TBHB 1947-04-15
Einführung
[Bearbeiten]Der Artikel TBHB 1947-04-15 zeigt die ungekürzten Tagebuchaufzeichnungen von Hans Brass vom 15. April 1947. Diese Aufzeichnungen erstrecken sich über drei Seiten.
Tagebuchauszüge
[Bearbeiten][1] Gestern Abend um 1/2 10 Uhr hat Frau Longard ihren letzten Atemzug getan.
Vormittags hatte ich gemalt. Seit vielen Wochen wieder zum ersten Male. Ich habe das Bild „Aufbruch“ nochmals auf die Staffelei gestellt u. sehr radikal hineingemalt. Die Physiognomie des Kindes habe ich völlig weggestrichen u. das Kind ganz in abstrakte Formen aufgelöst. Heute habe ich weiter gearbeitet u. die Abstraktion noch weiter durchgeführt. Das Bild wird auf diese Weise völlig neu. [2] Ich war gestern vom Arbeiten sehr angestrengt. Wahrscheinlich wirkte auch der Witterungseinfluß stark, es war wieder trübes Wetter, aber trotzdem einigermaßen warm. Nach dem Mittagessen legte ich mich aufs Bett, was ich sonst nie tue, u. blieb bis 4 Uhr liegen. Ich stand dann auf u. versuchte zu lesen, doch kam dann Dr. Burgartz. Während ich mich mit ihm in meinem Zimmer unterhielt, kam Frl. Horn u. bat mich, zu kommen, Frau Longard bete unaufhörlich u. verlange nach mir. Ich ging sofort hin. Dr. B. begleitete mich bis zum Hause. Frau L. lag im Bett u. betete tatsächlich unaufhörlich, sie begriff aber, daß ich da war, obgleich sie die Augen geschlossen hielt u. ihr Gebet keinen Augenblick unterbrach. Ich nahm dann mein Gebetbuch u. betete in der gewohnten Weise laut u. auch sie betete. Nach etwa einer halben Stunde kam Dr. Meyer. Er meinte, daß es zuende ginge u. dieses unaufhörliche beten von der Unruhe des herannahenden Endes käme. Er wollte ihr etwas Beruhigendes eingeben, doch schluckte sie nicht. Er entschloß sich deshalb zu einer Spritze. Für die Nacht hatten sich nämlich Martha u. Frau Triebsch verabredet u. es war auch mir deshalb sehr lieb, daß Dr. M. ihr eine Beruhigungsspritze verabfolgte, denn sonst hätten die beiden in der Nacht kein Auge zutun können, während der Tod, wie mir schien, spätestens am frühen Morgen eingetreten wäre. Die Spritze wirkte sehr rasch, sie lag ganz ruhig u. atmete ganz gleichmäßig, die Augen geschlossen, nachdem sie sie vorher ganz kurz geöffnet hatte. Ich betete noch etwa eine halbe Stund weiter laut u. ging dann nach Hause. Wir aßen zu Abend u. M. ging kurz nach 8 Uhr hin. Da ich selbst überaus müde u. angestrengt war, las ich noch ein wenig in dem schönen Buch von Karl Adam „Jesus Christus“, verrichtete um 1/2 10 Uhr mein Abendgebet, wobei ich besonders gesammelt war u. auch der Frau L. gedachte u. legte mich um 10 Uhr nieder. Um 11 Uhr klopfte Martha ans Fenster u. erzählte mir, wie Frau L. ganz einfach auslöschte. Der Atem hörte einfach auf, ebenso der Puls, u. es war aus, ohne daß sie vorher noch aufgewacht war. M. u. Frau T. haben sie mit Ernas Hilfe frisch angezogen u. dann sind beide gegangen. Wir haben heute morgen Dr. M. benachrichtigen lassen u. Erna hat Telegramme an die Kinder gesandt. Dr. Longard wird ja wahrscheinlich spätestens heute früh von Berlin abgefahren sein, falls er die Reiseerlaubnis rechtzeitig erhalten hat, sodaß man ihn heute Abend erwarten kann. Vielleicht wird er Fritz unterwegs treffen, den wir ebenfalls heute abend erwarten. – Auch P. Beckmann haben wir telephonisch benachrichtigt, wir haben den Freitag als Beerdigungstag vorläufig festgesetzt. Ueber die Herstellung des Sarges wird Herr Triebsch mit Budde sprechen.
Abends 10 Uhr:
Am Nachmittag waren Frau Triebsch, Martha u. ich mit Paschke auf dem Friedhof, um eine Grabstelle auszusuchen. Der untere Friedhof ist nämlich bis auf eine Grabstelle voll man will noch eine Grabreihe anlegen auf Kosten des Mittelweges, aber da möchte ich das Grab von Frau L. nicht haben. Wir fanden eine gute Stelle am Fuße des alten Friedhofhügels unter einem Baum, wo die Gruft ausgehoben, werden kann u. das Grab würdig gestaltet werden kann.
Wir warteten bis jetzt auf Fritz vergeblich. Vielleicht hat der Zug wieder Verspätung, man weiß ja nichts u. alles ist unberechenbar. Ich hätte auch gern Dr. Longard vorher [3] unterrichtet, da er ja vom Tode seiner Mutter noch nichts weiß.
Dr. Meyer war gegen 1/2 7 Uhr nochmals bei Frau Longard u. anschließend kam er zu uns auf einen Augenblick herein. – Herr Triebsch hat bei Budde den Sarg in Auftrag gegeben, morgen soll die Einsargung sein, die Frl. Wunderlich vornimmt. Dieses Frl. Wunderlich ist die Schwester des Wustrower Pfarrers Wunderlich. Sie hat seit einiger Zeit die Funktionen einer Totenfrau übernommen u. sie macht diese Arbeit sehr gut u. gewissenhaft, Bemerkenswert dabei ist, daß die frühere Totenfrau ebenfalls Wunderlich hieß, sie hat dieses Amt sehr lange Zeit innegehabt, bis sie zu alt war.