Sturm im Wasserglase
Sturm im Wasserglase.
Thüringen lag tief in Schnee gebettet.
Auf den altersgrauen Ringmauern der schwarzburgischen Residenzstadt, die den Aar in Namen und Wappen führt, bauschten sich weiße Kissen; die spitzen Giebel der Häuser, die Türme trugen flockige Hauben.
Alle scharfen Ecken verschwanden unter der weichen Hülle; über die Gassen breitete sie sich als reines leuchtendes Tuch.
Das freundliche Bild verriet nichts von den dunklen Fäden, die darunter zu schicksalsvollen Schlingen und Knoten für Menschenlose sich verwebten.
So munter die glitzernden Sternchen das Schloß Neidecke umstäuperten – es war ein ernster stiller Mann, der darin hauste. Dem Grafen Anton Günther hatte sich der größte Wunsch seines Lebens, den Fürstentitel zu besitzen, nur erfüllt, damit er erkannte, daß jedes noch so heiß begehrte Ziel von seinem Glanz und Zauber verliert, sobald es erreicht ist. Kein Sohn sproßte neben ihm auf, dem er die erlangte Würde hätte vererben können. Einsam lebte er in dem stolzen Bau. Von seiner Gemahlin Augusta Dorothea war er, der lutherische Fürst, getrennt, seit sie ihrem geliebten Vater, dem Herzog Anton Ulrich von Braunschweig, in die katholische Kirche gefolgt war. Außerhalb der Ringmauern seiner Residenz hatte sie sich ihren Fürstensitz erbaut.
Jedoch nicht nur die Sorge um die wachsende Entfremdung zwischen dem Fürstenpaar furchte die Stirnen der vertrauten Räte. Der Herzog Johann Wilhelm von Weimar, dem die Lehnsoberhoheit über das Land zustand, erhob Einspruch gegen die Standeserhöhung, durch welche er sein Recht gefährdet glaubte. Hinter den Fenstern des Kanzleigebäudes, die der Frost allnächtlich mit zierlichen Kreuzen zeichnete, türmten sich Berge von Aktenstücken über die unliebsame Sache. In das Federgekritzel klang allmählich drohendes Waffengeklirr.
Und wenn auch der damaligen Regierungskunst entsprechend die Unterthanen in Unkenntnis über die Maßregeln ihrer Herrschaft belassen [566] wurden, so lag doch auf den Gemütern der Einwohner jener Druck, der oft unheilvolle Ereignisse ankündigt.
Scheinbar ging zwar das Leben im gewohnten Geleise; aber scheinbar war auch die weiße Decke unwandelbar, und doch bestand sie aus Märzenschnee, dessen Vergänglichkeit sprichwörtlich ist, und Ostern war bereits vor der Thür.
In der Superintendentur wurden alle Vorbereitungen zu den kirchlichen Feierlichkeiten getroffen.
Der Kastenknecht und die Magd gingen mit Besen und Scheuerwisch hinüber nach der Oberkirche; der Bediente, ein Schulmeisterkandidat, der sich im Dienst des Kirchenhauptes zu seinem Beruf ausbildete, versah die silbernen Altarleuchter mit hohen gelben Wachskerzen.
Und in der Wohnstube saßen Magdalene, die neunzehnjährige Tochter des Hauses, und Fieke, die, obgleich nur ein paar Jahre älter, doch schon als geschickteste Nähterin der Stadt galt, und besserten das weiße Altartuch aus, das während der Leidenszeit aufgelegt wurde.
„Horch!“ plauderte Fieke, und ihr aufgestülptes Näschen hob sich neugierig nach dem Fenster, „der junge Kantor Sebastian Bach paukt seinen Schülern das Sonntagslied ein.“
Aus dem kleinen Kantorenhaus, das sich den Wohnungen der Geistlichkeit anreihte, tönte es, von tapfern Taktschlägen geleitet, herüber: „Verzage nicht, du Häuflein klein.“
„Ein Lied, in Kriegsgefahr zu singen?“ verwunderte sie sich, während ihre Nadel in der Luft schwebte. „Wir leben doch im tiefsten Frieden!“
„Vielleicht wissen es der Herr Vater und sein Kantor besser,“ sagte ernst Magdalene, die so gerade auf ihrem hochlehnigen Stuhl saß, daß das amarantfarbige Kamisol kein Fältchen schlug vom zarten Spitzengekräusel des eckigen Ausschnitts bis zu der straff zusammengeschnürten Schnebbe.
Fieke spitzte förmlich die Ohren. Da jedoch keine Erklärung folgte, spähten die blauen Augen, die wie ein paar Schlehen in dem rotbackigen Gesicht saßen, abermals zum Fenster hinaus. „Nun guckt nur! Da holt das Bäschen vom jungen Bach, das vorige Woche vom Walde herabgezogen ist, am Pfarrbrunnen das Wasser! Ihrer Muhme, der Jungfer Wedemannin, bei der sie wohnt, steht der Waisenhausbrunnen doch vor der Nase.“ Sie kicherte. „Ja so! sie wird dem Vetter zu Gefallen gehen. Aber daß sie ein Tüchlein über den Kopf bindet wie eine Walddirne, schickt sich nicht allhier.“ Selbstgefällig tippte sie an ihr Häubchen, dessen Spitze von einer Florschleife emporgesträubt war.
„Noch viel weniger schickt es sich, einem Junggesellen zu Gefallen zu gehen,“ rügte Magdalene, die zart gezeichneten Brauen emporziehend.
„Wenn das Bärbchen Marei ihn aber heiraten will!“ lehnte Fieke sich auf, und wieder schwebte ihre Nadel in der Luft. „Wie sie den Kopf nach der Melodie wiegt! Sie soll singen können wie ein Waldvöglein, und sie ist auch so braun wie eine Drossel. Plautz! Da wirft unser Herr Kantor den ganzen Chor zur Thür hinaus, daß der lange Chorpräfekt über seinen Degen stolpert. Haben gewiß wieder einmal greulich queruliert.“
Bei dem Lärm war Barbara Marie Bachin mit ihrer Wasserkanne aufgefahren wie die Haubenlerchen, die in den Schneefurchen gepickt hatten.
Nun fiel die wilde Schar der Chorknaben mit Schneebällen über sie her.
Da erhob sich Magdalene zu ihrer ganzen zierlichen Höhe. Das feine Gesichtchen schaute unter dem hochtoupierten leicht gepuderten braunen Haar streng auf die kleinen Sünder hinaus.
Erschrocken duckten sie sich, rafften ihre blauen Kurrendemäntelchen zusammen und liefen davon.
Ein dankbarer Blick aus den glänzenden dunklen Augen begleitete das Knixchen des Waldvögleins vor der Superintendententochter. Dann lugte es scheu nach dem Kantorenhaus zurück.
Sebastian Bach stand auf der Schwelle. Sein Gesicht mit den starken festen Zügen drückte Zufriedenheit mit dem vollführten Strafgericht aus, während er die Thür schloß – lautlos; denn der Hausklingel hatte er gleich beim Einzug um ihres unreinen Tones willen das Zünglein festgebunden.
„Wie Mamsell Lenchen sich eine Würde geben kann,“ bewunderte Fieke, wieder eifrig nähend. „Sie ist zur Frau Hofrätin geboren. Gelt, wenn Sie den Herrn Sekretarius Struve bekommt, schenkt Sie mir zum Brautputz das rote Kamisol da? Thu’ Sie nur das Gelübde! das hilft immer.“
In Magdalenes Wangen war eine tiefe Röte gestiegen; aber spröde erwiderte sie: „Um einen Mann zu bekommen, thut kein sittsames Mädchen ein Gelübde.“
Fiekes Mund mit der immer gesprächsam aufgeschürzten Oberlippe blieb offen stehen. „Auch nicht, wenn es der Herr Sekretarius ist?“ rief sie. „Der einmal Hofrat wird, wie alle seine Altvordern, dem die Leute auf der Straße ausweichen und der doch so wohlwollend mit dem Aermsten spricht? Der schöne Mann! Eine so hohe Statur, eine so stolze weiße Stirn hat keiner von den hiesigen Honoratioren aufzuweisen.“
„Du hast ihn Dir ja sehr genau angesehen,“ unterbrach sie Magdalene gereizt.
Fieke lachte. „Ach, das thun noch ganz andere Mädchen, als ich bin. Justizienrats Christelchen guckt sich noch die Augen nach ihm aus, und – hi! hi! – das Hoffrölen Kiliane von Heymbrot schäkert gar zu gern mit ihm.“ Sie sah voll Genugthuung, wie Magdalenes Hände zu zittern begannen. „Ja, ja, wenn die Demoiselles nur nicht immer thäten, als machten sie sich nichts aus den Mannsleuten!“ Dann hielt sie den gründlich gestopften Zipfel des Altartuches gegen das Licht. „Das Hoffrölen hat eigentlich recht, wenn sie sagt: ‚ein Loch ist vornehmer als eine Flicke.‘“
„Das sieht der leichtsinnigen Heymbrotin ähnlich,“ erwiderte Magdalene geringschätzig.
„Aber Lenchen,“ verwies sie ihre Mutter, eine blasse Frau mit sanften Zügen, die bei den letzten Worten ins Zimmer getreten war. „Das arme verwaiste Kind hat es nicht besser gelernt. Sie ist wie eine Lilie auf dem Felde.“ Dann setzte sie für Fieke das Vesperbrot hin und fragte: „Bist Du jetzt oft draußen auf dem Schlößchen Augustenburg?“
„Erst vorige Woche war ich wieder dort,“ erzählte Fieke selbstgefällig. „Der Oheim des Frölen, der Herr Kanzellarius von Heymbrot schickte mich hinaus, weil sie ein zerrissenes Schnupftuch bei ihm hatte liegen lassen. Sie hat freilich keine Zeit zum Flicken. Muß den ganzen Tag das Mannsvolk am Narrenseil hinter sich herziehen. – Schön ist’s dort! Das Wachsfigurenkabinett der Frau Gräfin – ja so! – Fürstin heißt’s jetzunder – man sieht sich nicht satt. Und die beiden Wachsbossierer, die aus dem Kloster in Erfurt gekommen sind, verstehen ihre Sache. Aber so hübsch alles ist – eine unvergnügte Ehe führen die Herrschaften doch. Er, der Fürst, früher immer auswärts. beim Kaiser in Wien, bei seinen Schwägern in Braunschweig zur Jagd, jetzt in der weitläufigen Neidecke, wo alles so versteinert und öde ist wie im verwunschenen Schloß. Sie mit ihrem eigenen Hofstaat, in der Augustenburg, wo“ – ihre Stimme sank zum Flüstern herab – „wo es umgeht.“
Die Hausfrau hatte sorgenvoll geseufzt zu Fiekes Reden. Jetzt mahnte sie: „Gewöhne Dir doch den Aberglauben ab! Wenn Du in einem Hause gewesen bist, wollen abends Kinder und Gesinde nicht mehr aus der Stube hinaus. – Nein,“ unterbrach sie sich, als Fieke das Butterbrot in ihr Handkörbchen packen wollte, „bei uns mußt Du Deine Mahlzeiten selbst verzehren. Es ist nicht recht von dem Riesen Goliath, dem Märten, daß er sich von Dir ernähren läßt.“
„Wenn’s weiter nichts ist! Wir wollen uns doch heiraten,“ widersprach Fieke.
„Fiekchen, nimm Deinen Verstand zusammen,“ redete die Hausfrau milde zu. „Woher wollt Ihr die hundert Meißenschen Gülden nehmen, die der Schutzbürgersohn bei uns nachweisen muß, wenn er die Erlaubnis zum Heiraten haben will?“
Fiekes Augen funkelten. Aber die aufstutzige Rede, die ihr auf der Zunge saß, blieb ungehalten.
Helles Geklingel tönte von der Straße herein. „Das Hoffrölen!“ rief sie hinausschauend. „Nee, die Pracht! Als käme unsere Frau Fürstin selbst.“
Die Superintendentin rückte die weiße, mit gebrannten Spitzen umsäumte Dormeuse auf dem Kopf zurecht. „Das Fräulein kommt also im Auftrag Ihrer Durchlaucht. Wir wollen ihr entgegen gehen, Lenchen!“
Magdalene preßte die Lippen zusammen und erhob sich.
Fieke benutzte den Aufstand, um ihr Butterbrot doch im Körbchen zu verstecken.
[567] Ein glänzender Zug bewegte sich über den weiten Kirchplatz: den Pfarrhof. Voraus lief im kurzen Zotteltrabe ein Läufer, trotz des Schnees in blau und gelbe Seide gekleidet, eine Art bebänderten Schäferstab in der Hand. Ihm folgte ein Gespann von zwei weißen Hirschen mit mächtigen Geweihen, die einen gleich einer Muschel geformten Schlitten zogen, dessen Vordertheil, empor gebogen, einen kleinen zielenden Amor trug. Ein Reitknecht führte vom Sattelhirsch aus das Gespann; auf der Pritsche saß ein Mohr im scharlachnen goldbordierten Kaftan, auf dem Turban den Halbmond, an der Seite den krummen Sarazenensäbel.
Nachlässig graziös lehnte Kiliane von Heymbrot in dem Schlitten, umwogt von den bauschigen Falten des karmoisinroten Seidenkleides, über das ein meergrüner marderverbrämter Pelz geworfen war. Die emporgeschlagene Kapuze umrahmte ein Gesicht, zart weiß und rosig, als habe einer der in die Mode gekommenen Pastellmaler es hingehaucht. Leuchtend blaue Augen schauten heraus, in deren Tiefe ein verschlossener rätselhafter Ausdruck lag.
Mit großem Umschweif vollzog sich die Anfahrt vor der Superintendentur.
Unter dem Beistand des Mohren kam Kiliane glücklich auf die hohen Stöckelschuhe zu stehen. Sie breitete die übereinander geschlagenen Reifen des Rockes aus, bis dieselben so aufgebläht waren, daß sie nur von der Seite durch die Thür gelangen konnte.
Dann aber ging alles rasch von statten. Sie versank anmutig vor der ihr entgegentretenden Mutter, nickte mit einem Lächeln, das um den weichen Mund wie leiser Spott sich kräuselte, der eiskalt knixenden Tochter zu und eilte die steile Treppe zur Oberstube hinan, an deren Thür ihr die hohe mannhafte Gestalt des Superintendenten Olearius entgegentrat.
Farbenschillernd, seidenrauschend, nach Eau de Lavande duftend, trat sie in das niedrige Gemach, wo feierlich auf den Bücherbrettern die großen Bände sich reihten, welche den Bibeltext in sieben alten Sprachen enthielten, das Bild Luthers aus einfachem schwarzen Rahmen herabschaute, umgeben von Waffentrophäen, welche evangelische Streiter während des Dreißigjährigen Krieges getragen hatten.
„Ich komme im Auftrag Ihrer Durchlaucht,“ begann sie in glattem Hofton.
„Und war der pomphafte Aufzug schicklich während der Faatenzeit für einen Besuch beim ersten Geistlichen des Landes?“ sagte Olearius gemessen. Ihr ernst in die Augen sehend, fuhr er fort: „Was würde zu solcher Ueppigkeit die selige Frau Mutter des Fräuleins sagen? Sie waltete in würdiger Schlichtheit neben Ihrem seligen Herrn Vater auf dem Amt Kevernburg, und nimmer wurde damals Eitelkeit an den seligen kleinen Junkern und der kleinen Kiliane gesehen.“
Kilianes Rosenfarbe war erblichen, der Glanz der Augen schien erloschen. Dann antwortete sie mit klangloser aber fester Stimme: „Der Herr Superintendent sagt es selbst: sie sind alle selig, nur ich allein bin bei dem großen Sterben verschont geblieben, und nun habe ich der zu gehorchen, die mir alles giebt, was zu des Lebens Notdurft gehört: seidene Strümpfe und deutsche Diamanten, Flitternadeln, Puder und Schminke“ – der Ton war höhnisch geworden; sie hielt inne. „Verzeihung, Hochehrwürden, daß ich diese profanen Dinge nenne. Im übrigen: Ihro Durchlaucht hat diesen Aufzug befohlen.“
Und auf dem Sessel, den er ihr anbot, Platz nehmend, ging sie rasch zu ihrem Auftrag über: „Die Frau Fürstin Augusta Dorothea läßt fragen, ob im Kirchenarchiv sich ein Bild erhalten hat von dem alten Walpurgiskloster, das in der Reformation aufgehoben wurde.“
„Ich weiß von keinem solchen, will aber nachsehen lassen,“ erwiderte Olearius gemessen. „Wozu bedarf die Frau Fürstin desselben?“
„Zu einer Darstellung für ihr Wachsfigurenkabinett,“ antwortete Kiliane. „Hochehrwürden wissen, wie sie daran hängt. Sie nennt es: Mon plaisir – mein Vergnügen.“
Tief hatte sich die ernste Stirn des Geistlichen gefaltet. „Also für und für nur Spielereien auf der Augustenburg,“ sagte er nachdrücklich.
„Sie hat keine Kinder, darum spielt sie selbst mit Puppen,“ entschuldigte Kiliane. „Und sie ist nicht umsonst die Tochter des Herzogs Anton Ulrich von Braunschweig. Nach einem seiner Schlösser hat sie die Augustenburg gebaut, sie ist ihm in das katholische Bekenntnis gefolgt, und sie erfreut sich daran, nach lebenden Personen Puppen anzufertigen, wie er in seinen Romanen die pikanten Histörchen aller Höfe an die Oeffentlichkeit brachte.“
„Die Frau Fürstin hat in erster Linie Landesmutter zu sein,“ entgegnete Olearius mit seiner weithin schallenden Kirchenstimme. „Monpläsir nennt sie ein Wachsfigurenkabinett, läßt Damaste und Sammete für dasselbe zerschneiden, in ihrer Porzellanfabrik zu Dorotheental Schälchen und Teller für die Puppenküche machen – und ihr Vergnügen sollle es sein, Stiftungen für die Armen zu gründen, Leinwand für die Kranken zu zerschneiden, in der Hofküche die Hungernden zu speisen, wie es die hochgebornen Frauen dieses Hauses bishero allezeit gethan haben. Und gerade jetzt, mehr als sonst, wäre ihr Platz hier an der Seite ihres Gemahls, inmitten der Unterthanen, und alle ihre Gedanken müßten darauf gerichtet sein, die düsteren Wolken zerstreuen zu helfen, die über Stadt und Land sich zusammenziehen.“
Kiliane sah ihn fragend an. „Gerade jetzt? Düstere Wolken?“
Aber er schloß seine Rede: „Solche Mahnungen sendet jedoch der erste Geistliche des Landes nicht durch ein Hoffräulein, die thut er von seiner Stätte aus kund“ – er erhob den Kopf – „von der Kanzel.“
Die Worte dröhnten durch das ganze Haus.
In der Unterstube hatte Fieke vor Angst die Hände gefaltet. Magdalene besserte gefaßt weiter die schadhaft gewordenen Kreuze in der Kante des Altartuches aus.
„Er fällt aus dem Hofton,“ sagte besorgt die Mutter. „Jetzt rückt das Fräulein den Sessel – es ist überstanden. Sie wird kein Verlangen tragen, uns ein Visite abzustatten, wird froh sein, wenn sie zum Haus hinaus ist. Komm, Lene, wir wollen sie geleiten!“
Droben an der Treppe verabschiedete sich Olearius.
Heiße Röte brannte auf den Wangen Kilianes; aber ehrfürchtig verneigte sie sich vor dem strengen Kirchenhaupt.
Dann streckte sie seiner stillen sanften Frau mit zutraulichem Lächeln die Hand hin, welche diese voll mütterlicher Teilnahme ergriff.
Magdalene stand so steif in der Thür, als habe sie die Elle verschluckt, mit der sie soeben die alten Kirchenspitzen für die Kanzelbekleidung Fieke zugemessen hatte.
Bei ihrem Anblick begann es in Kilianes Augen aufzublitzen. „Soll ich ein Kompliment an den Sekretarius Struve bestellen?“ fragte sie und sah übermütig in das junge Gesichtchen, das so kühl sich ihr zuwandte. „Ich fahre zum Onkel Kanzler; da wird er mir schon seinen charmanten Diener machen.“
Ein Blick voll stolzer Zurückweisung traf sie aus den Rehaugen Magdalenes. „Wer den charmanten Diener in Empfang nimmt, kann dafür das Kompliment machen,“ sagte herbe ihr kleiner roter Mund.
Kiliane verneigte sich, mutwillig lachend. „Soll mir ein besonderes Vergnügen sein.“ Damit verschwand sie.
„Lenchen, sei doch nicht so kurz angebunden,“ ermahnte leise die Mutter. „Bei einer Neckerei verhält sich ein junges Mädchen verschämt.“
Stumm ging Magdalene in die Stube zurück und nahm ihr geflicktes Kreuz in die eiskalt gewordenen Hände, während Fiekes neugierige Augen dem davonsausenden Schlitten nachsahen. –
Die Silberglöckchen der Hirsche läuteten dem herrschaftlichen Gebäude zu, welches der Kanzler als Diensuwohnung inne hatte.
Märten, der auf Struves Empfehlung das Winterholz für die Amtsstuben im Vorhof spaltete, riß die Thorflügel so kräftig auf, daß der eine halb aus den Angeln flog; da hielt ihn der riesenhafte junge Mensch wie ein Steinpfeiler fest.
Das Hoffräulein fuhr vor einer hohen Pforte vor, über der ein Wappenschild mit Wage und Schwert die Macht des Regentenhauses über Leben und Tod bekundete.
Ah! Da kam auch der Geheimsekretarius Struve aus der Kanzleistube im untern Gestock ein Aktenstück unter dem Arm, die Feder hinter dem Ohr.
Er trat heran, das Fräulein zu begrüßen. Aber „der charmante Dieuer“ fiel etwas flüchtig aus.
Gespannt sah er dem Amtsboten entgegen, der an seinem langen Stabe eilfertig von der Neidecke herüber gestapft kam und meldete: „Elf Uhr morgen wollen Seine Durchlaucht den Vortrag des Herrn Kanzlers entgegennehmen.“
[570] „Morgen, immer morgen,“ murmelte Struve, sichtlich Kilianes Gegenwart vergessend.
Sie brachte sich wieder in Erinnerung.
„Ich war in der Superintendentur,“ neckte sie, neben ihm dem Hause zuschwebend. „Hätte Ihm gern ein Kompliment mitgebracht; aber mein Erbieten wurde nicht angenommen.“
Einen Augenblick stockte sein Fuß. Die schönen braunen Augen sahen sie vorwurfsvoll an. „Warum verschwendet das Fräulein seine Zuvorkommenheit an Personen, die sich derselben durchaus nicht würdig fühlen?“
Sie lachte laut auf. „Das heißt: die sie nicht verlangt haben. Ist das der Dank für mein Bemühen, Ihm bei Seiner Amourschaft Beistand zu leisten?“
Jetzt wurde sein regelmäßig geschnittenes Gesicht fast streng. „Ich bitte gehorsamst, an einen bürgerlichen Mann nicht das Maß eines Hofkavaliers zu legen. Von einer Amourschaft ist nicht die Rede, sondern von meinem aufrichtigen Streben, für meinen bescheidenen Herd eine liebe Hausfrau zu gewinnen.“
Sie hielt sich die Ohren zu. „Mon Dieu! Wäge Er nicht jedes Wort! Er scheint heute keines guten Humors zu sein – ah! Da steht ja unser Bärenschlitten! Ist vielleicht in ihm eine Verstimmung von der Augustenburg hereingefahren worden?“
Struve schüttelte bekümmert den Kopf, während er sie die Treppe hinauf geleitete. „Wenn uns nichts anderes nagte als die Forderungen der Frau Fürstin, die der Herr Kammerjunker von Eichfeld überbracht hat!“
Ein helles Rot stieg bei dem Namen in Kilianes Gesicht auf; aber wie gewaltsam bekämpft, verflog es im Nu.
Struve bemerkte es nicht.
Auf dem Gang, der nach dem die Amtsstuben enthaltenden Flügel führte, steckten die Räte die Köpfe zusammen. Der Sekretarius geleitete Kiliane rasch hindurch, offenbar bestrebt, die geflüsterten Reden vor ihr zu verheimlichen.
Aber ihr feines Ohr fing doch auf: „Weimar – Ultimatum“ – und als sie schon auf der Schwelle zum Zimmer des Kanzlers stand, noch den Schall eines letzten Wortes, das ihr die Verstörung erklärte.
Struve schloß, nach ihr eintretend, schleunig die Thür.
Gravitätisch wie immer lehnte Herr von Heymbrot an seinem Schreibpult, stattlich sich abhebend von dem hohen Bücherbrett, unter dessen zurückgeschlagenem goldbefransten Vorhang die juristische Weisheit der Zeit in schweinsledernen Einbänden sich zeigte.
Der Kammerjunker von Eichfeld stand vor ihm in brokatener Bratenweste, goldgesticktem Atlasrock, den dreieckigen Hut unter dem Arme.
Seine Augen leuchteten auf, als Kiliane erschien.
Sie blinzelte durch die krausen goldigen Wimpern flüchtig nach ihm hin, während sie zu dem Kanzler eilte. „Ich komme, nach dem Wohlbeanben meines gnädigen Oheims –“
„Man schweige,“ unterbrach sie dieser. Dann auf ein Bündel Rechnungen deutend, die auf dem Tische lagen, sprach er zu Eichfeld weiter: „Also: Ihro wünschen, daß wir diese Kramzettel bezahlen. Silberborten und Goldposament für das Monpläsir – hm – hm.“
„Zum zweiten: der Malaga geht zur Neige,“ fügte Eichfeld hinzu.
„Zum dritten: wir brauchen mehr Pferde,“ ergänzte Kiliane. „Bei den Ausfahrten von dem Gefolge reicht die lange Kutsche nicht aus für die Reifröcke.“
Der Kanzler nahm umständlich eine Prise aus der Dose, die das Bild seines fürstlichen Herrn in Perlenfassung zeigte, und stäubte mit spitzen Fingern den Schnupftabak vom Spitzenhalstuch.
Struve kam seiner Antwort zuvor. Er schlug sein Aktenstück auf und sagte ehrerbietig aber bestimmt: „Laut dieser Rechnungslegung ist der Etat für die Augustenburg bereits überschritten. Es wäre ratsam, Ihro Durchlaucht vorzustellen, daß unnütze Geldausgaben gerade in jetziger Zeit zu vermeiden sind.“
„Da der Krieg vor der Thür steht,“ setzte Kiliane hinzu, die erlauschten Worte gebrauchend.
„Krieg?“ rief erregt der Junker, und seine Hand ballte sich trotz der Spitzenmanschette kräftig um den Griff des Galanteriedegens.
„Man schweige!“ rief erschrocken der Kanzler.
Aber Kiliane kicherte weiter: „Krieg mit Weimar, das die stattlichen Greuadiere hat und o! rote Husaren.“
In dem Junker regte sich das Blut der kampflustigen Streithähne, die seit Jahrhunderten aus der Eichfeldburg hervorgebrochen waren. „Mit den Husaren und Grenadiers wollen wir es wohl aufnehmen,“ sprach er zuversichtlich.
Kiliane funkelte ihn spöttisch an. „Wolle der Herr Kammerjunker nur wenigstens einen Husaren am Leben lassen! Diese angenehmen Tollköpfe, die hinfliegen wie der Wind – die wären nun mein Vergnügen!“
Eichfeld stampfte leise mit dem elastischen Fuß auf.
„Man schweige!“ gebot der Kanzler. „Ich werde seinerzeit und bei günstiger Gelegenheit die Wünsche Ihrer Durchlaucht vor das hohe Ohr Seiner Durchlaucht bringen. Bon soir!“
Die beiden jungen Hofleute waren entlassen.
Kiliane eilte die Treppe hinab, indem sie trällerte.
Wer nicht wohl tanzen kann, soll sich vom Reigen scheiden,
Wer saget, was er denkt, der soll den Hof vermeiden.“
Eichfeld wollte ihr nach.
Da tönte es von einer ernsten treuherzigen Stimme an sein Ohr: „Guten Abend, Herr Junker Konrad.“
Aus dem Winkel neben der Treppe trat ein Mann in grobem Rock, Lederhose, eine große Peitsche in der Hand. Es war der Hofmeier des Eichfeldhofes. Unter den buschigen Brauen, den in die Stirn hängenden Haaren schauten ehrliche runde Augen wie die eines treuen Pudels den Junker an, in dessen Wangen bei seinem Anblick ein dunkles Rot schoß.
„Ich habe den Junker einfahren sehen und gebeten, hier warten zu dürfen.“
„Du bringst Geld, Hannjörg?“ sagte Konrad, seine Befangenheit unter barschem Ton verbergend.
Hannjörg seufzte. „Ja, ich briuge noch ein paar Thaler, wie der Junker es verlangte. Aber,“ raunte er ihm zu, „es sind die letzten.“
„Das kann nicht sein,“ war die betroffene Antwort.
„Es ist nichts mehr da als das Saatkorn und Futter für das Vieh,“ beteuerte der Hofmeier. „In den fünf Monaten seit der Junker bei Hofe lebt, ist mehr draufgegangen als sonst in fünf Jahren.“
Eichfeld sah finster vor sich hin, die Lippen zusammengepreßt.
Der Hofmeier trat ihm zutraulich uäher. „Wenn der liebe Herr Junker doch wieder zu uns auf das väterliche Gut kommen, das tägliche Brot bauen und in Frieden auf der eigenen Scholle essen wollte! Es hat nie einen leeren Geldbeutel bei uns gegeben, bis der stockbeinige Hofmarschall den Herrn aufspürte.“
Dem Junker riß die Rede Hannjörgs am Herzen. Seine Augen wandten sich von dem gefurchten Gesicht des treuen Knechtes. Sie trafen Kiliane, die in der Hausthür stand und lässig mit ihrem winzigen Muff den dicken Mops des Kanzlers neckte. Hatte sie gehört? Es lag wie Spannung in ihren Zügen, es zuckte um die roten Lippen – wieder Spott?
Sein Weh schlug in Ungeduld um. Er lachte rauh. „In dem grauen Eulennest hausen, dem das Dach wie eine spitze Zipfelmütze auf die Fensterchen drückt?“ sagte er leise aber heftig. „Nur die vier Eichen vor der Nase, die zerzaust darum stehen? Die Schafherden blöken hören, die langweiligen Aehren nicken sehen den langen Tag? Fällt mir nicht ein!“
Auch der alte Knecht wurde jetzt zornig. „In dem Haus haben die Väter des Herrn Junker mit Ehren, ohne Schulden gewohnt. Die Eichen sind zerzaust von den Blitzen, die sie getreulich von dem hohen Dach auf sich ablenkten. Die liebe Feldfrucht ist die beste Gabe unseres Herrgotts, und die Herden des Eichfeldes sind ein schöner Besitz. Aber ich sehe schon: es ist itzt vergeblich, dem Junker vernünftig zuzureden. Ich habe dem Herrn den Schlüssel zu seinem Eichfeldhof mitgebracht, damit Er Tag und Nacht Zuflucht unter Seinem Dach suchen kann. Denn einmal knaxt es doch mit der Hoffart.“
Er hatte einen großen Schlüssel in Konrads Hand gedrückt, ging, und gleich darauf hörte man den Trab eines schweren Kleppers sich entfernen.
Konrad warf einen mißtrauisch forschenden Blick auf Kiliane. Kein Zweifel! sie sah ihn jetzt mit Geringschätzung an. Machte sie sich lustig über seinen Schlüssel, der so groß war wie ein Pistol? Sollte er ihn wegwerfen? Da schien ihm das rostige Werk plötzlich [571] ans Herz gewachsen! Er steckte es in seine Rocktasche, wo es mit den paar Thalern herumklapperte. Dann eilte er ihr nach.
An der Hausthür klingelten Amor- und Bärenschlitten vor, präsentierte die Wirtschafterin die frisch gefüllte Wärmflasche.
„Ich fahre das Fräulein,“ herrschte Eichfeld der Bedienung zu. „Der Reitknecht, der Mohr und der Läufer können zu meinem Kutscher in den Bärenschlitten kommen, ihre erfrorenen Beine in dem Pelz wärmen. Blast Eure Fackeln aus! Es ist schneehell. Die lange Fahrleine an das Gebiß der Hirsche! Ich will schon fertig werden mit ihnen. Will doch einmal probieren, ob man auch durch die Luft fliegen kann, ohne ein Husar zu sein.“
Märten, der unterdeß mit wuchtigen Axtschlägen die Thorangeln wieder eingeschmiedet und den starken Handhirsch, vor dem sich selbst der Sattelknecht fürchtete, an seiner Eisenfaust hermngeführt hatte, nickte billigend mit dem von dicken rötlichen Haarwellen umkräuselten Kopf: der Junker dachte an die erfrorenen Beine seiner Leute.
Kiliane sprang in den Schlitten. „Durch die Luft fliegen, alles in den Wind schlagen – so ist’s recht für arme Windbeutel, wie wir sind.“ Es klang ein schriller Ton durch ihren Uebermut.
Der Junker warf Märten eine kleine Münze zu und schwang sich hinter Kilianes Sitz auf die Kufen. Er faßte die Zügel. „Los!“
Der lange Peitschenriemen an dem kurzen Stiel sauste wie eine Schlange durch die Luft.
Märten riß lachend das Thor auf. „Das ist einmal ein Spaß! Die fragen doch nicht, ob etwas in Stücke geht!“
Gleich der losgelassenen wilden Jagd flogen die Hirsche mit ihrem leichten Gefährt davon. Vorüber an dem im Renaissancestil erbauten Residenzschloß des Fürsten, das stolz, grau wie ein Schatten, auf den leichtfertigen Amorschlitten herabschaute.
Von dem hohen Turm, der sich auf dem Fuß eines uralten Wartturms mit Galerien und grüner Kuppel erhob, dröhnte Glockenschlag.
„Schon sieben Uhr? Hussa!“
Zum Thor hinaus! Ueber die Brücke! Ein Wunder, daß die Hirsche nicht wie auf der Hetzjagd den Fluß wählten.
Hui! in das weite schneestäubende Land hinein.
Konrads heißer Atem streifte Kilianes zierliches mit einem Perlengehäng geschmücktes Ohr, von dem die Kapuze herabgesunken war. „Sind die Husaren wirklich angenehme Tollköpfe?“ flüsterte er. Und so weit reichte noch der matte Schein, der rosig am Gewölk im Westen verglomm, um all die Schelmengrübchen in Wangen und Kinn erkennen zu lassen, als sie rief: „Wenn sie hübsch sind! Schwarze Bärtchen und schwarze Augen haben!“
Ueber den grauen Augen des Junkers zogen sich die schönen dunklen Brauen zusammen. Wütend knallte die Peitsche, die Silberglöckchen kreischten auf.
Durch einen Hohlweg flog das flüchtige Hochwild, daß die Schneewehen über dem kleinen Amor zusammenschlugen, über einen Hügel, von dem der Schlitten nur nicht herab gleiten konnte, weil die Hirsche zu schnell dahin rasten.
„Wird das Fräulein widerrufen?“ Er blitzte sie drohend an.
„Nein,“ lachte sie. Aber sie blieb ihm zugewendet, daß ihr Gesicht immer vor seinen roten Lippen schwebte.
Die heißen Worte wirbelten als kleine Wölkchen in die kalte Luft.
„Kiliane, hüten Sie sich!“
„Der Junker von Eichfeld droht?“ Sie lachte hellauf.
Er wurde wild. „Der Iunker von Eichfeld nimmt es an Tollköpfigkeit mit den Husaren auf.“
Er beugte sich vor, sie drehte sich ab. Er drückte die Lippen in die beiden langen gepuderten duftenden Locken die auf den warmen Nacken fielen.
Da tauchte die Fassade eines Schlößchens auf, erleuchtet von den Laternen am Portal bis hinauf zu dem runden Fenster im verschnörkelten Giebel.
Wie ein Lichtgebilde hob es sich von der altersgrauen Ruine des Stammhauses der Kevernburg ab, die dahinter in den Nachthimmel stieg.
Die Leibgardisten liefen aus ihrer Wachtstube heraus, Lakaien eilten herbei.
Durch das aufgerissene schmiedeeiserne Hofthor, dessen vergoldete Spitzen in dem Lichtgeflacker glänzten, sauste der Schlitten nur noch auf einer Kufe.
Da ließ Konrad die Zügel fallen – im Augenblick da der Schlitten kippte, sprang er von den Kufen, und Kiliane mit seinen jugendkräftigen Armen umschlingend, hob er sie heraus.
Sattelknechte fielen den Hirschen in die Zügel; Lakaien lasen den zerbrochenen kleinen Amor aus dem Schnee auf.
Ein paar Herzschläge lang hielt Konrad sie fest an seine Brust gedrückt, das Gesicht zu ihrem Antlitz hinabgebeugt, den sprühenden Blick tief in ihre Augen tauchend.
Und ihr, die sonst immer mit Spott und Hohn sich wehrte – ihr schwindelte plötzlich. Wie von der hinreißenden Gewalt einer entfesselten Naturkraft besiegt, lehnte sie willenlos in seinen Armen.
„Je toller die Fahrt, um so jäher das Ende!“ tönte es seltsam gedämpft und doch deutlich an ihr Ohr.
Sie fuhr empor. Dort in der dunklen Seitenpforte stand eine schmale schlanke Mönchsgestalt; ein bleiches scharfkantiges Gesicht sah zu ihr herüber. Es war Severin, einer der Wachsbossierer.
Sein Gefährte Timotheus, eine behagliche Figur, schob sich dazwischen. „Das Fräulein hat sich doch nicht weh gethan?“ fragte er harmlos.
Dann verschwand er mit dem andern.
Aber ein Schwarm von Hofherren, durch das tosende Schellengeläute herbeigerufen, ergoß sich in den Vorhof und suchte lachend die zerstreuten Toilettenstücke Kilianes zusammen.
Der hochmütige Hofmarschall ließ sich herab, den Schnee von ihrem Pelz zu klopfen, der frivol lächelnde erste Kammerherr barg ihr Händchen in dem gefundenem Muff, der forsche Stallmeister bestand darauf, ihr den verlornen Stöckelschuh selbst anzuziehen.
„Eile sich der Herr Kammerjunker, aus den Pelzstiefeln zu kommen,“ riefen sie dem abwehrend dazwischen sich drängenden Eichfeld zu. „Ihro hat noch eine Arbeitsstunde befohlen.“
Kiliane wandte sich nach ihm um, noch etwas atemlos, aber wieder in der Haltung des Hoffräuleins das zarte Kinn hoch gehoben. „Solchen Erfolg hat man,“ spottete sie leise, „wenn man es den angenehmen Tollköpfen gleich thun will und kein Husar ist: Amor geht in die Brüche.“
Sie lief ins Schlößchen hinein, Konrad ihr nach, der ganze Schwarm der Hofkavaliere hinterher.
[581] Der Saal, in dem sich der Hofstaat der Augustenburg versammelte, war ein Abbild jener Zeit, welche die nichtigsten Dinge am wichtigsten nahm und geraden Sinn ebenso geschmacklos fand als gerade Linien an Gerät und Schmuck.
Verschobenes goldenes Muschelwerk verzierte die Stuckdecke; launenhaft bog sich die goldene Quaste des wie eine Zipfelmütze gestalteten Porzellanofens zur Seite; die Bronze der Kandelaber, auf denen die Wachskerzen flammten, zeigte gewundene Form, die eher an weiche Schnuren als an hartes Metall gemahnte, selbst das Holz der Eiche, aus dem Tische und Sessel geschnitzt waren, [582] mußte sich krümmen wie Schlangen und Teckelbeinchen, sein schönes tiefes Braun war unter weißem Lack verschwunden.
Mit blinkenden Nadeln und klirrenden Scherchen reihten sich die Damen des Hofes um die Tafeln, flimmernde Rosetten auf den gepuderten Toupets, Gold- und Silberspitzen an den Röcken und in fischbeinstarrenden Schnebbenleibchen.
Die Herren gingen und standen in kunstvollen Positionen um sie herum und machten die Cour, was wie ein ernstes Geschäft angesehen wurde.
Gegen die farbenschillernden seidenen Prachtgewänder der Hofgesellschaft stachen düster die dunklen Kutten der beiden Mönche ab, die an einem besonderen Tisch saßen, den Wachspfannen, Paletten, Pinsel und Farbenmuscheln bedeckten.
Auf einer erhöhten Stufe thronte in ihrem mit Purpurdamast bezogenen Sessel Augusta Dorothea, ein Hermelinmäntelchen um die noch schönen Schultern geschlagen, nadelspitze Stöckel unter den schmalen Füßchen, auf dem Haupt die Fontange, wie der aus Spitzen und Schleifen sich türmende Kopfputz nach seiner Erfinderin, einer Geliebten Ludwigs XIV., genannt wurde. Durch ihre juwelengeschmückten Finger glitten die vor ihr ausgebreiteten Zeichnungen und Gemälde: Entwürfe Severins für die Wachsfigurendarstellungen.
Kiliane chassierte lächelnd herein, begleitet von Konrad, dem noch die Lippen leise bebten, heißes Rot auf den Wangen glühte.
Tief verneigten sich beide.
Mit flüchtigem Nicken dankte Augusta Dorothea, und ein Wink ihrer dunklen Augen, deren Ausdruck zwischen Ueberspanntheit und Hinterhältigkeit wechselte, schob gleichsam die jungen Sendboten mit ihren Eröffnungen den obersten Hofchargen zu. Ihro wünschte nicht gestört zu sein.
