt darum auf das entschiedenste die gewöhnliche table d’hôte. Die Fleischportionen bei derselben genügen nicht, um das Eiweißbedürfniß des Körpers zu decken, während Fett und Kohlenhydrate zu reichlich vertreten sind. Kranke mit Kreislaufstörungen sollen öfter und wenig auf einmal essen, und darum sollte an Terrain-Kurorten auf gute Fleischspeisen Rücksicht genommen werden.
Die Anstrengung, welche das Bergsteigen im Anfang verursacht, wird immer weniger fühlbar, so daß zuletzt, wenn täglich kleinere, wöchentlich aber ein bis zwei größere Bergtouren ausgeführt sind, bei langsamem Steigen kaum irgend welche Beschwerden eintreten. Das Ziel der Behandlung ist, wie die letzte fast normale Kurve zeigt, bei welcher das Herz gleichmäßige Blutwellen in die Arterien treibt, erreicht, das Herz entlastet und gekräftigt. Kranke, welche nur an Fettsucht gelitten haben, können nunmehr zu einer etwas weniger strengen Kur zurückkehren, sogar Abends ein Glas Bier trinken, dagegen erfordert eine jede nicht vollkommen auszugleichende Störung ein Verbleiben in der bisherigen Lebensweise, welche nicht so belästigend ist, als sie scheint, denn Oertel verordnet dabei folgenden, nicht zu karg bemessenen Speisezettel:
Früh 1 Tasse Thee oder Kaffee mit etwas Milch = 150 g, und 75 g Brot. Mittags 100 g Suppe. 200 g gesottenes oder gebratenes Ochsenfleisch, Kalbfleisch, Wildpret, nicht fettes Geflügel, ohne viel Fett zubereitete Fische, Salat und leichtes Gemüse nach Belieben. Brot, Mehlspeisen höchstens bis 100 g. Etwas frisches Obst, kein Getränk. Nachmittags 150 g Thee oder Kaffee, höchstens 1/6 Liter Wasser. Abends 1 bis 2 weiche Eier, 150 g Fleisch, 25 g Brot, wenig Käse, Salat und Obst, als Getränk regelmäßig 1/6 bis 1/4 Liter Wein und vielleicht 1/8 Liter Wasser.
Die neue Kur entstammt nicht einer kurzen Beobachtung, sondern einer strengen elfjährigen Durchführung derselben durch Professor Oertel an sich selbst. Aus den obigen Mittheilungen dürften aber auch Gesunde manche Lehre für sich ziehen und durch die Befolgung derselben viel zur Erhaltung ihrer Gesundheit beitragen. Namentlich müßte das übermäßige Biertrinken eingeschränkt werden, und der beliebte Frühschoppen vor dem Mittagsessen ist vor Allem gänzlich zu verwerfen, durch ihn wird der Appetit herabgesetzt und der für die Lösung des Eiweißes nothwendige Magen- und Darmsaft verdünnt, der Fettansatz aber sehr gefördert.