„Das Fräulein kommt ohne Bild?“ fragte in tadelndem Tone die Oberhofmeisterin, welche an der Tafel der Hofleute den Vorsitz führte. „Ist der Herr Superintendent seiner Herrschaft nicht zu Diensten gewesen?“
„Der Herr Superintendent vermochte mir nicht sofort Auskunft zu geben,“ berichtete Kiliane; „aber er war begeistert für die erlauchten Frauen dieses Fürstenhauses und gedenkt seine Meinung von der Kanzel herab noch mehr zu bekräftigen.“
„Hoffentlich ist der Junker geschickter gewesen,“ wandte sich der Hofmarschall an Eichfeld. „Wie steht’s mit dem Wein, den Pferden, dem Geld?“
„Auch ich komme mit leeren Händen,“ stammelte verlegen Eichfeld; „der Herr“ – „Sekretarius Struve“ schwebte auf seinen Lippen.
„Der Herr Kanzler,“ fiel Kiliane ein, „wird die erhaltenen Aufträge seiner Zeit seinem gnädigsten Herrn unterbreiten.“
„Die Reden des Fräulein von Heymbrot sind überzuckerte bittre Mandeln,“ seufzte die Oberhofmeisterin, während Kiliane an ihren Platz unter den Hofdamen glitt. „Von dem Superintendenten haben wir uns eine seiner Strafpredigten zu gewärtigen.“
„Der sonst so gefügige Kanzler säumig!“ sagte der Hofmarschall den Kopf schüttelnd. „War er allein?“ fragte er Eichfeld, der sich ebenfalls zurückziehen wollte.
„Der Sekretarius Struve war bei ihm,“ erwiderte Konrad zerstreut und folgte Kiliane.
Der Hofmarachall zog die Luft durch die Zähne. „Natürlich – Struve! Der Aktenwurm, der sich immer unterfängt, ein Gesetzbuch dem Willen Ihrer Durchlaucht entgegenzustellen.“
Ein Lachen unterbrach ihn.
Severin nahm eben der ersten Hofdame die kleine Aebtissin von Wachs weg, welche dieselbe mit großen Hüftpolsterm versehen hatte, und schob ein verblichenes Gobelinstückchen hin. „Wollen sich die Damen nach diesen Gestalten richten,“ sagte er mit seiner gedämpften Stimme.
„Ohne Puder und Reifrock! Wie unanständig!“ tönte es entsetzt um die Tafel.
„In Dunkel gehüllt, nur wenigen bekannt scheint die fromme Sage zu sein, die wir hier bildlich vorführen wollen,“ bemerkte Timotheus mit gutmütigem Spott.
„Vielleicht gestatten Ihre Durchlaucht,“ sagte die Oberhofmeisterin, „durch eine Reihenerzählung – das neue Gesellschaftsspiel aus Braunschweig – Licht in das Dunkel zu bringen.“
Und als ein Lächeln um den launenhaft geschürzten Mund der Fürstin die Bitte gewährte, fuhr sie scharf fort: „Da das Fräulein von Heymbrot hente zum Fabulieren aufgelegt scheint, kann Sie beginnen.“
Kiliane sah einen Augenblick schweigend durch das Fenster nach den schattenhaften Umrissen der Kevernburg, die, vom Mond matt erleuchtet, jenseit der Gärten auftauchten. Dann hob sie an: „Dort, wo jetzt nur zerklüftete Trümmer aufragen, stand in alten Zeiten eine stolze Burg mit zinnigen Mauern und hohen Türmen. Von ihr aus beherrschte der erlauchte Ahnherr dieses fürstlichen Hauses das Land und Volk zu seinen Füßen. Er lebte in Glanz und Pracht. Die Wände der Gemächer bedeckten weiche seidene indische Stoffe; die Schatzkammer füllten silberne Schilde, goldene Spangen; Edelgestein funkelte an den Harfen, deren süßer Klang die Burg durchzitterte.“
Unmerklich hatte Severin ihr das schmale Gesicht zugewendet; aus den verschleierten Augen spann sich sein Blick zu ihr hin.
Sie fing ihn auf. Uebermütig hob sie das Köpfchen. „Und die Minnesänger sangen von Liebe vom ersten Nachtigallenschlag bis zum Morgengruß des Wächters auf der Zinne,“ fuhr sie mit ihrer hellen klingenden Stimme fort.
„Aber eitle Sinnenlust bethörte den Grafen dennoch nicht; er gründete das Walpurgiskloster auf dem benachbarten Waldberg,“ schnitt Timotheus ruhig die üppige Schilderung ab.
Severins Haltung war wieder wie vorher: unbeweglich, der fein geformte Kopf leicht gesenkt, die Augen niedergeschlagen.
Kiliane schwieg schelmisch lachend, und die alte Oberhofmeisterin erzählte weiter von einer schönen Hofjungfrau, Gertrudis genannt, die im Frauengemach saß und spann, während ihr Anbeter, der beim Grafen Rittertum erlernte, sein Pferd vor ihrem Bogenfenster tummelte.
„Aber es waren zwei Edelleute,“ verbesserte Kiliane, einen winzigen Spinnrocken mit schmalem Rosenband umwindend, „einer mit hellbraunem Haar und der andre mit schwarzen Augen und Bart – ein angenehmer Tollkopf.“
„Hoho! der Erste duldete den Zweiten nicht!“ rief Eichfeld.
Der erste Kammerherr, dem als Zeichen höchster Geckerei die Locken der Perücke bis auf den Degengriff fielen, lachte schadenfroh. „Aber der Zweite kam in galanten Strümpfen angestochen und trug zwei Uhren.“
„Die noch nicht erfunden waren,“ brummte Timotheus.
„Wenn die ehrwürdigen Väter alles so genau wissen,“ rief lachend Kiliane, „so mögen sie auch die Sage vollenden.“
Und bereitwillig erzählte Timotheus von einem großen Fest auf der Kevernburg und verlor sich in Schilderungen von Humpen, die immer riesiger wurden, je länger er sein chinesisches Täßchen mit Thee ansah.
Als er aber an die Liebesflamme kam, die in den Herzen der beiden Ritter für das schöne Fräulein aufloderte, da schnupfte er in der Verlegenheit so lange, bis Eichfeld aufbraufte:
„Es giebt in solcher Lage nur einen Ausweg: Einer ist zu viel auf der Welt. Der Edelmann mit dem hellbraunen Haar forderte den schwarzlockigen Unverschämten zum Kampf auf Leben und Tod.“
„Und wie ging es weiter?“ fragte gemütlich Timotheus. „Denn es muß doch der Wahrheit gemäß erzählt werden.“
Eichfeld schwieg. Das Ende war nicht nach seinem Sinn.
Da löste ihn Severin mit seiner gedämpften und doch so wundersam bestrickenden Stimme an: „Es war im Morgengrauen des nächsten Tages, als die beiden Ritter in dem stillen Thal am Fuße des Walburgisberges zusammentrafen. Die letzten Schläge des Glöckchens auf dem Kloster verhallten; sie hatten für und für die Nacht geklungen. Klirrend traten die beiden Kämpen sich gegenüber.
Da teilten sich die Zweige der Waldbäume des Klosterberges, und Gertrudis trat hervor im schwarzen Nonnengewand, den Schleier über dem Antlitz. Schweigend streckte sie die Hand zwischen die dräuend gehobenen Schwerter. Hinter ihr folgte der Zug der Klosterfrauen, und leise tönte der Sang, der bei der Einkleidung gesungen wird: ‚Dem Reich der Welt entsagte ich.‘
Die sündigen Edelinge beugten sich. Unwiderruflich entrückt war ihnen die Gottesbraut. Die Nonne kehrte zurück in ihre Klause und ging ein in den ewigen Frieden.“
Fast nur flüsternd fielen seine letzten Worte von den fein geschnittenen Lippen, als dürfe die einschlafende Unrast des Lebens nicht geweckt werden.
Es war totenstill geworden.
An Kiliane allein glitt der Zauber der Rede machtlos ab. Mit fast grausamer Kälte forschte ihr Blick in dem Antlitz Severins, auf dessen Stirn ein düstrer Zug brütete.
[583] War der blasse junge Meister wirklich so versenkt in fromme Gedanken und heilige Darstellungen? Langsam näherte sie sich ihm. Die Seide ihrer Robe knisterte leise, da sie ihm gegenüber trat.
Seine Lider blieben gesenkt, sein Blick auf seiner Hände Werk gerichtet.
Es war die Nonne Gertrudis, ein kleines Meisterstück. Er that eben an dem blonden Köpfchen den letzten Strich, der den reizenden Mund so eigentümlich mit einer halb schelmischen, halb weichen Linie abschloß.
Es durchfuhr Kiliane bis in die Fingerspitzen: sie erblickte ihr reizendes Miniaturbild.
Mit stockendem Atem beugte sie sich vor.
Im selben Augenblick zerbrach die Wachsfigur in den schlanken nervigen Fingern des düstren Meisters. Gleichgültig warf er die Stücke in die über blauer Spiritusflamme stehende Pfanne.
Empört, und doch von einem Schauder überrieselt, den sie weder erklären, noch bewältigen konnte, schaute Kiliane auf den Bossierer; er schien noch blasser geworden zu sein.
Ein kurzer Blick von Timotheus traf beide. „Haben Ihre Durchlaucht nichts für das Fräulein von Heymbrot zu thun?“ ließ sich seine behagliche Stimme vernehmen.
Im nächsten Augenblick lag eine Strähne rote Seide in Kilianes Händen, vom ersten Kammerherrn überbracht, und Konrad stand vor ihr, allen andern den Rang als Garnwinde ablaufend.
Während sie die zarten Fäden von seinen Händen löste flüsterte er: „Warum nützt das Fräulein jede Gelegenheit, um mich zu kränken?“
Sie antwortete nicht, hörte nicht, was er sprach, sah mit verstörten Augen an ihm vorüber.
Da knäuelten seine Finger ohne Rücksicht die Seidensträhnen zusammen.
Sie hielten ein rosiges Wirrsal in den Händen.
Eine Flötenuhr schlug und spielte ein Schlummerlied.
Die Fürstin erhob sich, um in ihr Leibzimmer sich zurückzuziehen.
Als die Thür sich hinter ihr geschlossen hatte, glitt der erste Kammerherr an Eichfeld heran. „Kommt der Herr noch mit auf mein Zimmer zu einer Partie Trischak?“ flüsterte er. Das gefährliche Hazardspiel war verboten.
„Ja, ja, ich komme,“ erwiderte Eichfeld zerstreut, mit zornigem Blick noch einmal Kiliane suchend.
Auch sie sah ihn jetzt rasch an. Welch harten Ausdruck die zarten Züge tragen konnten! Fast verächtlich wandte sie das Köpfchen ab.
Er biß die Lippen zusammen und stürzte fort.
Der Arbeitssaal leerte sich. Das leise Schleifen der Schuhe auf dem spiegelnden Parkett verhallte, die Stimmen verloren sich in Korridoren und Treppen.
Nur Kiliane hatte unter dem Beistand der Garderobenmädchen noch eine Weile zu schaffen an den Schränken. Reihum mußten die Hofdamen die kostbaren Stoffe verwahren. Die Woche war an ihr.
Es war still im Schloß geworden.
Aber von draußen tönte ein Brausen herein: der Tauwind hatte sich erhoben. Die Bäume im Schloßgarten ächzten, in den weiten Schornsteinen tobte der Wind wie ein Gefangener.
Die Dienerinnen knixten und eilten ihren Kammern zu.
Als die letzte ging Kiliane.
Ihre Gedanken wurden wie von einer unsichtbaren Gewalt immer wieder zurückgetrieben zu Severin.
Sie konnte des Entsetzens nicht Herr werden, das sie empfand, als ihr kleines Ebenbild im Nonnenschleier in den blassen Fingern zerdrückt wurde.
Sie kannte sonst keine Furcht, wie die meisten Menschen, die nichts zu verlieren haben.
Heute aber überrieselte sie ein unheimliches Gefühl, als sie, eine Kerze in der Hand, durch die öden Prunkgemächer ging, welche sie durchschreiten mußte, um auf den Korridor zu gelangen.
Es blies ein kalter Hauch durch alle Schlüssellöcher; in dem Audienzsaal schienen Schatten aus den schweren Purpurbehängen des Thronhimmels zu huschen.
Ihr Fuß zögerte, bevor sie den gelben Saal betrat. Spukhafte Gerüchte gingen über ihn: im großen Spiegel, der von der Decke bis zum Boden reichte, sollten sich Gestalten zeigen, die nicht davor standen.
Mit leisem Grauen öffnete sie die Thür. Der Geruch von Weihrauch, der die Kapelle nebenan erfüllte, kam ihr entgegen. Das Licht ihrer Kerze schwankte auf dem gelben Atlas der Wände und krummbeinigen Sessel und blitzte aus den vergoldeten Schildern der Wandleuchter.
Einen scheuen Blick warf sie nach dem gespensterhaften Spiegel – da – ein erstickter Schrei brach über ihre Lippen – in dem schweren Bronzerahmen stand ein schmaler schwarzer Schatten, nicht ihr eigenes farbiges Bild.
Gewaltsam sich fassend, blickte sie noch einmal hin.
Der Schatten war verschwunden; aber das hohe Glas zitterte wie eine Wasserfläche, und aus dem schwankenden Grund starrte jetzt ihr Antlitz sie wunderlich verzerrt an.
Der Leuchter entfiel ihrer Hand, daß er klirrend am Boden rollte – die Kerze erlosch.
Von Entsetzen geschüttelt, floh sie aus dem Saal, die Treppe hinauf und in ihr Mansardenzimmer.
Keuchend rang sie nach Atem.
Da tönte leises Psalmodieren von der Kapelle unten. Klagend mischte es sich wie Bußgesang in die heulende Stimme des Frühlingssturmes, der mit seinem mächtigen Atem alles Leben in der Natur aufweckte.
Wie Grau in Grau gemalt ragte die alte Neidecke hinter ihren zinnigen Ringmauern empor. Die Fensterreihen der stolz sich aufschwingenden Fassaden lagen öde. Langsam zerrann der Schnee auf den Giebeln. Wie mit toten Augen schauten die steinernen Statuen, die das grünspanüberzogene kupferne Dach umstanden, über die vereinsamten Gärten, Rennbahnen und Reitplätze hin.
Das Ticktack der Schloßuhr tönte geheimnisvoll hernieder, an die unaufhaltsam ablaufende Zeit gemahnend.
In einem Vorzimmer des Schlosses harrte, schwerer Sorgen voll, Struve, jeden Augenblick gewärtig, mit den Aktenstücken, die er unter dem Arm trug, in das Audienzgemach berufen zu werden.
Es war eine wichtige Angelegenheit, die jetzt von Fürst und Kanzler beraten wurde. Sie betraf den Protest des Herzogs von Weimar gegen die Erhebung des Grafen Anton Günther in den Fürstenstand. Der Prozeß, den die beiden gekrönten Häupter derohalb seit länger als einem Jahrzehnt beim Reichskammergericht führten, war nun so weit verwickelt, daß es weder vorwärts noch rückwärts mehr ging.
Da sendete gestern der Herzog ein Ultimatum. Er drohte mit Besetzung des lehnspflichtigen Landes, wenn der Fürst seine Ansprüche nicht voll anerkannte.
Minute auf Minute verging – der Geheimsekretarius wurde nicht zu seinem Fürsten beschieden. Seine Vorschläge zu einem gütlichen Vergleich mit Weimar, die er ausgearbeitet hatte, begehrte Serenissimus nicht zu hören.
Jetzt führte der Sturm zwölf Glockenschläge in die Weite: die Stunde der Audienz war vorüber.
Die Thür öffnete sich; rückwärts schritt der Kanzler unter tiefen Verbeugungen heraus. Dann richtete er sich auf und ging gravitätisch die Marmortreppe hinab, gefolgt von seinem Sekretarius.
„Wessen haben wir uns zu gewärtigen?“ fragte Struve gespannt.
„Nur der Huld und hohen Gewogenheit,“ erwiderte der Kanzler, den Abglanz der Gnadensonne noch auf dem Antlitz.
„Serenissimus waren gerade mit Dero Münzsammlung beschäftigt. ,Es ist alles eitel‘ geruhten Sie zu sagen; ,ob der Mensch die Welt in Brand gesteckt hat wie der lorbeerbekränzte Nero auf dieser römischen Münze, oder schon in der Wiege gestorben ist wie der kleine Prinz auf dem Silberthaler dort, dem seine Eltern den Gedenkspruch prägen ließen: „in Thränenbächen“ – was ist von der Macht, der Furcht, der Liebe, dem Schmerz übrig geblieben? Die Münzen haben verschiedene Bilder; das ist alles.‘ Welcher Esprit!“
Struve meisterte mühsam seine Ungeduld. „Aber wie lautet die allerhöchste Resolution hinsichtlich des Streitfalles mit Weimar?“
„Abwarten!“ erwiderte der Kanzler. „Seine Durchlaucht klopften mich auf die Schulter und meinten: ,In der Zwischenzeit wird sich schon etwas ereignen, lieber Heymbrot.‘ Ein echt staatsmännisches Wort.“
[584] „Was sich ereignet, das wird der Einmarsch sein!“ sagte Struve, die Papiere in seiner Hand zerdrückend. „Sind der Herr Kanzler bei Seiner Durchlaucht nicht vorstellig geworden, welche Lasten dadurch der Landschaft aufgelegt, welche Verheerungen angerichtet werden können?“
„Durch solche Reden würde man in die tiefste Ungnade fallen, mein Lieber,“ belehrte der Kanzler gelassen.
Ein Zug Trabanten, ausgerüstet mit Sporen und Karabinerriemen, kam ihnen von der Küche her entgegen, in verdeckten Schüsseln den ersten Gang mach dem Tafelzimmer tragend. Ein Unteroffizier der Leibgarde, den Hut unter dem Arm, marschierte voraus, ein anderer folgte nach.
„Es ist ein Poupetou von Schnepfen, die meine Federschützen erbeutet haben,“ flüsterte wichtig der vorübereilende Oberjägermeister dem Kanzler zu.
Struve zog finster die Brauen zusammen. Für die Bewachung der Schnepfenpastete war bestens gesorgt. Wer schützte Stadt und Landschaft?
Der Schloßhauptmann, der mit den andern Hofkavalieren zur Tafel zog, sah ihm nach. „Der junge Sekretarius Struve war sichtlich in Sorge,“ sprach er. „Er ist zwar ein Schwarmgeist, trägt sogar eine Stutzperücke, wenn er aufs Schloß geht; aber ich glaube, er ist ein heller Kopf. Soll wirklich gar nichts geschehen?“
„Das Notwendigste,“ antwortete der Leibarzt, ein älterer Mann mit verschlossenen Gesichtszügen, der am Fenster stand und das tiefziehende schwere Gewölk beobachtete, das der Wind von Süden hertrieb. „Sobald das Wetter es erlaubt, müssen Seine Durchlaucht sich in die warmen Bäder von Aachen begeben.“
Und nun war im Schloß nicht mehr die Rede vom Krieg, sondern einzig von der Badereise.
Denn noch galt das Wort Ludwigs XIV.: „L’Etat c’est moi!“ Der die neue Losung: „Der König ist der erste Diener des Staates!“ ausgeben sollte, Friedrich II. von Preußen, war noch nicht geboren.
Und man lebte zudem in der Zeit des Rückschlages, der auf die Not des Dreißigjährigen Krieges, die harte Arbeit der ihm folgenden Jahrzehnte kommen mußte. Nach Luxus und Genuß trachteten alle Stände; und die, welche berufen waren, über das Wohl der Bevölkerung am Staatsruder zu wachen, trugen ihren Stellungen hauptsächlich durch ehrfurchtgebietende Perücken, stattliche Doppelkinne Rechnung und bekundeten feigen Widerwillen gegen Anforderungen der Pflicht.
Aber auf einzelne fiel doch schon ein Strahl der neu aufsteigenden Zeit, die sich später den Namen des Jahrhunderts der Aufklärung verdienen sollte.
Auch Christian Struve gehörte zu diesen. Außer dem Titel eines Doktors beider Rechte brachte er von der Universität Jena die Erinnerung heim an manchen freien Geistesblitz der gelehrten Professoren, an frisch aufbrausende Gespräche, welche die jungen Musensöhne über ihre weißen Thonpfeifen und Lichtenhainer Kännchen hinweg miteinander gepflogen hatten.
Aber er mußte einsehen, daß die Zeitenuhr in seiner Vaterstadt fast noch auf derselben Stelle stand wie ehedem.
Während er über die offenen Gossen sprang, in die kleine Rinnsäle vom abschüssigen Pflaster liefen, den Ausguß der Drachenköpfe vorsichtig vermied, welche das von den Dächern tauende Wasser herabspieen, zersann er sich den Kopf, wie der drohenden Gefahr vorzubeugen wäre.
War nirgends ein Beistand zu finden?
Da tauchte in seiner Erinnerung ein junger aber ernster Herr auf, ein Gesicht mit klugen Augen, deren gesammelter Blick aus der Tiefe herausdrang: der Erbprinz Günther von Sondershausen, schon bei Lebzeiten seines Vaters die Seele der dortigen Regierung.
Er würde dereinst nach dem Aussterben der hiesigen Linie der Herr auch dieses Landes sein.
Struve war ihm vorgestellt worden, als er bei den Verhandlungen über die Einführung des Erstgeburtrechtes in Schwarzburg als Protokollführer diente.
Die Erinnerung wehte ihn wie ein frischer Luftzug an.
Er legte seine Notizen nicht mutlos beiseite, als er in seinem schönen Haus in der vornehmen Rittergasse angelangt war. Er setzte sich an seinem Schreibtisch nieder und begann eine Abhandlung darüber auszuarbeiten, wie der Gegner für seine rechtmäßigen Forderungen zu entschädigen und hinwiederum dem unnatürlichen Verhältnis ein Ende zu machen sei, daß über dieses kleine Land drei Herren herrschten: der Fürst, der Herzog von Weimar und der Kaiser.
Manchmal zwar erschien über den Gesetzbüchern ein schönes Mädchengesicht mit sittsam niedergeschlagenen Augen und purpurrotem Mündchen, das man mit einem Dreier zudecken konnte, wie die landläufige Rede war.
Aber er sagte sich, daß es für sein empfindliches Gefühl und seine Manneswürde besser sei, solch holder Vorstellung nicht nachzuhängen. Die Erinnerung an Kilianes Neckerei schuf ihm Unbehagen. Welche Suppe mochte ihm der mutwillige Kobold eingebrockt haben, die ihn die schöne Magdalene unbarmherzig ausessen lassen würde?
Denn – Magdalene hatte noch kein vollkommenes Vertrauen zu ihm gefaßt.
Schon als vor etlichen Wochen der Kanzler die Räte und Diener mit ihren Frauen zu „Caffee mit Sahne und Zucker“ lud, hatte er die betrübende Erfahrung gemacht. Dieweil er Christelchen, der Tochter des Justizienrats, das Filetzeug brachte, gab ihm Magdalene ihre Unzufriedenheit dadurch zu erkennen, daß sie ihm verwehrte, ihr beim Heimgang die seidene Saloppe um die Schultern zu hüllen. Sie hielt ihn für wandelbar, ihn – einen Struve!
Deshalb war es ratsam, bis der erste Zorn vergangen war, die Lieben ad acta zu legen. – –
Aber einmal kam der Frühlingswind mit warmem Hauch durch das Fenster, blätterte spielenden Fingers in den moderigen Urkunden, daß der Doktor beider Rechte sich nicht mehr zu finden wußte.
Da widerstand er dem Lenzeszauber nicht länger. Er trat an das Fenster mit den großen hellen Glastafeln, die eine prunkliebende Großmutter statt der Butzenscheiben hatte einsetzen lassen.
Mit tiefem Atemzug sog er den kräftigen Hauch ein, den die Erde seiner weiten das Haus umgebenden Gärten ausströmte. Welche verheißungsvolle Tragknospen die Birnbänwe bedeckten, die seines Großvaters Hand veredelt hatte! Das Aprikosenbäumchen, der Augapfel seines verstorbenen Vaters, hatte in dem geschützten Winkel, wohin nur die Mittagssonne kommen konnte, schon seine rosigen Blüten entfaltet. „Die kleinen Vöglein“, wie die Bibel die Bienen nennt, summten darum. Vom Geflügelhof her, den noch seine wirtliche Mutter angelegt hatte, tönte das sanft einschläfernde Gurren der Tauben.
Jede Generation hatte an dem wohlhäbigen Familiennest gebessert, und in jener Zeit, wo Festsitzen so üblich war wie heute das in der Welt Herumfahren, erntete der Nachkomme, was der Vorfahr gesät hatte.
Und aus den hellen, aber einsamen Stuben, aus dem Veilchendust der Rondelle, dem süßen Gesang des Sprosserpärchens, das in dem zart umlaubten Jelängerjeliebergang sich sein Nestchen baute, schien ihm immer dieselbe Mahnung zu kommen: es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei.
Er hatte keine Ruhe mehr bei seiner Arbeit.
Es dämmerte schon so stark, daß er die Buchstaben, die so umkräuselt waren, als trügen auch sie Perücken, nicht mehr erkennen konnte.
Der Bediente mußte ein paar Bürstenzüge über die Schuhe thun, daß die goldenen Schnallen funkelten; die Spitze des dreieckigen Hutes in die Stirn gedrückt, den Rohrstock in die Hand – Christian wollte einmal wieder vor der Superintendentur „gassieren“.
Von weitem erschaute er den Lichtstrahl, der aus Magdalenes Fenster fiel. Es war der weichen Abendluft geöffnet. Er erkannte die feine Profillinie ihres Köpfchens neben dem Myrtenbäumchen auf der Fensterbrüstung.
Der weite Pfarrhof lag öde und still.
Aus dem Kantorenhäuschen tönte der Klang des Cembalo. Sebastian Bach spielte.
Da traf ein leises Singen sein Ohr.
„Siehe! ich stehe vor der Thür und klopfe an!“
setzte eine Stimme wie ein Hauch, aber fest und sicher ein. Dann klang es wie verhaltenes Schluchzen.
In seiner weichen Stimmung griff ihm der Gesang doppelt an das Herz.
Stand nicht eine weibliche Gestalt, den Kopf geneigt, dort in dem dunklen Eckchen unter dem Rosenbusch vor der Thür des Kantorenhauses?
[586] Immer hilfsbereit, ging Christian Struve darauf zu. „Fehlt der Demoiselle etwas?“ fragte er leise.
Er hatte trotz der Dämmerung an der Kleidung erkannt, daß das Mädchen nicht von niedrigem Stande war, obgleich es ein Tüchlein über den Kopf geknüpft trug in nicht ganz städtischer Weise.
„Ach nein,“ flüsterte eine süße Stimme in dem singenden Dialekt des Thüringer Waldes, „ich weine vor Freude. Der Herr muß nämlich wissen: ich bin mit der Musik groß gezogen worden wie die Amseln und Drosseln im Wald. So spielte mein Vater selig auch, wenn es Abend war, die Lehrjungen ausgedudelt und ausgefiedelt hatten, Mutterchen die Kühe mit den läutenden Glocken in den Stall gebracht hatte. Es war der Kantor Michael Bach im Waldamt Gehren, und das Stück, das der Sebastian spielt, ist eine Motette von ihm.“
„Demoiselle ist die Tochter von Michael Bach, unserem berühmtesten Kantor?“ fragte Struve überrascht.
Sie nickte. Dann aber sagte sie fast feierlich: „Der Sebastian da drinnen ist mehr. Hört Er, wie die Antwort: ‚Sei willkommen, Du edler Gast,‘ sich aufbaut, immer wieder wie aus unerschöpflicher Quelle in veränderter Gestalt aufsteigt? Ach, Vater, wenn Du das erlebt hättest!“ Und hingerissen, selbstvergessen setzte sie laut wieder ein:
„Siehe! ich stehe vor der Thür und klopfe an!“
Die Musik brach ab; rasche Schritte stürmten an das Fenster. Es wurde aufgeschoben – der mit echt deutschen Ecken und Kanten versehene Kopf des jungen Organisten fuhr heraus.
Die Sängerin war geräuschlos davon geflattert.
Weit bog sich Bach vor. Seine lebhaften, aber kurzsichtigen Augen, über denen starke Brauen sich wölbten, hefteten sich auf den weitergehenden Sekretarius.
Dann schob er brummend das Fenster wieder zu. Der stattliche Mann konnte doch nicht so süß gesungen haben! Und wer verstand hier so richtig zu pausieren?
„Ei, ei!“ rief eine krächzende Stimme hinter Christian. Es war der Justizienrat, der Vater des heirathsfähigen Christelchen, früher zärtlicher Freund, jetzt grätiger Gegner. „Auf welchen Wegen wandelt der Herr Sekretarius?“
„Was will der Herr Justizienrat damit sagen?“ fragte Christian scharf.
„Hä! hä!“ lachte der andere auf seinem einzigen Zahn. Dann rief er laut: „Nichts für ungut, Herr Sekretarius, daß ich das Nachtschwälbchen verscheuchte, mit dem Er unter dem Rosenbusch sponsierte. Ihre hellen Strümpfchen rannten durch die Dunkelheit davon wie Bachstelzenbeinchen.“
„Herr Justizienrat!“ rief Struve entrüstet.
„Hä! hä!“ der Herr Kollege stampfte davon.
Magdalenens Fenster klirrte zu.
In äußerster Empörung stand Struve auf dem dunklen stillen Pfarrhof. Der Justizienrat war verschwunden; er konnte doch auch nicht auf der Straße einen Krakehl anfangen! Nun, morgen in der Session wollte er den heimtückischen Mann für seine Stichelreden bezahlen!
Aber auch Magdalene stellte seine Geduld auf harte Probe. Wie konnte sie jedem giftigen Wort Gehör geben?
Mit dem Gassieren: dem sittig am Fenster vorüber Wandeln, sich mit den Augen Festhalten, da die Hände es noch nicht dürfen, auf respektvoll werbenden Gruß ein schüchtern verheißendes Gegengrüßen in Empfang nehmen – mit all diesem süßen Zeitvertreib war es vorüber.
Finster kehrte Christian zu seinen Akten zurück.
[597] Als die Dohlen unter fröhlichem Geschnalz und Geschrei ihre langjährigen Sommerwohnungen auf dem alten Turm der Neidecke bezogen, trug ein Leibtrabant des Fürsten, den blau und gelb bequasteten Spieß in der Hand, ein Schreiben hinaus auf die Augustenburg.
Sein Erscheinen rief lebhafte Bewegung hervor. Aus den Fenstern des Kavalierhauses sahen erhitzte Köpfe.
„Nun, wann kommt der Rollwagen mit den Weinfässern?“ „Wo ist der Zug Pferde?“ „Bringt Ihr endlich den Geldsack?“ rief es durcheinander.
Der Leibtrabant zog den Hut und stapfte weiter, ohne zu antworten. Auch die beiden Hofhaltungen standen auf gespanntem Fuß.
Unterdessen war das Schreiben durch die etikettemäßige Reihenfolge der Bedienung gelaufen bis in das Zimmer der Fürstin, wo Kiliane auf Anordnung derselben für die Nonnenzelle der frommen Gertrudis eine winzige Geißel flocht.
Als Augusta Dorothea einen Blick auf die Zeilen geworfen hatte, deren Buchstaben gleichmäßig wie Perlen sich aneinander reihten, entließ sie das Hoffräulein und befahl durch den Mohren Hassan die alte Oberhofmeisterin zu sich.
Kiliane schritt langsam durch die Galerie, die sich vor den Zimmern der Fürstin hinzog. Die Stunde ihres Dienstes war noch nicht abgelaufen, und die Hofleute pflegten hier, eines Rufes gewärtig, zu harren.
Dann ließ sie sich auf einem der mit rotem Atlas bezogenen Tabouretts nieder, die für das Gefolge bereit standen.
Zum Fenster herein kam warmer Frühlingsatem. Von der Allongenperücke Neptuns, der im Garten mit seinem Dreizack aus einem Bassin aufragte, war längst der letzte Eiszapfen geschmolzen.
Ueberall grünte es empor; doch auch überall schnappten die Baumscheren, und was in neu erwachter Lebensfreudigkeit gesproßt war, säumte welkend die Wege.
Mit einem sonderbar sehnsüchtigem Blick flogen Kilianes leuchtend blaue Augen über [598] die Gärten hinweg dahin, wo neben der grau in den klaren Frühlingshimmel ragenden Ruine der Kevernburg das Vorwerk aus einem Kranz blühender Kirschbäume lugte.
Dort verwaltete einst ihr Vater Amt und Rentei. Sie meinte noch ganz deutlich seine frische Stimme zu hören, die durch die Scheunen und Ställe, Forsten und Felder hinschallte, die so ehrlich tief aus dem Herzen kam, wie es bei Hofe keine gab.
Keine?
Ihre Augen wurden träumerisch. Das Bild verblaßte, wandelte sich. Statt des Gutshofes sah sie im Geiste die Terrasse vor dem Schloß, statt maigrüner Knospen überall kupferrote Blätter vom blauen Himmel sich abzeichnen.
Die gesattelten Pferde stampften, das Gefolge der Fürstin ritt aus, um mit anzusehen, wie die Jägerei des Fürsten das Schwarzwild erlegte, das sich vom Thüringer Wald herab in den nahen Hain gezogen hatte.
Der Fürst, unpäßlich, vielleicht auch durch die Nähe der Augustenburg zurückgehalten, nahm nicht selbst teil, hatte nur Befehl gegeben, die benachbarten Dorffluren vor Wildschaden zu schützen. Aber die Augustenburger Hofgesellschaft gönnte sich das Schauspiel. Das Ziel war erreicht.
Der erste Kammerherr hatte eben gesagt: „Dieses Amüsement ist nicht nach meinem Gusto. An andern Höfen hält man Kampfjagden, wo Wölfe, Rinder mit Schwärmern an den Hörnern, Maulesel in den Schloßhöfen gegen einander losgelassen werden, während die Musik lustige Stücklein auf Jagdhörnern bläst und die Kavaliere von den Fenstern aus ihre Feuerrohre abschießen.“
Da rief eine frische fremde Stimme: „Das ist nicht Weidmannsbrauch. Rinder abzustechen ist Metzgerarbeit. Der Jäger rottet das Raubzeug aus und bei der Jagd auf Schwarzwild setzt er das Leben ein.“
Das war der neue Kammerjunker Konrad von Eichfeld.
„Roher Krautjunker!“ flüsterten achselzuckend die Hofleute um ihn herum.
Er aber ließ sich nicht irre machen. Es sah köstlich aus, wie er so verdutzt, fast mehr erstaunt als empört auf einem der kleinen Altane stand, die an den alten Buchenbäumen angebracht waren, von denen aus sie alle dem Schauspiel des Abfangens beiwohnen sollten.
Die Jagd brauste heran.
Der Oberjägermeister höhnte die Kavaliere aus, die durch ihre Lorgnetten herablugten: „Geben die Herren Wohl acht auf das Abfangen, damit Sie es kunstgerecht in Wachs bossieren können.“
Und ein Gelächter wie Höllengeister stimmten die Grünröcke an.
Ein starker Keiler mit mächtigen Hauern war von den Hunden gestellt.
Im selben Augenblick stand Eichfeld unten, die Saufeder, die er einem der Jäger entriß, vorgestreckt – sein Arm schien sich in Eisen zu verwandeln.
Das Jagdglück war ihm hold. Das grunzende Tier mit den kleinen blutunterlaufenen Augen nahm ihn an. Weidgerecht ließ er es auflaufen.
Aber – o, der unverzeihlichen Frevelthat! – ein Blutstropfen spritzte an den Sammetrock des ersten Kammerherrn. Und er war doch von der neuen Farbe bleu mourant! Tölpel! stand auf allen Gesichtern geschrieben.
Als sie heimwärts ritten, streifte sie den Handschuh ab, befestigte ein grünes Tannenzweiglein an seinem dreieckigen Hut und sagte: „Weiß der Junker nicht, daß bei Hofe ein Kampf auf Leben und Tod nichts ist gegen einen Rock von der neu erfundenen Farbe des ersterbenden Blau? Dann sollte der Herr so bald als möglich wieder heimkehren auf sein Eichfeld.“
Wie keck sie der Neuling anblitzte mit seinen grauen ehrlichen Augen. „Wünscht das Fräulein, daß ich gehe?“ fragte er etwas atemlos.
Sie hatte ihn forschend angesehen, und es machte ihr Vergnügen, wie er errötete bei ihrem Blick und dann, offenbar zornig über sich selbst, so trotzig ihn erwiderte, daß sie nun ihrerseits das Blut in den Wangen brennen fühlte und rasch antwortete: „Ich wünsche, der Herr Kammerjunker möge der Mann sein, für den ich Ihn halte. Dann wird Er ungefährdet bleiben können und schließlich über Achselzucken und Spott triumphieren.“
Ohne sich zu besinnen, entgegnete er: „Das Fräulein soll sich nicht in mir getäuscht haben. Ich verspreche es durch ehrlichen Handschlag.“
Wie gezwungen von dem Ton seiner Stimme, legte sie ihre Hand in die seine.
Kräftig und warm umschlossen sie seine Finger. Dann plötzlich, sein Pferd dicht an das ihre drängend, preßte er die Lippen auf ihre Hand, scheu zuerst und dann mit so wilder heißer Leidenschaft – wie viele Handküsse erlebte sie täglich, und die Erinnerung an den einen ließ ihr Herz noch heute stürmisch schlagen.
Und hatte er gehalten, was er damals versprach? –
„Es ist die Mode so,
Bei Hofe so zu leben,“
Bittrer Spott zuckte um ihre Lippen. Das war die Antwort auf ihre Frage.
Dort kam er heran, die Amethystknöpfe des orangefarbigen Rockes aufgerissen, die Perücke verschoben, daß eine Locke des hellbraunen Haares sich herausdrängte, widerspenstig sich aufbäumend trotz des Oeles, mit dem die Herren das eigene Haar dicht an den Kopf zu heften strebten, in der Hand einen Zipfel des spitzenbesetzten Schnupftuches, mit dem er sich Kühlung in das erhitzte Gesicht wehte.
„Schönste Kiliane,“ sprach er, und seine Zunge war schwer, die Augen loderten unstet, „es war nur ein Trabant – wieder kein Husar. Wie es scheint, satteln die angenehmen Tollköpfe auch schneller, als sie reiten.“ Er lachte, daß die schönen weißen Zähne unter den jugendlichen Lippen blitzten.
Erschreckt blickte Kiliane ihn an. Dicht an sie heran schwankte er. Offenbar! Er hatte einmal wieder zuviel von dem schweren Malaga getrunken.
„Das danke ich meinem Unglück im Spiel.“ Er kehrte die Rocktaschen um. „Alles fort – leer, wie ausgekehrt! Thut nichts! Point d'honneur will haben, daß man Aufwand macht. Je größer die Schulden, je größer der Herr! Bauern sparen.“
Kiliane schwieg entsetzt.
Er lachte. „Ja, man lernt etwas bei Hofe. Nur fechten nicht. Es ist gut, daß mir das unser alter Fechtmeister auf dem Eichfeldhof beigebracht hat. Denn“ – er faßte grimmig nach dem Degengriff – „wenn mir ein Husar in den Weg träte“ – seine Stimme wurde laut, drohend – „einer von uns müßte dran glauben.“
Kiliane erhob sich; sie war blaß geworden. „Still! der Junker befindet sich im Antichambre seiner Herrin, und ich sehe keinen Husaren, wohl aber den Mohren der Fürstin.“ Sie ging langsam nach dem andern Ende.
Er folgte, sie von der Seite mißtrauisch beobachtend. Aber er fand nicht wie sonst Spott in ihren Zügen. Es lag etwas wie verborgenes Leid auf der Stirn; der Mund zuckte leise schmerzlich.
„Habe ich das Fräulein gekränkt?“ fragte er mit überquellender Herzenswärme. „O Kiliane!“ Er lag vor ihr auf den Knieen und haschte nach ihrer Hand.
Sie zuckte plötzlich zusammen. Glitt es nicht, ohne daß sie etwas sah, wie glatter Schlangenleib an ihr vorüber. Das kostbare chinesische und japanische Porzellan, das auf kleinen Konsolen die Wand schmückte, schütterte leise.
Erstaunt, verwirrt schaute auch er um sich. „Ging da jemand?“ rief er.
Keine Antwort. Totenstille.
Kiliane lachte mit blassen Lippen. „Hat der Junker noch nicht gehört, daß es spukt im Schlosse?“
„Ammenmärchen!“ murmelte er, aufmerksam horchend. Es klang, als entferne sich ein leise schleifender Schritt, den er zu kennen meinte.
„Der blasse hagere Schleicher!“ kam es unwillkürlich über seine Lippen. „Er hat manchmal einen Blick“ – er drückte die Faust zusammen – „ich weiß, daß ich ihn noch einmal an der Gurgel haben werde.“
Kiliane erschrak. Dieser Ausbruch des Naturmenschen traf wunderlich zusammen mit dem eigenen unheimlichen Gefühl, das sie Severin gegenüber empfand.
Sie waren dabei aus der Galerie heraus getreten auf den Vorplatz, von dem eine launenhaft sich windende Doppeltreppe hinab nach dem Garten führte.
Von allen Seiten rauschten die Roben, klirrten die Galanteriedegen der Hofleute heran.
[599] Auch die Oberhofmeisterin kam aus dem Zimmer der Fürstin. „Das Neueste!“ keuchte sie. „Seine Durchlaucht gehen in die Bäder nach Aachen für längere Zeit.“
Ueber Fächer und dreieckige Hüte flogen bedeutsame Blicke. Dann begann ein eifriges Flüstern.
„Endlich die Hände frei“ – „der Justizienrat ist gefügig“ – „der Rentamtmann wird sich finden lassen.“ – „Aber dieser unbequeme Sckretarius, der immer alle praktikablen Wege mit einem Gesetzbuch vermauert“ – „der rücksichtslose Superintendent, der auf seiner Kanzel die geheimsten Vorgänge ans Licht zieht!“
Kiliane sah verächtlich auf die Gruppen. Sie wußte, welche Fäden da gesponnen wurden.
O, man würde die Fürstin zu bearbeiten, aufzuhetzen verstehen! Was alles war nicht schon einer Hofintrigue zum Opfer gefallen! Da gab es Nadelstiche, die einen ehrenhaften Mann zur Verzweiflung treiben konnten, heimliche Gruben, in die man ihn fallen ließ.
Der einzige, der an dem Gezischel nicht teilnahm, war Eichfeld; aber – er hielt sich den schweren Kopf. Was half sein gerader Sinn? Sie wehte verzweifelt mit dem Fächer.
„Dem Fräulein ist zu heiß,“ rief einer der Kavaliere. „Darf ich Kühlung zuwehen?“ Er spitzte die Finger nach ihrem Fächer.
Sie schlug ihn damit.
„Ist der Flor zu lästig?“ fragte der Stallmeister und faßte nach dem spinnwebdünnen Gewebe, das ihren Hals umhüllte.
Eichfeld wurde rot und blaß. Seine Hand lag am Griff des Degens.
Der erste Kammerherr klopfte ihn auf die Schulter. „Jaloux auf das Fräulein von Heymbrot. Ridicule!“
Sie hatte es gehört. „Ja wohl, lächerlich! Das wissen die Leute am besten, die vom Eulenschrei bis zum Hahnenkrähen vor einer Mansardenthür Schildwache gestanden haben,“ sagte sie in beißendem Tone.
Der Kammerherr lachte frivol. „Eh! Jetzt steht keine impertinente Thür zwischen uns“ – er breitete geziert die Arme aus.
„Mir schuldet das Fräulein noch eine Locke,“ rief von der andern Seite der Stallmeister.
„Eine Busenschleife mir,“ behauptete ein anderer.
„So kassieren Sie Ihre Außenstände ein,“ rief Kiliane mit einem Lachen, das frisch klang bis zur Eiseskälte. „Die Jagd beginnt! Allons!“
Sie lief davon unter den ausgebreiteten Armen des Kammerherrn hinweg, die Männerschar nach.
Eichfeld wollte ganz verzweifelt die Verfolger aufhalten; aber, verstrickt in das Getümmel, vermochte er es nicht.
Die Jagd ging um ihn herum wie um einen Baumstamm.
Atemlos, glühend flog Kiliane voraus um die verschnörkelten Steinvasen, daß die Orangenbäumchen, welche daraus sich erhoben, einen Blütenregen herabschüttelten, um die Tische, auf denen bereits die zierlichen Täßchen, das Löffelbiskuit standen. Der Puder stäubte, die Stöckel klapperten – sonst kein Laut.
Da – plötzlich – ein Klopfen mit dem Stabe – und wie angewurzelt steht das Gefolge, die erhitzten frivol lachenden Gesichter in ehrfurchtsvolle Falten gelegt, die eben noch ausgestreckten Hände auf Herz und Degen gedrückt, die eben noch springenden Füße nun in der ersten Position, die Köpfe demütig gebeugt: Ihre Durchlaucht erscheint.
An einem schönen Maientag, da der Himmel sich blau über grüner Flur und blütenbedeckten Obstbäumen wölbte, rasselte der Reisezug des Fürsten zum Thor hinaus.
Vorreiter, Kuriere mit Trompeten, Leibjäger und Leibtrabanten, Kammerherren, Reisemarschall, Leibarzt und Geheimschreiber zu Pferd, zu Fuß, zu Wagen bildeten ihn.
In ihrer Mitte bewegte sich die Kutsche, das Verdeck von einer Schnur frisch gemalter Wappen umgeben, gezogen von einem mit Federbüschen geschmückten Sechsgespann, die Trittbretter besetzt mit Lakaien und Pagen.
Es war noch immer ein schönes Gesicht, das sich in dem Fenster der Karosse zeigte; aber ein Ausdruck lag darauf wie hereinbrechender Nebel auf fröhlichem Gefilde.
Die Augen des Fürsten hafteten an dem Banner, das ihm noch einmal nachwinkte vom hohen Turm, während es langsam eingezogen wurde. Der Fürstenhut war darauf gestickt, der lang’ und heiß erstrebte. Ein Lächeln flog über die feinen Züge – war’s Spott? War’s Wehmut? –
In dem kleinen Flüßchen, durch das die Landstraße nach Gotha ging, stand Märten, auf eine Steinpicke gestützt, mit welcher er hatte die Furt gangbar machen helfen, und sah der hindurchwankenden Kutsche zu, welche die Trabanten an beiden Seiten mit ihren umgekehrten Spießen stützten. Die Kappe brauchte er nicht abzunehmen, da er keine trug.
„Gafft doch nicht so unverschämt in den Wagen,“ mahnte leise ein alter Mann, während er sich tief gebückt hielt. „Der Herrschaft gegenüber schlägt man die Augen nieder.“
Märten sah ihn über die Schulter an. „Das mag gut sein für einen alten abgesetzten Bedienten wie Ihr. Ein richtiger Mann, der nichts verbrochen hat, kann offen und ehrlich jedem in das Gesicht sehen.“
„Aber Eure Offenheit ist so groß, daß sie wie Unverschämtheit aussieht,“ rügte ein Scharwächter, der den Zug bis vor das Thor geleitet hatte.
„Hebt Eure Beschwerde über meine Unverschämtheit auf, bis ich Euch einmal durchgewalkt habe, wenn Ihr nachts über Eure eigenen Beine stolpert,“ war die grobe Antwort.
Dann schwang Märten die Steinpicke über die Schulter, goß seine Holzschuhe aus und ging mit Siebenmeilenstiefelschritten davon.
Die Leute waren seinen Grobheiten gegenüber zurückgewichen; nun schimpften sie hinter ihm her.
„Der lange Schlagetot, der von je der Stadt zur Last gefallen ist!“ „Nirgends hat er gut gethan, hat in keiner Lehre ausgehalten,“ murrten Seiler und Tuchmacher, die mit Rad und nassen Tuchpacken auf den Anger zogen.
„Dafür ist er der Nachkomme des Rädleinsführers, der im Bauernkrieg am hänfenen Strick gen Himmel fuhr,“ keifte eine Bürgersfrau im runden Thüringer Kragenmantel.
„Wenn Sie das noch einmal sagt, Frau Krautwurstin, dann sehe Sie zu, wer Ihr die schiefe Hüfte zurecht polstert,“ unterbrach sie eine belfernde Stimme, und Fieke trat hervor, den einen Arm kampflustig in die Seite gestemmt, am andern ein Handkörbchen, aus dem die riesige Schneiderschere und Schnittmuster hervorsahen. Sie war auf dem Weg zur Arbeit und hatte auch ein wenig gucken wollen. „Was kann Märten dafür, daß sein Ur-Ur-Urgroßvater mit dem aufrührerischen Haufen unter dem Pflugrad gezogen ist? Was hat die Stadt schon für ihn gethan, Meister Blautöpfer? Halb verhungern lassen hat sie das Nest voll Kinder, dieweil der Vater, der kranke Tagelöhner, nichts verdienen konnte; hat nicht danach gefragt, als die arme Brut sich in alle Welt verlief wie ausgesetzte Katzen. Und warum hat Märten nicht in der Lehre ausgehalten, Meister Tuchscherer? Wenn er bei meinem seligen Vater auf dem Schneidertisch saß, ragten seine Beine bis in die Kammer; in den großen Fingern verkrochen sich die Nadeln; und wenn ihm mein Vater eins mit der Elle überzog, wie es sich für einen Lehrling gehört, lachte er, als ob ihm der Buckel gekraut würde. Ist es erhört, daß ein Magistrat so wenig Einsehen hat und einen solchen Menschen zum Schneider machen will?“
Sie holte frisch Atem. „Wollt Ihr ihm etwa das Mauertürmchen vorwerfen, in dem er seit dem Tode meines Vaters untergekrochen ist? Wo seit Menschengedenken niemand und nichts gehaust hat als die alte Kartaune? Wo er hätte verschimmeln können, wenn ihm nicht der Herr Sekretarius Struve ein Windöfchen aus seinem Haus und das Abfallholz aus seinen Gärten geschenkt hätte! Eure Wohlthaten trägt eine Mücke auf dem Schwanze fort.“
Sie machte sich patzig mit den Ellbogen Platz durch die abgetrumpften Leute. Schon im Davongehen rief sie noch zurück: „Aber daß das Stangenpferd stolperte, als die Kutsche zum Thor hinaus fuhr, ist kein gutes Vorzeichen.“
Struve hatte mit den andern Räten und Dienern dem abreisenden Herrn die letzte Verbeugung gemacht.
Man hatte lange stehen müssen, denn Verspätung gehörte zur Vornehmheit. Nun zogen alle nach Haus, die einen gehoben durch den ihnen im Vorzimmer angewiesenen Platz, die andern mit roten Köpfen, weil sie nur für die große Vorhalle würdig befunden worden waren. Am Hofe wird um eine Rangstufe heißer gestritten denn um einen Sitz in Abrahams Schoß.
[602] Nur den Sekretarius hielt sein Dienst noch fest. Er mußte die von dem Fürsten dem Kanzler ausgestellten Vollmachten zu einem Aktenstück zusammen fügen, das dabei gebrauchte Staatssiegel unter Verschluß bringen. Unmutig stieß er es in die Holzkapsel. Trübselige Wochen lagen hinter ihm. Mit allen seinen Angelegenheiten war es gegangen wie in einem schweren Traume, wo man mit Händen und Füßen arbeitet und nicht vom Fleck kommt.
Magdalene ließ sich nirgends blicken. Seine Herzallerliebste verstand durch Verschwinden und Schweigen so deutlich ihre Meinung kund zu thun als andere durch stundenlange Reden. Es gab Augenblicke, wo sein Unmut über sie seiner Liebe die Wage hielt.
Und wenn er dann in treuer Pflichterfüllung Vergessen suchte, wurde ihm da kein besserer Erfolg zu teil. Er hatte seine Abhandlung mit einer gehorsamsten aber dringenden Mahnung dem Kanzler eingereicht. Und dann war sie in dessen Schreibpult verschwunden wie in der Höhle des Löwen, in die viele Spuren hinein, keine wieder herausführen.
Er sah ein: auf diesem Wege kam er nicht vorwärts.
Und wieder tauchte die Erinnerung an den Erbprinzen von Sondershausen in ihm auf. Gewißlich: bei dem jungen Herrn fände er Verständnis für seine Vorschläge. Wie derselbe mit weiser Umsicht den Verhandlungen präsidierte, welche der unseligen Zerstückelung des Landes ein Ende machten, zu der Entwicklung eines Staatslebens den ersten Stein legten, so würde er auch der Aussaugung seiner zukünftigen Unterthanen vorzubeugen suchen.
Riefe man ihn an –
Struve schüttelte den Kopf. Wie kam ihm nur der Gedanke? Das war nicht der gesetzmäßige Weg, den er zu wandeln hatte wie allezeit seine Altvordern.
In Nachsinnen verstrickt war er aus der Kanzleistube herausgetreten auf den Laubengang, der, mit geschnitzten Bogen auf schweren Eichenstämmen ruhend, vor dem Regierungsgebäude des äußern Schloßhofes hinlief.
„Welchen tiefen Dingen sinnt der Herr Sekretarius nach, daß Er Seine ergebene Dienerin nicht sieht?“ erklang eine helle Stimme in nächster Nähe.
Kiliane wiegte sich heran, den hohen Strohhut schief auf dem Toupet.
„Dem Ausspruch,“ erwiderte Struve, seinem Groll Luft machend, „welchen der große Kanzler Gustav Adolfs, Oxenstierna, seinem Sohn gegenüber gethan hat: ,Du glaubst nicht, mit wie wenig Weisheit die Welt regiert wird‘.“
Sie sah ihn unter dem gegen die Sonne gehaltenen Fächer hervor eindringlich an. „So spricht der Herr Sekretarius zur Nichte seines Kanzlers, zur Hofdame der Frau Fürstin, zur leichtsinnigen Heymbrotin?“
„Zu derselben Kiliane von Heymbrot,“ antwortete er ernst, „die einst als Kind den langen Christian Struve auf seinem Spaziergang nach dem Hain einfing, damit er eine junge auf das Pflaster gefallene Schwalbe wieder in das Nest setzte, und mit ihren schwachen Fingerchen die Leiter hielt, auf der er das Rettungswerk vollbrachte. Sie wird dasselbe Mitleid jetzund bereit halten für die Tausende von Mitmenschen, deren Heimstätten, deren bescheidentlicher Wohlstand bedroht sind, und für deren Schutz niemand eine Hand regt.“
Ein weicher Schimmer war in ihren Augen aufgestiegen. „Ja,“ sagte sie leise, „es ist schrecklich, aus dem Nest zu fallen. Und es giebt immer frivoles Gelichter, das andere gern daraus verjagt. Erst heute noch habe ich eine künstlich gedrehte Schlinge gefunden, mittels deren man ein unliebsam gewordenes Nest zu räumen versucht. Ich habe sie für den Herrn Sekretarius mitgebracht.“ Sie zog aus einem kleinen seidenen Beutel, der ihr am Arme hing, ein zerknittertes Stück Papier. „Ja, staune Er nur!“ scherzte sie. „Das Präsent ist so kostbar, wie Er es von Kiliane von Heymbrot erwarten kann. Eine der Papilloten, auf die unser erster Kammerherr die Locken seiner Perücke hat wickeln lassen. Er hat sie verloren, als er sich von Flickfieken seine Weste enger nähen ließ und, da ich zufällig ins Zimmer trat, Reißaus nahm.“
Etwas befremdet entfaltete Struve das Papier. Es war ein geschriebener Zettel, der den Befehl an den Kammerherrn enthielt, in die Kirche zu fahren, die Predigt des Superintendenten anzuhören und Thema und Teile, überhaupt so viel als möglich, nachzuschreiben. Das Papier trug keine Unterschrift; aber das Wasserzeichen zeigte das braunschweigische Roß.
„Das Fräulein verpflichtet deren ergebenen Diener zu ewigem Dank,“ sprach Struve erregt.
„Er sieht,“ ermahnte sie, ihren Fächer erhebend, „der Boden, auf dem wir stehen, ist Sumpf, in dem ein Mann, der ihn geradeaus durchschreiten will, lautlos versinken kann, ob er nun mit einer Predigt oder mit unbequemen Gesetzbüchern im Wege ist. Sumpf, in dem nur Schlange und Irrlicht“ – sie tippte mit schelmischer Demut sich auf die Brust „nichts zu fürchten haben.“
„Ich verstehe das Fräulein,“ sagte er. „Aber es hat zu allen Zeiten Menschen gegeben, die ihr Leben dran wagten, unheildrohende Sümpfe unschädlich zu machen. – Ein viel gefährlicheres Werk dünkt es mich, ein Irrlicht, vorstellen zu wollen. Und,“ fuhr er mit seinem schönen ernsten Lächeln fort, „da wir einmal dabei sind, uns wie in ferner glücklicher Kinderzeit zuzurufen: ,Ueberspring keine Sprosse, Christian!‘ ,Nimm die Händchen in acht, Kiliane!‘ so lassen auch Sie mich eine Warnung aussprechen. Warum will das Fräulein für einen unsteten Flattergeist gelten? Warum trägt Sie eine Larve vor dem Gesicht, hinter deren leichtfertiger Grimasse die edlen Züge verschwinden? Sie sollte fürchten, diese Maske könnte endlich so fest haften, daß das Gute dahinter erstickt wird.“
Kiliane zuckte die Achseln, die sich, zart abfallend, unter dem lavendelfarbigen Ueberkleid abzeichneten. „Die Hofschranzen verdienen nur eine Grimasse,“ entgegnete sie verächtlich.
„Alle?“ fragte er. „Es wird mir schwer, zu glauben, daß unter diesen glatten Mienen nicht hier und da eine größere Seele sich verbergen, nicht ein einziges wärmeres Herz unter den Spitzenjabots schlagen sollte. Vielleicht verlarven auch andere ihr wahres Gesicht.“
Sie sah betroffen auf. Dann verlor sich ihr Blick hinaus in den blauen sonnigen Himmel, nachdenklich, weltvergessen.
Auch Struve schwieg. Es war so still, daß man das leise Summen der wie glitzernde Pünktchen durch die Luft fahrenden Insekten hörte.
Endlich atmete sie tief auf, als erwache sie aus einem Traum und besinne sich auf das wirkliche Leben. „Au revoir, Monsieur Struve.“ Sie machte einen anmutigen Knix.
Er verbeugte sich tief. Ihre zierlichen Stöckel klapperten nach dem Pförtchen, das in die Dienstwohnung des Kanzlers führte.
Er sah ihr mit Rührung nach, wie sie gleich einem rosigen Schmetterling mit blauen Oberflügelchen hinter den Bogen des Laubenganges verschwand.
Dann wandte er sich dem Heimweg zu, trotz der gefährlichen Papillote mit mutvollerem, frischerem Schritt.
Auch für ihn war die Zeit gekommen zu entscheidendem Handeln. Noch heute mußte er die Warnung in die Superintendentur tragen.
Und zugleich wollte er seine Werbung zum Abschluß bringen, sich das Recht erringen, das geliebte Mädchen in den drohenden Zeitläuften schützen zu dürfen, ihr, wenn das Schicksal ihrem Vater Schweres vorbehielt, eine Zuflucht zu sein.
Wenn sie ihn auch durch ungerechten Verdacht gekränkt hatte – es war jetzt keine Zeit zu kleinlichen Häkeleien.
Ihm als Mann kam es zu, die Verhältnisse zu klären, ihr das unwandelbare Vertrauen zu ihm einzupflanzen, das zu einer würdigen Ehe unentbehrlich ist.
Ein süßer Trost hatte ja doch auf dem Grunde aller der Kränkungen gelegen: wo Eifersucht ist, muß auch Liebe sein.
Das Herz Christian Struves ging in immer rascheren Schlägen.
Es ist ein Wunder, daß so viele Ehen zu stande kommen trotz der Angst, welche die Menschenkinder vor dieser wichtigen Handlung ausstehen müssen.
Der junge Freier hatte auf keiner Stelle mehr Ruhe, nicht einmal beim Mittagstisch, von dem die alte Köchin, ein Erbstück des Hauses Struve, sogar die Potage aus Spargel und jungen Erbsen, mit Krebsen garniert, unangerührt wieder in die Küche zurück bekam. Der Bediente wurde zu außergewöhnlicher Zeit mit der Staatsperücke zum Friseur geschickt und – auch in der Perücke bringt es die Jugend zur Poesie – Christian begab sich in den Balsamgarten und pflückte von den Rabatten goldgelbe füllereiche Ranunkeln, braune Aurikeln, duftende zarte Maienglöckchen und befahl, sie mit einem seidenen, die Farbe der Treue tragenden Band zu einen Strauß zusammen zu fügen.
Von diesem Augenblick an ging das Gesinde nur auf den Fußspitzen und flüsternd im Haus umher: man wußte, was die Glocke geschlagen hatte.
[613] Als der Abend kam und Christian hoffen konnte, zu einer traulichen Stunde die Familie Olearius allein zu treffen, trat er seinen Weg an, nachdem er außer dem Siegelring mit dem großen Chrysopras fürsorglich noch ein schweres Goldringlein an den kleinen Finger gesteckt hatte.
In dem geistlichen Hause waren die Fenster der Unterstube erhellt, aber die Vorhänge zugezogen. Die Glocke der Hausthür läutete feierlich bei seinem Eintritt. Er klopfte an. Ein kräftiges Herein ertönte. Mit stockendem Atem trat er in die zu aeinem Schrecken von Menschen erfüllte Stube.
[614] Um die große Tafel, auf welcher sich ein Haufen kleiner Münzen türmte, saßen Klingelbeutelväter, Kastenknecht und Bedienter.
Der Hausherr, in sein Rechnungsbuch vertieft, schüttelte ihm stumm die Hand.
Die Hausfrau kam ihm sichtlich erfreut entgegen, nahm ihm Hut und Stock ab uud sagte herzlich: „Der Gotteskasten wird gestürzt; will Er helfen?“
Sein Blick suchte Lenchen. Unter den langen Wimpern hervor sahen ihre Augen zu ihm auf: still, verschlossen, und doch lag ein Ausdruck darin, als rücke sie ihm die kleine Bachin und Justizienraths Christelchen vor.
Sein gutes Gewissen empörte sich gegen den Blick. Doch nein! Heute wollte er sich nicht aufreizen lassen; er wollte wie ein Mann unbeirrt auf sein Ziel losgehen.
In heiterem Tone erklärte er seine Bereitwilligkeit. „Aber zuerst möchte ich die Demoiselle bitten, von mir diese unwürdigen Blumen anzunehmen,“ sagte er und bot seinen Strauß dar.
Magdalene erhob sich, machte einen Knix und legte die Blumen neben sich.
Fieke, die man zum Auslesen des Geldes mit berufen hatte, steckte sofort bewundernd ihr Näschen hinein.
„Rückt zusammen, Ihr Mädchen!“ ordnete die Hausfrau an. „Setze Er sich neben die Lene.“
Fieke rückte eiligst mit ihrem Schemel von Magdalene fort, um ihm Platz zu machen; aber Magdalene rückte sogleich nach, daß er zwischen sie und einen der alten Klingelbeutelväter kam.
„Das falsche Geld,“ fuhr die Mutter fort, „– leider Gottes trägt jeder seine verschlagenen Heller in den Klingelbeutel – kommt auf diesen Haufen; es wird an den Kupferschmied verkauft; das gute Geld nach seinem Wert hier sortiert.“
Struve machte sich schmal, schob seinen Schemel heran und begann mit auszulesen.
Dazwischen glitt sein Blick nach seiner Nachbarin. Wie war sie lieblich zu schauen mit dem schwarzen Sammetband um den Hals! Wie flink ging ihren Fingerchen die Arbeit von statten, und wie sorglich schob sie das häßliche unsaubere Geld von seiner Seite weg. Ganz von selbst nahm sie die Mühsal für sich - eine echte Frau.
Aber er sah auch, daß der ernste Blick nicht aus den Rehaugen wich.
Fieke hatte die Aeuglein auf alle die rollenden kleinen Münzen gerichtet. Jedes grünspanüberzogene Scherflein prüfte sie darauf, ob es wohl ein Heckepfennig sei, in welchem Falle sie es für sich zu erwerben gedachte.
„Da ist ein Thaler aus unserer eigenen Münze. Den hat der Fürst bei seinem letzten Kirchgang in den Gotteskasten gelegt,“ sagte ehrfurchtsvoll der Kastenknecht.
„Und da ist ein kursächsischer Dukaten,“ rief ein Klingelbeutelvater. „Der Erbprinz Günther aus Sondershausen legte ihn in meinen dargehaltenen Sammelbeutel, als er nach Gehren zur Hirschjagd hier durchreiste und zum erstenmal die Kirche besuchte.“
„Das letztemal – das erstemal – gebt acht, das hat ’was zu bedeuten,“ sagte Fieke.
„Fiekchen, bei einem Geistlichen wird keine Zeichendeuterei getrieben,“ verwies sie die Hausfrau.
Als das Geklapper eifrig wieder einsetzte uud laut gezählt wurde – Hundert Heller, funfzig Pfennige, rückte Struve ein wenig näher an Magdalene heran und flüsterte: „Gedenkt die Demoiselle noch zuweilen an die Hochzeit des Herrn Diakonus, wo Ihr das Halskettlein zerriß, und ich Ihr helfen durfte, die kostbaren Perleu aufzulesen? Das dunkle Eckchen des Saales, in dem wir nebeneinander knieten, dünkte mich herrlicher als das Paradies, und wie segnete ich die gute Brautmutter, die mit ihrem großen Reifrock so eifrig die Gavotte vor unsrem Winkel tanzte! Ich konnte doch endlich einmal der Demoiselle sagen, in wie hoher Wertschätzung Sie bei mir steht. Aber auf eine beglückende Antwort harre ich noch immer.“
Sie sah nicht auf von ihrem Geschäft; aber ihre Wangen waren unter seinem Geflüster aufgeglüht wie Pfingströslein.
Stürmischer, zärtlicher fuhr er leise fort: „Nur eine Huld ist mir hernachmals zu teil geworden. Die Erinnerung daran verwahre ich als den köstlichsten Schatz an meinem Herzensschrein: die Gevatterschaft, zu der uns gemeinsam das Vertrauen des Herrn Stadtschreibers berief.“
Die Worte waren verhaucht. Tiefe Glut bedeckte die jungen Gesichter. Dasselbe Bild stand in beiden gepuderten Köpfen: der Taufstein in der Oberkirche mit seiner vergoldeten Dreieinigkeit unter den Paten, die sich darum reihten, sie als jüngstes Pärchen. Magdalene mit dem Strauß, zu dem ihr Herr Gevatter alle Beete seines Gartens geplündert hatte, er, die Citrone in der Hand, welche die Gevatterin verehren mußte. Beide fast atemlos vor Herzklopfen, während dem neuen Erdenbürger der Teufel ausgetrieben, das kleine Haupt mit dem Taufwasser begossen wurde. Denn nun kam der Segen, dann die Gratulation und dann – der Gevatterkuß. Jeder Gevatter küßte seine Gevatterin.
Ja, ja, der Herr Sekretarius Struve hatte Demoiselle Lenchen wirklich geküßt. Die Erinnerung an den süßen und doch so angsterstickten Augenblick verscheuchte aus Magdalenes Sinn den Groll über seinen unüberwindlichen Hang zur Galanterie.
Die Tafel mit den Pfennigen, die Klingelbeutelväter – alles war ihr entschwunden. Ihre Augen erhoben sich zu ihm.
„Darf ich darauf hoffen,“ flüsterte er, „daß die Demoiselle mir endlich eine beglückende Antwort gewährt?“
Auf ihren Lippen schwebte ein Ja.
Da kicherte Fieke auf. „Den Perlmutterknopf da kenne ich. Er gehört an das lavendelblaue Ueberkleid des Frölen von Heymbrot. Weiß Er, Herr Sekretarius, in dem sie heut’ mit Ihm auf dem Laubengang spazierte und immer den Kopf mit Ihm zusammensteckte? Wir haben es wohl gesehen, bei der Wirtschafterin des Herrn Kanzlers, wo ich die Damasttücher stopfte. Gewiß hat sie einmal in der Kirche den Pfennig vergessen gehabt und den Knopf abgedreht. Geb’ Er ihn mir. Wenn ich wieder draußen bei ihr nähe, kann ich ihn anflicken.“
Niemand achtete auf ihre Schneidergedankengänge.
Magdalene glühte jetzt – „wie ein Drache“, sagte sich ihre Mutter beklommen.
Auch Christian war zuerst vor dem zu so ungeschickter Zeit nach ihm hinrollenden Knopf zurückgezuckt. Aber als Magdalene mit spitzen Fingern denselben von ihrem Pfennighäuschen wegstieß und sagte: „Ich habe nichts mit dem Fräulein von Heymbrot zu schaffen,“ da empfand Struve, dem das bedeutungsvolle Billet an den Kammerherrn in der bordierten Westentasche knisterte, etwas wie Beschämung in Magdalenes Namen. Wie konnte sie so harte Worte brauchen?
Er nahm mit seiner schönen ruhigen Hand den Knopf auf und reichte ihn Fieke. Zu Magdalene aber sagte er eindringlich: „Die Demoiselle hat alle Ursache, dem Fräuleiu eine gute Gesinnung zu bewahren.“
Sie erbleichte. „Ich ehre uud achte, wen ich dessen würdig befinde,“ sagte sie herb.
Er richtete seinen Blick fest auf sie mit dem ernsten Ausdruck, den Kiliane so gern an ihm sah.
Das junge Mädchen saß mit unbewegtem Gesichtchen neben ihm; nur ein leises verächtliches Herabziehen der roten Lippen war zu spüren. Ihr züchtiges Wesen, das ihn immer mit Ehrfurcht erfüllt hatte, zeigte die unschöne Schattenseite, die sittenrichterliche Lieblosigkeit.
Wie stieg dagegen die unter allerhand Tändeleien versteckte warmherzige Sinnesweise Kilianes empor.
Er hatte seine Beschäftigung eingestellt und sich zurückgelehnt.
Nun war die letzte Münze an den richtigen Platz gebracht. Alle erhoben sich.
Magdalene stand auf, und ohne sich weiter um den Strauß zu kümmern ging sie und half die Geldsäckchen zuschnüren.
Er sah ihr mit einem langen Blick nach.
In dieser Stunde, wo er den Verlobungsring, den er verschenken wollte, schon am Finger trug, schmerzte es ihn bis ins tiefste Herz, daß das Mädchen, welches er liebte, einem harmlosen Geschwätz sofort ungeziemende Deutung gab. Auf wen durfte ein Mann bauen, wenn die Frau nicht an ihn glaubte? Und bedurfte er nicht vor allem rückhaltloses Vertrauen in den Kämpfen, die er auf seinem Weg unabwendbar vor sich sah?
Darüber half der Trost nicht hinweg, daß Eifersucht die Ursache des Zwiespaltes war; er milderte nicht die Demütigung, die der Freier statt des ersehnten Glückes heimtrug.
Auf seiner freien Stirn trat eine Ader hervor.
Entschlossen wandte er sich an den Hausherrn. „Gestattet mir Hochehrwürden, daß ich Ihn in das Museum begleite? Ich habe ein paar Worte mit Ihm zu sprechen.“
[615] Dann machte er den beiden Frauen eine Verbeugung, drehte sich schroff ab und folgte dem Superintendenten die Treppe hinauf.
Die Kirchendiener empfahlen sich und gingen.
Fieke hatte mit ihren pfiffigen Aeuglein alles gesehen. „Mamsell Lenchen hat wohl gar darum böse gethan, weil der Knopf ein alter Bekannter vom Herrn Sekretarius war?“ fragte sie. „Da muß ich Ihr doch sagen: das Hoffrölen hat sich am Sylvesterabend ein Eichhörnchen gegossen. Ja, wenn Sie auch Augen und Mund aufsperrt! Ich weiß, was ich weiß. – Aber es ist kein Wunder, wenn Ihre Sache zu keinem gedeihlichen Ende führt. Warum schenkt der Herr Sekretarius zum Jahrmarkt einen Nähkasten, obschon jedermann weiß, daß Nadeln die Liebe zerstechen?“
Magdalene war bei jedem Wort zusamnwngefahren. Nun sagte sie, stolz abwehrend: „Was kümmert mich das Fräulein und ihr Eichhörnchen?“
„Fiekchen,“ kam die Hausfrau ihrer Tochter zu Hilfe, „behalte doch Deine Erfahrungen mit den Nadeln, die Du wahrscheinlich bei Deinem Schneiderlehrling gemachl hast, für Dich.“
„Na, solche habe ich nicht gemacht wie die Mamsell mit ihrem Schatz,“ erwiderte Fieke nun auch erbost. „Der Herr Sekretarius drehte sich auf dem Absatz herum, als sei es für immer.“
Dann wünschte sie allerseits gehorsamst eine geruhsame Nacht und wieselte fort.
„Lenchen,“ sagte in klagendem Tone die Mutter, „wozu machst Du Dir so viel Mühe mit den feinen Hohlnähten an den Hemdkrausen, wenn Du doch den Freier immer vor den Kopf stößest?“
Magdalene sah ihre Mutter vorwurfsvoll an.
„Ach,“ erwiderte die sanfte Frau, den Blick verstehend. „Wollte man auf jedes Geklatsch hören, dann käme nie eine Heirat zu stande. Vor einer Verlobung trägt jeder eine ungünstige Nachricht über den Freier in das Haus der Umworbenen, wie später die alten Tiegel auf den Polterabendhaufen.“
Sie hielt inne. Struve kam wieder die Treppe herab.
Die Frauen lauschten. Magdalene faßte nach der Tischkante.
Aber draußen ging der jugendlich elastische Schritt stracks vorüber. Dann klingelte die Hausthür.
Magdalene that wie mit gelähmter Hand die ihr obliegende Arbeit, den blank gebohnten Tisch abzuwischen.
Ihre Murrer seufzte, nahm das Licht und begab sich zu ihrem Eheherrn hinauf.
Aber es dauerte heute lange, ehe droben Ruhe wurde.
„Und wenn mir Amtsentsetzung drohte, nicht ein Wort würde von mir zurückgehalten werden,“ schallte die Stimme des Superintendenten herab.
„Aber wer kann wider den Stachel löcken?“ wagte seine Frau einzuwerfen.
„Der Heilige Geist läßt sich nicht den Mund zubinden,“ widerlegte er sie.
Sie schwieg. Sie mußte es über sich ergehen lassen. Von altersher gilt das Wort: Männer kämpfen, Frauen dulden.
Erst spät ertönte der Abendsegen. Die Stimme von Olearius klang fest, kampfesfreudig; leise zitternd stimmte seine Frau ein.
Auch Magdalene begab sich nicht sofort in ihr Kämmerlein. Sie griff zwar nach der Lampe; aber sie stellte dieselbe wieder hin.
Sie konnte es nicht über das Herz bringen, die schönen Blumen verschmachten zu lassen. Sie hatten es nicht verschuldet, daß der Geber heimlich mit andern schäkerte.
Sie holte einen Würztopf aus dem blauen Porzellan, das in Dorotheenthal gemacht wurde, und stellte mit zitternden Fingern die Blumen hinein.
Wie groß und braun die Aurikeln sie anschauten!
Sie legte plötzlich die Arme auf den Tisch, den Kopf darauf, und unaufhaltsam brachen Thränen und Schluchzen hervor.
Fieke hatte sich von der Magd das Hinterpförtchen öffnen lassen, welches vom Garten der Superintendentur in die Mauergasse führte, in welcher ihr Häuschen stand: krumm und schief wie der kleine Spittelmann auf zwei Krücken.
Hurtig schritt sie ihm zu, daß der Rock aus grobwollenem Rasch geschäftig schwänzte und die weiße Tändelschürze flatterte, die ihr Kiliane geschenkt hatte.
Auf der Bank unter dem Hollunderbaum saß Märten und pflegte der Abendruhe. Als er sie durch die Dunkelheit heranhuschen sah, erhob er sich. Sein Kopf reichte bis an die Dachschindeln.
„Na Fiekchen, hast Du einmal die ganze Stadt zusammengeflickt?“ lachte er ihr entgegen. „Hast ja heute zu allen Fenstern herausgeguckt!“
„Ist das eine Qual,“ seufzte Fieke und packte ihr Körbchen aus, „mit der verflixten Schneiderei! Jede will hübscher gemacht werden, als sie der liebe Gott geschaffen hat. Die Haushälterin vom Herrn Kanzler will eine Wespentaille haben – wenn man sich von solchen Wickelklößen nährt!“ sie schob das gelb glänzende Gebäck ihrem Schatze zu. „Und Justizienrats Christelchen möchte rund wie eine Nudel sein,“ sie legte einen trockenen Bückling daneben.
Märten sah behaglich zu, wie sie so sauber seine Abendmahlzeit ausbreitete: die gerechten Butterfladen aus der Superintendentur und das ungerechte gekochte Hühnchen, das von säumigen Zinsleuten dem Herrn Rentamtmann als Bestechung in die Küche geliefert worden war.
„Du hast schon recht, Fiekchen,“ nickte er. „Aber es giebt auch Jungfern, die eine Wespentaille haben und doch ein rundes Nudelchen sind.“ Er faßte sie um die zierliche Taille, hob sie gelassen in die Höhe und küßte sie herzhaft auf die gesprächigen Lippen.
Dann stellte er sie ebenso ruhig wieder auf ihre Hackenschuhe und machte sich über das Abendbrot her.
Sie hatte seine gemächliche Liebkosung vergnügt hingenommen. Jetzt klagte sie: „Ach, Märten, alles geht schief. Statt Verlöbnis zu halten zanken sich die Leute. Wer weiß, ob ich das amaranthfarbene Kamisölchen von Superintendents Lenchen kriege, in dem ich Hochzeit machen will.“
Er schüttelte seinen dicken Kopf. „Wird das sich dann zu unsern verschrumpften Gesichtern und grauen Haaren schicken?“ fragte er zwischen dem Kauen. „Wir haben erst dreizehn Gülden und sechs Mariengroschen, ist noch weithin bis zu hundert Meißenschen Gülden, die ich nun einnnal nachweisen soll.“ Es war ihm ordentlich lächerlich. „Du freilich bist eine Vollbürgerstochter.“
Fieke drehte selbstgefällig den Kopf hin und her, daß die silbernen Ohrbommeln schwankten. „Ja, ich gehe eine Mesalliance ein, wie sie es bei Hofe nennen,“ sagte sie. „Aber ich thu’ es gern.“ Dann fiel sie in ihren belfernden Ton zurück: „Die Ungerechtigkeit ist himmelschreiend. Wenn es gilt, eine Innung zu behummeln, dann können die Gesetze an den Nagel gehangen werden. Neulich – wir machten aus der Bräutigamsweste des Herrn Bürgermeisters – er hatte sie beim vorigen Schützenfest mit Sauce begossen – wir machten also daraus für den kleinsten Jungen das erste Höschen – das richtige Hanswürstchen! Da bin ich im Mantel und Hut des Herrn durch die Hinterthür hinein geführt worden, daß die Schneider es nicht erführen; aber den armen Leuten wird nicht durch die Finger gesehen.“
„Das hat mein Ur-Ur-Urgroßvater auch schon gesagt,“ brummte Märten und nahm ein zweites Butterbrot.
„Schlimm genug, daß es nach zweihundert Jahren noch immer nicht besser ist,“ zankte sie weiter, „daß die großen Herren noch immer die kleinen Leute schinden.“
„Christian Struve ausgenommen,“ schaltete Märten ein.
„So gehe zu Deinem Christian Struve,“ fuhr sie ihn an. „Vielleicht giebt er Dir ein Sümmchen dazu, wenn Du ihn darum angehst.“
Er sah sie groß an. „Helfen würd’ er wir schon: aber Struve anbetteln? Struve, den ich Du nennen muß, wie wir als kleine Jungen gethan haben? Der mir die Hand drückt wie seinesgleichen? Dann wäre ich ein Bettelmann und nicht mehr sein Freund! Nee, Fieke, lieber Hungers sterben!“
Sie stemmte die Arme in die Seite. „Lieber auch die Fieke im Spittel verkümmern lassen?“
Es zuckte in dem offenen Gesicht. „Wenn’s sein muß – ja!“ sagte er ehrlich.
Sie kreischte auf.
Er faßte mit seiner harten starken Faust ihr feines Schneiderhändchen. „Sei vernünftig, Fieke. Siehst Du, seit ich Struve kenne, weiß ich, daß ich doch auch ein Mensch bin wie alle die andern. Lange ehvor wir einander gut wurden, habe ich mein Herz an ihn gehangen. – Wir waren beide kleine Jungen und [616] saßen in der Schule. Alle schlossen sich an den Hofratssohn an, und neben mir wollte niemand sitzen; denn ich war zerrissen und struppig. Und was das Schlimmste war: sie schrieen mich immer an: ,Rädleinsführer!‘ Wegen dem“ – er strich mit der Hand um den Hals. „Ich prügelte ja so viele durch, wie ich konnte; aber es war ein ganzer Haufen. An die Arbeit will ich denken! Und zuletzt kam der Schulmeister mit dem Bakel, und nun mußte mein Buckel herhalten. Da saß ich nun auf der Eselsbank. Die Schule wurde geschlossen, und die ganze Horde wartete draußen und wollte noch einmal mit dem Schimpfwort über mich herfallen. Da kam Struve zu mir und sagte: ‚Komm, Märten, wir wollen zusammen gehen.‘ Und da gingen wir, der vornehme Junge seine silberbeschlagene Bibel, ich meinen zerlederten Katechismus unterm Arm. ‚Kümmere Dich nicht um die Schreier,‘ sagte er. Er nahm mich mit in seinen Garten hinter die Stachelbeerbüsche. Da saß er im Bratenwestchen, ich barfuß, und er sagte immer: ,Nimm Dir die größten, Märten!‘ Das vergesse ich ihm nicht bis an den jüngsten Tag!“
Fieke faßte nach dem Schürzenzipfel.
„Lieber Himmel, wegen ein paar Stachelbeeren!“
„Dummes Weibsvolk!“ donnerte Märten. „Versteht nichts davon, wie es einem Manne ums Herz ist. Euer Verstand geht nicht über Eure Fingerhütchen und Nadelbüchschen hinaus.“
„Na, wenn das so verächtliches Handwerkszeug ist, brauchst Du auch nicht aufzuessen, was damit verdient wird,“ sagte sie bissig und räumte ihre Fladen zusammen.
Einen Augenblick blieb es still. Märten hatte das Stückchen Brot aus der Hand gelegt. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn, was ihm nicht einmal geschah, wenn er Steinblöcke herumschrotete.
„Sieh, Fieke, so etwas hätte Struve niemalen gesagt und gethan,“ sprach er leise. Dann ging er nach seinem alten Mauerturm hinüber, dessen spitzes Dächlein scharf in den Sternenhimmel ragte.
Sie fuhr in ihr Häuschen und schlug die Thür zu.
Durch die Wiesen, die von Plane herführten, ritt Konrad von Eichfeld.
Die grauen Augen brüteten vor sich hin; die schönen Brauen waren finster zusammengezogen.
In der Wechslerstube in Plane war man unverschämt geworden, als er borgen wollte, hatte man die Verschreibung der kommenden Ernte verlangt.
Er hatte es freilich toll getrieben in letzter Zeit, drauf los gewagt in diesem widrigen Trischak, den alten schweren Malaga hinunter gestürzt. Gimpel und Tölpel würde ihn niemand mehr nennen. Er hatte gelernt schweigen zu den süßlichen und frivolen Reden der Hofleute, beim Kartenspielen das Geld, das seine Eltern zusammengespart hatten, mit lächelnder Miene verlieren, sich langweilen bei großer Cour.
Aber je mehr er den „Krautjunker“ los wurde, um so tiefer geriet er in Schulden, und wenn er auch lachend darüber seine Witze machte – tief in ihm nagte der Gewissenswurm und ließ ihn nie zum Genuß kommen.
Manchmal im Anfang seiner Laufbahn, wenn Kiliane ihn ansah mit dem Blick, dem Blick, für den man jede Tollheit begehen konnte, hatte er gehofft –
Ach, es war ja Wahnsinn gewesen: in den Eichfeldhof paßte sie nicht. Das stolz zurückgeworfene Köpfchen würde sich schwerlich bücken unter der niedrigen braunen Thür; der kleine Fuß, der gewohnt war, Atlasschuhe auf fürstlichem Parkett zu zerlaufen, vor der ausgetretenen Wendelstiege zurückscheuen. Als Kammerjungfer die ehrliche Grete – wie würde sie lachen!
Wenn er den Eichfeldhof verkaufte?
Es mochte so viel herausspringen, daß er bis zum Kammerherrn dienen konnte, und dann würde ihm Kiliane die Hand nicht versagen.
Das Herz schnürte sich ihm zu. Er sah Hannjörgs treue vorwurfsvolle Augen, der brotlos davon ging; den alten Schecken, auf dem er reiten gelernt hatte, den man tot schindete; Phylax, der durchaus mit ihm gehen wollte, der endlich Prügel deshalb bekam – was sollte das alte zottige Tier hier unter Möpsen und Windspielen?
Und dann mußte er des kleinen Gottesackers gedenken mit dem Erbbegräbnis, wo seine Eltern schliefen, wo die rosa Winden über die niedrige Umfriedung von Feldsteinen hinüber liefen und sich unter den dunklen Epheu mischten, der die alten Denkmäler mit grauen Rittergestalten und Wappen überspann; wo er so manches Mal gesessen hatte, wenn er seine Flur besichtigt, nach den Herden gesehen hatte, von einer Jagd heimgekommen war.
Es war plötzlich, als drängten sich Gestalten, lebende und tote, aber alle ihm lieb und vertraut, um ihn herum …
Helles Lachen ließ ihn auffahren.
Er war an dem Gartenthor angelangt. Die Flügel standen offen. Die Fronbauern aus dem nahen Dorf waren beschäftigt, die weiten Rasenplätze zwischen den steif geschorenen Gängen zu mähen.
Bunte Kleider schimmerten aus dem lichten Grün der Buchen und – das war Kilianes Stimme gewesen.
Konrad sprang vom Pferd, übergab es einem der Leute und eilte dem Klange nach.
Am Eingang der Pappelallee, die zwei Sphinxe bewachten, stand Kiliane. „Wenn die Herren und Damen auch dagegen streiten, ich bleibe dabei: Mähen ist künstliche Arbeit; keiner von Ihnen vollführt sie,“ hörte er sie sagen.
Jetzt wandte sie sich um. Nein, er täuschte sich nicht: ein rasches Rot flog wie eine Morgenwolke über ihr schönes Gesicht. Und der Spott war aus ihren Zügen hinweggewischt. Sie hatte den nachdenklichen Ausdruck noch nicht verloren, der durch Struves Mahnung heute morgen hervorgerufen worden war.
Der Stallmeister, forsch wie immer, rief zurück: „Das wollen wir doch sehen!“ nahm einem der Mähder die Sense ab und that einen Streich. Das Eisen blieb in der Erde stecken.
Der erste Kammerherr stelzte heran; er vermochte die Sense kaum zu heben.
Sie ging von Hand zu Hand. Wie zerhackt lag das Gras, zu hoch, zu niedrig abgesäbelt, eine Wüstenei.
Lachend trat Konrad heran. Den Stulphandschuh abstreifend, ergriff er die Sense.
Zuerst dengelte er sie richtig, wenn auch die Damen darüber die Fingerchen in die Ohren steckten. Dann nahm er sie ruhig in die kräftigen Hände. Und nun that er den ersten Hieb. Eine lange gleichmäßige Schwade bedeckte den Boden; ein zweiter Streich – und abermals fielen die grünen Halme, die goldgelben Butterblumen.
Die Gesellschaft sah stumm zu. Aber keiner sprach das Wort: Krautjunker.
Wie er so vorwärts schritt, gleichmäßig die Sense führend, den dreieckigen Hut auf der weißen Perücke, das Handgelenk von Brüsseler Spitzen umkräuselt, ein leichtes Lachen um die roten Lippen, kaum rascher atmend bei der schweren Arbeit, sah er nicht aus wie ein gemeiner Mann. Es war der Herr, der die Arbeit that, nicht der Knecht.
Kein Mann liebt es, wenn ein anderer die Aufmerksamkeit der Damen erregt. Die Gesellschaft zerstreute sich.
Konrad bemerkte es nicht. Als habe er die Umgebung vergessen, so mähte er weiter bis ans Ende des Platzes.
Dann gab er die Sense aus der Hand, trocknete leicht mit dem Spitzentuch die Stirn. Sein Auge suchte Kiliane.
Wie so ganz anders sah sie aus als sonst. Wie eine sehnsüchtige Frage, die sich scheu kaum hervorwagt, kam ihr Blick zu ihm herüber.
Mit raschen Schritten war er neben ihr. „Das Fräulein ist verändert; was ist geschehen?“ drang er in sie. „Hat das Fräulein einen Wunsch? Steht es in meiner Macht, ihn zu erfüllen?“ fuhr er eifrig fort.
Sie sah ihn an, als wolle sie ihm bis in den Grund seiner Seele schauen. „In Seiner Macht wohl – und doch! – ich weiß nicht, ob Er es vermag.“
„Warum?“ fuhr er auf. „Stelle mich das Fräulein doch auf die Probe! Was ist’s?“
Sie stand vor ihm neben der Sphinx.
Langsam sprach sie: „Nun, so rate der Junker! Es ist zweierlei, was ich ersehne, und doch gehört eines zum andern. Es ist mir zum Hohne zugesellt, seit ich in die Wiege gelegt wurde, es begleitet mich überall, und doch besitze ich es nicht, wie ich es auch ersehne, dem Tantalus gleich, der im Anblick des Labsals [618] verschmachten mußte. Manchmal, wenn wir in den Prachtsälen stehen, wo wir doch nur Dekorationen sind, wenn wir an fürstlicher Tafel Leckerbissen naschen, dann steigt er vor mir auf, der versunkene Schatz.“ Sie dachte an ihren Namen … Heim – Brot, ein Leben im eignen Heim!
Ihre weiche bebende Stimme hatte ihn ganz umsponnen; sein Blick hing an ihren Lippen. Er hätte vor ihr niederknieen, flehen mögen: „Komm mit mir in mein schlichtes Haus! Der versunkene Schatz – das ist das Glück zweier Herzen.“ Aber immer bis jetzt, wenn ihm das Herz überging, hatte er einen eisigen Strahl von Spott fühlen müssen. Die warmen Worte, die auf den warmen Ton antworteten, wagten sich nicht mehr über seine Lippen. Sie selbst hatte ihnen den Weg verschlossen.
„Ich vermag es nicht zu erraten,“ rief er ungeduldig. „Rede das Fräulein frei heraus. Und was es auch sei, ich schaffe es. O, der Wechsler in Plaue giebt Kredit, und wenn er nicht ausreicht,“ – einen Augenblick lief ein Zucken über sein Gesicht; aber dann setzte er doch rauh hinzu: – „so verkaufe ich den Eichfeldhof.“
Ihre Augen hafteten starr an ihm; es war, als versteinerten ihre weichen Züge. Deshalb war er heute früh ausgeritten! Sie hatte ihn den Weg nach Plaue hin galoppieren sehen. Beim Wucherer dort war er gewesen! Ein Weh zog über ihr Gesicht, als ersterbe etwas in ihr.
Dann brach sie in tolles Gelächter aus, bei dem ihr die Thränen aus den Augen stürzten, und rief: „Ich wußte es wohl! Was arme thörichte Herzen glauben hüten zu müssen wie ein Heiligtum, ist einem Hofkavalier – Lappalie! Eh bien, auch mir ist, was mir der Junker bieten kann – Lappalie.“ Sie streichelte der Sphinx die Tatzen. „Schwesterchen, das Rätsel ist nicht gelöst. – Herr Junker von Eichfeld à Dieu!“ verabschiedete sie sich kalt.
Mit dem Fuße stampfend, blieb Eichfeld zurück.
Kiliane ging langsam in die Anlagen hinein.
Es war ganz still hier; kein Halm bewegte sich. Nur fernher tönte das Rauschen der Fontainen. Steifgeschnittene Fichtenpyramiden umstanden sie in abgemessenem Kreis. Die Luft schien schwer von dem Hauch der jungen Triebe, die an den Bäumen hervorsproßten wie auch ein Vogel die gestutzten Flügel hebt. Die spitzen Wipfel ragten gleichförmig in den Abendhimmel, dessen Rot so glühend über ihnen lag, als sinke von ihm herab die heiße Schwüle.
Ihre Lippen zogen sich mit spöttischem Zucken empor. Hohn über die Närrin, die überspanntes Zeug wie ein simples Bürgermädchen träumte! In deren thörichtem Kopf die Grille sich festgesetzt hatte, den Junker von Eichfeld immer sich vorstellen zu müssen im schlichten Rock des Landedelmannes, seine Felder besichtigend, auf seinem Hofe befehlend und wetternd, die Hand, ein treufester Schutz, über Haus und Familie haltend.
Er wollte ganz sein wie die andern.
Sie bewegte den Kopf, als werfe sie etwas zu dem Kehricht des Lebens.
Da dünkte es sie, als wehe ein fremdartiger, fast feierlicher Duft an sie heran wie ein geisterhafter Gruß, der sie beängstigte.
Und jetzt tönte eine gedämpfte Stimme neben ihr: „Ich habe das Rätsel gelöst.“ Es klang wie ein Triumph.
Sie wandte sich rasch um.
Severin stand, ein dunkler Schatten, neben einer Pyramide.
Als ihr Blick ihn traf, irrte sein Auge ab.
Das Weib fühlt immer, wenn ihr Wesen den Mann beeinflußt, wie ein Komet die Atmosphäre des Planeten, dessen Bahn er kreuzt.
Das Grauen, das sie vor dem Mönch empfunden hatte, schlug in ihrer verzweifelten Stimmung um in eine grausame Freude an der Qual anderer.
Sie sah auf seine fest niedergeschlagenen Augen. „Was hilft es mir?“ sagte sie mit ihrem reizenden Lachen. „Kann der Herr mir bieten, was ich ersehne?“
Er schwieg. Kein Atemzug ward laut. Sein Gesicht blieb farblos.
Endlich sagte er mit einem Flüstern, das sie heiß umwehte: „Ich weiß eine Stätte, wo beides in einem zu finden ist für die Zeitlichkeit und Ewigkeit!“
Sie lachte ausgelassen. „Das sieht meinem Schicksal ähnlich, immer pikant! Nur nichts Alltägliches. Der Edelmann, dem das Rätsel aufgegeben war, partet mit Wucherern und der es löst, ist ein –“
Das Wort wurde nicht ausgesprochen: Severin blickte auf und sie an.
Starr sah sie in seine Augen. Ein Schauder schüttelte sie, und sie trat scheu einen Schritt zurück.
Im nächsten Augenblick war Severin hinter den dunklen Fichten verschwunden. Der Weihrauchduft verwehte.
Wie mit gelähmten Gliedern schleppte sie sich dem Schlosse zu.
Der Blick ging ihr nach. Unendliche Qual lag darin und – gewaltsam unterdrückte Glut.
Warum schenkte sie dem Moralprediger Struve Gehör? Nahm die Maske ab, die ihr bisher so gute Dienste geleistet hatte?
Der Lohn war eine herbe Enttäuschung und jener Blick mit seiner Enthüllung.
Es war ihr recht geschehen. Wer sein Schicksal nicht wandeln kann, soll nicht in seine Tiefe sich versenken. Lieber weiter hinflattern über den Sumpf in lustiger Jagd, die Tage verbringen ohne Rückschau, ohne Voraussicht!
In den Gängen schallten noch lachende rufende Stimmen.
Sie schlich durch die Seitenpforte hinauf, vorsichtig auf den Fußspitzen über den Korridor, auf den auch die Zimmer der Wachsbossierer führten.
Plötzlich hielt sie an – was war das?
Ein Stöhnen drang heraus, und dann – fielen da nicht dumpfe Schläge – wie von einer Geißel?
Ihre Züge blieben hart. Der eine geißelt sich, die andere lacht. Jeder hilft sich, wie er kann.
Allons, wieder hinein in die Maskerade des Lebens!
[629] In diesem Sommer erfreute sich niemand der Gaben, die die Natur in ihrer sorglosen Größe immer wieder ausstreut: werden sie einmal gering geachtet, werden sie das nächste Mal um so höher geschätzt.
So streng das Geheimsiegel war, das die Lippen aller an der Regierung Beteiligten geschlossen hielt, dumpfe Gerüchte, unheimliche Ahnungen hatten sich dennoch verbreitet.
Schwere Zeitläufte werfen ihren Schatten voraus, und zwar erscheint derselbe dem Volk zuerst als Spukgestalt.
„Hat Sie es gehört? Es thut überall Anzeige, Frau Drommeterin!“ rief Fieke, während die Nadel in der Luft schwebte, statt das Loch in dem Strumpf, den sie vorhatte, zu verstopfen. „Der Lattermann zeigt sich.“
Der Lattermann, wie das Volk statt Laternenmann sagte, [630] war das Gespenst eines Mannes, der zur Strafe für einen Meineid umgehen sollte.
„Jeden Abend,“ fuhr Fieke fort, „wandert er, die lichterloh brennenden Schwurfinger erhoben, am Hochgericht auf und ab, und die Menschen stehen vor dem Thor und belauern den Spuk. Nicht einmal die Scharwache hat sich hinaus getraut. Nur“ – sie schluckte – „Märten ist hinüber gegangen; aber da ist der Lattermann verschwunden gewesen. Freilich, vor Märten hält keiner stand.“
Und beim Aufbruch sagte sie: „So, Frau Apothekerin, nun ist der letzte Strumpf versohlt. Ich will wünschen, daß Sie ihn gesund zerreißt, glanb’s aber nicht. Für mein Teil wär’ mir’s recht, wenn die Welt unterginge. Und ich nehme auch die Magenwurst nicht mit; wer soll sie denn essen?“
Sie wischte verstohlen eine Thräne ab. Seit dem Zank mit Märten legte sie vergeblich ein Abendbrot auf ihre Fensterbank. Der große Kuckuck, wie ihn spottweise ihre Kameradinnen nannten, holte nichts mehr.
Als die Feierabendglocke läutete, ging sie nach Haus. Immer bekam sie Herzklopfen, wenn das Türmchen vor ihr aufstieg.
Nein, er war wieder nicht daheim.
Alle Läden standen offen. Nur die alte Kartaune war zu sehen, die mit ihren schön verzierten Henkeln, wie mit trutzig in die Seite gestemmten Armen ihr den Rücken kehrend, ins Land hinausschaute.
Sie zog ihr dunkles Regentuch über den Kopf und weinte, während sie nach ihrem Häuschen schlich. –
Unter den Bürgern aber munkelte es von wirklichen Gefahren, die der Stadt drohen sollten.
Der Magistrat hatte eine geheime Sitzung gehalten, der Rentamtmann durch den Hofmaurer im tiefsten Schloßkeller eine Grube machen lassen, genau nach dem Maß der eisernen Geldkiste.
Und wer trotzalledem noch unbeschwerten Gemütes war, der saß erschüttert am nächsten Sonntag in der Oberkirche, als die Predigt begonnen hatte.
Mit seiner mächtigen Stimme, die auch den letzten Winkel des alten Gotteshauses füllte, rief der Superintendent seiner Gemeinde ein „Wacht auf!“ zu.
Er strafte die Häupter der Stadt, die vor drohenden Gefahren die Augen zudrückten, um nicht vom Faulbett aufgestört zu werden, die lässigen Diener, die berufen waren, Rat zu geben, aber Menschenfurcht über Gottesfurcht setzten, die eitlen Höflinge, die schwelgten und praßten und sich’s nicht anfechten ließen, ob zu ihren Festen vielleicht bald die brennenden Hütten des armen Landvolks als Feuerwerk leuchten würden.
Zuletzt führte er die Lichtgestalten der selig verstorbenen Frauen des Fürstenhauses vorüber: die heldenmütige Katharina, die den Spieß gegen einen Alba fällen ließ; die andere Katharina, die Schwester des großen Oraniers, deren Andenken in den Kirchen nnd Schulen gesegnet wurde, die fromme Gräfin Ludämilia, deren Lieder die Gemeinde sang.
Seine ihm anvertraute Herde war bis in die innerste Seele erschüttert.
Nur die Insassen des herrschaftlichen Standes bewahrten ihre höfische Fassung.
Der Kammerherr hatte geschäftig die Butzenscheibenfenster aufgeschoben und schrieb emsig auf kleine in das Gesangbuch gelegte Blätter.
Der Junker von Eichfeld hörte gar nicht, was vorging; er war versenkt in den Anblick Kilianes, die, ohne mit den Wimpern zu zucken und ihm einen Blick zu gönnen, auf ihrem kirchlich altväterischen Lehnstuhle thronte.
Ihr gegenüber, ebenso unbeweglich, saß Magdalene mit ihrer Mutter in dem geschnitzten Gestühl für die Geistlichkeit.
Die Superintendentin war so ergeben, wie Frauen werden, die das Schicksal neben starke thatkräftige Männer gestellt hat. Als sie des schreibenden Kammerherrn gewahr wurde, nickte sie leise, kummervoll vor sich hin.
Magdalenes Gesicht sah, immer blasser werdend, aus dem altersbraunen Rahmen heraus. Da also vollzog sich, was das kleine Billet, welches Struve an jenem traurigen Abend ihrem Vater übergab, verraten hatte. Ihr Blick huschte verstohlen hinüber zu Struve.
Seiu Gesicht war dem Prediger zugekehrt. Heute grüßten sie nicht wie sonst seine ernsten Augen.
Als aber ihr Vater nun von der Kanzel herab der Sakristei zuschritt, da erhob sich Strnve und verbeugte sich tief und ehrfurchtsvoll. Dann nahm er sein Gesangbuch anf. Sie war nicht mehr für ihn da.
Sie konnte das Lied nicht finden, so zitterten ihr die Finger. Der Mutter rollten Thränen über die Wangen, als sie es aufschlug.
Ihr Gatte hatte, zum Zeichen, daß er aufs äußerste gefaßt war, die Dichtung Paul Gerhardts gewählt, mit welcher dieser sich tröstete, als er für sein Bekenntnis in die Verbannung gehen mußte: „Befiehl du deine Wege.“
Und der streitbare Mann an der Orgel, Sebastian Bach, gab, von Begeisterung erfaßt, sein Bestes.
In immer neuer Gestalt brauste der Choral herab, umrankt von Tongewinden, wie man sie noch nie gehört hatte, durchflochten von Zwischenspielen, die sich in seligen Fernen zu verlieren schienen.
Aber wenn auch das Ohr von der herrlichen Musika gefangen wurde, zu folgen vermochte die ungelehrte und jetzt außerdem erregte Gemeinde nicht. Eine Stimme nach der andern schwieg. Der Gemeindegesang stockte. Ein angstvoller Augenblick plötzlicher Stille trat ein.
„Ach, das schlimme Omen!“ seufzte in einem der letzten Frauenstände Fieke.
Da – als öffne eines der vergoldeten Engelsköpfchen den Mund – erhob sich eine süße hohe Frauenstimme, und in die donnernde Orgel hinein klang es mit unfehlbarer Sicherheit: „Gott sitzt im Regimente und führet alles wohl.“
Die verwirrte Versammlnug fand sich wieder zurecht und schloß sich zum letzten Vers an.
Dann verließen die Kirchengänger eifrig flüsternd das Gotteshaus.
Auch Magdalene war mit ihrer Mutter auf den von zarten Gräsern überzogenen Pfarrhof hinaus getreten.
Sie war so blaß wie das Spitzenbusentuch, das sie über dem schwarzen Kirchenanzug trug. Warum hatte sie auf der Treppenstufe aus alter Gewohnheit sich umgeblickt? Sie konnte doch nun wissen, daß Christian ihr nicht wie sonst eine Reverenz machen, saondern an ihr vorbeisehen würde.
Die Menschen teilten sich; die Hofkutsche rasselte langsam hindurch, erfüllt von Lachen und Plaudern.
Auf dem Ehrenplatz saß Kiliane neben dem Kammerherrn. Sie hielt eine Bonbonnière auf den Knieen. Mutwillig zog sie plötzlich dem Kammerherrn die Papierblättchen aus dem Gesangbuch, vierteilte sie blitzschnell und begann ihre Zuckerplätzchen und Makronen einzuwickeln.
Dann warf sie fröhlich dieselben den Kindern, die am Wege standen und neugierig ihre landesüblichen Stumpfnäschen vorstreckten, zu.
Christian bekam ein ganzes Bündelchen, um das Marzipanherz gehüllt, das in seinen gezogenen Hut flog.
Der Kammerherr zappelte förmlich, aber Eichfeld auf dem Rücksitz hielt schützend seinen Hut zwischen ihn und die flinken Finger.
Dann steckte Kiliane begütigend dem Kammerherrn wie einem zornigen Papagei ein Pfeffernüßchen in den Mund und lachte übermütig, als er sich der Anziehungskraft der rosigen Fingerspitzen nicht erwehren konnte.
Magdalene sah noch, wie auch der Junker die Lippen hinhielt, um von Kilianes Hand eine Süßigkeit zu erhaschen, wie sie die dargereichte überzuckerte Kirsche erfaßten und dann an der zarten Hand trotz ihres Widerstrebens sich festzusaugen schienen, während es förmlich aus den großen grauen Augen loderte.
Ah, das war das Eichhörnchen des Sylvesterabends?
Die Kutsche rollte davon; mit der aufgeschriebenen Predigt trieb ein warmes Sommerlüftchen sein Spiel.
Den Rest barg eben Struve in seiner Westentasche.
Das alles sah Magdalene. Nun vernahm sie das erleichterte Aufatmen ihrer Mutter.
Für den Augenblick wenigstens war der Beweis gegen den Vater vernichtet, durch die koketten Künste einer Dame, über die sie sich hoch erhaben gedünkt hatte.
Und was hatte sie geleistet?
[631] Aus dem Stolz ihrer Tugend heraus, die ihr auf einnml hart und trocken erschien, herbe Worte gesprochen, an die sie jetzt nur mit Beschämung denken durfte.
Da ging er hin – war es möglich? – stracks auf Bärbchen Marei zu.
„Die Demoiselle Bachin ist dem Monsieur Bach gewachsen,“ sprach er mit seiner lauten Stimme, die nie etwas verhüllen wollte. „Die ganze andächtige Versammlung muß der Demoiselle dankbar sein für den erhebenden Trost, den sie mit ihrer schönen Stimme gespendet hat.“
Das Waldvöglein knixte lächelnd. „Daß ich die Gemeinde nicht umwerfen lassen darf, habe ich schon als Kind bei meinem seligen Vater gelernt. Die kleinen Waldteufel sangen oft genug ins Blaue hinein.“
Da entstand ein Gepolter auf der Orgeltreppe. Sebastian Bach kam herabgestürmt. Seine mannhafte Gestalt erschien, Freude im Angesicht, auf dem sich das Ungebändigte der einst unehrlichen vagabundierenden Spielleute zu einer stolzen Freiheit verklärt hatte.
Ohne auf die finstern Blicke der Gemeindemitglieder zu achten, die er durch seine Variationes irre geführt hatte, brach er sich Bahn durch sie und rief schon von weitem. „Base, Du bist’s gewesen, die neulich unter meinem Fenster gesungen hat! Ich habe die Stimme wiedererkannt.“
Sie kicherte wie eine Lachtaube. „Als Du herausschautest, war ich schon fortgelaufen. Nun kann ich’s nicht mehr leugnen. Hier der Herr Sekretarius hat mich dabei erwischt. Ich weinte, als ich Dich meines seligen Vaters Motette so schön spielen hörte; er glaubte, es sei mir ein Unglück geschehen.“
Jetzt lachten alle Drei.
„Nun mußt Du mit mir musizieren,“ befahl Bach. „Ich habe eine Kantate im Kopf.“
„Ach ja, ach ja,“ jubelte sie.
„Kannst Du von Noten singen?“
„Kannst Du eine Bachin so fragen?“
Die Welt versank für das Musikantenpärchen; es entflog in das Reich der Töne.
Mit einem wehmütigen Blick sah Struve ihm nach. Dann wandte auch er sich rasch und verließ den Pfarrhof.
Und Magdalene hatte im Vorübergehen auch das gehört. Sie krampfte die Hände um das Gesangbuch, als müsse sie sich an etwas festhalten.
Ihr eifersüchtiger Verdacht zerflatterte als Hirngespinst. Ungerecht, kleinlich stand sie vor Christians Augen, sie, die sich immer erhob, daß man sie keines Fehls zu zeihen vermöchte.
Mit zitternden Füßen folgte sie ihrer Mutter nach Haus.
Die blasse Frau legte ergebungsvoll das Gesangbnch an seine Stelle. „Dem Gedanken an den jungen Struve müssen wir Valet sagen. Solche Männer werben ehrlich, aber schmachten nicht lange einer Frau nach. Sie leben vor allen Dingen ihrem Amt, ihrer Pflicht, und wenn die Frau ihnen dabei liebevoll zur Seite steht, hat sie einen gesegneten Beruf. Schade, daß dieses Glück verscherzt ist. Ich wüßte Dich jetzt so gut bei ihm geborgen.“
Da richtete sich Magdalene auf. „Das wäre seit heute doch vorbei. Der Vater hat seines Amtes gewaltet und wird auch hinfüro sich nicht darin beirren lassen. Aber es wird ihm widerfahren wie allen, die mit der Wahrheit bei denen anklopfen, die nur die Schmeichelei zu hören gewohnt sind. Er wird endlich von Amt und Brot kommen. Auch“ – sie hielt inne: sie hatte „Christian“ sagen wollen – „auch Herr Struve hat ernste Folgen vorausgesehen. Ihn mit in das Schicksal unserer Familie ziehen, mich ihm als Last aufbürden, das wäre unserer, wäre meiner nicht würdig. Mein Platz ist jetzt an Eurer Seite, und ich hoffe zu Gott, daß ich wenigstens in Zukunft den rechten Weg, ohne zu schwanken, finden werde.“
Dann ging jede in ihre Schlafkammer, „um den Kirchenstaat abzulegen,“ sagten sie; in Wahrheit aber, um in einem stillen Gebet Kraft zu erringen. –
Auch Struve kehrte zurück in sein großes schönes Haus.
Es war ihm noch nie so öde vorgekommen wie jetzt. Die Menschen wissen oft selbst nicht, wie sehr ihre Phantasie ihre Umgebung belebt mit Gestalten, sie verschönt, bereichert. Sie merken’s erst, wenn der holde Zauber vorüber. Das Licht in der magischen Laterne war ausgelöscht.
Selbst sein anhängliches Gesinde machte lange Gesichter: vorüber die Hoffnung auf Hochzeit, auf alle die fröhlichen Feste, die Familien feiern.
Und neben dem Herzenskummer begleitete ihn noch eine andere nagende Sorge: am heutigen Tage lief die Frist ab, die Weimar in seinem Ultimatum gesetzt hatte.
Schließlich ging auch dieser Tag zu Ende. Tief verstimmt legte Struve sich nieder und schloß die brennenden Lider.
Da sah er aus der Dunkelheit das stille blasse Gesichtchen Magdalenes wie heute aus dem braunen Kirchenstuhl hervorschauen, unsäglich wehmütig, immer blasser werdend, zurückweichend – in die Ferne entschwindend. Er wollte rufen – die Zunge war ihm wie gelähmt.
Dann fuhr Kiliane im Wagen, daß die Hufschläge ihn im Kopf dröhnten, durch die Stube. Lachend, schäkernd zerpflückte sie alle seine wichtigen Aktenstücke, die wohlgeordnet auf dem Schreibpult lagen, und dazu hob Bärbchen Marei einen Triller an, immer stärker, immer lauter, daß er auffuhr.
Was waren das für unziemliche Träume von einem verständigen Mann mit rechtschaffenen Sitten?
Aber der Triller hielt an – der Morgen schien herein: es war Trompetengeschmetter!
Er warf sich schnell in sein Hauskleid und stürzte erschrocken an das Fenster.
Eben entschwand der Reiter um die Ecke: er trng die weimarischen Farben.
Der Kurier hatte die Nacht hindurch reiten müssen, um den Beginn der Feindseligkeiten anzuzeigen.
Das Schicksal hat eben seine besondere Art, die Menschen über ihre Leiden zu erheben: es legt ihnen noch schwerere auf, welche sie die ersten vergessen lassen.
In dem hohen Conseilsaal, von dessen Gobelinbehang die gelassenen Züge des weisen Salomo still herniederschauten, reihten sich um die grüne Tafel die zum Geheimenrat berufenen Würdenträger.
Am untersten Ende saß der Geheimsekretarius Struve, den Blick voll Mißachtung auf die lässigen Räte gerichtet.
Mit einer Miene, die aus Bestürzung, Niedergeschlagenheit und Verlegenheit zusammengesetzt war, sagte der Kanzler: „Der Versuch, durch Hinzögerung Weimar nach und nach gefügiger zu machen, ist fehlgeschlagen. Der Kurier hat ein Schreiben des Herzogs gebracht, darin er erklärt, den Knoten mit dem Schwert zerhauen zu wollen.“
„Unerhört! mit Waffengewalt den ruhigen harmlosen Nachbar zu bedrohen!“ tönte es klagend um die Tafelrunde. „Welche Verlegenheit!“ „Was sollen wir thun?“
„Es muß sofort ein Kurier mit einem unterthänigen Pro memoria nach Aachen geschickt werden,“ stotterte ein Hofrat.
„Der braucht sechs Tage hin, sechs Tage her,“ antwortete verzweifelt der Rentamtmann, den Schweiß von der Stirn trocknend. „Unterdessen haben wir den Feind längst hier und sind schon halb aufgefressen.“
„Dann wollen wir in Weimar die Abwesenheit des Fürsten melden und unterthänigst um Aufschub bitten,“ riet schlotternd ein Kammerrat.
Der Kapitän der Schloßwache lachte in seinen steif gewichsten Bart. „Das ist nicht Kriegsbrauch. Sie werden sich hüten und warten, bis wir mit allem fertig sind.“
„So werben wir Bundesgenossen,“ ließ sich eine bebende Stimme vernehmen. „Gotha zum Beispiel.“
„Das ist zu groß für uns,“ wehrte vorsichtig eine ebenso ängstliche ab.
„Es dürfte uns gehen wie dem Frosch, der Schutz beim Storch suchte. Aber Hildburghausen hat auch ein Kriegsheer auf die Beine gestellt.“
„Von Generälen, Obersten, Majors und höchst distinguierten Uniformen für die Mannschaften in blau und karmoisin; aber es stecken keine Kerle drin,“ brummte der Schloßhauptmann.
„Und kann uns kein anderer Hof mit einem Zug Gardereiter zu Hilfe kommen?“ klang es wie ein Notschrei.
„Gardereiter haben meistenteils bequastete Spieße aber keine Pferde; nur kleine Kinder reiten auf Stöcken,“ schallte es dagegen.
[634] „Hm, hm,“ machte der Kanzler. „Solche Erwägungen dürfen wir zur Ruhe stellen. Schutz- und Trutzbündnisse abzuschließen – davon steht nichts in meinen Vollmachten.“
Der hohe Rat war ratlos.
Struve saß vor seinem Stoß starken grauen Aktenpapieres, ohne die Feder zum Protokoll zu rühren.
Diese Stunde, wo er im Namen der Regierung, der er diente, tiefste Demütigung empfand, war für ihn zugleich die Stunde einer Erleuchtung. Er sah ein, daß weltliche Ordnungen, die ihm bisher unverletzlich erschienen waren, zusammen brechen konnten wie morsche Stäbe.
„Nun, was rät Er?“ fragte der Justizienrat. „Er ist doch sonst immer mit Mund und Feder bei der Hand.“
Struve stand rasch auf und sprach: „Wir müssen allsogleich einen Boten nach Sondershausen abordnen. Die nächsten Agnaten sind auch am nächsten am Geschick unsrer Landschaft beteiligt. Ihre Pflicht und ihr Vorteil heischen gleichermaßen, dafür mit einzutreten, daß selbige nicht verarmt. Der Erbprinz Günther ist nicht nur ein weiser, sondern auch ein entschlossener Herr. Er wird ohne Zögern in Weimar sich für uns verwenden, und man wird seinem Wort Gehör schenken, da es Aussicht auf eine Verständigung in der kommenden Zeit eröffnet. Und diese Hilfe ist rasch erreichbar. Nach Sondershausen kommt unser Kurier in einem Tag. Ebenso schnell kann eine Botschaft von dort gen Weimar gelangen.“
Einen Augenblick saßen die Herren still, überlegend. Aber immer bedenklicher spannten sich die Brauen. Ein Schütteln der Perücken begann, ein abfälliges Murmeln, das in den Worten endlich sich Luft machte: „Den Nachfolger anrufen?“ „Es würde als Konspiration mit dem nächsten Erben gegen unsern Herrn aufgefaßt werden!“ „Wir würden in die tiefste Ungnade fallen!“
Struve fuhr glühend empor. „Was will eine Ungnade besagen gegen das Bewußtsein, weibisch furchtsam seiner Pflicht gefehlt zu haben? Die Seufzer derer auf sich geladen zu haben, zu deren Schutz und Schirm man bestellt ist, von deren Steuern man bezahlt wird. Wer den Titel Rat führt, der sollte eingedenk sein, daß ihm obliegt, dem Herrn des Landes, der nicht wie Gott allwissend und allgegenwärtig ist, aufklärend und zum Rechten zuredend zur Seite zu stehen – nicht aber ein Jaknecht zu sein.“ Er schleuderte das Wort, vom Zorn übermannt, in die Versammlung hinein.
Hochauf fuhren auch die andern. „Beschimpfung der Vorgesetzten!“ „Gelbschnabel!“ „In Arrest schicken!“ stürmte es durcheinander.
„Es war keine bestimmte Beschuldigung, nur allgemeine Reflexion,“ wehrte der Kanzler, entsetzt, daß man sein Arbeitspferd einsperren wollte.
„Die Herren sehen,“ fuhr Struve mit erhobener Stimme fort, „daß mit Schweigen ein Recht nicht aus der Welt geschafft wird. Und wie Sie auch sich wehren mögen, das Ende wird doch ein gütlicher Vergleich sein. Man wird Opfer bringen müssen, um dasselbige abzulösen.“
„Schweig’ Er mit Seinen landesverräterischen Anschlägen,“ krähte der Justizienrat.
Der Kanzler schnitt abermals die Diskussion ab. Voll Würde an seiner langen Nase herabsehend, sagte er: „Kommen wir zur Sache. Ein Pro memoria für Seine Durchlaucht auszuarbeiten, liegt dem Herrn Hofrat ob.“
Struve krampfte die Finger um seinen Gänsekiel. Durch den Hofrat hatte er das Wort „Schneckengang der Justiz“ begreifen lernen.
„Ferner haben wir die Milizen einzuberufen, daß sie ihrer Pflicht gemäß das Land schützen, soweit ihre Kraft reicht. Herr Kriegsrat, das ist Seines Amtes. Benachrichtige Er die Offiziere des Defensionswerkes: den Hauptmann und Mehlhändler, die Lieutenants, als da sindt der Beutlermeister, der Leineweber und der Schlosser, und halte Er Beratung mit ihnen. – Einer der Herren muß auch nach der Augustenburg fahren und Ihro benachrichtigen von der drohenden Kriegsgefahr. Ich ersuche den Herrn Schloßhauptmann, diesen Auftrag zu übernehmen. Sonst haben wir in beregter Sache für jetzt nichts mehr zu thun.“
Er verbeugte sich zur Entlassung.
Die zornglühende Stirne über seinen Stoß Papier beugend, schrieb Struve mit vor Empörung fliegenden Fingern das Protokoll und die gefaßten Beschlüsse nieder.
Von den hochmögenden Räten wurde er keines Blockes gewürdigt.
Krieg! Das Wort durchlief die Stadt. Alle alten Greuelgeschichten des Dreißigjährigen Krieges wachten wieder auf. Die schrecklicheu Historien von den Einfällen der Franzosen in der Pfalz, von dem Zug der Türken bis vor Wien, die vor ein paar Jahrzehnten die Menschen mit Entsetzen erfüllt hatten, gingen wieder von Mund zu Mund. Hießen doch noch alle Bluthunde an der westlichen Grenze nach dem französischen General Melac, wurde doch noch immer im Kirchengebet Schutz gegen die Türken erfleht.
Der alte Stelzfuß, der als Reiterbube die letzten Jahre des Dreißigjährigen Krieges mitgemacht hatte, war die gesuchteste Persönlichkeit.
Bei seiner Abendpfeife am Thorturm, den er als Ruheposten bewohnte, um Feuersbrünste durch Stürmen anzuzeigen, umlagerte ihn ein großer Kreis, der atemlos lauschte, wie die Kroaten kleine Kinder am Spieß gebraten hatten. Es mußte aber bald zum Klappen kommen; denn der Stelzfuß war bereits bei Kriegsvölkern des fernen Ostens angelangt, welche stählerne Schnäbel und Klauen hatten und mit Ketten gefesselt waren, bis sie auf den Feind losgelassen wurden. Eine Steigerung war kaum denkbar.
So rasch die Kriegsereignisse in den Erzählungen der Einwohnerschaft vorwärts schritten, so langsam rückten die Verteidigungsanstalten der Residenz von der Stelle.
Der alte Schloßhauptmann ließ täglich an der verrosteten und verquollenen Zugbrücke der Neidecke ölen und schrauben. Sie wich und wankte nicht.
Die Leibgardisten verstanden wohl den Spieß bei Staatsaffairen zu pflanzen, nicht aber ihn zur Verteidigung des Schlosses, die ihnen oblag, zu fällen. Die Milizen verantworteten sich, sie könnten ihre Kraut- und Rübenäcker nicht unbestellt lassen; die Schornsteine müßten doch gefegt werden, „auf daß der Stadt kein Schaden geschicht“.
Als sie dann mit längst veralteten Waffen aufzogen, wurde männiglich klar, was eigentlich die Benennnug Spieß- und Schildbürger bedeutete.
Der Stadtlieutenant ließ zwar Schwanzkugeln gießen und prahlte: „Ich schieße die Weimarischen, daß ihnen der Rauch aus dem Hals geht!“ und der ergraute Stadtwachtmeister ließ seinen großen Säbel schleifen und rückte seinen Dreispitz auf Krakehl. Aber als man endlich die Stadtsoldaten hinter ihren Wollspinnrädern hervorgebracht hatte, thaten sie sich auch nur durch die roten Nasen hervor, die sie durch eifrige Inanspruchnahme von gebranntem Magenwasser sich zugezogen hatten. Die Schlösser an ihren alten Musketen gingen entweder nicht auf oder nicht zu.
Da wurden die weniger gangbaren Thore vermauert, damit nicht eine Zersplitterung der Streitmacht stattfand.
Denn also war es zu jener Zeit bestellt um die Wehrhaftigkeit des heiligen römischen Reiches deutscher Nation.
Nächtlicher Weile drang Schaufelklang aus den Kellern und Gärten.
Auch der Superintendent begab sich eines Tages mit Kirchner und Kastenknecht ganz in der Stille nach den Gruftgewölben der Kirche hinab, um altem Brauch gemäß die goldenen und silbernen Altargeräte unter morschen Holztruhen und kupfernen Särgen zu verbergen.
Da tönte gedämpft von oben Orgelklang und Gesang herab. Die Kirchendiener erschraken und horchten. War das auch Spuk?
Aber als sie langsam empor stiegen aus den Räumen des Moders wurde der Schall immer stärker und klarer.
„Alles, was Odem hat, lobet den Herrn!“ jubilierte eine hohe Stimme, und die Orgel umschlang die Melodie mit so behendem Tongerank, als tanze ein Riesengeschöpf aus der Urzeit einen fröhlichen Reigen.
Das waren doch nicht die kleinen Kurrendeschüler, mit denen der Kantor musizierte!
Aufs äußerste befremdet, betrat Olearius durch die Pforte des Kreuzganges sein Gotteshaus.
„Ruhe!“ gebot er mit mächtiger Stimme.
[635] Die Musik brach ab; nur dumpf brummte die Orgel nach. „Wer singt da oben?“
„Hochehrwürden, ich bin’s, die Marei Bachin,“ zwitscherte es herab.
„Wir probieren die erste Stimme meiner neuen Kantate,“ erklärte Sebastian Bach eilig, als sei damit die Sache erledigt, und wendete sich wieder seinen Noten zu.
„Ist es je erhört worden, daß in einer Kirche ein Frauenzimmer sich unterfängt, auf der Orgel seine Stimme zu erheben? Singe Er mit Seiner Base, wo Er will, nur nicht in der Kirche. Hier fungieren der Schülerchor und die Adjuvanten,“ donnerte Olearius so kräftig empor, daß die kunstvoll sich aufbauenden Fugensätze, die in der Seele des jungen Kantors mächtig erklangen, übertäubt wurden.
„Ich kann es mit den dummen Jungen nicht aushalten,“ rief er trotzig herab, die schön gewölbte Musikerstirn unmutig kraus ziehend.
„Wer das Geld nimmt, kann auch die Plage auf sich nehmen. Ich werde die Sache im Konsistorium zur Sprache bringen.“ Und mit dröhnenden Schritten entfernte sich der Superintendent.
Bach ließ sich wieder an der Orgel nieder.
„Nun, Meister,“ wendete er sich an den Bälgetreter, „mache Er, daß Er wieder auf seine Välge kommt.“
„Er will weiter musizieren?“ fragte dieser versteinert.
Bach hörte ihn nicht. Sein Geist kehrte gleichsam heim zu seinen Tongebilden. Leise gab er die Melodie an.
Bärbchen Marei blickte ihn halb furchtsam, halb andachtsvoll an. „Die Dissonanzen dürfen doch nicht in der Luft hängen bleiben,“ antwortete sie mit schüchtermem Scherz für ihn. „Sie könnten spuken.“
Der Bälgetreter haspelte sich wieder auf seine Bälge hinauf.
Als gebe es nirgends schwierige Verwicklungen, unlösbare Hindernisse, führte Sebastian Bach die abgebrochenen Stimmen zu einer mächtigen in sich ruhenden Harmonie.
Dann verließ er stumm die Kirche.
Bärbchen Marei trippelte bang neben ihm her. Mit dem Ahnungsvermögen der Liebe fühlte sie: die Antwort auf die Strafpredigt des Superintendenten stand noch bevor, und sie würde keine gefügige sein.
Plötzlich sagte er: „Ich melde mich nach Mühlhausen; dort suchen sie einen Kantor.“
Es fuhr ihr durch alle Glieder.
Er sah nicht, wie sie erblaßte. –
Ein paar Stunden später war in dem Kantorenhäuschen die Sippe Bach versammelt.
„Hat Er denn wenigstens bescheidentlich Urlaub genommen, auf daß nicht die ganze Familie allhier durch Ihn in Verruf kommt?“ mahnte scharf die Muhme Wedemannin, eine ehrsame ältliche Jungfrau, die auf einem mit schwarzem Leder bezogenen Stuhl am Fenster saß.
„Urlaub?“ fragte Sebastian zerstreut und kramte in den Fächern seines Schreibtisches Noten zusammen. „Hier, mein Vetter Ernst vertritt mich. Er mag die Sache besorgen.“
Ernst Bach, ein junger schmächtiger Mann, der den Orgelschlüssel bereits an sich genommen hatte, sagte schüchtern: „Die Herren könnten mich anfahren.“
„Ich will zu dem Herrn Sekretarius Struve gehen,“ erbot sich Bärbchen Marei. „Er ist ein guter Herr.“ Ihre Stimme erstarb. Die Erinnerung an die selige Frühlingszeit, wo sie unter dem Rosenbusch gesungen hatte, ging wie ein Stich durch ihr Herz.
Sie bog sich auf die feinen gewalkten Strümpfe nieder, die sie in ein Ränzel packte; Thränen fielen mit hinein.
„Wo will Er denn herbergen, wenn Er so in die Nacht hineinläuft?“ fragte geringschätzig die Wedemannin.
„Bei einem der Vettern in Wechmar oder Molsdorf, Bindersleben oder Erfurt,“ überlegte Sebastian.
Die Muhme nickte voll Mißachtung. „Ja, ja, wo zehn Meilen in der Runde ein Orgelist spielt, ein Hausmann vom Turm bläst, ein Stadtpfeifer dudelt, ist es gewiß ein Bach. Und immer nur auf einem Bein gesessen, immer in der Welt herum geflattert. Er wird es noch bereuen, Vetter Sebastian, daß Er die schöne Stelle so hinwirft. 84 Gülden und sechs gute Groschen, Korn, Holz und Haustrunk ungerechnet. Hat der verstorbene Kantor in Mühlhausen eine Tochter hinterlassen, muß Er sie heiraten ohne Barmherzigkeit. Das ist bei Euch Kantoren so Brauch.“
Bärbchen, die mit thränenden Augen weiter gepackt hatte, fuhr auf. „Das ist gewiß nicht wahr; sprich doch, Bastel!“
Sebastian lachte. „Auf diese Weise hat allerdings Buxtehude in Lübeck die Stelle an der Marienkirche erhalten. Wie hieß es doch in seinem Hochzeitscarmen:
„Zwar es kam ihm sauer an,“ sang er nach einer gravitätischen Melodie.
Die Muhme rümpfte die Nase. „Ein recht feiner musikalischer Scherz.“
„Hab’ ein Auge auf die Instrumente, Bärbchen,“ sagte er, sich dieser zuwendend.
„Was hilft ein Auge, wenn die Weimaraner sie spolieren wollen?“ fragte die Wedemannin ärgerlich.
„Weimaraner spolieren?“ Er schüttelte ungläubig den Kopf.
„Sie kommen doch als Feinde,“ schrie die Muhme, als habe sie es mit einem Tauben zu thun.
Er wachte auf aus seiner Zerstreutheit. „Such’ den Stabstrompeter auf uud bitte ihn, daß er sich der Sache annimmt. Ich kenne den Mann, habe ganze Abende mit ihm musiziert, als ich noch in Weimar war.“
Jungfer Wedemannin schlug die Hände über den Kopf zusammen. „Zu der rohen Soldateska schickt Er das junge Mädchen!“
Sebastian sah sie verwundert an. „Der Stabstrompeter ist ein sehr braver Bratschist.“
Sie zuckte verächtlich die Achseln. „Er wird aus Seinem musikalischen Dusel erst aufwachen, wenn sein Cembalo den letzten Seufzer ausgehaucht hat und seinen Violinen der Leib eingetreten ist.“
Bach wurde nun doch bedenklich. „Ich kann ja die beste mitnehmen. Leg’ sie in den Kasten, Bärbchen Marei, wir schnallen den oben auf das Ränzel.“
Bärbchen bettete schon die kostbare Geige in den Kasten. Sie breitete die Decke darüber, die sie für seinen Liebling gearbeitet hatte. Ein Stückchen veilchenblaue Seide von dem Brautkleid ihrer Mutter hatte sie mit Epheublättern verziert, die aus Pergament geschnitten und mit Seide und Goldfäden überstickt waren.
„So, nun ist alles in Ordnung!“ sagte Sebastian, den Riemen des Ränzels schnallend.
Die Muhme schlug abermals die Hände zusammen. „Das soll Ordnung sein!“ Sie deutete auf die rings durcheinander liegenden Kleider, Wäschestücke, Noten.
Bärbchen Marei begann, still aufzuräumen.
Er nickte ihr zu und nahm das Ränzel auf die Schultern. „Lebt wohl zusammen!“
„Behüt’ Gott!“ sagte Bärbchen Marei.
„Glückliche Reise!“ riefen die andern, und alle gaben ihm das Geleite vor die Thür.
Noch weilten seine Gedanken bei seinem alten Freund Buxtehude. Leise sang er vor sich hin dessen Kampflied gegen den Fürsten der Hölle: „Trotz! Trotz! Trotz! Dem alten Drachen!“
Die Wedemannin war noch bei der Mühlhäuser Kantorentochter. „Wenn sie auch ein alter Drache ist,“ meinte sie, „er nimmt sie doch, wenn die Orgel neu und schön ist.“
Bärbchen Marei sah ihm nach, die Hand schützend über die braunen Augen haltend, während er rüstig davon wanderte in den warmen Abend hinein.
Das Waldvöglein hatte seinen Sommer gehabt, da es singen und jubilieren durfte. Nun wird der kalte Winter kommen. Da wird es verstummen.
Wer fragt danach? Das hatte die Natur nun einmal so eingerichtet.
Die Drossel fiel ihr wieder ein, die sie als Kind in einem „Vahlsgebüwere“, wie man auf dem Wald die Vogelbauer nennt, bewahrte. Als im Herbst die rufenden Stimmen der davonziehenden Gefährten durch die Tannen hallten, saß die braune Sängerin dicht an die Holzstäbchen gedrückt und sah mit einem Blick so voll Sehnsucht hinaus, daß es sie barmte und sie ihr das Thürlein öffnete.
Das war ein Jubelruf, mit dem sie entflog, so hell, so selig – die glückliche Drossel!
Bärbchen Marei aber mußte in ihrem „Vahlsgebüwere“ bleiben. Sie setzte sich in ein Winkelchen und weinte sich satt.
[649] Der Feind ist im Anmarsch!“
Es war Märten, der, am andern Morgen mit langen Schritten zum östlichen Thor der Stadt herein kommend, so rief.
Der Ruf pflanzte sich fort. Aus allen Häusern stürzten die Leute. Das Volk lief ihm nach; vor ihm her ging das Schreckenswort.
Auf dem Markte sammelte sich die Menge. Der Magistrat trat auf den Altan des mit den Bildnissen der Weisheit und öffentlichen Wohlfahrt geschmückten Rathauses.
„Wo hast Du ihn gesehen?“ schrieen die Leute auf Märten ein.
Der knuffte die Menschenmauer mit seinen starken Fäusten zurück, daß er Luft bekam, und hob an: „Gestern abend sah ich von meiner Turmluke aus Feuerschein in der Richtung nach Weimar hin. Das müssen Wachtfeuer sein! dachte ich; denn die Röte streckte sich weit hin und war nur schwach.“
„Der verdammte Stelzfuß hat gewiß geschlafen!“ brummte der Rat der Stadt.
[650] „Heut’ morgen ging ich an die Arbeit in die Hopfengärten, und da die andern frühstückten, wanderte ich hinüber, wo der Feuerschein gewesen war.“
„Da bist also von der Arbeit gelaufen,“ zankten die Besitzer der Hopfengärten.
Unbewegt fuhr Märten fort: „Da sah ich die Bescherung. Lange Züge Husaren – hübsche Kerle!“
„Ach Gott! ach Gott!“ seufzten die Mütter.
„Baumlange Grenadiere, die Granaten werfen.“
Die jungen Bürger in feinen Schnallenschuhen kratzten sich hinter den Ohren.
„Sie fluchten das Blaue vom Himmel herunter; denn die Kanonen waren in dem Hohlweg stecken geblieben und versperrten den Durchzug. Ueber die Hecken konnte die Reiterei nicht weg. Da saßen sie noch fest, als ich zurück ging.“
„Gott sei Dank!“ atmete ringsum alles auf.
„Ich habe zwar alle Wegweiser herumgedreht, aber lange hält das nicht vor. Heut’ abend haben wir den Feind vor den Thoren.“
Schreiend liefen die Weiber nach Haus zu ihren Kindern. Die Männer hoben die Fäuste gegen die Räte auf ihrem Altan. Die perorierten untereinander, daß die großen Allongeperücken nickten.
Märten ergriff die ihnen aus den Händen gefallenen Zügel. Auf die zu feine Tüftelei folgt stets die rohe Kraft.
„Vor allen Dingen muß gestürmt werden,“ klang seine Stimme über das Getümmel, „damit jeder weiß, woran er ist.“ Nach allen Seiten rannte junges Volk den Türmen zu. „Und die Lärmtrommel muß gerührt werden, daß die Milizen zusammen kommen.“ Da begannen schon die großen Trommeln zu rasseln.
„Und wir schießen auch mit Kanonen,“ kommandierte Märten.
„Die sind ja verrostet, und wir haben keine Munition,“ wandte der alte Stadtwachtmeister ein, während er seinen großen Säbel martialisch dicht unter die Arme schnallte.
„Die Kartaune in meinem Hohenmauertürmchen ist geladen,“ beharrte Märten.
„Seit dem Dreißigjährigen Kriege,“ rief entsetzt der Stadtwachtmeister. „Wer die abfeuert, ist ein Kind des Todes. Wir haben schon oft beraten, wie wir den gefährlichen Schuß herausbringen könnten.“
„Den will ich schon herausbringen,“ lachte Märten. „Lunten werdet Ihr doch haben?“ Und er zog an der Spitze einer Schar nach der Rüstkammer im Rathaus.
„Art läßt nicht von Art,“ sagte der Bürgermeister. „Wie sein Vorfahr im Bauernkriege Rädleinsführer gewesen ist, bis man ihn allhier gehenkt hat, so thut der Nachkomme nichts lieber als Rotten machen, an die Glocken schlagen.“
Auf dem Laubengang des Regierungsgebäudes rannten die Justizien-, Kammer- und anderen Räte zusammen, schlotternd, zähneklappernd.
Ein Amtsbote brachte die Nachricht, daß ein Haufen Volkes, den gewissen Märten an der Spitze, die Thore der Stadt schließe.
Thatkräftiges Handeln hat für schwankende Menschen eine Ansteckungskraft.
Der Kanzler, die eine Hand auf den Degen gestemmt, die andere unter dem Jabot verborgen, damit niemand seine fliegenden Finger sehen sollte, sprach mit atemloser Stimme: „Die Thore der Neidecke sollen ebenfalls geschlossen werden. Meine Herren, ich schließe bis auf weiteres die Amts- und Regierungsstuben. Gebe Gott, daß wir uns froher wiedersehen.“
„Rette sich, wer kann,“ antworteten die Räte und stiebten mit brennenden Köpfen auseinander.
Der Kanzler aber erklärte, daheim angelangt, kategorisch: „Ich schließe auch meinen Alkoven.“
Die Glocken wimmerten unaufhörlich.
Die Milizen zogen mit ihren alten Feuerrohren leichenblaß und schlotternd nach den Thoren. Die Bürger bargen ihre Töchter auf dem Hausboden und befahlen ihnen, in der Not sich auf die Fallthür zu setzen. –
In der Superintendentur hatte Olearius die Entscheidung getroffen. „Jeder gehe seiner Pflicht nach. Und im übrigen lassen wir Gott walten.“ Damit zog er sich zurück, um nach seinen Worten zu thun, die nächste Predigt auszuarbeiten.
Aber kaum hatte der ernste Mann die Thür seines Zimmers hinter sich geschlossen, so stieg seine würdige Hausfrau nach dem Oberboden hinauf, um zur Dachluke hinaus dem heranziehenden Feind entgegen zu spähen, begleitet von Fieke, die da meinte, den alten Talar zu wenden, sei noch später Zeit.
Nur Magdalene trennte, blaß und still wie jetzt immer, weiter mit feinem Messerchen die schweren Tuchfalten auf.
Da klopfte es an die Thür.
Sie erschrak bis ins tiefste Herz. So klopfte – er.
Mit zitternden Knieen ging sie und öffnete.
Ja, da stand Christian Struve vor ihr, ernst, aber gefaßt, und seine schönen Augen sahen sie voll Zärtlichkeit an.
Es wollte wie Jubel trotz allem in ihr aufwallen, aber sie besann sich und senkte das Haupt.
„Magdalene!“ rief er. „Ich kann jetzt nicht fern von Ihr sein. Will Sie mir nicht das Recht geben, daß ich über Ihr wachen, Sie schützen darf?“
Die großen Augen schauten aus dem blassen Gesichtchen ihn schmerzvoll an. „Ich darf nicht,“ sagte sie leise, aber fest.
Er faßte ihre Hand. „Soll ich auch in dieser schweren Stunde umsonst bitten?“ rief er.
Sie zog leise die Hand zurück. „Es kann nicht sein,“ flüsterte sie tonlos. „Mir ziemt nur, den Herrn Sekretarius um Verzeihung zu bitten, daß ich Ihn mit kleinlichem Verdacht beleidigte. Aber die Trübsal der Stunde darf ich nicht nützen um meinen Freund in gefährliche Bande zu verstricken.“
Er ließ verzweifelt die Hände sinken.
Da – dröhnte ein furchtbarer Kanonendonner über die Stadt hin. Die Fenster klirrten, ein Geprassel folgte, daß der Boden unter den Füßen bebte.
Ein Schrei – und Magdalene lag in Christians Armen. Sie klammerte die Hände um seinen Hals und rief: „Nun, in Gottes Namen! wenn’s denn einmal zu Ende geht, dann darf Er mit niemand sterben als mit mir.“
Christian hatte die Arme fest um Magdalene geschlungen. Beide vergaßen danach zu fragen, was eigentlich unter Donnerschall sich ereignet hatte in der Welt draußen, wußten nur, daß es trotz Kriegsgraus wie eine große Erlösung gekommen war, als sie an seinem Herzen ihre festverschlossene Liebe ausweinte, und er leise die Lippen auf den roten bebenden Mund drückte.
Draußen lief das ganze Haus zusammen.
Der Superintendent war von seiner Predigt aufgestört worden, die Mutter kam atemlos herein – und blieb stehen starr und stumm.
Da richtete Struve das Haupt auf und streckte ihr die Hand hin. „Wir sind einig, hochverehrte Frau Mutter, und nichts soll uns mehr trennen.“
„Wie ist das so schnell gekommen?“ fragte sie.
„Schnell?“ entgegnete Struve leise lächelnd. „Der Donnerschlag war unser Freiersmann.“
„Gott segne euch!“ sprach sie zitternd.
Auch der Vater kam herab und legte die Hand auf das Haupt seines Kindes.
Jammerrufe unterbrachen sie. Sie eilten an die Fenster. Draußen redeten die Menschen auf die hinausgelaufene Fieke ein.
„Märten hat die alte Kartaune abgefeuert, und bei dem Schuß ist das ganze Türmchen, in dem sie steht, mit niedergegangen. Der Feind aber ist unversehrt geblieben.“
„Ist Märten mit verunglückt?“ rief Struve erschrocken und eilte der schreiend davon rennenden Fieke nach.
„Und Ruh’ ist nicht hinieden,“ sprach ergebungsvoll die Superintendentin. Die Verlobung ihres starrköpfigen Töchterchens war endlich zustande gekommen. Nun stand wieder der Feind vor den Thoren, und die Stadt fiel ein.
An der Hohenmauer ballte sich ein Menschenknäuel zusammen Das Türmchen war ein Schutt- und Steinhaufen. Wie der Held auf seinem Schild lag die alte Kartaune darauf, mit dem Mundstück im tiefen Wallgraben, ihre beiden reich verzierten Handhaben triumphierend aus dem Geröll spreizend. Das Bodenstück, eine schön geformte Traube, ragte aus dem obersten Steingeröll hervor.
Fieke umkreiste mit fliegenden Haubenbändern laut jammernd die Trümmerstätte. „Ach, mein armer Märten! Und wir sind in Unfrieden geschieden! Hörst Du mich noch?“ rief sie in das Geröll hinein. „So greift doch an und räumt ab!“
Leichenblaß, aber umsichtig schon mit Hacke und Spaten versehen, kam Struve an.
[651] „Angefaßt!“ rief er, warf den Rock ab und begann zu schaufeln.
Die Männer sahen sich an, zuckten die Achseln – am Leben konnte er ja doch nicht mehr sein. Aber sie griffen zu.
Fieke lag auf den Knieen. Die geschickten kleinen Hände mühten sich, die Steine wegzuwälzen. Ihre Augen brannten. Zum erstenmal stand das Zünglein still.
Das war nun das Ende. All ihre Lebtage hatten sich ihre Gedanken nur um Märten gedreht.
Sie hätte so gern für ihn gearbeitet und auch gedarbt; ein bißchen Hunger war weiter nichts, wenn man’s trug für einen Menschen, den man so lieb hatte. Und nun sollte alles vorbei sein? Sie sollte nie wieder ihren Riesen lebendig vor sich sehen? Er sollte tot sein? Unversöhnt von ihr geschieden?
Ein Thränenstrom ergoß sich über ihr Gesicht. Ihre Hände krallten sich in den Mörtel.
Da tönte dumpfer Ruf aus dem Trümmerhaufen. – Alle horchten auf – „Sachte, daß die Dachsparren nicht vollends zusammenknicken; ich sitze darunter wie die Ratte in der Falle.“
Nun wurde mit frischem Mut ans Werk gegangen, und bald wühlte sich ein dicker rotblonder Kopf unter dem weiland Festungstürmchen hervor, ein paar breite Schultern folgten, endlich der ganze Riesenkerl.
Er schüttelte sich den Staub und Schutt ab und lachte. „Hab ich’s nicht gleich gesagt, daß ich den Schuß herausbringen wollte?“
Fieke lag noch auf den Knieen. Sie betete ein heißes leises Dankgebet.
Dann richtete sie sich auf, und den Staub von Märtens Wams mit ihrem Schürzchen abwedelnd, sagte sie: „Ich will ja gern die hundert Meißenschen Gülden in Hellern zusammenscharren; aber iß nur meinen Braten wieder.“
Er lachte und nickte versöhnt.
„Vorderhand ißt Du Wasser und Brot im Bürgergewahrsam!“ zankte der durch den Donnerschlag herbeigetriebene Stadtschreiber.
„Dafür, daß Du uns auch noch eine Bresche in die Mauer gelegt hast, durch welche der Feind um so leichter herein kann.“
Kriegerische Musik schallte vom anderen Ende der Stadt her und schnitt ihm die Rede ab. Knattern folgte – das war, Granatenfeuer!
„Da sind sie!“ schrie das Volk und stob davon.
Der Stadtschreiber eilte ebenfalls dorthin.
„Wo kriechst Du nun unter?“ fragte Fieke ängstlich.
Er streichelte ihre Apfelbäckchen. „Jetzt schläft es sich hinter der Hecke besser als in einem dicken Daunenbette.“
„Wie ein Strolch!“ jammerte sie und hielt ihre andere Wange hin.
„Verfüge Dich in mein Haus, Märten,“ sagte Struve. „Um dieses gesegneten Kanonenschusses willen sollst Du nicht ins Elend geraten. Denn, Kinder! Ich habe mich unter seinem Hall versprochen und bin der glücklichste Mensch unter Gottes Sonne. Der Himmel verzeihe mir die Sünde in der schweren Zeit.“
„Du verdienst es,“ sagte Märten so bestimmt, als sei er sich des Vorrechtes bewußt, welches das Wort verleiht: Volkes Stimme, Gottes Stimme.
Und da Struve durch eine eilige Besichtigung sich überzeugte, daß das Gerümpel die Lücke so gut verschanzte wie vorher der gebrechliche Turm, so verließ er mit den andern die Trümmerstätte, um dem neu heranziehenden Unglück die Stirn zu bieten. –
Der Kanonenschuß hatte der weimarischen Armee nicht so viel Schrecken eingejagt wie den Bewohnern der durch ihn verteidigten Stadt.
Kriegerische Traditionen haften im Leben eines Volksstammes. Der Ruhm des Herzogs Bernhard warf noch seinen verscheinenden Glanz auf die Feldzeichen, unter denen mit Trompeten die Husaren, mit Trommeln und Pfeifen die Grenadiere heranzogen. Sie antworteten sofort durch ein kleines Granatenfeuer, das aber gleichfalls keinen Schaden anrichtete.
Ein junger Husarenrittmeister, der die Avantgarde führte, courbettierte auf seinem Schimmel bis vor das geschlossene Stadtthor. Der Kalpack war über die schwarzen Augenbrauen gedrückt, ein schwarzes Bärtchen mit keck emporgedrehten Spitzen saß in dem bräunlichen Gesicht. Der rote Dolman umschloß eine elastische Gestalt, mit hochmütiger Grazie trug er den Pelz auf der Schulter.
„Oeffnet das Thor!“ rief er zu dem Wachttürmchen hinauf. „Und ich rate Euch: laßt das Schießen mit Kanonen sein, widrigenfalls Ihr Euch die Folgen selbst zuzuschreiben haben werdet!“
Der alte Stelzfuß fragte zu der Luke hinaus: „Wer da?“
Der Husar lachte. „Gut Feind.“
Der Alte schüttelte den Kopf. Das war ihm im Dreißigjährigen Kriege nicht vorgekommen.
„Wir müssen erst den Bürgermeister fragen,“ entgegnete der Stadtwachtmeister und zog seinen Säbel, wie er es bei dem Husaren sah.
Dieser blitzte die beiden Knasterbärte mit seinen schwarzen Augen an. „Euer Bürgermeister hat unserem Herzog an erster Stelle zu gehorchen. Wir sind geschickt worden, Euch das einzutränken. Also aufgemacht! Oder wir hauen das Thor ein! – Die Sappeurs vor!“
Die Milizen murrten: „Lieber gar! Das schöne neue Thor, das kaum so viel Geld gekostet hat!“
„Ob wohl je ein Bürgermeister auf der Stätte sich befindet, wo er gerade nötig ist?“ seufzte der Stadtwachtmeister.
„Besser ist’s, man ergiebt sich auf Gnade und Ungnade, als man wartet den Sturm ab, wie Magdeburg zeigt,“ riet der Stelzfuß.
Und da niemand Einspruch erhob, schloß er das Thor auf.
Die Kriegsvölker ergossen sich in die Stadt.
Aber es waren nicht zuchtlose Franzosen, grausame Spanier, wilde Türken; es waren nachbarliche Thüringer, die einzogen.
Der die Truppen kommandierende Major gab dem Bürgermeister und Rat der Stadt, die dem Gewalthaufen entgegengingen, die Versicherung, daß gute Manneszucht gehalten werden solle.
Der Schrecken begann sich zu legen.
Struve begab sich heim.
In alle Häuser drängte die Soldateska, die Quartierbillets in den Händen; vor den Bäcker- und Metzgerläden hielten bereits Fouragewagen; vor den vergitterten Fenstern des Rathauses, hinter denen die Stadtkasse sich befand, zog eine weimarische Wache auf Posten.
Er nickte ernst vor sich hin: die Aussaugung der Landschaft hob an. Er erreichte gerade sein Haus, als der junge Rittmeister der Husaren von dem Schimmel sprang und die Zügel seinem Burschen zuwarf. Er war mit einem ganzen Reiterzug in das Struvesche Besitztum einquartiert.
„Von Krainsberg, Rittmeister bei des Herzogs von Weimar Leibhusaren,“ stellte er sich vor, damit kund gebend, daß er Offizier von Familie, nicht von „Fortune“ sei. Dabei flogen seine Augen erwartungsvoll an alle Fenster. Blankgeputzt, mit feingefältelten weißen Vorhängen halb verhüllt, sahen sie ehrbar, öde auf ihn hernieder. Und es war nur Gesinde, das zur Hausthür herausschaute.
„Der Herr Rittmeister muß mit der Wirtschaft eines Junggesellen fürlieb nehmen,“ sagte Struve, der den Blick erriet. „Wenn selbige auch zum längsten gedauert hat, und ich verhoffen darf, in nicht ferner Zeit Hochzeit zu machen,“ fuhr er fort. Wes sein Herz voll war, ging sein Mund über.
„Hochzeit?“ riefen Köchin und Bediente und vergaßen die Husaren.
„Eine Hochzeit?“ riefen auch diese und drängten vergnügt heran.
„Ciel!“ sprach Krainsberg, „eine heitere Aussicht, daß Er eine fröhliche Hochzeit auszurichten gedenkt! Es wird mir hoffentlich bald vergönnt sein, der Demoiselle Braut meinen Respekt zu bezeugen.“
Eine leichte Röte flog über das Gesicht des Sekretarius bei dem Gedanken, daß diese dreisten Augen sein schönes Lenchen mustern sollten. Aber jetzt kam ihm zum erstenmal die diplomatische Schule seines Herrn zu statten, der über unliebsame Dinge hinwegzugleiten pflegte.
Ohne auf die erbetene Visite weiter einzugehen, lud er durch eine höfliche Handbewegung den Offizier ein, in das Haus zu treten, wies die Leute an, wo ihre Pferde unterzubringen waren in den weitläufigen Stallgebäuden, befahl, die große Unterstube und Kammer für die Husaren herzurichten, und bedeutete seine Dienstboten, den Tisch mit massivem Silbergeschirr zu decken. Er gedachte zu zeigen, daß auch er Geheimsekretarius von Familie, nicht von Fortune war.
Nachdem Krainsberg sich seiner Wehr und Waffen entledigt hatte, stopfte er eine der Thonpfeifen, welche auf zinnernem Teller [652] neben der Tabaksbüchse lagen, und schlenderte hinunter, um nach den Pferden zu sehen, die von den Leuten im Hof gestriegelt wurden.
Es war ein wonniger Tag, der zur Rüste ging. Der Duft der Nelken und Levkojen, welche auf den schnurgeraden Rabatten blühten, erfüllte die Luft; auf den Beeten standen wie in Reih’ und Glied Kohlrabi und Salatköpfe; aus dem Laub der Bäume leuchteten rote Kirschen. Die Hühner gingen auf ihrem Leiterchen in den Stall; die Enten schnatterten noch am Brunnen herum, und aus den Ställen kam die Magd mit gefülltem Milcheimer. War das ein wohlhäbiger Haushalt! All das gehörte diesem respektablen Sekretarius, und dazu war er Bräutigam!
Wie sie wohl aussah, um die er vorhin so verlegen errötete?
„He!“ rief er Märten an, der eben mit Hacke und Harke aus dem Garten kam. „Gehört Ihr hier in die Wirtschaft?“
Märten blieb stehen. „Ja, ich bin eingeladen, hier zu wohnen.“ Er legte auf das „Ich“ einen solchen Nachdruck, daß der andere fühlte, er war der ungebetene Gast.
Er musterte verblüfft den jungen Riesen in dem groben Linnenwams. „Ihr gäbet einen strammen Grenadier ab. Unser Werbeoffizier zahlt ein schönes Handgeld.“
„Danke!“ sagte Märten wegwerfend. „Ich diene nur, wem ich will; jetzunder meinem Freunde Struve.“
„Sehr honett!“ erwiderte Krainsberg lachend. „Aber da Ihr so intim mit dem Herrn Sekretarius steht,“ fuhr er, eine vertrauliche Miene annehmend, fort, „könnt Ihr mir wohl sagen, ob die Braut von Eurem Freunde schön ist?“
Märten sah ihn an wie ein scharfer Haushund den Fuchs, der um den Hühnerstall schleicht. „Das kann Ihm ganz gleichgiltig sein,“ erwiderte er und ging in das Haus.
„Das wollen wir einmal sehen,“ brummte Krainsberg.
Da schlüpfte ein junges Mädchen aus dem Haus, mit einem Gesichtchen, weiß und rot wie reifende Preißelbeeren. Eilig wollte sie vorüber huschen.
Aber er hielt sie an ihrem Kopftüchlein fest wie ein Schopftäubchen. „Wohin so schnell, schönes Kind?“
Sie stieß einen hellen Schrei aus.
Sofort erschien Struve in der Thür. Er sah seinen Gast so ernst an, daß dieser unwillkürlich seine Beute fahren ließ.
Dann hatte sich Struve schnell gefaßt. „Verzeih’ Sie, Demoiselle,“ sprach er zu dem erschrockenen Mädchen, welches die Frisur wieder in Ordnung brachte, „daß ich Sie unbegleitet gehen ließ. – Es ist nämlich,“ fuhr er zum Rittmeister gewendet fort, „die Tochter unsres weiland berühmtesten Kantors.“ Er geleitete sie nach dem Hofthor.
„Was den Urlaub Ihres Vetters betrifft, so wird die Sache bestens geordnet werden.“
[653] Sie knixte dankbar; er verbeugte sich respektvoll. Dann war sie fort.
Struve ging in sein Haus zurück, stumme Mißbilligung in jeder Miene seines ernsten Gesichtes.
„Mille tonnerres!“ fluchte Krainsberg leise und drehte sich erbost auf den Hacken seiner bequasteten Stiefel herum.
„Au!“ schrie abermals eine weibliche Stimme.
Er hatte Fieke einen Stoß versetzt, die zur Gartenthür hereingeschlüpft war und hinter ihm weg ins Haus wollte.
„Hab’ ich der Jungfer weh gethan?“ girrte er, allen Verdruß vergessend, zuthunlich. „Soll ich ihr ein spanisches Kreuz drücken? Das ist für alles gut.“ Er wollte sie umfassen und ihr das Heilmittel auf Stirn, Mund und Wangen küssen.
„Nehm’ Er sich in acht, das Ihm nicht sein eigenes Kreuz eingedrückt wird,“ schrie Märten, mit geballten Fäusten aus der Hausthür stürzend.
Fieke rettete sich hinter ihn. Auch Struve kam wieder herbei.
Einen Augenblick sahen die drei jungen Männer sich wütend an.
Dann fragte Struve. „Fieke, was willst Du?“
„Märten die Sonntagswäsche bringen,“ antwortete sie, schon wieder ganz gefaßt. „Und dem Herrn Sekretarius die Muster und Maße von seiner Herzallerliebsten. Er wird ihr doch den Staatsanzug schenken wollen zu den Brautvisiten. – Das ist das Leibband“ – sie hielt einen perlfarbigen mit Blumen gestickten Gürtel hin, der auf eine selten schlanke Mädchengestalt deutete. „Den Handschuh habe ich gestohlen“ – eine Kinderhand nur fand Platz in dem seidnen Filetgewebe. „Da ist ein Schuh; winzig, nicht wahr? Sie müssen von der Farbe des Kleides sein. Und hier die Weite der Spitzenfalbel um den Hals.“
Struve nahm ihr rasch den reizenden Kram ab und verbarg ihn in seiner Brusttasche. Das Blut stieg ihm in die Stirn bei den Blicken, die der Husar darauf richtete. „Es ist gut. Laßt Euch in der Küche einen Vespertrunk geben!“
Fieke knixte vor Struve, hob das Näschen gegen den Rittmeister und trollte fort.
Langsam folgte Märten, den Blick immer noch kampflustig auf Krainsberg gerichtet.
Der Rittmeister sah verwirrt und zornig zugleich Struve an. „Will Er denn alle hübschen Mädchen allein für sich haben?“
Struve verbeugte sich stumm, gehalten. „Sein Diener, Herr Rittmeister.“ Er ging ins Haus.
Die Thonpfeife zerschellte auf dem Pflaster des Hofes. „Na warte! in Deinen Hühnerstall will ich einmal hineinfahren!“ murmelte Krainsberg.
„Und dieser Wüstling will Lenchen eine Visite machen?“ [654] dachte Struve empört und ließ sich wieder an seinem Schreibpult nieder. Die Arbeit häufte sich ihm.
Sein Kanzler saß inzwischen, eine turbanartige weiße, mit grünem Band umwundene Nachtmütze auf dem Kopf, in seinem Alkoven auf einem Sorgenstuhl. Da war er sicher vor dem fremden Kommandeur, brauchte ihm nichts abzuschlagen, und es konnte ihm auch kein unbedachtes Wort entwischen. Die Geschäfte packte er seinem Sekretarius auf.
Dazu läutete die Klingel an der Struveschen Hauspforte von früh bis spät, und die alte Köchin mußte dreimal täglich weißen Sand streuen, wenn es sauber auf Treppe und Vorsaal bleiben sollte.
Der Hausherr saß auf dem mit aschfarbigem Tuch beschlagenen Sessel, von dem aus schon sein Großvater guten Rat gespendet hatte, und stand den Hilfe heischenden Bewohnern der ganzen Landschaft Rede.
Da kamen kleine Handwerker aus den Winkelgäßchen, die die Einquartierung nicht unterbringen konnten, ohne selbst auf die Straße gesetzt zu werden, große Bürgerinnen in goldenen Hauben, denen die lumpigen Weiber der Korporale und Feldwebel ungeziemend begegnet waren, und Bauern in Zwilchkitteln und Holzschuhen aus den benachbarten Orten, denen der Kriegskommissar große Lieferungen an Stroh und Hafer auferlegt hatte.
Struve riet, machte selbst Bittschreiben für sie, half aus der grünseidnen Börse oder dem großen Kessel, der unten in der Küche brodelte, tröstete und gab für den dankbaren Kratzfuß einen warmen Händedruck auch dem Aermsten, wie das von je unter dieser von starken Balken getragenen Decke Brauch gewesen war.
Dann ließ der weimarische Kommissar unter Trommelschlag Mandate anheften, daß der Herzog sich sein Oberlehnsrecht vorbehalte. Märten, an der Spitze seines Haufens junger Leute, folgte und nahm mit der Ruhe, die von jeher Riesen eigen gewesen ist, dieselben wieder ab.
„Wir haben genug an einem Herrn,“ verkündigte der Nachkomme des Rädleinsführers.
Die Weimaraner widersetzten sich, das Volk lief zusammen.
Der Lärm hallte bis in Struves Arbeitsstube. Er warf die Feder hin und kam gerade recht, seinen wild gewordenen Freund von einem Totschlag abzuhalten und durch kluge Reden und ein gespendetes Fäßchen Bier die beleidigte Mannschaft zu besänftigen.
Endlich erschienen auch Herren vom Stadtrat und klagten ihr Leid. Sie hatten im guten Glauben, daß die Gerechtsame der Oberlehnsherrschaft mit der Erhebung ihres Landesherrm in den Fürstenstand wegfallen würde, die fälligen Termine nicht mehr bezahlt, welche nun durch die Exekutionstruppen rücksichtslos eingetrieben werden sollten.
Wie durften sie wagen, jetzt, da die Bürgerschaft ohnedies durch die Einlagerung bedrückt war, die verhaßte Steuerglocke zu läuten?
„Käme doch der Kurier aus Aachen zurück!“ seufzte Struve aus tiefstem Herzen.
Endlich langte er an.
Als Struve, atemlos vor Spannung, in die Wohnung des Kanzlers eilte, war der Herr nicht zu sprechen, er wartete einen seiner kritischen Schweiße ab, die sich immer in besorglichen Stunden bei ihm einstellten. Doch übersandte er ihm durch einen Boten das eingelaufene Schreiben.
Beim Lesen wurde Struve leichenblaß.
Es enthielt den Befehl, den Rechten des Landesherrn nichts zu vergeben, im übrigen sich zu gedulden. In diesem Augenblick könne kein Entschluß gefaßt werden. Warum nicht, erfuhr niemand.
Auch der Kurier wußte nichts auszusagen. Er hatte Seine Durchlaucht gar nicht zu Gesicht bekommen.
In seiner Studierstube ging Struve rastlos hin und her. War jetzt der Gehorsam, den das Gesetzbuch dort vorschrieb, Pflicht? Oder hatte der denkende Mensch einem Gesetz zu folgen, das der Herr aller Herren gegeben, dem Gesetz, seinen leidenden Mitmenschen beizustehen?
Es war ein schwerer Kampf, den er mit sich selbst durchrang. Als es dämmerte, war sein Entschluß gefaßt.
Er ließ sich den dunklen leichten Mantel geben, dessen weite Falten seine Gestalt verhüllten, und verließ das Haus.
An diesem Abend schien das Licht in dem Geheimstüblein des Bürgermeisters noch um Mitternacht in die Finsternis hinaus.
Als der nächste Tag zur Rüste ging, befahl Struve Märten, die Thür zu seiner Studierstube wohl zu bewachen, nur den Bürgermeister und den Rat der Zwölfe einzulassen.
Stumm, verhüllt langten die hochmögenden Herren an, und dann schallte dumpfes Gemurmel heraus. [680] In den nächsten Tagen war dann ein geheimnisvolles Kommen und Gehen in allen ansehnlichen Bürgerhäusern zu verspüren. Ein Schriftstück wurde von Hand zu Hand gegeben von bedeutungsvollen Reden begleitet, wie: „Es muß jeder das Seine thun, auf daß das gemeine Wesen nicht in Unfall gerät!“ und „Hilf Dir selbst, so hilft Dir Gott!“
Für die Frauen gestaltete sich das Geheimnis abermals zu einem drohenden Vorzeichen, das Fieke in die Erzählung zusammen faßte: „Die Rathausuhr ist abgelaufen und hat eine Glockenstunde lang geschlagen, ohne daß man ihr hat Einhalt thun können.“
Struve aber arbeitete ein Bittschreiben aus, darin die Bürgerschaft bei allem schuldigen Respekt vor ihrem Fürsten und Herrn den Erbprinzen von Sondershausen bat, sich in diesem besonderen so unglücklich verwickelten Falle durch seine Fürsprache in Weimar ihrer anzunehmen.
Mit Genugthuung sah der Sekretarius auf die lange Reihe von Unterschriften. Kein angesehener Mann der Stadt fehlte, und auch kleine Leute, die durch Thatkraft, hellen Kopf und flottes Mundwerk sich Anhang verschafft hatten, waren vertreten.
Er packte die Schriftstücke mit einer klaren Darstellung der Sachlage von seiner Hand in einen starken Umschlag, und zuletzt schob er seine Abhandlung über einen gütlichen Vergleich mit Weimar hinein.
Dann berief er Märten und verriegelte die Thür.
„Märten, willst Du Deiner Vaterstadt einen Dienst erweisen?“
„Nee, Struve, lieber einen Streich spielen.“
„Nun, dann thust Du mir vielleicht einen Gefallen?“
„Das weißt Du, Struve.“
„Du sollst einen Brief nach Sondershausen an den Erbprinzen tragen. ob er uns vielleicht von der schweren Belastung befreien kann. Ich gehe weit über meine Befugnisse hinaus. Aber wir sind in der Notwehr.“
Märten nickte. Das Gesetz von der Notwehr kannte er von den vielen kleinen Untersuchungen her, in denen er gesteckt hatte.
„Es kommen immer einmal Zeiten,“ fuhr Struve fort, „wo Rechte und Gesetze, die doch nur unvollkommenes Menschenwerk sind, zu Fesseln werden, die man sprengen muß.“
Märten war ganz einverstanden. „Das hat mein Ur-Ur-Urgroßvater auch gedacht. Die Rädleinsführer wehrten sich mit der Mistgabel, Ihr Studierten mit dem Gänsekiel. Er wurde“ – Märten fuhr sich mit der Hand um den Hals.
„Und mir droht – Absetzung,“ antwortete Struve, „vielleicht auch Schlimmeres. Aber mögen mich die Folgen treffen! Ich kann nicht länger die Hände in den Schoß legen. Für jetzt gilt es, das Vorhaben geheim zu halten. Du bist als Bote der einzige, dem ich unbedingt vertrauen kann.“
Märten klopfte ihn auf die Schulter. „Sei ruhig, Struve; wir wollen die Sache schon miteinander in Ordnung bringen. Morgen früh gehe ich mit der Hacke hinaus in Deinen Berggarten, und in ein paar Tagen komme ich wieder. Fieke sage ich, ich hätte Deine Kirschen vor den Spatzen gehütet.“
Struve händigte ihm den Brief, einen Paß und ein Zehrgeld ein. „Willst Du irgend eine Waffe für den langen einsamen Weg?“ Märten lachte von einem Ohr zum andern. „Mein Jungeichener ist genug.“
Als Marten voraussichtlich aus dem Weichbild der Stadt entschwunden war, begab Struve sich in die Wohnung des Kanzlers, um diesem den gewagten Schritt frei einzugestehen.
Er war auf seine Amtsenthebung gefaßt.
Aber er wurde abermals nicht vorgelassen. Der Herr Kanzler sollte in eine „unempfindliche Schlafsucht“ verfallen sein. Waren dem schlauen Diplomaten Gerüchte zu Ohren gekommen?
Dann ging Struve zu Magdalene. Ihr gegenüber mußte er sich aussprechen. Er durfte ihr die Gefahren nicht verhehlen, die seine Handlung auf ihren Lebensweg heraufbeschwor.
Es war Abend. In dem lauschigen Winkel, den sich das Brautpaar zum Plaudereckchen erkoren hatte, saßen sie, fest umschlungen. Die Seite nach dem Fenser beschattete das reich belaubte Myrtenbäumchen des jungen Mädchens, die andere schloß das braune Gehäuse der großen Standuhr ab.
Das müdgedachte Haupt an Magdalenes Schulter gelehnt, schüttete er sein ganzes Herz aus.
Dann ihr tief in die Augen blickend, sagte er: „Nun sprich Du das Urteil. Ich weiß, daß bei so bewandten Dingen ich mit meinem Herzenswunsch mich noch bescheiden muß. Denn welches Haus ist nun der gesichertste Platz für Dich: das elterliche, oder das Deines zukünftigen Ehemannes? Ueber beiden schwebt das Schwert der Justitia, und – die Göttin ist blind.“
Leise strich ihre Hand über sein Haupt. „Die reine kluge Stirn!“ sagte sie in kosendem Tone. Dann küßte sie ihn lange und heiß auf die beredten Lippen. In der Verborgenheit gab es keine zärllichere Braut; sie war einmal ein stilles Wässerchen. „Ich soll die Entscheidung sprechen? So komm, mein einziges Herz!“
Sie zog ihn sich nach in die Nebenstube, wo ihr Vater die Feierstunde mit einem Pfeifchen genoß, die Mutter Johannisbeeren von den Träublein zu einem Kuchen in eine große bunte Schüssel streifte.
„Wenn es meinen geliebten Eltern recht ist,“ sagte sie mit ihrer gleichmäßigen klaren Stimme, „so setzen wir die Hochzeit auf heut’ über vierzehn Tage fest. Die schlimmen Zeitläufte erklären die Beeilung des wichtigen Werkes. Und es wird um deswillen auch genügen, wenn wir ein für allemal aufgeboten werden.“
Hochehrwürden dachte nach. Die Mutter rief: „Aber die Ausstattung! Und gerade in der schweren Zeit!“
„Wir sind recht fleißig,“ sagte Magdalene, „und ich gehe ja in das alte Struvesche Familienhaus.“
Ihr Vater aber fügte hinzu: „Wollte man auf dieser Erde mit seinem Fürhaben warten, bis alle Wasser der Trübsal sich verlaufen haben – es würde nichts vollbracht. Ich bin mit meinem Kinde einverstanden.“
„Bist Du zufrieden mit meinem Beschluß?“ fragte das junge Mädchen und sah lächelnd zu Christian auf.
„Magdalene!“ rief er und schloß sie fest in seine Arme. –
Nun hob ein Hämmern, Fegen, Bürsten im Struveschen Haus an.
Es fiel in dem Treiben nicht auf, daß auch Märten eines Abends sich hindurchwand bis zur Studierstube.
Hinter der abermals verriegelten Thür trennte er aus seiner Zwilchjacke ein Schreiben und überreichte es Struve.
Das Gesicht desselben wurde heiter, während er las. „Du hast uns allen einen großen Dienst erwiesen,“ sagte er. „Ich bleibe einstweilen in Deiner Schuld.“
„Hast’s nicht nötig, Struve; ich bin in Deiner.“
Dann ging wieder alles seinen Gang.
Nach reichlicher Mahlzeit half Märten die neu gebohnte Kommode mit den blitzenden Messingbeschlägen in das Zimmer der zukünftigen Hausfrau schaffen.
Krainsberg rasselte vorüber und schaute neugierig in die saubere Stube.
„Ist die Hachzeit var der Thür?“ fragte er den Hausherrn, der sorgsam ein krummbeiniges Nähtischchen aufstellte.
„Die erste Festivität steht bevor,“ erwiderte Struve knapp.
Krainsberg pflanzte sich fest auf.
„Kranzbinden?“
„Nein.“
„Brautsuppe?“
„Nein.“
Krainsberg meisterte kaum seinen Zorn. So oft er davon gesprochen hatte, der Brant seines Quartiergebers die Visite machen zu wollen, war Struve ausgewichen. Er wollte sie endlich sehen, und wenn er die Superintendentur stürmen sollte – mille tonnerres!
„Darf man nicht seine Teilnahme dabei beweisen?“ attackierte er von neuem.
„Nur Demoiselles versammeln sich,“ gab Struve umständlicher [682] Auskunft. „Jedes männliche Wesen ist ausgeschlossen. Nicht einmal der Bediente darf präsentieren. Erst nachdem die feierliche Handlung vorüber ist, wird mir gestattet, meine Aufwartung zu machen.“
Während dieser Erklärung hatte eine Ordonnanz von dem die Besatzungstruppen kommandierenden Major ein Schreiben mit dem weimarischen Siegel gebracht.
Und auch dieses Schreiben entwölkte die Stirn des Lesenden. Krainsberg lächelte rätselhaft, als er es in seine Brusttasche steckte.
Dann fragte er: „Wann findet die geheimnisvolle Handlung bei Seiner Demoiselle Braut statt?“
„Uebermorgen abend.“
Darauf klirrte der Husar pfeifend in sein Zimmer.
Auch Bärbchen Marei war zu der Festlichkeit geladen worden.
Magdalene hatte darauf bestanden; sie wollte gern ihre eifersüchtige Anwandlung gut machen. Und Bräuten wird immer der Wille gethan.
Die Preiselbeerröte der Wangen Bärbchen Mareis war vergangen in den wenigen Wochen.
Keine Nachricht war von Mühlhausen gekommen. Aber der Vetter blieb lange aus; das ließ vermuten, daß seine Sache – gut stand, dachte sie, während ihr Herz sich zusammenzog.
Wo hätte auch der Sebastian sich vergeblich angeboten?
Während sie geräuschlos hin und her flog, ihren bescheidenen Staat zu ordnen – die Strümpfe mit den bunten Zwickeln, die Schürze aus weißem Nesseltuch erinnerte noch an ihre ländliche Herkunft – dachte sie daran, daß vielleicht auch in Mühlhausen jetzt eine glückliche Braut sich putzte, um den Verspruch mit dem einzigen Sebastian zu feiern.
Sie mußte sich schmal machen in den Altjungfernstübchen der Muhme; denn diese bedurfte des ganzen Platzes. Die Wedemannin war die kunstfertigste Haubenmacherin für die Bürgerfrauen der Stadt. Keine andere verstand so feindinnig die Haubenfleckchen zu wählen: für die junge lustige Frau einen beflitterten Schmetterling, für die alte Witwe ein Zweiglein Singrün.
Alle Stuhllehnen hingen voll schwarzseidener breiter Bänder, die mit dem nötigen Leim bestrichen waren; die schwarzen Spitzenbarben zischten auf dem Tisch unter dem Brenneisen.
Auf dem Deckel eines Clavicords, das dicht in die Fensterecke geschoben war, hatte das junge Mädchen einen Waldstrauß ausgebreitet, den die Botenfrau von Gehren ihr mitgebracht hatte. Sie band zarte Heideblüten zu einem kleinen Kopfschmuck zusammen und in das Sträußchen am Mieder fügte sie ein paar Fichtenzweiglein. Die hatten hoch vom Berg herab geschaut auf das bemooste Schindeldach der Schule, wo sie unter Sang und Klang aufgewachsen war, auf die Kirche, deren Orgel ihr zuerst die mächtigen Gedanken Sebastians in die Seele gebraust hatte, und auf die stillen Ruhestätten der Eltern. Ein Thräne fiel auf das Sträußchen.
„Ist das ein armseliger Kopfputz, den Du da zusammen stoppelst!“ tönte es vom Tische her, wo die ehrsame Jungfrau nun vor einem Haubenkopf saß, der die Mütze trug. „Die Waisenmutter schenkte Dir gewiß aus dem Garten ein paar Blumen. Es blüht so schöne feuerrote Männertreu dort – freilich, die hält sich nicht.“ Sie sagte es ohne Bosheit. Sie war ja ganz darein vertieft, daß die Schleifen recht bolzgerade auf die Haube kamen.
Bärbchen Marei, die vor dem kleinen Spiegel die Heidezweige ausprobiert hatte, ließ, wie von einem Schlag getroffen, die Arme sinken.
„Man sitzt gar zu eng in der Stube, seitdem Dein Clavicord darin steht,“ mäkelte die Muhme, ein langes Band in den ausgebreiteten Armen ausspannend. „Daß Du es aber auch immer mit Dir herumschleppst! Verkaufe doch den alten Kasten.“
Bärbchen Marei hielt beide Hände über das kleine Instrument. „Ich das Clavicord verkaufen, das der Vater selbst gebaut hat?“ rief sie. Darüber durfte sie doch wenigstens offen weinen.
Sie setzte sich davor und strich über die Tasten; ein leises Getön antwortete.
Da flüchtete sie sich mit ihrem Jammer dahin, wo ihrer Sippe Heimat war: in die Welt der Töne.
Leise griffen ihre Hände klagende Akkorde, stille Weisen, die das braune Gehäuse unter ihres Vaters Händen schon ausgehaucht hatte.
Das Fenster war geöffnet. Zuweilen zog auf warmer Luftwelle der Duft der Sommerblumen im Waisenhausgarten herein – der zarte Geruch der schnell vergehenden Männertreu. Er that ihr weh.
In schmerzliche Gedanken versunken, fand sie, fast ohne es zu wollen, die Melodie, die ihr damals auf dem Pfarrhof aus Sebastians Stube entgegengetönt war.
Die Thränen rannen unaufhaltsam über ihre Wangen.
Da – sang plötzlich eine schöne Baßstimme, richtig einsetzend: „Siehe, ich stehe vor der Thür und klopfe an.“
Ihre Hände blieben in der Luft schweben – einen Augenblick nur – dann antwortete jubelnd das Waldvöglein: „Sei willkommen, Du edler Gast.“
Die Thür fuhr auf, Sebastian herein. Sie umarmten sich, noch die letzte Strophe auf den Lippen. Und als sie in der Seligkeit mit der linken Hand aussetzte, schlug er mit kräftigem Finger den Baß an.
„Ich bin Kantor in Mühlhausen, und Du wirst meine kleine Kantorin.“
Die Muhme stand mit aufgehobenen Händen hinter ihrer fertigen Haube. „Und die Töchter von dem alten Kantor?“
Er lachte auf. „Der brave Mann hat nur Jungen gehabt.“
„Und Du, Bärbchen Marei, willst es wirklich wagen mit diesem Musikanten, der nirgends Ruhe hält?“
Bärbchen lächelte ihren Schatz selig an. „In einem Tannennest bin ich aufgewachsen, auf einem schwanken Zweiglein habe ich hier Unterschlupf gefunden; nun baue ich mir – beliebt’s Gott! – wie die Schwalbe ein Nest an der Kirche in Mühlhausen.“
Als der wichtige Abend herein dämmerte, trugen zwei Diener die Portechaise des Kanzlers nach der Superintendentur.
Kiliane saß darin mit flackernden Augen und glühenden Wangen.
Ja, sie hatte sich wieder hineingestürzt in die Komödie des Lebens. Wie ein schöner wilder Kobold wirbelte sie unter dem Hofstaat der Augustenburg herum.
Sie wußte, daß sie seit jener denkwürdigen Kirchenfahrt bei ihrer Durchlaucht schlecht angeschrieben war. Aber es berührte sie nichts mehr. Ihre Lippen kräuselten sich zu spöttischem Lächeln, wenn Augusta Dorothea ihr ungnädig den von großer Watteaufalte umrauschten Rücken zukehrte; sie lachte, als der blasse Severin ein Kreuz vor seinen düstren Augen schlug, da sie, vom leichten Pudermantel umflattert, im Korridor an ihm vorüber flog; und am grellsten lachte sie über den Junker von Eichfeld.
Es wollte ihr zwar ins Herz schneiden, wenn sie den verzehrenden Blick der grauen Augen so voll Schmerz auf sich ruhen sah. Aber sie wandte sich kalt von ihm ab: der armselige Wicht verdiente kein Mitleid.
Auch heute hatte sie ihn durch ihre Nichtbeachtung gequält, während sie ihren erbittertsten Widersacher, den ersten Kammerherrn, so lange umschmeichelte, bis er nicht mehr widerstehen konnte und ihr zu einer Fahrt in die Stadt bei der Oberhofmeisterin Urlaub erwirkte.
Verfallen, blaß schaute Konrad zu, wie der stelzbeinige Mann sie nach der Kutsche geleitete, ganz berauscht von ihren schmachtenden Augen.
Als das lange Gefährt sich in Bewegung setzte, rief sie zum Fenster hinaus: „Ich fahre zu einer Brautvisite in die Superintendentur.“ Wie wurde das eben noch schmunzelnde Gesicht der falschen Hofschranze grünlich vor Wut!
Ueber Konrads bleiche Züge zuckte ein schadenfrohes Lachen. Ach, auch das wollte ihr weh thun!
Auch ihr Oheim, der Kanzler in seiner Krankenstube, machte ein langes Gesicht, als er hörte, daß sie das Haus des aufstutzigen Geistlichen betreten wolle. Sie wehte ihm mit ihrem Fächer Kühlung zu und heizte ihm zugleich mit der Sorge ein, daß sein Arbeitspferd Struve durch die Nichtbeachtung der Braut am heutigen Tage störrisch werden und dann er selbst unter einem Aktenberg ersticken müßte.
Da sah der gravitätische Mann an seiner langen Nase herab und sagte: „Man schweige und thu’, was man will. Ich weiß von nichts.“
[683] Als die Portechaise an der Superintendentur niedergesetzt wurde, kam Magdalene dem Hoffräulein entgegen, diesmal mit herzlicher Freundlichkeit.
Der harte Blick drang heute aus Kilianes Augen. Sie deutete auf die weiß und rot gestreiften Tapetenrosen, die ihr blauseidnes Kleid, die hohe Frisur überreich schmückten, und sagte: „Ein Präsent Ihres Monsieur Bräutigams.“
Aber bei dem sanften Lächeln, mit dem Magdalene antwortete, preßte sie die Lippen zusammen. So weich, so gut werden die Menschen, wenn sie glücklich sind.
Dann balancierte sie ihr Flügelkleid zur Hausfrau. „Da mein Oheim, der Kanzler, keine Töchter hat, die am heutigen Tag der Braut seines Geheimsekretärs Beistand geleistet haben würden, bitte ich mich an Stelle derselben anzunehmen.“
Die Brautmutter drückte ihr innig die Hand.
Aber Kiliane fing den dankbaren Blick nicht auf. Sie rauschte in die Visitenstube hinein, wo die jungen Mädchen versammelt waren.
Ein duftendes Sträußchen auf dem Toupet, am eckigen Ausschnitt des Leibchens und in den Händen, eine immer hübscher als die andre, saßen sie auf den Kanten der Stühle, flüsterten nur und nippten kaum an den Mandeltorteletten und dem festlichen Getränk, welches nach dem wackren Hausgerät, das man zur Bereitung brauchte, „Dreifuß“ genannt wurde.
Jetzt war es vorbei mit dem Kerzengeradesitzen. Kiliane kannte alle vom Puppenverein her, zu welchem die Fürstin zuweilen die Frauen und Töchter der Honoratioren lud.
Sie neckte die schwarzäugige Tochter des Kammerrats damit, daß sie bei dem letzten Fischfest am Schloßteich sich mit Fleiß den Fuß verstaucht habe, um von dem hübschen Kammerschreiber auf dem Schiebebock nach Hause gefahren zu werden, und die beiden blauäugigen Kinder des Amtmanns, daß sie nicht wußten, ob der junge Subkonrektor die Aelteste oder Jüngste meinte, wenn er ihnen seine Verse vorlas.
Und wie eine unternehmende Bienenkönigin, den ganzen summenden Schwarm hinter sich herziehend, flog sie in die Wohnstube hinein, wo das Werk des Abends vollbracht werden sollte.
Die Tafel in der Mitte trug die große Bibel, ein mächtiges Tintenfaß und Streifen handfesten Papieres.
Ringsum türmten sich auf Schemeln und Körben hochaufgestapelt neue Betten.
Fieke stand mitten unter ihnen, den Fingerhut aufgesetzt, die Nadel mit dem gewichsten Faden an das Kamisol gesteckt; denn die letzte Naht war an jedem Bettstück noch zuzunähen. Vorher aber mußten, altem Gebrauch gemäß, zwischen die Federn Zettel mit frommen Sprüchen versenkt werden. Das brachte Glück; die Wahl dieser Sprüche war ein ernstes Geschäft, und dazu war der Beistand der jungfräulichen Freundinnen der Braut erbeten worden.
Kiliane blies lachend in eines der mächtigen Bettstücke, daß die Flaumen herumflogen. Dann trat sie zu der großen Bibel.
Auch die andern jungen Mädchen kamen heran; es schloß sich ein Kreis um das ehrwürdige Buch.
Die Dunkelheit war früh hereingebrochen. Ueber dem steilen Dach der Oberkirche stieg eine Gewitterwolke herauf, aus der feuriger Schein zuckte.
Die Flammen der brennenden Kerzen wehten leicht in der Luft, welche durch die der Schwüle wegen geöffneten Fenster zog.
„Wollen die Demoiselles nicht lieber däumeln?“ riet Fieke flüsternd, damit es die Hausfrau in der Stube daneben nicht hörte. „Da findet man wahrsagende Sprüche.“
Magdalene wollte wehren. Däumeln war eigentlich verboten.
Aber Kiliane hatte sich schleunigst von Fieke über die Kunst unterrichten lassen, klappte schon die Bibel auf und drückte den Ballen des Daumens auf eine Stelle.
Aber sie fuhr zurück, als habe sie sich verbrannt. „Meine Harfe ist eine Klage geworden, und meine Pfeife ein Weinen,“ las sie; während ein Wetterschein über die Tafel huschte, als züngle eine blaue Flamme nach der Heiligen Schrift.
Einen Augenblick schwiegen alle erschrocken. Kiliane trat zurück.
„Ich will aufschlagen!“
„Ich!“ „Ich!“ rief es ringsum.Mit glühenden Köpfchen, eiskalten Fingerchen stürzte sich die jugendliche Schar auf die Bibel.
Einen Schrei rief der Spruch der Schwarzäugigen hervor: „Du setzest sie aufs Schlüpfrige und stürzest sie zu Boden.“
Das reife Christelchen brach in Thränen aus, als ihr das Wort zuteil wurde: „Ich bin wie eine Rohrdommel in der Wüste.“ Dieser Hohn auf ihre gescheiterten Hoffnungen!
Auch Fieke schlug fürwitzig nach und las: „,Es ist genug zu diesem Leben, wer Wasser und Brot hat.‘ – Nicht einmal das Heilige Buch verlangt mehr, und ein Bürgermeister darf auf hundert Meißenschen Gülden bestehen!“ belferte sie und schob Bärbchen Marei die Bibel zu.
Aber diese schüttelte lächelnd den Kopf. „Mir ist mein Sprüchlein in die Wiege mitgelegt worden, die in dem engen Musikantenstübchen stand: ,Sehet die Vöglein unter dem Himmel.‘“
„Sie hat recht,“ sprach Magdalene mit warmem Blick auf das Kantorentöchterchen. „Weshalb suchen wir auf verbotene Weise in der Bibel, während wir einen Schatz von schönen Sprüchen aus ihr geschöpft haben?“
Sie schloß die silbernen Klammern des mächtigen Buches, faltete die Hände darüber, wie sie, der Augapfel ihrer Lehrer, stets in der Schule gethan hatte, und sprach, ohne sich zu besinnen: „Bete und arbeite!“
Die schrifterfahrenen Freundinnen des Subkonrektors griffen nach den Federn und schrieben zierlich; die noch immer zitternden Finger streckten sich dienstfertig aus, um die Zettel in die Betten zu versenken, und emsig nähte Fieke die letzten Nähte zu.
Vor den schönen kernigen Sprüchen, die alle Gottvertrauen und strenge Pflichterfüllung, Ergebung in Gottes Willen und Genügsamkeit geboten, schwand die leichtsinnige Regung, welche danach getrachtet hatte, ein Zipfelchen vom Schleier der Zukunft zu lüften.
„Und nun zum Schluß,“ sagte Magdalene mit fester Stimme, als es an das letzte Stück, ein mächtiges Kopfkissen, kam: „Ein gut Gewissen ist ein sanft Ruhekissen. Amen.“
„Amen!“ sprachen die jungen Mädchen laut und freudig nach.
Nur eine schwieg und starrte finster wie in das Leere: es war Kiliane.
Als die Mutter jetzt ihr Kind küßte, wandte sie sich jäh ab.
Das Werk war vollbracht. Die Mädchenschar zog sich wieder in die Visitenstube hinüber.
Da kam auf den Wellen der schwülen Gewitterluft, mit dem zuckenden blauen Schein ein Klirren näher, immer näher.
Jetzt rasselte es auf dem Pfarrhof, rhythmischer Schritt erklang, vor der Hausthür verstummte er plötzlich mit klirrendem Absetzen.
Es kam die Treppe herauf, ging empor nach dem Zimmer des Hausherrn.
Atemlos hatten die Frauenzimmer gelauscht.
„Da haben wir das Unglück, das sich durch die Sprüche angezeigt hat,“ sagte Fieke, welche stets zuerst die Sprache wieder bekam.
„Nein!“ lachte Kiliane gewaltsam auf, nachdem sie zum Fenster hinaus geschaut hatte. „Da haben wir die Husaren. Zwei halten die Hauspforte besetzt mit gezogenen Säbeln.“
„Zwei bewachen uns,“ flüsterte Fieke, durchs Schlüsselloch lugend.
„Was mögen sie wollen?“ fragte beklommen die Hausfrau.
Die durch das ganze Haus dröhnende Stimme ihres Gatten gab Antwort: „Der Herr Rittmeister bringt mir den Befehl Seines Herrn, des Herzogs von Weimar, daß ich denselben in das Kirchengebet schließen soll als Oberherrn dieser Stadt und Landschaft? Ich habe meinem Herrn, dem Fürsten von Schwarzburg, Treue geschworen und diesen Eid breche ich nicht. Das vermelde der Herr Rittmeister Seinem Herrn. Und damit: Gott befohlen.“
Die Schritte kamen die Treppe wieder herab, aber ganz flott und leicht. Die schroffe Abfertigung bekümmerte den jungen Offizier offenbar wenig.
Ein Kommando, mit klingender Stimme gegeben, und die Husaren marschierten ab. Dann fragte dieselbe Stimme das zusammengelaufene Gesinde: „Ist es dem Rittmeister von Krainsberg erlaubt, der Frau Superintendentin seinen Respekt zu bezeigen?“
Die Hausfrau faßte sich. Es war am klügsten, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Sie ging dem Eindringling entgegen und bat ihn, näher zu kommen.
Mit klirrendem Schritt, verbindlich sich verbeugend, trat er über die hohe Schwelle.
[699] Sobald der Rittmeister sporenklirrend auf der Schwelle erschien, ertönte ein Schrei. Bärbchen Marei, die der Thür zunächst stand, erkannte den kecken Kriegsmann, der sie attackiert hatte, und flüchtete. Die anderen Mädchen folgten ihr, in der fernsten Ecke der Stube drängten sie sich ängstlich zusammen.
Und er war doch so schön in der ganzen Pracht seiner Ausrüstung: mit dem rotea goldbetroddelten Dollmann, dem Säbel und der gestickten Säbeltasche, den bequasteten und bespornten Reiterstiefeln.
„Pardon! o Pardon!“ rief er, halb lachend, halb bestürzt über den Erfolg seines Sturmlaufes. „Meine Intention ist nur, sabmissest der Demoiselle Braut meine Gratulation zu Füßen zu legen.“
Seine Augen musterten den Knäuel junger Mädchen. Verdammt! da war auch die kleine Kantorin. Und das Schätzchen des riesenhaften Grobians. Aber welche mochte die Braut seines Hauswirtes sein? Sie waren alle bildhübsch.
Die Mädchen sahen ihn wieder an, aber nur mißirauisch, höchstens neugierig. Alle die kleinen Festungen hinter den Fischbeinleibchen waren ja schon besetzt; der Subkonrektor hatte sich sogar in zweien derselben verschanzt. Unglaublich für einen roten Husaren!
Aus dem Nebenkabinett, wo die Dreifußterrine stand, drang ein Wispern.
Herr Struve war durch eine Seitenthür dort eingetreten und obgleich er sich innerlich empörte über den Husarenstreich, war doch in seiner Zusprache ebenfalls von guter Miene die Rede.
Die Rehaugen seiner Braut sahen klagend zu ihm auf. Sie war entrüstet, daß sie sich so zur Schau stellen sollte. Dann kam ein Zug von unbeugsamer Entschlossenheit in ihr Gesicht.
Sie ergriff mit der ihr eigenen Zierlichkeit den Zinnteller, auf den ihre Mutter ein hohes Glas voll schäumenden Glühweines stellte, und ging kerzengerade in die Visitenstube auf den Gast zu, der bereits etwas betroffen auf die junge Mädchenschar blickte.
„Die Braut bittet, ein Glas auf ihr Wohl zu trinken,“ sagte die Hausfrau, ihre Tochter vorstellend. Bei dem Aufleuchten der schwarzen Augen des Fremden flog ein Lächeln befriedigter Muttereitelkeit über ihre immer gefaßten Züge.
Mit Staunen haftete der Blick des jungen Mannes auf der reizenden Gestalt im hellgleißenden halbseidenen Kleid, dessen eingewebte Mohnblüten nicht träumerischer aussahen als das unbewegte Gesichtchen, nicht röter waren als der süße Mund. Und diesen kleinen Mund durfte der trockene korrekte Sekretarius küssen, wann und so viel er wollte? Mille tonnerres!
[702] Hol’ ihn dieser und jener! dachte Struve, an den nun auch die Reihe kam, eifersüchtig zu sein. Hatte er sich noch nicht satt gesehen?
Nein; noch lange nicht. Aber sein Mundwerk kam wieder in Gang. Das Glas mit zartem Finger ergreifend, sprach er, galant sich verneigend: „Wolle die Demoiselle mich exküsieren wegen meines Einfalles in die bräutliche Festivität. Das bringt der Krieg so mit sich. Und da Hochehrwürden seinem Herzen Luft gemacht hat, so hoffe ich, die Affaire wird demselben keinen Schaden thun.“
Er harrte eines höflichen Wortes; aber Magdalena blieb stumm.
„Ich bin hoffentlich nicht zu früh gekommen,“ fuhr er eifrig fort, „habe die Demoiselles nicht derangiert in Ihrem Geheimbunde? Sonst müßte ich mich sofort entfernen.“
Sie schwieg und begann langsam rückwärts zu gehen.
Eine Röte stieg in sein Gesicht. Das Glas hebend, sagte er: „Will die Demoiselle mir die Ehre erzeigen, einmal mit mir anzuklingen auf Ihr zukünftiges Wohlbefinden?“ Er wollte ein Ende machen, trinken und gehen. Er hatte genug von der schönen Braut.
Ohne einen Laut von sich zu geben, mit steifem Knix zog sie sich zurück.
Die Mutter zupfte sie verstohlen an der Spitzenmanschette, ihr Bräutigam räusperte sich, leise mahnend – ohne Erfolg.
Der Husar strich sich über die Stirn.
Da rauschte plötzlich ein schweres Seidenkleid durch die Gruppe der atemlos lauschenden Mädchen. Kiliane, die bis jetzt hinter ihnen auf dem krummbeinigen Kanapeechen gesessen und vor unterdrücktem Lachen eine Rose zerbissen hatte, chassierte hervor.
„Monsieur verlangt zu viel,“ sagte sie mit mutwillig sprühendem Blick. „Die Demoiselle Braut ist viel zu sittsam, als daß sie sans façon mit einem fremden Kavalier an das Glas klingen würde. Da meine Wenigkeit aber, außer der Dienstbarkeit als Hoffräulein bei der Frau Fürstin, frei ist wie der Falter, der durchaus die Flügel an der Kerze dort sich verbrennen will, so biete ich mich als Ersatz.“
Aufatmend wandte sich der aus der Klemme befreite Husar ihr zu.
Welch reizende Blondine, und welch feines Benehmen! Dieser Knix, bei dem sie den Fächer an beiden Enden faßte und hoch hob, als könnte er sonst in der Flut des blauen Damastkleides versinken!
Hofleute erkennen sich an solchen geheimen Zeichen wie die Rosenkreuzer.
Während sie mit dem Glas, das ihr Struve eiligst präsentiert hatte, an das des Offiziers stieß, neckte sie: „Hält das weimarische Heer die Augustenburg keiner Eroberung wert? Wir haben noch keinen der feindlichen Helden zu sehen bekommen.“
„Bisher hat es Ihrer Durchlaucht nicht gefallen, uns zu empfangen. Aber heute nachmittag haben wir die Nachricht bekommen, daß wir morgen unsere Aufwartung machen dürfen. Also wird nunmehr die Belagerung beginnen. Und wir werden nicht eher ruhen,“ erklärte er feurig, „bis sich die Burg auf Gnade und Ungnade ergeben hat.“
„Giebt es kein Lösegeld, das uns frei machen könnte, wenigstens von der Ungnade?“ lachte sie übermütig.
„Was würde die schöne Besatzung bieten?“ fragte er unternehmend und strich den Bart in die Höhe.
Kiliane lächelte und lugte unter ihrem Fächer hervor ihn an. Dann küßte sie die Spitze desselben und warf ihm mit einem schmachtenden Blick gleichsam den Hauch zu.
Ein dunkles Rot schoß ihm in die Stirn; die schwarzen Augen blitzten sie fast wild an.
Die jungen Mädchen saßen erstarrt über dieses Kunststück. Da ging einem ja der Atem aus. Das war etwas anderes, als wenn der Ratskämmerer um ein Küßchen in Ehren bettelte und dann schmatzte, daß es durch die ganze Stube knallte.
Bärbchen Marei warf einen schelmischen Blick auf ihn. Das sollte ein Kuß sein? Das geschah ihm recht.
Den Rittmeister machte es ganz toll.
Er ward so beredt, daß die bei der Bewirtung der Gäste helfende Fieke sich sagte: so hängt also die Schwadron und der Schwadroneur zusammen. Und er pokulierte, daß die Hausfrau meinte, der unerschöpfliche Krug von der Hochzeit zu Kana würde heute bei ihr sehr am Platze sein.
Sie atmete auf, als sie melden konnte, die Portechaise harre wieder draußen auf das Fräulein.
Kiliane verstand, lachte und erhob sich.
Fieke, die dem tollen Treiben Kilianes mit weit aufgerissenen Augen zugeschaut hatte, flüsterte, ihr das schleppende Gewand nachtragend: „Aber Fräulein! Sie hat sich doch ein Eichhörnchen gegossen!“
Kiliane lachte, fast schrill klang es. „Ich kann doch nicht in einem hohlen Eichbaum wohnen, und Deinem Eichhörnchen wird nicht viel mehr bleiben, Schneiderchen. Lustig leben! Zum Sterben, ob selig oder unselig, wird mir schon Zeit und Gelegenheit werden.“
Unter Geplauder entfernten sich auch die andern jugendlichen Beistände des Abends.
Struves Hand strich über Magdalenes feine Brauen. „Warum ist mein Herzenstrost so ernst?“
„Herr Sekretarius,“ zwitscherte der Bachin Stimmchen dazwischen, „kann Er mir und meinem Bastel nicht die Erlaubnis verschaffen, daß wir in Dornheim bei unserem alten Gevatter Pastor getraut werden dürfen? Da braucht’s keinen großen Staat und Schmaus.“
„Ich will thun, was ich vermag,“ verhieß eilig Struve. „Bekomme ich keinen rechtschaffenen Kuß zum Abschied?“ fragte er zärtlich Magdalene.
„Darf ich von der Demoiselle Braut mich konzedieren?“ klirrte der Rittmeister dazwischen, immer die Augen auf Kiliane gerichtet.
Magdalene spendete einen letzten stummen Knix.
„Nun, mein geliebtes Herz?“ flüsterte Struve.
Sie lehnte das Haupt an seine Brust.
„Herr Sekretarius,“ rief Kiliane, mit dem Husaren davon gehend, „darf ich Seine Ritterdienste in Anspruch nehmen?“
Da stampfte Struve mit dem Fuß auf, küßte Lenchen schnell und herzhaft und folgte dem Hoffräulein.
Ein Diener mit der Stablaterne voraus, das Verdeck der Portechaise zurückgeschlagen, daß das gepuderte Haupt des Hoffräuleins Platz hatte, so setzte sich der Zug in Bewegung.
Nebenher schritt Krainsberg, eifrig zu dem auf den goldgelben Kissen sich wiegenden Fräulein hinein redend; ihr lachendes Antlitz, der weiße Hals, die runden Arme leuchteten aus der Dämmerung, umschwebt von dem Duft welkender Rosen.
Struve, Hut und Stock in der Hand, folgte ihnen in gemessener Entfernung, in träumerisches Gedenken an den letzten Kuß versunken.
Da vertrat ein einsamer Nachtwandler, der auf den kurzen Gräsern des Pfarrhofes lautlos auf und ab spaziert war, den Dahinziehenden den Weg.
Sie hielten an. Der Kammerjunker von Eichfeld stand mit gezogenem Hut an der anderen Seite der Portechaise.
Kiliane bog sich mit hochfahrendem Aufwerfen des Köpfchens heraus. „Woher so spät?“
Das Wort versagte ihm. Seine Augen starrten den Husaren an. „Ich kam, das Fräulein von Heymbrot durch die jetzt feindlich besetzte Stadt zu geleiten,“ sagte er endlich in heiserem Tone.
„Wenn das Fräulein vom Rittmeister von Krainsberg geleitet wird, ist es geschützt genug,“ rief scharf der Husar, indem er nachlässig grüßte.
Auch der andere schwenkte nur leicht seinen Dreispitz und erwiderte ebenso schroff: „Aber der Kammerjunker von Eichfeld ist dazu berufen.“
Sie neigte sich gegen beide. „Mein Heimweg wird um so plaisanter sein.“
Der kleine Zug ging weiter.
„Wo werde ich morgen dem Fräulein meine Aufwartung machen dürfen?“ fragte Krainsberg.
„Morgen mit dem Frühesten wird das Fräulein auf die Augustenburg zurückkehren müssen,“ entgegnete Konrad mit bebenden Lippen. „Ihre Durchlaucht wünschen, daß der Hofstaat vollzählig sei für die Assemblee, die bei uns bevorsteht.“
Krainsberg verbeugte sich spöttisch. „Der Herr Kammerjunker bringt willkommene Botschaft. Die Assemblee findet uns zu Ehren statt.“
[703] „Wir werden also den Feind mit Lustbarkeiten besiegen,“ sprach Kiliane kokett zu Krainsberg.
Krainsberg lachte ausgelassen. „Wenn wir nur nicht auch mit Puppen spielen sollen! Es wird uns erzählt, Ihre Fürstin bossiere Wachspuppen, und sogar Männer müßten ihr dabei helfen. Dafür würden wir uns meiner Treu unterthänigst bedanken.“
„Ohne Sorge!“ erwiderte sie spöttisch. „Die Mühewaltung für die Wachsfiguren bleibt unseren Kavalieren vorbehalten. Als Ritter ohne Furcht und Tadel werden sie Wache stehen, daß der gefährliche Husar die Puppen nicht versehrt.“
„Kiliane!“ rief Konrad. Es war ein Ton in seiner Stimme, den sie noch nie gehört hatte, vor dem sie bis ins Herz erbebte.
Auch Krainsberg horchte auf. So vertraut und so wild? Tant mieux! Der Spaß war um so größer!
Jetzt hielt die Portechaise vor der Hauspforte des Kanzlers, und beide Herren streckten die Arme hinein, um das Fräulein heraus zu heben, zuversichtlich der Rittmeister, totenblaß Konrad.
Sie gab jedem eine Hand und ließ sich von beiden bis an die Thür führen.
Dann knixte sie, vor dem Rittmeister mit verheißungsvoller Süßigkeit, und mit grausamem Lächeln vor dem Junker, während die Diamantnadel auf ihrem Toupet mit flirrendem Blitz dem zuckenden Wetterschein antwortete.
Als aber Struve herantrat, erwiderte sie seine gemessene Verbeugung mit fast furchtsamer Scheu und flog schnell wie ein schillernder Ballon ins Haus hinein.
Mit grellem Geläut schloß sich das Thor.
Schadenfroh lachend funkelte Krainsbergs Blick in das Gesicht des Junkers. Der Verteidiger der Wachspuppen!
Da war es, als erstarrten die beweglichen Züge Konrads; sie schienen plötzlich von Eisen zu sein. Die grauen Augen bohrten sich fest und kalt in die seines Gegenübers, daß diesem das Lachen verging und statt dessen eine zornige Röte in das Gesicht stieg.
Struve trat dazwischen und sagte trocken: „Das Thor der Neidecke, wo der Herr Kammerjunker nächtigt, wird sogleich geschlossen werden. Und in meinem Hause findet der Herr Rittmeister auch niemand mehr wach, wenn ich zu Bett gegangen bin. Ueberdies wird das Gewitter bald losbrechen.“
Stumm und förmlich grüßten alle Drei und gingen nach ihren Wohnungen.
Noch war es heller Tag, als von allen Seiten der Zuzug zu dem Rokokoschlößchen der Fürstin begann.
Zuerst erschienen die Mitglieder der Hofkapelle, die aufgeboten worden waren, um die Assemblee zu verherrlichen: die Hofprofessionisten, denen es als Nebenamt auferlegt war, ein Instrument zu spielen, der Stadtpfeifer aus der Residenz mit seiner Zinke und den Lehrjungen, die Kantoren von nah’ und fern, die Geige unter dem Arm oder die Baßviola auf dem Rücken.
Natürlich zu Fuß; denn Reisevergütung wurde nicht gezahlt. Die Korn- und Küchenschreiber des Hofhaltes vervollständigten die Musik mit Laute und Gambe, die Leibjäger mit Trompeten.
Auf Feldwegen nahten Staatskarossen mit den Familien des Landadels; aus der Stadt her wankten knarrende Kutschen mit den Honoratioren, die den Ratstitel führten.
Im Festsaal unter dem Thronhimmel stand in Hermelinmantel und Diadem die Fürstin, vor welcher die weimarischen Offiziere defilierten. Fernher schien das Komplimento zu tönen, welches die Musikanten anhoben, die in Heiduckenlivree die Galerie füllten unter Führung ihres Kapellmeisters, der zugleich der Kammerdiener der Fürstin war.
Mit ihren Gedanken weitab von dem festlichen Treiben stand Kiliane unter den Festgästen. Beim Durchschreiten der Korridore auf dem Wege zum Saal war ihr Severin begegnet und sein unheimlicher Blick hatte sie verstört.
Eine dreiste Stimme schreckte sie auf. „Endlich wird mir das Glück zu teil, meine Huldgöttin wieder zu sehen.“ Krainsberg stand vor ihr. In seinem Blick war nichts von der Unterwürfigkeit einer Göttin gegenüber zu lesen, sondern die Erinnerung an den Fächerkuß. „Ich habe auf dieses Zusammentreffen gehofft wie auf meine Seligkeit.“
„O, auch bei uns giebt es manche, die nichts sehnlicher wünschen als ein Zusammentreffen mit den Herren Feinden,“ rief eine erregte Stimme. Es war Eichfeld, der aus dem Kreis der Hofherren dem Rittmeister entgegentrat.
„Und das wird uns sicherlich noch oft bevorstehen,“ bog Kiliane süß lächelnd dem Wort die Spitze ab.
Krainsberg, der auf Eichfelds Rede seinen Bart herausfordernd in die Höhe gedreht hatte, wandte sich wieder zu ihr. „Wer weiß!“ sagte er. „Schnell wie wir kamen, sind wir vielleicht wieder fort. Es liegt etwas in der Luft. Aber wir nehmen Geiseln mit. Und ich werde vorschlagen, statt eines gelehrten Rates, der die hiesigen Gesetze kennt, lieber ein schönes Fräulein zu entführen.“
Zornrot fuhr Eichfeld auf.
„Will der Herr Kammerjunker eine kleine Erfrischung besorgen?“ befahl sie über die Schulter.
Eichfeld ging zögernd.
„Geiseln?“ wendete Kiliane sich rasch an Krainsberg. „Wie meint der Herr das?“
„Ich will es dem Fräulein erklären, wenn Sie mir morgen vormittag die Ehre gewähren wollen, mich zu empfangen,“ wisperte Krainsberg ihr ins Ohr.
„Ich habe Dienst,“ wehrte sie ab.
„Leere Ausrede! Die Frau Fürstin schläft aus.“
Kiliane würdigte ihn keiner Antwort. Hinter ihr fragte der fremde Major den ersten Kammerherrn: „Also der Sekretarius Struve ist die Seele der hiesigen – Pardon! – aufstutzigen Regierung?“
Der Kammerherr wurde zur Linie; der goldne Schlüssel schwebte obenauf.
„Ein aller juristischen Finessen kundiger Mann, der den Herren in Weimar gute Dienste leisten wird, wenn man ihn dort zum Reden bringen kann,“ sagte er höhnisch lachend. „Schade, daß man nicht“ – er machte die Bewegung des Ansetzens der Daumenschrauben.
Kiliane zuckte zusammen und lugte von der Seite nach der Gruppe hinüber. War das nicht Verachtung in den alten Soldatenaugen?
Geisel – Entführung – Struve – reihten ihre Gedanken aneinander. Welcher Sinn lag in den Andeutungen? Sie vermochte ihn nicht zu erraten; aber so viel stand fest: ihrem Jugendfreund drohte eine Gefahr und gerade jetzt, da er Hochzeit halten wollte.
Eichfeld kehrte zurück, gefolgt von einem Lakaien, der auf einem Kredenzteller kleine vergoldete Gläser mit nach Ambra duftendem Wein und kühlende Himbeerlimonade darbot.
„Mir nicht, aber hier,“ sagte sie mit zerstreutem Lächeln, auf den Rittmeister deutend, und entschlüpfte.
Die beiden jungen Männer standen sich gegenüber. Ein leises Auftreten des Fußes – ein unterdrückter Fluch – dann sahen sich beide mit den Kehrseiten ihrer Perücken an.
Kiliane wand sich durch die plaudernden Gäste. War keiner darunter, den sie mit einer Warnung für Struve betrauen konnte? Das war jetzt ihr einziger Gedanke.
Nein; die Räte waren alle gefügige Werkzeuge ihrer Herrschaft.
Rastlos weiter schweifte ihr Blick – hinauf zur Galerie, von der sich jetzt die Musik zurückzog.
Da verließ auch der junge Kantor Bach sein Cembalo. Kilianes Augen hafteten an dem starkkantigen Gesicht, dessen mürrischer Ausdruck sich ebensowohl dem Kleid der Dienstbarkeit als den vergoldeten Schnörkeln und anmutigen Amoretten der Balustraden widersetzte. Und ihre Gedanken spannen einen Faden zu der Braut des Kantors, die so zutraulich beim Fest in der Superintendentur mit Struve geplaudert und irgend eine Bitte an ihn gehabt hatte. Dann schlug sie die Reifen übereinander, nahm das weite Kleid zusammen und eilte die Hintertreppe hinab.
Bach hatte in der jetzt leeren Stube im Unterstock sein Heiduckenhabit als Hofmusikant mit dem ehrbaren Kantorenrock vertauscht.
Da huschte Kiliane zur Thür herein. Hastig sagte sie: „Kennt Er den Sekretarius Struve?“
[704] „Zu dienen,“ erwiderte Bach. „Er ist ein Herr von großen Meriten; ich bin ihm zu Danke verpflichtet.“
„Dann wird Er ihm wohl gern einen Dienst erweisen,“ sprach sie rasch weiter. „Hat Er ein Papier bei sich? Einen Griffel? Er ist doch ein Stück Schulmeister.“
Bach suchte in seinen Taschen; ein beschriebenes Notenpapier kam zum Vorschein.
„Ein Stückchen Chaconne; es fiel mir auf dem Herweg ein. Vielleicht könnte das Fräulein zwischen die Notenlinien schreiben.“ Er zögerte doch.
Sie nahm es rasch weg und schrieb eilig: „Sei der Herr Sekretarius auf Seiner Hut. Es drohen Ihm Gefahren. Unternehme Er morgen nach der Hochzeit eine kleine Lustfahrt mit Seiner jungen Frau. Nur über die Grenze.“
Wunderlich standen über dem Warnungsruf auf- und abjagende Zweiunddreißigstel und zitternde Arpeggien.
„Uebergebe Er den Zettel noch heut’ dem Sekretarius, und wenn dieser selbst wegen des Polterabends abwesend ist, einem seiner Leute. In dem Hause sind alle treu.“
Bach steckte das Papier ein.
„Vergesse Er es nicht!“ mahnte sie.
Sebastian schüttelte lächelnd den Kopf. „Ich denke schon an meine Chaconne.“
Sie schlich wieder davon.
Als sie nach der Hintertreppe einbog, prallte sie zurück; der schmale, schwarze Schatten, der jetzt immer ihren Weg kreuzte, stand an den Pfeiler geschmiegt.
Sie eilte der Haupttreppe zu.
Dort klirrte es ihr entgegen. „Endlich treffe ich Sie allein,“ flüsterte es heiß in dem dämmerigen Aufgang, und der Husar streckte den Arm nach ihr.
Sie bog aus. „Fort! fort! Sein Major sucht Ihn.“
Im nächsten Augenblick stand Eichfeld neben ihr, faßte sie an der Hand und riß sie mit sich fort.
Sie hörte seinen keuchenden Atem. Sie wollte sich losmachen; wie Eisenklammerm hielten sie seine Finger.
Droben waren alle Korridore, alle Gemächer voll Menschen, voll gesellschaftlichen Treibens. Von der Eingangsrotunde führte eine Thür auf den Balkon.
Er stieß sie hinaus und warf die Thür hinter sich zu.
Sie wollte sich widersetzen, wollte ihn wie gewöhnlich zur Seite schieben – sie vermochte es nicht.
Hochaufgerichtet stand er. Selbst in der dämmerigen Nacht sah sie seine großen grauen Augen blitzen. Mit klingender Stimme sprach er:
„Das Fränlein kann sogleich gehen, wohin Ihm beliebt. Aber vorher will ich einmal sagen, was mir auf dem Herzen liegt. – Ich habe Sie geliebt, bis zur lächerlichen Blindheit hat meine Seele an Kiliane von Heymbrot gehangen. Meines altväterischen Hauses habe ich mich geschämt – und das Haus hätte sich Ihrer schämea müssen; denn kein leichtfertiger Frauenfuß ist je über die Schwelle geschritten. Verkaufen wollte ich meinen Hof, wo selbst die Tiere treue Herzen haben, verkaufen um eines Frauenzimmers willen, das mit jedem karessiert!
Aber die Augen sind mir aufgethan worden, Gott weiß allein, unter welchen Schmerzen. Ich schüttle den Staub von meinen Füßen und gehe heim unter mein Dach, das ich sträflich in meinem Wahnsinn mit Schulden beladen habe. Durch meiner Hände Arbeit will ich gut zu machen suchen, was meine Thorheit verbrochen hat. Ich will gern die Sense selbst schwingen, damit meine Hände rein werden davon, daß sie Ihnen die Schleppe nachgetragen haben, ich will mit Frost und Hitze, mit Sturm und Regen kämpfen, auf daß der ekle Duft von Ihrem parfümierten Puder aus meinem Atem weicht. Gott sei gelobt, daß es noch eine Sühne für mich giebt.“
Er wollte gehen, aber ihre Finger krampften sich in seinen seidnen Rock.
Die zornige Glut auf ihren Wangen war einer Totenblässe gewichen.
„Nun höre der Junker auch mich,“ kam es tonlos von ihren Lippen.
„Sollte ich den Mann ehren, der sein Vaterhaus verleugnete, sich seiner schämte bis auf den alten Schlüssel herab? Ein Vaterhaus! Ich habe es verloren, als ich kaum denken konnte. Aber die Erinnerung ist mir geblieben, heiliger als die Kirchen, ehrfurchtgebietender als Eure Schlösser. Hätte ich ein solches vom Himmel zugeteilt bekommen, die Hände hätte ich blutig arbeiten wollen; mit dem ärmsten Dach wäre ich zufrieden gewesen. Hinaus bin ich gestoßen worden, uud wenn etwas mich bewahrt hat davor, die Verworfene zu werden, für die der Junker mich hält, dann war es das letzte Bild aus meinem Vaterhaus: meine Mutter am Spinnrad. Ich habe es dem Herrn ja gesagt, aber er war weit entfernt davon, das Rätsel zu erraten, daß das Fräulein von Heymbrot nichts weiter ersehnt als ein ehrliches Heim und das tägliche Brot.
Den Weg, auf dem ich jetzt war, bin ich gegangen, um einen braven Mann zu warnen. Den einzigen Mann, der mir in meinem elenden Leben seit meines Vaters Tode begegnet ist.“
Sie hielt inne. Ein leises Klopfen tönte heraus. „Hört der Junker? Das Klopfen des Hofmarschallstabes; ich bin darauf dressiert, wie der Hund mit dem Stachelhalsband.“
Sie eilte hinein.
Er lehnte totenblaß, wie geblendet von der Offenbarung, die ihm geworden war, an der Karyatide, die das verschnörkelte Thürsims trug.
Kiliane kam schwankenden Schrittes in den Saal.
Sie bemerkte den ernsten Blick der Oberhofmeisterin nicht. Schon stand alles im Kreis.
Der Husar klirrte mit der Sicherheit des siegreichen Eroberers an sie heran. „Das Fräulein hat mich ohne Antwort gelassen. Also morgen früh werde ich meine Aufwartung machen.“
Ehe sie „Nein“ sagen konnte, war er fort. –
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Die Assemblee war zu Ende. Kiliane hatte, mit Mühe ihre Aufregung bemeisternd, ihr Zimmerchen erreicht. Dort sank sie zusammen.
Fieke, die am Morgen mit dem Küchenwagen herausgekommen war, um dem Fräulein ein Staatskleid aufzufrischen, lief erachrocken herzu.
Vergeblich trug sie Wasser herbei, besprengte das Fräulein mit Eau de Lavande.
Kiliane blieb auf den Knieen liegen, laut weinend, die Hände ringend. Mit Mühe brachte das Schneiderchen sie aus dem Hofkleid in ihr Nachtgewand.
„Jammert Sie um den Husaren?“ fragte Fieke.
„O Thorheit!“
„Hat der Junker Ihr etwas gethan?“
„Der geht fort und wird ein braver Mann auf dem Erbe seiner Väter.“
Weitere Auskunft gab die Schluchzende nicht und nun weinte Fieke mit ihr, da sie nichts anderes thun konnte. Sie betete auch und schlief endlich auf einem Bündel abgelegter Kleider, die blauseidnen Pantöffelchen als Kopfpolster, ein, während Kiliane mit verzweifelten Augen in die Nacht hineinstarrte.
Das war nun das Ende von ihrem gepriesenen Maskenspiel. O wie sie es bereute! Spöttisch, kokett, gefühllos hatte sie sich gezeigt, weil das die Waffen waren, die das schutzlose Mädchen bewahrten vor der Geringschätzung, vor dem demütigenden Mitleid, das sie nicht ertragen konnte.
O, wie falsch war ihr Stolz gewesen!
Um von ein paar Hofleuten, diesen vergoldeten hohlen Nüssen, nicht hochmütig angesehen zu werden, hatte sie ihr wahres Gesicht verborgen, ihr Glück damit verscherzt.
Struve hatte recht gehabt mit seiner Warnung. Jetzt sah sie es: ihre Larve hatte Eichfeld dahin gebracht, sich anders zu zeigen, als er war.
Und wie immer das Böse sich des Menschen bemächtigt, ihn fortreißt, da er noch meint, es beherrschen zu können, so hatte sie ihn zuletzt zur Verzweiflung gebracht mit ihrem Spiel, das sie, selbst verzweifelnd, getrieben.
Und dann fielen ihr die letzten Worte des Husaren ein; jetzt erst wurde ihr der Sinn derselben klar. Eine neue Schlinge, die sie sich selbst geknüpft hatte, zog sich zusammen. Sie stöhnte auf.
Da huschte es draußen fort, leise gleitend.
[720] Die Sonne brannte schon am Morgen heiß auf den Schloßgarten hernieder.
Der Kies der Wege blendete grell; von dem mit leichtem Dunst überzogenen Himmel hoben sich dunkel der Walpurgisberg, die graue Kevernburgruine ab. Durch die entlegensten Gänge stürmte Eichfeld. Hier kam doch zuweilen ein frischer Hauch über die Mauer von der Feldluft, durch das schmiedeeiserne Gitterthor drang das Flüstern der Erlen und Weiden, die draußen den kleinen Graben begleiteten, der die Wässerchen entführte, die drinnen in Bassins und Grotten ihre Künste machen mußten.
Er hatte diese Nacht gemeint, ersticken zu müssen. Und dabei sich nicht rühren dürfen, ohne die Witze des neben seinem Zimmer wohnenden Kammerherrn zu wecken.
Von seinen Gefühlen hin und hergeschleudert, glaubte er dem Wahnsinn nahe zu sein.
Die Lösung des Rätsels, das ihm Kiliane einst aufgegeben, hatte ihn wie ein Donnerschläg getroffen. Bei dem Gedanken daran stieg ein heißer Quell von Liebe in seinem Herzen auf.
Reue übermannte ihn wegen seiner Roheit gegen sie. Er mußte ihre Verzeihung zu erflehen suchen.
Dann sah er wieder die blitzenden schwarzen Augen des Husaren im koketten Spiel mit ihrem Lächeln und Fächerwinken – wie konnte sie ihm das thun, wenn sie je einen Funken von Neigung für ihn gehabt hatte? O nein; nie gab sie ihm einen kleinen Beweis von Liebe, nie! Verspottet, verhöhnt hatte sie ihn, sein Herz mit Füßen getreten!
Sein Fuß stockte. Hölle und Teufel! Dort vor dem Marstall führt ein Reitknecht einen Schimmel umher. Das Blut schießt ihm in den Kopf, daß er einen Augenblick alles rot sieht. Die Hand ballt sich.
Mit ein paar Sätzen ist er im Schloß, fliegt die Treppe hinauf nach den Wohnungen der Hoffräulein.
„Mort de ma vie!“ tönt ihm die Stimme des Husarenoffiziers entgegen, „glaubt das Fräulein den Rittmeister von Krainsberg an der Nase führen zu können?“
„Aber das Frölen leidet am Herzschlag,“ wehrt Fieke ab, „und kann den Herrn nicht sprechen.“
„Mille tonnerres! Ich habe mich gestern angemeldet und gedenke, nicht lange zu antichambrieren,“ lautet die ungeduldige Entgegnung. „Sage Sie dem Fräulein, der Rittmeister von Krainsberg werde – “
„Sofort dem Kammerjunker von Eichfeld Rechenschaft geben, was er hier im Schloß zu kommandieren hat,“ fällt der auf der Treppe auftauchende Konrad atemlos vor Wut ein.
Krainsberg fährt herum! „Was hat der Herr hier hinein zu reden?“
Sie stehen sich gegenüber, glühend, mit den Blicken sich durchbohrend.
Die Thür von Kilianes Zimmer geht auf. Sie erscheint, verweint, noch im weißen Morgenkleid, die Hände erhebend.
Die jungen Männer sehen sie gar nicht, stieren nur einander an.
Sie wirft sich zwischen sie; doch die Wütenden stoßen sie zurück, daß sie taumelt, stürmen fort, den Korridor entlang.
Kiliane will ihnen nach.
Da klafft plötzlich die Wand. Ein Schatten wie ein schwarzer Strich liegt über ihrem Weg.
Severin steht vor ihr. „Da spießen sich Zwei dem Fräulein zu Ehren auf.“ Die sonst so bestrickende Stimme klingt ihr wie scharfes Schlangenzischen.
Und doch ringt sie in der Todesangst die Hände zu ihm empor. „Kann niemand helfen?“
„Helfen kann nur das Fräulein selbst,“ flüstert er.
„Wie? um der Barmherzigkeit willen, wie?“
„Wenn Sie dem Beispiel der frommen Gertrudis folgen,“ ist seine Antwort.
Sie zuckt zusammen. Da ist das Schicksal, das sie umgarnt hatte, und nun seine Ringe zusammenschließt. Wie bei einer Ertrinkenden ziehen in einem Augenblick alle Erinnerungen an ihr vorüber, die ihr heilig sind: die Mutter, die ihr am Martinsabend ein buntes Lichtchen anbrannte; deutlich hört sie die ehrwürdige Stimme ihres Vaters singen: „Erhalt’ uns Herr bei Deinem Wort.“
„Ich kann nicht,“ ächzt sie.
Severin lauscht hinab, während seine Augen sie wie in eisernen Klammern halten. „Sie stürmen in den gelben Saal. Sie haben es eilig, sich den Garaus zu machen.“
„Nehmt das Opfer hin,“ schreit sie auf. „Ich kann, ich will Konrad nicht sterben sehen.“ Und wie tot fällt sie vor ihm nieder. – Besinnungslos vor Zorn hatte Eichfeld die Thür zum gelben Saal aufgerissen.
Sie fuhren hinein. Nur allein sein, nur so schnell als möglich die Sache zur Entscheidung bringen.
Sie standen sich gegenüber, über die Schulter die Blicke einander zugewendet, die Hand am Degengriff – es war schon die Fechterstellung.
„Hat der Herr Kammerjunker ein Anliegen an mich?“
„Hat das der Herr Rittmeister endlich begriffen?“
„Herr!“
„Herr!“
Die Klingen sausten aus der Scheide. Keiner dachte mehr daran, wo er war.
Da blendete plötzlich ein Lichtstrahl ihre Augen. Er kam vom Spiegel, der sich herumwirbelte. Fieke stürzte aus der dunklen Höhlung.
„Um Gotteswillen, zu Hilfe! Das arme Frölen! Ja, sehen die Herren mich nur an! Sie sind schuld daran, daß das arme gute Herz eingesperrt wird. Eben hat sie der lange Schwarze fortgeführt. Sie geht ins Kloster, weil sie ihren Konrad nicht sterben sehen will.“ Sie weinte laut auf.
„Was sagst Du da?“ schrie Konrad, sie am Arm schüttelnd.
„Weil sie Ihn nicht sterben sehen will,“ wiederholte Fieke. „Laß Er mich los. Ich bin nicht verrückt und habe es selbst gehört. Aber Er ist verrückt und der rote Krebs da. – Ach, ich fürchte mich gar nicht, nicht einmal vor Märten, und was ist das für ein Kerl! – Der lange Severin hat mich in die Wand geschoben und gezischt: ,Die Treppe hinab! Wo Sie wieder mit der Nase vor die Wand rennt, dreht sich der Spiegel im gelben Saal. Da haben sie sich am Kragen. Bring’ Sie die Botschaft den beiden Narren‘ – mit Respekt zu vermelden. Dann faßte er sie an der Hand: ‚Folge das Fräulein mir zur Frau Fürstin!‘“
„Ins Kloster, weil sie mich nicht sterben sehen will,“ murmelte Eichfeld, der sich, noch ganz betäubt, auf seinen Degen stützte.
„Ins Kloster?“ rief Krainsberg, starr vor Staunen.
Die Thür öffnete sich. Hofdamen und Herren glitten herein, wunderlich noch in Pudermänteln, ohne Perücken. In den Gesichtern neben der gebotenen höfischen Bestürzung: Neugier, Schadenfreude.
„Endlich hat sich der Plagegeist selbst gefangen,“ sagte voll unverhohlener Bosheit der erste Kammerherr. „Nun wird man ihr die langen blonden Haare abschneiden, mit denen sie bis Mittag herumkokettierte.“
Die Oberhofmeisterin keuchte atemlos herein. „Sie ist eben in die Kapelle geschlossen worden und soll dort bis morgen im Gebet bleiben.“
Der Stallmeister flog an der offenen Thür vorüber. „Ich muß den Reisewagen in Bereitschaft setzen,“ rief er halblaut in den Saal; „morgen geht’s ins Kloster nach Erfurt.“
Eichfeld fuhr empor. „Niemals,“ kam es hallend von seinen Lippen, „so lange ein Atemzug in meiner Brust ist.“
„St!“ klang es ringsum, und alle Reifröcke machten eine Achtelsschwenkung von ihm fort.
Eichfeld lachte auf. „Was frage ich nach der Ungnade?“
„St!“ ging es wieder durch den Saal. Rings erhobene Hände, entsetzte Gesichter.
Verstört sagte Krainsberg, dessen Eifersucht durch den unerhörten Vorgang niedergeschlagen worden war: „Ich werde um Verzeihung bitten, daß ich mich hier im Schloß vergessen habe [722] und Fürsprache einlegen für das Fräulein“ – er hielt innc und horchte auf.
In die augenblickliche Stille tönte ein dumpfes fernes Rollen. Er stürzte an das Fenster. „Diantre! In der Stadt wird Lärm geschlagen. Was ist los? Und ich bin nicht im Quartier. Wo ist mein Pferd?“ Jetzt war er nur noch Soldat.
Er rannte fort. Ein paar Herren folgten ihm.
Er trug ihnen auf, seinen Abschied der Frau Fürstin zu vermelden. Wenn es möglich wäre, wollte er wiederkommen, für das Fräulein Fürbitte einlegen, dem Kammerjunker jede Satisfaktion geben.
Die letzten Worte verschlang der rasende Hufschlag des davonjagenden Schimmels.
Eichfeld ging festen Schrittes der Thür zu.
Da öffnete sie sich, und der Oberhofmeister trat herein mit strenger Miene, den Stab in der Hand: er kam im Dienst. „Ihre Durchlaucht befehlen dem Kammerjunker von Eichfeld, sich sofort auf der Neidecke in Arrest zu melden.“
Er neigte steif den Kopf und ging wieder, und wie Gespenster entschwanden auch die heiteren Kavaliere, die graziösen Dämchen: denn Ungnade steckt an wie die Pest.
Mit trotzig zusammengezogenen Brauen hatte Eichfeld dem Oberhofmeister gegenübergestanden. Als er aber jetzt nachwollte, hielt ihn Fieke fest.
„Sei Er kein Narr! Wenn Er auch die erbärmliche Hofschranze zusammenkuranzen kann, so rufen sie die Gardisten und machen Ihn gar zum Mönch. Denn Er ist kein Märten! Der freilich schert sich um keine Hofordnung, hätte den Hofmarschallstab mit zwei Fingern zerbrochen, den Mönchen den Hals umgedreht – nur so! Nee, und wenn ich mir denken sollte, Märten ginge ganz schafig in Prison, nur weil es die alte Hopfenstange gesagt hat!“ Sie lachte höhnisch auf. „Geh Er lieber statt in Arrest mit mir zu Superintendents! Vielleicht weiß Hochehrwürden Rat. Und das muß ich sagen: wir auf dem Pfarrhof haben Courage. Ich will die Hinterthür im Garten auflassen, damit Ihn niemand sieht. Also packe Er sein Felleisen! Ich muß auch fort. Wenn ich auch um den Polterabend gekommen bin, die Hochzeit kann ich nicht im Stich lassen.“ Sie schnürte ihr Bündel und machte sich auf den Weg.
Eichfeld stürmte nach seinem Zimmer. In seinen Schläfen hämmerte das Blut. Noch vermochten seine fiebernden Gedanken nirgends einen Ausweg zu finden.
In halber Betäubung packte er seinen Mantelsack; die ihm noch übrig gebliebenen Goldstücke barg er in der Brusttasche; achtlos flogen die Karten zu Boden, zwischen denen sie herumrollten.
Dann warf er sich auf ein Pferd und jagte gleichfalls der Stadt zu. – Durch die Fenster des Treppenhauses sahen Timotheus und Severin ihm nach, während sie langsam zu ihren Zellen hinaufschritten.
In Severins Augen funkelte Triumph.
Timotheus schüttelte den Kopf. „Lieber Bruder, wir sind hierher gesendet, um einer fürstlichen Frau geistlichen Beistand zu leisten, Du insbesondere, um ihrer harmlosen Beschäftigung die Weihe Deiner Kunst zu geben. Aber nicht liegt uns ob, um eines profanen Frauenzimmers willen uns in die Händel eines Husaren und eines Kammerjunkers zu mischen und vielleicht darob die ganze Landschaft in Aufregung zu versetzen. War es klug, wie Du gehandelt hast?“
„Darf man in solchem Falle nach der Klugheit fragen?“ erwiderte Severin schroff.
Ruhig, jedoch mit einem Blick, unter dem Severins Augen abirrten, fuhr Timotheus fort: „Wenn nicht nach der Klugheit, dann nach den Gründen, welche Dich und sie zu dieser Handlungsweise trieben. Werden sie bestehen vor dem Herrn? Es ist nicht das Schicksal der frommen Gertrudis, das sich hier wiederholt. Was dort ein reines Opfer war, ist hier eine Lüge um irdischer Leidenschaft willen. Und vermagst Du zu behaupten, daß Dein Thun von der menschlichsten Schwäche, der Eigensucht, frei war?“
„Eigensucht?“ fuhr Severin auf.
„Es ist auch Eigensucht,“ entgegnete Timotheus fest, „wenn wir etwas, das wir selbst nicht besitzen dürfen, einem andern nicht gönnen, ihm zu entreißen trachten.“
Das bleiche Gesicht des jungen Mönches wurde aschfahl. Er wandte sich mit einer zuckenden Bewegung ab.
Sie waren an ihren Zimmern angelangt.
Timotheus blieb stehen. Eindringlich sprach er: „Wenn Du der Frau Fürstin sagen wolltest, daß Dir Zweifel an dem Beruf des Fräuleins zum geistlichen Stand gekommen wären, so würde sie sich überzeugen lassen. Es ist weiser, einen übereilten Schritt zurück zu thun, als weiter eine Bahn zu verfolgen, auf welcher uns statt Segen Unheil erwachsen kann.“ Er begab sich in seine Zelle.
„Niemals!“ kam es zwischen den zusammengebissenen Zähnen Severins hervor, während er mit hartem Griff seine Thür zudrückte.
Je näher Krainsberg der Stadt kam, um so lärmender schallte ihm das Trommelwirbeln entgegen.
Schon sah er einzelne Züge der Grenadiere abziehen.
Der Major hielt auf dem Sammelplatz. „Zum Teufel! Wo steckt Er? Der Befehl zum Rückzug, den wir kommen sahen, ist eingetroffen. Die Agnaten des fürstlichen Hauses haben Einspruch gegen die Besetzung erhoben und ihre guten Dienste zu neuen Verhandlungen angeboten. Wir müssen heute noch die Landschaft räumen. Die Artillerie rückt jetzt aus. Er mit den Husaren bildet die Nachhut. Aber Er hat einen Herrn des Geheimen Rates mitzubringen als Geisel, einen in schwarzburgischen Sachen erfahrenen Mann, von dem Auskunft zu erlangen ist. Nach den Informationen, die ich eingezogen habe, ist der Sekretarius Struve geeignet dazu. Da ist das Schreiben, das Ihn legitimiert. – Allons, Kinder!“ wandte er sich an die nach und nach abziehenden Kanoniere.
Krainsberg war bei dem Namen Struve zurückgefahren. Aber Widerspruch gab es nicht.
Er jagte nach dem Halteplatz der Husaren. „Eine Kutsche requirieren! Ein Wachtmeister und sechs Kerls folgen mir!“
Am Struveschen Haus, das sie eben verlassen hatten, ritten sie wieder vor.
Da that sich die Thür auf, und der Herr Sekretarius trat heraus im Bräutigamsstaat mit goldbrokatener Weste und Sammetrock angethan, Hals und Hände von Spitzenwerk umkräuselt, den Hut in der Hand, auf der Allongeperücke den grünen Kranz. Er begab sich zur Hochzeit.
Dem jungen Offizier war es ganz zuwider, daß er die genossene reiche Gastfreundschaft auf solche Weise vergelten mußte. Aber wie ging es ihm?
Die reizende Kiliane war ihm aus den Händen gespielt worden, er wußte nicht, wie, eine Beleidigung hatte er einstecken müssen, der Major hatte ihn angeschrieen.
Und da ging ganz geruhig der Umstandsrat und wollte Hochzeit machen mit der stöckischen Demoiselle, die ihn so obstinat behandelt hatte!
Er schwang sich ab und klirrte auf ihn zu.
„Pardon! Wenn ich dem Herrn Sekretarius ungelegen komme, schreibe Er es Seiner Herrschaft zu, die Ihn nicht schützt. Er soll mir sofort nach Weimar folgen als Geisel.“
Struve sah ihn, eine Erklärung fordernd, an.
Der Blick peinigte Krainsberg. „Mille tonnerres! Ich bin selbst nicht genau informiert. Aber schon gestern wurde davon gesprochen, daß in Weimar ein Bote angekommen sei von dem Erbprinzen Günther, der sich zu Verhandlungen anbietet, um einen gütlichen Vergleich mit annehmbaren Vorschlägen zustande zu bringen. Da er der nächste Erbe ist, hofft man auf seine Vermittelung und zeigt sich ihm willfährig.“
Einen Augenblick stand Struve sprachlos. Er hatte sich gesagt, daß sein eigenmächtiger Schritt für ihn schlimme Folgen haben könnte. Und er war nach der Warnung, die gestern durch den Kantor Bach an ihn gelangte, gefaßt auf hereinbrechendes Mißgeschick. Aber das Schicksal knüpft die Fäden immer so, daß es auch einen mit Voraussicht begabten Menschen überrascht. Am Tage, da das Land durch die Hilfe frei wurde, die er mit Ueberschreitung seiner Befugnisse herbeigerufen hatte, wanderte er in die Gefangenschaft.
An seinem Hochzeitstage! Sein Opfermut wurde auf eine starke Probe gestellt.
Aber Magdalene! Preisgegeben dem ungeheuren Aufsehen, verlassen, da sie schon den Kranz auf dem Haupt trug!
[723] Ein bitterer Schmerz durchzuckte ihn bei dem Gedanken.
Märten, der ihm die Thür geöffnet hatte, war mit einem Schritt vor den Offizier getreten. „Struve geht nicht nach Weimar! Der macht heute Hochzeit!“
Der Säbel des Offiziers zuckte empor.
Eine Flamme fuhr aus Märtens rötlichen Wimpern. „Fang’ Er nur an!“ Und die beiden Fäuste ballten sich.
„Abgesessen!“ kommandierte Krainsberg, bei dem die verhaltene Wut zum Ausbruch kam.
Die Husaren umgaben klirrend Märten.
In den Augen des jungen Riesen sprühte es auf; man sah ihm die Freude an der Keilerei an.
Aber Struve trat kaltblütig dazwischen. „Wenn Du mein Freund sein willst, Märten, dann gieb Ruhe. Zeige mir der Herr Rittmeister Seine Ordre!“
Er las. Dann sagte er gemessen: „Ich füge mich der Gewalt. Aber ich protestiere feierlich gegen diese durch kein Gesetz gerechtfertigte Willkür.“ Dann wandte er sich an Märten: „Du weißt, was Du zu thun hast, damit mein Haus nicht zu Schaden kommt, und Du wirst der treueste Hüter sein!“
Er nahm den Kranz ab. „Bringe ihn meiner Braut und sage ihr, sie solle ihn wohl verwahren bis zu der Stunde, wo wir zusammen vor den Altar treten.“
Krainsberg winkte dem heran rasselnden Wagen. „Steige Er ein! Es geht gleich fort!“
Da hob der Riese die Hand zum Himmel. „Und Struve macht doch heute Hochzeit, so wahr“ – ein grimmiger Vlick schoß aus seinen Augen – „so wahr ich der Sohn des Rädleinsführers bin!“
„Märten!“ rief Struve erschrocken.
„Ich hab’s gesagt!“ antwortete Märten rauh.
Der junge Offizier kehrte ihm den Rücken. Struve stieg in den Wagenkasten. Die Lederklappen an den Seiten wurden geschlossen, und in der Mitte der Husaren ging’s fort, zum Thor hinaus. –
In der Oberkirche löschte der Kirchner die Altarkerzen; der Kastenknecht schloß die mit einer Guirlande geschmückte Pforte ab.
Die Feuer in der Küche des Hochzeitshauses brannten nieder.
Märten hatte den Kranz behutsam, als könnten seine starken Finger ihn zerdrücken, auf die lange gedeckte Tafel gelegt und seinen Auftrag ausgerichtet. Dann war er auf der Bank im Hof, in tiefe Gedanken versunken, sitzen geblieben.
Die Gäste standen entsetzt in den Zimmern umher. Die Männer schüttelten mit finstern Mienen über die Gewaltthat die Staatsperücken. Die Mütter, deren Gesichter sorgenvoll unter den Brabanter Kanten ihrer Hauben hervor schauten, jammerten.
Die Brautjungfern flüsterten zusammen.
„Es hat doch sein Gutes, wenn der Bräutigam wie ein bescheidenes Veilchen im Verborgenen blüht,“ zischelten die auf den Subkonrektor Hoffenden.
„Euer Auserwählter hat sich auch durch etwas Geschriebenes hervorgethan! Wer weiß, was Euch bevorsteht!“ warnte eine andere hinter ihrem Fächerchen.
Justizienrats Christelchen strich zufrieden die Falten ihres Kleides aus seidenem Chagrin glatt. Es gab doch noch eine Gerechtigkeit im Himmel. Laut sagte sie: „Der arme Struve! Der kommt in ein Verließ, wo Ratten und Kröten hausen.“
Auf dem Kanapeechen saß die Braut, das verweinte Gesicht an die steile Lehne gedrückt. Wie zu Hohn und Spott knisterte der goldgelbe mit Blumen durchwirkte Damast ihres prächtigen Kleides zu dem leisen Ringen der Hände.
Jetzt richtete sie sich auf. „Ich will nach! Ich will mit in das Verließ“ sagte sie entschlossen.
„Lenchen!“ riefen die Brautjungfern, „Du bist ja noch nicht getraut!“
„Der Feldprediger, der mit den Soldaten ritt, mag uns trauen, meinetwegen vor der Trommel,“ war die entschiedene Antwort.
„Gott behüte uns in Gnaden!“ sagte ihre Mutter. „Hat denn das Kind den Verstand verloren? Lenchen, bedenke doch die Wohlanständigkeit!“
Da war es, als zerrisse Magdalenens Seele enge Bande. „Ach, was ist die Wohlanständigkeit,“ rief sie mit schwingender Stimme, „wenn der Mann, den wir lieben, in Gefahr ist?“
Ihre Mutter machte ein Ende. Sie dankte allen Gästen für die bewiesene Teilnahme und komplimentierte sie hinaus.
Als sie von den Letzten sich verabschiedet hatte und aufatmend, wenigstens der Sorge um die Gäste enthoben zu sein, in die Stube zurückkehrte, war zur Hinterthür ein neues Unglück herein gekommen.
Vor ihrem Eheherrn standen Fieke, laut klagend, und der Junker von Eichfeld, leichenblaß, mit beschwörend erhobenen Händen.
„Das ist das Ende von allen Leichtfertigkeiten,“ sagte streng Olearius. „Mit Mordgewaffen sind sie auf einander losgegangen, um sich gegenseitig niederzustechen wegen einer Liebelei! Und dann wirft diese leichtfertige Person ihren Glauben von sich wie ein unbequemes Kleid.“
Der Junker stand tief gebeugt vor ihm, einen flehenden Blick richtete er auf den strengen Seelenhirten.
„Aber Hochehrwürden,“ sagte Fieke, „das Frölen that es ja nur, damit die beiden sich nicht anspießten. Sie brachte sich zum Opfer, wie es in der wächsernen Geschichte bei Hofe genannt wurde. In der Angst war keine andere Hilfe da; nur der lange Mönch.“
„Warum geht der Junker nicht zum Kanzler? Dem steht das Hoffräulein doch am nächsten,“ fragte die Superintendentin.
„Ich bin nicht vorgelassen worden,“ preßte Eichfeld heiser heraus. „Er ließ mir sagen, man könne nichts thun; seine Nichte sei mündig.“
„So will ich hinaus nach der Augustenburg gehen und um eine Audienz bitten,“ sagte Olearius entschlossen.
„Er wird nicht vorgelassen werden,“ entgegnete Eichfeld. „Kann das Konsistorium nicht mit Gewalt einschreiten?“
Olearius schüttelte den Kopf. „Dergleichen muß seinen Geschäftsgang gehen. Ich werde sofort eine Sitzung des Konsistoriums anberaumen,“ setzte er hinzu, nach seinem Zimmer hinaufsteigend.
Eichfeld sah nach der Uhr. „Es wird zu spät,“ stöhnte er.
Fieke hatte alle nach der Reihe angesehen, zwar mitleidig, aber zugleich – war es denkbar? – fast geringschätzig.
Dann drehte sie sich um, ging hinaus zu Märten, und alsbald begann ein Getuschel zwischen beiden.
„So ist kein Mensch auf der Welt, der mir beisteht, zu meinem lieben Christian zu kommen?“ jammerte drinnen Magdalene laut auf.
Eichfeld rang die Hände.
„Keiner, der mir hilft?“Da that Fieke die Stubenthür auf. Gebückt schritt Märten herein.
Dann richtete er sich zu seiner Riesenhöhe auf.
Fieke trat vor und schwenkte die Hand triumphierend gegen ihn, während sie hochmütig auf die andern herabsah.
„Da ist er.“
[736] Als der Abend hereindämmerte, ging Märten mit weitausgreifenden Schritten auf den Wegen, die noch die Spuren der Husarenpferde, die tiefen Furchen der Kanonenräder zeigten.
Die Nacht kam rasch; dickes Gewölk bedeckte den Himmel; eine drückende Schwüle lagerte auf den der Sense harrenden Getreidefeldern, von denen sich, schwarz auf dunklem Grunde, hier und da eine Baumgruppe abhob.
In dem Feldhölzchen, in das er einbog, vermochte Märten nicht die Hand vor Augen zu sehen.
Er schlug Feuer an, brannte einen dürren Ast an, und ihn schwingend, wanderte er weiter.
Als er unter den Bäumen hervortrat, ragte vor ihm in der Nacht eine wunderliche Gestalt auf, dreibeinig – es war der Galgen. Auf der Erde, über die er schritt, hatten dermaleinst die verstreuten Knochen der Rädleinsführer gebleicht.
Aber die mußten fest schlafen; denn er wußte von Fiekchen: wenn es an einem Ort nicht geheuer war, zeigte es sich durch ein Grauen an, das einen überlief. Ihm aber war ganz freudig zu Mute. Er konnte jetzt wettmachen, daß ein reputierlicher Mensch ihm seine Abkunft nicht nachgetragen hatte.
Vergnügt wirbelte er seinen Brand in der Luft.
Ein Schrei von einer hohen Stimme ertönte.
Ein kleiner Trupp Menschen, tauchte vor ihm auf.
Dreieckige Hüte, eine Haube und ein Köpfchen mit einem Tüchlein zeichneten sich dunkel ab.
„Ich bin der Lattermann!“ brüllte Märten. „Wer seid Ihr?“
Die Haube und der kleinere Hut gaben Fersengeld. Aber das junge sich umschlungen haltende Paar blieb stehen.
„Wir sind gottesfürchtige Kantoren,“ antwortete der Mann wohlgemut.
„Brüt’gam und Brut,“ fügte eine Lerchenstimme bei.
„Die Demoiselle Bachin!“
„Märten!“ erklang es zu gleicher Zeit.„Wir kommen von Dornheim und haben die Trauung bestellt,“ fuhr Bärbchen Marei fort, „wozu der gute Herr Sekretarius uns die Erlaubnis verschafft hat. Der Arme!“
„Da Sie hier im Feld herummarschiert ist, hat Sie vielleicht gehört, wie weit die Husaren mit ihm gekommen sind?“ fragte Märten.
„Er hat nicht weit zu suchen,“ sagte Bärbchen Marei. „Den ganzen Nachmittag haben die Soldaten mit den Kanonen im Hohlweg gesteckt und geflucht, daß die Bauern vor Schrecken von ihren Feldern weggelaufen sind.“
„Haltet den Mund darüber, wer der Lattermann ist, auch gegen Euren Vetter Bach und Eure Jungfer Muhme da vorn,“ sprach Märten. „Wenn Er aber dem Sekretarius auch wieder eine Liebe thun will, Herr Kantor, so bleibe Er bereit, noch diese Nacht zu orgeln. Denn Struve hat heute noch Hochzeit und soll mit Sang und Klang getraut werden. Adjes!“
Nach verschiedenen Seiten setzten sie ihren Weg fort.
Da hob die hohe Stimme an zu singen: „Wachet!“, die große Haube sekundierte: „Betet!“ Der junge Kantor setzte mit der Gegenstimme ein: „Seid bereit!“ Der Vetter folgte nach. Die Melodien verwickelten, begegneten sich, die Familie Bach verschwand hinter dem Gebüsch des Raines; die Töne verklangen, und noch schien der Verwicklungen und Entwicklungen kein Ende zu werden.
Märten fand Geschmack an seiner Rolle als Lattermann. Er schwärzte sein Gesicht mit dem verkohlten Holz, hielt seinen Brand gen Himmel, wie es vom Lattermann erzählt wird, und wanderte so dem Dorfe zu, dessen Turmspitze sich in der Ferne schwarz in das Gewölk streckte.
Nun vernahm er schon ein Wiehern.
Vorsichtig schlich er sich heran.
Da kam er an die erste Scheune. Die Thore waren weit aufgethan. Stampfen, Schnauben tönte daraus hervor und lautes Schnarchen. Hier hatten die Husaren schon Nachtquartier bezogen.
Leise schloß er das Scheunenthor, schob die Riegel vor und schritt in die Dorfgasse hinein.
„Halt! Wer schleicht da herum?“ schrie ihn eine Stimme an. Es war der Nachtwächter.
Märten wirbelte seinen Brand. „Ich bin der Lattermann und will Euren Gefangenen holen. Wo habt Ihr ihn eingesteckt?“
Der Mann fiel auf die Kniee. „Alle guten Geister!“ begann er zähneklappernd zu beten. „Dort am Brunnen beim Schulzen.“
Märten faßte ihn am Kragen wie ein Häslein an den Löffeln, nahm ihm sein Horn ab, daß er nicht nach Hilfe tuten konnte, und warf ihn über einen Zaun.
Er ging auf das bezeichnete Haus zu.
In der Stube des oberen Gestockes brannte noch ein mattes Oellämpchen.
Den Schrei des Käuzchens nachahmend, pfiff Märten sein Struve wohlbekanntes Erkennungszeichen.
Das Fenster wurde aufgerissen.
Märten flüsterte: „Fang’ den Strick auf! Es sind Knoten drin.“
„Aber –“ zögerte Struve, dem allerhand juristische Bedenken kamen.
[738] „Deine Braut sitzt im Kranz und wartet auf Dich,“ drängte Märten.
Da siegte im Sekretarius das natürliche Recht über das papierne. Er band den Strick an das Fensterkreuz.
„Schnell! So ist’s recht! Nur herunter! Ich fange Dich auf – nun fort!“
Der Wachtposten, der in der schwülen, stillen Nacht unter dem Lindenbaum neben dem Hofthor eingeschlafen war, ermunterte sich und stolperte den davon Rennenden in den Weg. Er flog in den Gänseteich.
Jetzt wurde es lebendig.
„Mort de ma vie!“ fluchte es aus der Pfarre.
Es wurde geblasen.
Die in der Scheune Eingeschlossenen trommelten an das Thor. Die Einwohner stürzten aus ihren Häusern.
Ein Haufe Soldaten versperrte den Weg.
Jetzt sauste Märtens Keulenstock gegen die Klingen; klirrend flogen sie beiseite. Faustschläge regnete es. Die Püffe, die Märten heute morgen hatte unterdrücken müssen, kamen jetzt vervielfacht zur Verteilung.
Struve besann sich auf die Paraden vom Fechtboden; er hatte einen der niedergefallenen Säbel aufgehoben. Es kam über den jungen Mann der alte Student.
Die Dunkelheit und Verwirrung waren groß.
Märten zog ihn durch ein Seitengäßchen fort ins Freie. Hinter ihnen blieb der Lärm.
Im Dorfe kroch der Nachtwächter hervor, an allen Gliedern bebend. Sein Mund klapperte: „Es war der Lattermann!“
„Huh!“ schrie das Bauernvölkchen und stob in seine Häuser.
In der stockfinstren Nacht fanden sich die fremden Soldaten nicht zurecht. Einer lief wider den andern.
Von dem Hügel vor dem Dorf sahen die beiden Flüchtlinge die umherirrenden Laternen, die erhellten Fensterchen. Dann schritten sie eiligst von dannen.
Märten wählte Richtwege quer durch die hügelige Flur, die er von seinen Tagediebereien her kannte: vom Leimrutenlegen, vom Krebsen in trüben Wässerlein, vom Haselnüsseschlagen in fremdem Gehölz. Dabei erzählte er seinem geretteten Freund die Ereignisse des Tages, und daß er noch ein zweites Befreiungswerk vorhabe.
„Die Heymbrotin hat Dich gewarnt, das vergesse ich ihr nicht,“, sagte Märten. „Du aber darfst Dich nicht in Gefahr begeben, Struve! Den Weimaranern durchbrennen, die ihn vergewaltigt hatten, kann ein Bräutigam, der den Kranz schon auf dem Kopf trägt. Aber bei der Herrschaft einbrechen, das schickt sich nicht für einen Sekretarius.“
Aber der Sekretarius war zu ritterlich und dem Fräulein zu dankbar, um sich jetzt allein in Sicherheit bringen zu mögen.
Er wollte helfen, sie befreien.
„Dann ziehst Du Deinen Hochz’genrock link an, steckst die Perücke in die Tasche und machst Dir hier an dem Ast das Gesicht schwarz,“ entschied Märten.
„Das sind Diebsgebräuche,“ wandte Struve ein.
„Wir sind in der Notwehr, Struve!“ widersprach ihm Märten.
Da ließ Struve sich schwärzen.
Dann schritten sie wieder scharf aus.
Endlich deutete Märten in die nächtliche schattenhafte Landschaft hinein. „Der dunkle Streifen dort ist die Obstallee bei der Augustenburg.“ Er pfiff das verabredete Signal, der Ruf des Käuzchens, „Komm mit!“, klang durch die Stille.
Aus der Ferne antwortete es: „Komm mit!“
„Aha! der Junker ist auf seinem Posten!“
Unter den von unreifen Früchten tief herabgebogenen Bäumen hervor schlich eine dunkle Männergestalt.
Struve streckte ihm die Hand entgegen. Eiskalte Finger legten sich hinein.
„Will Er sich nicht auch schwarz machen?“ fragte Märten.
„Nein!“ stieß Eichfeld zwischen den Zähnen hervor. „Am liebsten wäre es mir, ich könnte dem ganzen Schlangengezücht auf der Augustenburg offen entgegentreten.“
„Hoho!“ lachte Märten in sich hinein, „Er wird seine Courage schon noch brauchen können.“
„Hätten wir nur Pferde!“ murmelte verzweifelt Konrad.
Märten schüttelte den Kopf. „Die Hufschläge verrieten uns, und der Stallmeister ist ein so guter Reiter wie Er.“
Dann übernahm er das Kommando, wie sonst bei seiner Rotte barfüßiger Burschen, wenn sie den knickerigen Kaufmann spät abends herauspochten und dem dicken Bierbrauer die vor der Thür lagernden Fässer ins Rollen brachten.
„An die Rückseite! In den Graben, der unter Weiden und Erlen hinter dem Garten hinläuft. Du, Struve, spielst den Kauz und pfeifst: ,Komm mit!‘, wenn’s dort nicht geheuer wird, damit wir den Rücken frei behalten! Voraus, Junker! Er kennt hier den Weg!“
Beide schlichen vorsichtig die Mauer entlang.
Da war das schmiedeeiserne Thor, das aus dem Garten nach dem von Erlen und Weiden umbuschten Wassergraben führte.
Eichfeld prüfte das festverschlossene Gitter. Aber Märten stellte sich fest auf und hob einen Flügel heraus wie Simson die Thore der Stadt.
Sie schlichen hinein in die dunklen Laubgänge.
„Dort ist der Mann mit der Ofengabel,“ flüsterte Märten. „Da geht das Pförtchen in das Schloß, aus dem Fieke immer kam.“
„Und dort drüben –“ flüsterte atemlos Konrad; er konnte nicht weitersprechen.
Im ersten Stock war ein Fenster matt erhellt. Es zeigte eine bunte Glasmalerei, ein Heiligenbild: St. Walpurgis.
„Komm mit!“ pfiff Märten.
Ein Schatten glitt an das Fenster. Leise pochte ein Finger daran.
Märten zog ein Stemmeisen aus der Tasche und schob es unter die Thür. Ein Knirschen – sie hob sich. Er stellte sie beiseite wie eine Papptafel. „Voran, Junker!“ Sie verschwanden in dem schmalen Gang.
Droben in der Mansarde zog sich ein blasses Männergesicht vom Fenster zurück.
Die beiden jungen Einbrecher schlichen sacht von dem engen Treppchen auf den breiten Hauptkorridor hinaus.
Eichfeld flog auf eine reich mit vergoldetem Zierat bedeckte Thür zu.
„Kiliane!“ flüsterte er durch das Schlüsselloch.
„O Gott, Konrad!“ klang es leise heraus.
Märten schob den Junker beiseite und drehte die kleine Blendlaterne auf.
„Hobelspäne!“ murmelte er, die Thürflügel beleuchtend. Dann stemmte er die Achsel an das Mittelfeld – ein Krachen! Mit einem starken Ruck flog die zierliche Thür in Stücke.
Kiliane erschien. Mit entsetzter Gebärde deutete sie auf den daneben liegenden gelben Saal. „Der Gang! Man kommt!“
„Heiliger Gott! Der Spiegel!“ knirschte Eichfeld. „Fort!“ winkte er Märten und Kiliane zu. „Ich komme nach.“ Er griff in die Brusttasche und stürmte in den gelben Saal.
Märten faßte ohne weiteres Kiliane am Arm und zog sie das Treppchen hinab. „Ein Mann findet sich schon zurecht, wenn ihm das Weibsvolk aus dem Wege geschafft ist,“ raunte er ihr gröblich zu.
Droben drehte sich vor dem eintretenden Eichfeld der trotz der Dunkelheit matt glänzende Spiegel, und ein leichenblasses Männergesicht erschien in der schwarzen Höhlung.
Zugleich knackte das Schloß einer Pistole.
„Ein Schritt noch, ein Laut,“ keuchte der Junker, „und Er ist ein Kind des Todes.“
Wenn er Severin zurückdrängte in den geheimen Gang, den Spiegel schloß!
War kein Möbelstück da, um es davor zu schieben? Nein, nur dünnbeinige Tischchen und Stühle.
„Komm mit!“ pfiff es unten.
Er mußte fort. Aber wandte er sich, so war der andere ihm auf den Fersen und schlug Lärm. Unruhig suchend flogen seine Augen umher.
Da fiel von seiner Rückseite her Lichtschein.
Timotheus trat auf weichen Pantoffeln vom Korridor herein, eine brennende Kerze in der Hand.
Eichfeld gab sich verloren. Die beiden sollten es mit sein. Er hob abermals die Pistole.
Aber als habe Märten sich unsichtbar gemacht gehabt, als seien die Thürtrümmer nicht draußen im Korridor verstreut gewesen, als wäre Timotheus mit Blindheit geschlagen und sähe das Mordwerkzeug nicht, so wandelte der behäbige Mann auf die Spiegelwand zu. Nur im Vorbeigehen sagte er zu Eichfeld: „Was [739] will der Junker hier? Er sollte sich auf der Neidecke melden. Gehe Er auf der Stelle dahin, wohin Er gehört.“
Konrad begriff nicht. Aber da schallte es dringend hastig herauf: „Komm mit!“ Er flog davon.
Ehe Severin einen Schritt aus seiner Höhle heraus thun konnte, hatte Timotheus den Spiegel zurückgewirbelt und setzte sich gelassen davor auf den Boden.
Vergeblich rüttelte Severin von innen an dem Spiegel. Timotheus war schwerer als der schwerste Schrank.
„Gieb Frieden, lieber Bruder,“ gebot er mit fester Stimme. „Ich befehle es Dir, kraft der Vollmacht, die der Prior mir gegeben hat.“ Bei den Worten legte sich das Rütteln. „Er wußte, daß Deine große Begabung auch große Versuchungen verhängt, und hat deshalb für besondere Fälle mir die Oberherrschaft übertragen. Inbrünstig preise ich unsren Schutzpatron, daß er mich schwererer Mühewaltung überhoben, gnädig alle Wirrnisse geschlichtet, alle Steine des Anstoßes aus unsrem Weg geräumt hat. Was die Frau Fürstin thun wird, um den aufsässigen Diener, die entlaufene Dienerin zu strafen, darum uns zu kümmern, ist nicht unsres Amtes. Du aber kehrst morgen in unser Kloster zurück. Du wirst in der einsamen Zelle bei wahrhaft gottgefälligen Werken Deiner Kunst den Seelenfrieden wieder zurückgewinnen.“
Die Stimme in dem geheimen Gang ließ sich nicht wieder vernehmen.
Dumpf verhallten schleppende Schritte, die sich langsam entfernten.
Draußen gingen Thüren, schallten Stimmen.
Timotheus begann zu rufen: „Zu Hilfe! Ist niemand da, der einem zu Boden Gestürzten wieder auf die Füße hilft?“
Die Dienerschaft rannte durcheinander, wie sie aus den Betten kam, in welche sie sich vor dem gräßlichen Eulengeschrei so tief verkrochen gehabt hatte, daß das Knacken der einbrechenden Thür zuerst auch für Spuk von ihr gehalten worden war.
Der Kammerdiener wollte von einem spinnwebfarbenen Kavalier auf dem Korridor umgerannt worden sein, den Mohren hatte auf der Hintertreppe ein andrer Mohr hinabgestürzt, der dann mit einem schneeweißen Gespenst verschwunden war, der Leibgardist, der von seinem Wachthaus herbeigelaufen kam, hatte von einer Hand, so groß wie ein Schild, eine solche Maulschelle bekommen, daß ihm die Ohrringe vom Kopfe geflogen waren, und er nun mit blutender Nase über dem Neptunsbassin hing.
Die Trommel wurde gerührt. Die aufgeschreckten Gardisten bekamen Befehl, den Einbrechern nachzusetzen. –
Draußen in der dunklen schwülen Nacht liefen die Missethäter wie gejagtes Wild.
Struve und Eichfeld hatten Kiliane an den Händen gefaßt und zogen sie mit vorwärts.
Märten leitete die Flucht auf den verdeckten Wegen, die er gefunden hatte, wenn er Fieke besuchte.
„Immer im Graben geblieben! Der Sumpf ist nicht tief, und die Weiden verdecken uns. Da schlägt Nachbars Adam einen Wirbel auf dem Kalbfell. – Als der Feind ins Land rückte, muckste keiner. – Durch den Hagedorn in das Gehege der Dorfflur!“
Mit blutenden Händen ging’s weiter.
„Puff! das war der Korporal Großkunst! Ist die alte Muskete auch noch einmal abgefeuert worden? Vor den Leuten, die brave Sekretariusse abführten, da habt Ihr das Gewehr präsentiert. – Schnell, über den Zaun in die Gärten! Ist das weiße Kittelchen hängen geblieben, Frölen? Schadet nichts! Nun am Flußufer hinauf! Ueber die große Brücke können wir nicht laufen. Wer weiß, vielleicht ist schon der Stallmeister auf dem Sattelhirsch unterwegs und verrennt uns den Weg.“
Keuchend ging’s am rauschenden Fluß hinauf. „Sie hat den Schuh stecken lassen? Na, kann auch einmal barfuß laufen. Sieht, wie’s thut. Da, auf den Baumstämmen geht’s über den Fluß. Ja, es ist dunkel unter den Bäumen. Wo willst Du hin, Struve? Du läufst ja ins Wasser hinein. Haha! Er wäscht sich, will nicht an der Braut abfärben. Vorwärts! vorwärts! Da ist die hohe Mauer! Man sieht’s an den Zinnen. Nun hinab in den Graben. Stolpert nicht über die Krautköpfe vom Nachbar Stelzfuß! Wie gut war’s, daß ich die Kartaune in den Graben hinabschoß! Man kann wie auf einer Leiter an ihren Henkeln hinaufsteigen. Da sind wir an der Gartenthür der Superintendentur! Fieke!“
„Gott sei Lob und Dank!“
Das Pförtchen knarrte. Die vier Flüchtlinge huschten hinein.
Und dann standen drei Paare fest umschlungen in der vom Wein überrankten Eingangslaube.
Magdalene hing an Struves Hals.
Kiliane lag an Konrads Brust und weinte. „Meine Kiliane!“ flüsterte er.
„Für immer und ewig!“ sagte sie.
Fieke trocknete mit ihrem Schürzchen Märtens heiße Stirn. „Ja, wenn Märten nicht wäre!“ sagte sie stolz. Was war das andre Mannsvolk gegen ihren Schatz!
Alle drängten sich um Märten.
„Wie soll ich Ihm danken?“ flüsterte Magdalene mit unterdrücktem Schluchzen.
Märten schüttelte ruhig den Kopf. „Na, Ihretwegen habe ich es nicht gethan; nur wegen unserm Struve.“
„Was kann ich thun, um Seine Hilfe zu vergelten?“ sprach mit überquellendem Herzenston der Junker.
„Na, Seinetwegen hab’ ich nicht geholfen,“ erklärte er lachend; „nur weil das Frölen meinen Struve gewarnt hat.“
Der trat hervor, wollte sprechen; die Stimme versagte. Die Augen wurden ihm feucht, er drückte Märten die Hand.
Da wandte der Riese sich ab und rannte fort.
Fieke aber hielt die andern zurück und sagte leise: „Wenn ihm etwas ans Herz greift, das darf niemand sehen.“
Im Hause war noch alles wach. Die Fenster hatte man verhangen.
In der Wohnstube kam ihnen der Superintendent im Talar entgegen. „Meine Kinder!“ sprach er. „Zu dieser Stunde werde ich Euch den kirchlichen Segen geben. Wer weiß, was der morgende Tag bringt! Da mögt Ihr zusammen tragen, was Euch beschieden ist.“
Magdalene flüsterte ihrem Bräutigam ins Ohr: „Ich gehe dann mit ins Verließ.“
Er drückte sie an sein Herz.
„Der Altar steht noch geschmückt,“ fuhr Olearius fort. „Auch der Kantor ist bereit. Eine wunderbare Offenbarung muß ihm geworden sein. Er hat sich gemeldet, wir sind versöhnt.“
Olearius wendete sich zu Kiliane. „Soll ich das Fräulein zum Herrn Kanzler geleiten, oder hat Sie eine andere Zufluchtsstätte? Eine Nachtruhe kann ich in meinem Hause verbürgen; weiter vermag ich jetzt nichts der Gewalt der Herrschaft gegenüber.“
Kiliane schlug die Hände vor das Gesicht. „Mein Oheim wird mich nicht schützen. Ich weiß keine Zuflucht.“
„Bei mir, Kiliane!“ rief Eichfeld. „Auf meinem Gutshof bist Du fürs erste so gut geborgen wie ich selbst. Haben die Mauern den Dreißigjährigen Krieg überdauert, so werden sie auch den Leibgardisten standhalten.“ Es klang eine wilde Entschlossenheit aus seinem Ton. Er hatte die Hand am Degengriff, der Hoflack war von ihm abgefallen, die alte deutsche Kampflust hervorgebrochen, die nun einmal in den starken Knochen steckt. Immer begehren sie dreinzuschlagen.
Kiliane rang die Hände. „Wenn Deine Mutter lebte, Konrad. Dann könnte ich zu Dir flüchten, bis auch für uns das Segenswort gesprochen wird.“
Da trat der Superintendent heran. „Ich werde es sprechen auch über Sie wie über meine Kinder. Eine Nottrauung wie so manche Nottaufe – ich will’s verantworten vor Gott und den Menschen.“
Eichfeld beugte in wortloser Dankbarkeit sich vor dem würdigen Mann, Kiliane drückte die Lippen auf seine Hand.
„So bereitet Euch alle zum Kirchgang,“ sagte Olearius. „Dann muß jedes in sein Heim ziehen.“
„Ja wohl, Herr Superintendent,“ antwortete für die andern Fieke. „Mamsell Lenchen, borge Sie dem Frölen ein Paar trockene Strümpfe und ganze Schuhe; sie läuft ja barfuß. Und in einem Morgenkleid kann doch niemand vor den Altar treten. Sie hat schon alle Kleider ins Struvesche Haus geschafft? Na, das rote Kamisölchen und der chokoladefarbige Rock, der mein Brautputz war, hängt da. Ach, du lieber Gott, woher sollen genug Kränze kommen? Nein, Ihren Kranz darf Sie nicht zerteilen, Mamsell Lenchen! Sonst nimmt eine der andern das Glück weg.“
Schon band die würdige Hausfrau mit fliegenden Fingern aus den Zweigen von Lenchens Myrtenstöckchen den fehlenden Schmuck. [752]
Die dunkelste Nachtstunde war gekommen. In tiefem Schlafe lag die Stadt.
Da hob ein Huschen auf dem Pfarrhofe an. Die alte Kirchenpforte, über der die fröhliche Guirlande noch schwebte, knarrte.
Die Kerzen auf dem Altar, die am Mittag vorher unter Trauer verlöscht worden waren, flammten auf. Ihr mildes Licht fiel auf die schon welkenden Blumen, das herb duftende Laub, mit dem die grauen Grmbsteinplatten des Fußbodens festlich bestreut worden waren, und flimmerte an dem Tabernakel empor, von dem die weißen Gestalten der Evangelisten hernieder schauten.
In gerauschlosem Zuge nahte die Hochzeitsgesellschaft.
„Welchen Choral befiehlt Hochehrwürden?“ fragte der Kantor Bach, der mit der heiteren Anteilnahme eines verlobten Bräutigams die Hochzeiter an sich vorübergehen ließ.
„Mein lieber Kantor: ‚Es ist gewißlich an der Zeit‘.“
Olearius trat vor den Altar, aber er schlug die Agende zu.
„Es ist gewißlich an der Zeit!“ schallte die machtvolle Stimme.
Brausend fiel die Orgel ein.
Vor dem Altar, an dem sie als Kind des ersten Geistlichen getauft, als oberste Schülerin konfirmiert worden war in aller würdigen Form, stand Magdalene nun als Braut, auch wieder wie es sich gehörte: im Besitz eines makellosen Kranzes, eines standesgemäßen Brautkleides und eines den Eltern willkommenen Bräutigams, und empfiug den Segen mit der unumstößlichen Gewißheit, daß sie ihn bis an ihr Lebensende als getreue deutsche Gattin und Hausfrau unfehlbar verdienen werde.
Fest war die kleine Hand mit dem schweren goldnen Trauring in die kräftige Hand Struves gefügt. Und er hielt sie in der vertrauensvollen Ueberzeugung, daß sein Herz, seine Ehre, seine Seligkeit da wohl geborgen seien.
Neben ihnen, demütig gebeugt, stand Kiliane mit ihrem Bräutigam. Sie dachte nicht daran, wie dürftig ihr geborgter Brautstaat war, wie ungehörig die Eheringe erschienen: der Reif mit dem Wappen der Eichfeld, den die Superintendentin erst durch ein umgewickeltes Fädchen hatte passend machen müssen, und ihr dünnes Ringlein, das der Junker nur am kleinen Finger tragen konnte.
Aus ferner Zeit kam eine Erinnerung, wie ihre Mutter den Spruch nannte, den sie in der Taufrede erhalten hatte: ‚Ich bin nicht wert aller Barmherzigkeit und Treue, die Du an mir gethan hast!‘ Wie hatte sie oft darüber gespottet! ‚wo ist Barmherzigkeit und Treue an mir gethan worden?‘ Ach, wie hatte sie sich versündigt! Der Spruch behielt recht. Ohne ihr Verdienst und Würdigkeit hatte der barmherzige Gott sie aus selbst gedrehten Fallstricken befreit. Und ihr zukünftiger Eheliebster hielt so warm ihre Hand in seiner treufesten Rechten. Sie wollte es ihm vergelten mit unwandelbarer Liebe.
Die Superintendentin stand in Sorgen. Sie wußte, daß ihr Eheherr in diesem Augenblick abermals sein Amt aufs Spiel setzte, um ohne Menschenfurcht als Pfarrherr zu walten.
Seine Stimme füllte die leere dunkle Kirche, wie an den höchsten Festen des Jahres, wo er die Herzen in den verborgensten Winkeln erschütterte. Und dazu dröhnte die Orgel. Der Kantor hatte alle Register gezogen.
„Es ist gewißlich an der Zeit,“ flehten die hohen, forderten die kräftigen Mittelstimmen, bis alle Töne jubelnd anstürmten: ‚Es ist gewißlich an der Zeit.‘
Aber aus der tiefsten Tiefe der Bässe erhob sich noch ein „Es ist gewißlich an der Zeit.“ Ernst, unbeugsam, als schreite ein eherner Schritt vorwärts, langsam, aber unabwendbar stieg es empor.
Die besorgte Frau überlief es eiskalt.
Was war das nur? Das Schicksal, das ihnen allen drohte für die Gewaltschritte, die sie der Gewalt entgegennsetzten?
Nein, es klang anders, feierlich. Was war es, das der gottbegnadete Mann dort oben verkündete?
Der Segen war gesprochen. Amen! klang es.
In mächtigen Harmonien gingen die Orgelklänge zur Ruhe.
Es war, als sammelten sie sich auf dem wunderbaren tiefen Ton. Der hielt noch eine Weile aus – dann brach er ab, als habe eine unüberwindbare Macht gelassen das letzte Wort gesprochen.
Und die Kerzeu verloschen wieder. Dunkle Gestalten huschten über den Pfarrhof. Die Kirchenpforte schlug zu.
In der Superintendentur schüttelten sich die Genossen dieses stürmischen Tages noch einmal die Hände.
„Wo ist Märteu?“ riefen die jungen Ehemänner.
„Gleich fort,“ berichtete Fieke. „Er hat sich längst mit dem Nachtwächter am andern Ende der Stadt geprügelt.“
„Geprügelt! warum?“ rief Struve erschrocken.
„Der muß doch bezeugen, daß er diese Nacht hier gewesen ist.“
„Wenn ihn der Wächter aber gefangen nimmt?“ fragte Magdalene ängstlich.
[754] Fieke lachte. „Märten liegt längst im Bett, das der Herr Sekretarius ihm angewiesen hat.“
Struve zog den schweren Goldring mit dem Chrysopras vom Finger und legte ihn in ihre Hand. „Das sei ein Unterpfand meines Dankes. Ich löse ihn mit hundert Meißenschen Gülden ein.“
Fiele schrie auf. „Ich danke schön, Herr Sekretarius.“
„Und nun so schnell als möglich fort,“ sagte die Superintendentin. „Die Nacht ist weit vorgeschritten. – Er muß mit Seiner Eheliebsten in Sicherheit sein, Herr Junker, ehe die Boten von der Augustenburg hier anklopfen.“
Fieke schnürte „mit Verlaub“ Braten und Kuchen in ein Bündel. „Nehmen Sie nur, Fröl – nee Frau von Eichfeld. Wenn der arme Mensch eben denkt, er habe nur ein Herz, so zeigt ihm plötzlich der Magen durch eine Ohnmacht an, daß er auch da ist. Nun adjes!“
Das Gartenpförtchen that sich auf, und über die Kartaunenleiter stieg der Herr von dem Eichfeldhof mit seiner jungen Ehehälfte hinab. –
Das ehrenfeste Struvesche Pärchen ging in sein wohleingerichtetes Haus, in dem auf Veranstaltung der Superintendentin die alte Köchin wachte.
In einer Hand trug der Sekretarius ein Laternchen, an dem andern Arm hing seine junge Frau, die ihrerseits den Schlüsselbund würdig mit sich führte. –
Der Morgen graute schon, als das flüchtende Paar die letzte Anhöhe hinaufstieg, wo auf einer von niedrigem Höhenzug umgebenen Hochebene das Eichfeld lag. Sie hatten ein tüchtiges Stück Weg in der schwülen Nacht zurückgelegt; aber sie waren nicht ermüdet.
Da stand schon der Grenzstein der Eichfelder Flur.
Es war steiniger Boden, der tüchtig gepflügt werden mußte: einförmige Aecker. Aber die Heimat redete in der vertrauten Sprache zu dem zurückkehrenden Kinde. So hatte der Wind hier immer über die Aehren geflüstert, der blühende Thymian am Wegrain geduftet.
Jetzt erhob sich aus dem Dämmerlicht ein schattenhaftes Dach; spitz, steil, mit riesigen Schornsteinen ragte es über die hohe Ringmauer des Gehöftes empor. Und da tauchten die zerzausten Eichenwipfel auf.
Der Junker nahm den Hut ab – das Dach seiner Väter und die treuen Bäume, die ein Vorfahr nach dem Rat des alten Paracelsus als Blitzableiter gepflanzt hatte.
Die erste Lerche begann zu singen. Und plötzlich klang leise feierlich das Morgenlied der kleinen Sänger, als töne die Luft selbst in der süßen zarten Weise.
Kiliane zog eine Aehre durch die Finger. „Die liebe Feldfrucht! So sagte Hannjörg. Auf einem ererbten Stück Erde ist jedes Krümchen ein Goldkorn. Und rauscht da nicht ein Quell?“
„Es ist unser großer Röhrbrunnen,“ antwortete er, während sein Blick über die starken Mauern mit den Schießscharten ging, die die Herden und die Ernte bargen, den Abhang hinab, den die Büchsen bestreichen konnten.
Er schlang seinen Arm um ihre Schultern, die in leisem Schluchzen bebten, und so gingen sie langsam dem alten Hause zu.
„Sieh dort, Kiliane, das Giebelfenster, in dem sich das erste Morgenrot spiegelt,“ sagte Konrad. „Es ist meiner Mutter Stube gewesen und ganz so traut erhalten worden wie in meiner Jugend. Das wird Dein Zimmer, Saal und Schmollwinkelchen sein, alles in einem einzigen holzvertäfelten Gemach. Aber nicht wahr, Du sehnst Dich nicht zurück in die vergoldeten Säle, mein geliebtes Herz?“
Mit von Thränen erstickter Stimme flüsterte sie: „Ich habe ein Heim und ein Herz, das mir gehört. Ich bin nicht wert aller Barmherzigkeit.“
Er schloß ihre Lippen mit einem Kuß.
Andachtsvoll, mit zitternden Fingern zog der Innker den großen rostigen Hausschlüssel aus der goldbordierten Tasche.
Ein Hund schlug an. „Phylax!“ rief er. Das Gebell ging in fröhliches Geheul über.
Drinnen wurde es lebendig.
„Herr Gott, unser Junker!“ tönte Hannjörgs ehrliche Stimme. Schritte kamen.
„Da bin ich wieder!“ sagte Eichfeld und schüttelte dem alten Getreuen die Hand. „Und hier ist Eure neue Gutsherrin. Hannjörg, Du hast recht behalten: mit der Hoffart hat’s geknaxt.“
Das alte Thor schloß sich hinter den Eingetretenen.
Sie waren unter schützendem Dach und Fach geborgen.
Schwül stieg der andere Morgen herauf. Der Himmel lagerte bleigrau über der Landschaft.
Eine gährende Unruhe herrschte in der Stadt. Die Umwohner des Pfarrhofes hatten gehört, daß mitten in der Nacht die Fenster der Oberkirche erleuchtet gewesen waren, die Orgel gedröhnt, eine Stimme gepredigt hatte. Der Stelzfuß meldete, daß der Lattermann aus seiner Bahn gewichen sei. Welch neues Unheil drohte?
Christian Struve saß an seinem Schreibtisch, um eine Verteidigungsschrift seiner Handlungsweise auszuarbeiten. Er war ein Ausbrecher und ein Einbrecher geworden. Er – ein Struve! Menschlich war die Sache ganz begreiflich. Aber juristisch? Er kam abermals bei der Notwehr an; denn das römische Recht und die gesunde Vernunft sind darin eins.
In der Snperintendentur ging die Hausfrau leise betend umher, während Olearius die Trauungen in das Kirchenbuch eintrug.
Nur die untergeordneten Missethäter waren diesmal ruhig. Märten wartete seine Vorladung wegen des geprügelten Nachtwächters ab, und Bach hatte sein ordnungswidriges Orgelspiel über seiner Chaconne vergessen.
In höchsten Nöten war der Kanzler. Die ganze Nacht hatte er darüber gegrübelt, was leichter zu ertragen sei: die Ungnade der Fürstin, wenn er der Nichte beistand, oder der Spektakel auf allen Bierbänken der Stadt, wenn er sie preisgab.
Noch war er zu keinem Entschluß gekommen, als Struve, den er in weimarischer Gefangenschaft glaubte, eintrat und sprach: „Ich melde gehorsamst, daß ich in den Stand der heiligen Ehe getreten bin.“
Der Kanzler starrte ihn sprachlos an wie einen Geist.
Da kam in kurzem Galopp ein Zug von der Augustenburg her. Der erste Kammerherr, geleitet von Leibgardisten, dem Skribenten, der große Schreiben mit daran hängenden Siegeln trug, und dem Mohren, der das Weiße seiner Augen herausrollte.
„Platz da! Man wird Euch Mores lehren,“ rief der Kammerherr hochmütig, durch das Volk sprengend.
Niemand achtete neben dem prächtigen Aufzug des unscheinbaren Reiters auf falbem Roß, der in die Neidecke gleichzeitig hineinstob.
Die Leibgardisten der Fürstin umstellten das Haus des Kanzlers, daß keine Maus hinein und heraus konnte, ohne in ihre Spieße zu laufen.
Der Kammerherr stieg ab und stelzte die Treppe empor.
Den Hut auf dem Kopf trat er beim Kanzler ein, der ihn schreckensbleich empfing.
„Die Zeit der Langmut ist vorüber; wir kommen, um zur Rechenschaft zu ziehen. Wir heischen Gehorsam von den Beamten des Landes gegen ihre Fürstin, Strafe für die Beleidigungen, die von der Kanzel gegen Hochdieselbe geschleudert wurden, verlangen die Auslieferung des zuchtlosen Hoffräuleins an die Gerichtsbarkeit Ihrer Durchlaucht.“
„Das Fräulein von Heymbrot ist seit gestern Frau von Eichfeld,“ sagte Struve.
„Getraut, ohne Einwilligung ihrer Herrin, ohne Aufgebot?“ rief der Kammerherr. „Das macht das Maß des störrischen Superintendenten voll. Er wird seines Amtes enthoben. Und Frau von Eichfeld verfällt mit ihrem Mann der wohlverdienten Strafe. Die Hauptmacht unserer Leibgardisten rückt bereits ab, um die Eichfeldburg zu besetzen. Und Er? Warum ist Er nicht da, wo Er hingehört, in Weimar? Man wird Ihn nachschicken. Darauf verlaß Er sich! Seine aufrührerischen Reden und Seine Konspirationen sind uns bekannt. Geheimsekretarius ist Er die längste Zeit gewesen. Dafür wollen wir Sorge tragen bei Seiner Durchlaucht“ –
Er hielt inne.
Ein wunderlich summender Ton war hereingedrungen – ein zweiter folgte – Glockengeläut!
Mit schlotternden Knieen wankte der Kanzler ans Fenster.
Auch der Kammerherr sah hinaus.
Und dann versteinerten plötzlich die Züge beider; die Augen hefteten sich auf ein Fenster des Turmes.
Zu der dunklen Höhlung heraus streckte sich eine lange gegliederte Eisenstange gleich einem dürren Arm; wie aus kraftloser Hand fiel ein Banner in die dunstige Luft, schlaff, ohne fröhliches Flattern.
Und dazu dröhnte das Willkommengeläute aber langsam folgten die Schläge einander, als zögen halb gelähmte Arme am Glockenseil.
Das Schloß hatte sich belebt.
In den Zimmern des Fürsten wurden die Fenster geöffnet, und auch an der Hauptfassade, wo die Reihe der Prunkgastzimmer lag, sah man hinter den Glasscheiben Dienerschaft hin und her laufen.
[755] Der Schloßhauptmann eilte barhaupt drüben über den Hof, ließ die Thorflügel aufthun. Wischte er sich nicht über die Augen?
„Was ist geschehen?“ rief der Kanzler.
Der Thorwächter kam bestürzt herüber. „Der Fürst kehrt zurück, aber totkrank. Seine Hochehrwürden sind ins Schloß befohlen.“
Da kam schon ein Lakai. „Der Herr Kanzler soll mit einem Protokollführer und dem großen Siegel drüben auf Seine Durchlaucht warten.“
Ein Kurier jagte davon.
„Er reitet nach Sondershausen. Der Fürst läßt seinen Neffen, den Erbprinzen Günther berufen. Der Herr will sein Haus bestellen.“
Als der Kanzler sich umwandte, war der Kammerherr verschwunden. Drunten stob er wie ein fliehender Nachtgeist mit seinem Gefolge davon vor dem Namen dessen, der die neue Zeit bedeutete. –
„Das war es also, was Sebastian Bach diese Nacht auf seiner Orgelbank gesehen hat,“ sprach leise die Superintendentin. –
Der ernste Gast, der langsam die Marmortreppe des alten Schlosses emporstieg, Stufe für Stufe, Schritt für Schritt, warf mit seiner Knochenhand geplante Haftbefehle, Rachegelüste, den Zorn des auswärtigen Feindes in den Staub.
Nach trüben Tagen, die wie von Trauerflören verhüllt, von Totenglocken durchklagt, vorüberzogen, kam eine bessere Zeit für die Landschaft herauf.
Es war ein paar Jahre später, als Frau Fieke Märten im Eichfeldhof anlangte, das Körbchen mit der großen Schere und den Schnittmustern am Arm.
„Was soll ich der gnädigen Frau schneidern?“ fragte sie. „Ein Hofkleid mit langer Schleppe – oder –“
„Mehlsäcke flicken sollst Du, Fiekchen,“ unterbrach sie Kiliane, die üher ihrem schlichten Hauskleid eine große Schürze trug. „Sie sind zerrissen, und die Ernte wird heuer gut.“
Sie mußte fort; denn das Jungherrlein in seiner hochbeinigen Wiege schrie. Phylax wurde gerufen, um als Spielgefährte zu dienen. Das Buttermädchen kehrte aus der Stadt heim. Sorgfältig verwahrte die junge Frau die Batzen und Pfennige in dem kleinen seidnen Beutel, der einst die Papillote barg.
Erst gegen Abend kam sie zum Plaudern zurück. Und nun strömte Fiekes Rede wie aus einer aufgezogenen Schleuse, während ihre Nadel in der Luft schwebte.
„Die gnädige Frau würde die Stadt nicht wieder erkennen, wenn sie einmal herunter käme. Alles ein Herz und eine Seele. Unser junger Fürst will partout nicht leiden, daß wir wieder von Einquartierung geplagt werden, und weil der Herr Sekretarius Struve eine Schrift verfaßt hat, worin steht, wie es gemacht werden muß, daß der Herzog von Weimar uns nichts mehr hineinredet, so ist er vom Fürsten zum Hofrat ernannt worden. Aber der Herr Hofrat hat auch Tag und Nacht darüber gesessen. Und die Frau ist ganz einverstanden damit. Sie spricht noch immer wie ein Buch und sagte: ,Was verlangt ein bürgerlicher Mann Besseres als Arbeit?‘ Uebrigens das muß man ihr lassen: sie hat die weißeste Wäsche, die knusperigsten Braten, die größte Rute und die artigsten Kinder. Der Herr Superintendent wird jetzt für die Oberkirche gemalt, und die junge Fürstin – eine schöne Dame, ich habe ihr den Schnitt zum neuen Schleppkleid abgeguckt – also sie hat unter seinem Beistand eine Stiftung für arme Pfarrerswitwen gemacht. – Vom Herrn Kantor Bach kam letzthin wieder ein Patenbrief an; alle Jahre kommt ja einer, immer wieder aus einem andern Ort, und hochgeborne und niedriggeborne Gevattersleute werden zusammen gebeten. – Von der Augustenburg hört man nicht viel; der lange Mönch ist fort, wahrscheinlich ins Kloster zurück, der dicke ist noch da. – Gnädige Frau! wenn ich so denke; wie schrecklich alles hätte werden können ohne meinen Märten! Aber er ist auch nach Verdienst belohnt worden. Auf des Herrn Hofrats Struve Fürsprache ist er Nachtwachtmeister geworden, und alle sagen, seitdem würden die Nachtwächter nicht mehr geprügelt. Ich heiße auch Frau Nachtwachtmeisterin.“
„Nun, Frau Nachtwachtmeisterin,“ sagte die Hausfrau mit dem alten schelmischen Lächeln, „lege Sie für jetzt die Säcke beiseite. Die Mehlsuppe muß bald gar sein. Was Sie dem Herrn Nachtwachtmeister mitbringen will, soll Sie sich selbst vor der Heimkehr unter meinen Vorräten aussuchen. Ich will nach meinem Mann auslugen.“
Sie sah von ihrem Giebelfenster hinaus in die Landschaft. Der Wind streifte leise über die roten Bergnelken am Rain hin, die Schafe zogen glockenläutend den Hürden auf den abgeernteten Fluren zu.
Und dort schwankten die letzten Wagen herein. Selbst der alte Schecke mühte sich trotz seiner weißen Augen redlich, sein Gnadenbrot zu verdienen.
Konrad, der zu Pferde folgte, rief noch mit Donnerstimme den Hirten Befehle zu. Dann winkte er ihr schon von weitem mit dem Dreispitz. Nun befehligte er auf dem Hofe, daß es von den altersgrauen Mauern wiederhallte. Und endlich kam er heraufgestapft, zärtlich, hungrig und müde, ganz wie sie sich ihn in ihren Mädchenträumen gedacht hatte.
Sie hatten kein Löffelbiskuit und keinen Malaga, sondern das, was Milchkeller und Räucherkammer hergaben, auf ihrem Herrschaftstisch. Und sie verlangten auch nichts anderes.
Sie wußten, daß sie in arbeits- und entsagungsvollem Leben die Schuld abzutragen hatten, die in thörichter Jugendverblendung auf das Gut gehäuft worden war; unbelastet wollten sie es denen hinterlassen, die nach ihnen kamen. Und auch das war ein Zweck, eines Lebens Wert!