Zum Inhalt springen

Streitende Theologen

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor:
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Streitende Theologen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 51, S. 833, 842–843
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[833]

Streitende Theologen.
Nach seinem im Kölner Museum befindlichen Oelgemälde auf Holz übertragen von Prof. Otto Günther.

[842]
Streitende Theologen.
(Mit Abbildung, S. 833.)


„Und leider auch Theologie“ – läßt Goethe den Doctor Faust die Aufzählung seiner Studien schließen. Eine Zeitlang schien es, als habe die faustische Abneigung Goethe’s gegen die Mysterien der Dogmatik sich auch unserer akademische Jugend bemächtigt. Die theologischen Hörsäle wurden leerer und leerer; die Consistorien klagten über die Spärlichkeit des geistlichen Nachwuchses; Patrone und Gemeinden boten Pfarrstellen, namentlich schlecht dotirte, wie Waare aus, die keinen Käufer findet.

Ein unerwartet schneller Umschwung der Dinge hat gegenwärtig das frühere Verhältnis nahezu wieder hergestellt und den theologischen Docenten neue Zuhörer, den Heerden neue Hirten gebracht. Nach wie vor prangt in den Verzeichnissen der Vorlesungen, die an deutschen Universitäten gehalten werden, an erster Stelle die Theologia sacra, zum Zeichen, daß ihre Vertreter den Lehrern anderer Wissenschaften zum mindesten ebenbürtig erachtet werden. Nach wie vor nehmen die Geistlichen in der Gesellschaft eine in mehr als einer Beziehung hervorragende Stellung ein. Nach wie vor üben diejenigen unter ihnen, denen die Nähe der Fürstenhöfe Rang und Pfründe verleiht, einen unberechenbaren Einfluß, welcher, wie Kundige behaupten, über die Leitung kirchlicher Angelegenheiten hinaus, in die hohe und niedere Politik nicht erfolglos eingreift.

Wie mag es nun zugehen, daß trotzdem ein beträchtlicher Theil der Gebildeten, und zwar auch solcher, die für ihre Person und ihre Familie mit den kirchlichen Traditionen nicht gebrochen haben, den ehrwürdigen Gestalten im schwarzen Rocke und weißer Binde gern aus dem Wege geht, mit Vorliebe an ihnen seinen Witz übt, über ihre Leistungen geringschätzige Urtheile fällt, sie für allerlei Unheil in irdischen und himmlischen Dingen im Ernst und Scherz verantwortlich macht? Der ganze Stand als solcher ist ohne Zweifel so ehrenwerth wie irgend einer. Aber eine Eigenschaft haftet in der That vielen, um nicht zu sagen den meisten Theologen an, die wohl im Stande ist, sie auch bei vorurtheilsfreien Leuten mißliebig zu machen, eine Eigenschaft, die ihnen nachläuft, wie der Schatten dem Lichte. Das ist, um es kurz auszusprechen, ihre Rechthaberei, ihre Streitsucht.

Streitende Theologen – wer hätte sie noch nicht gesehen auf Synoden und Kirchentagen, bei Festen und Mahlzeiten, in Wartezimmern und Eisenbahncoupés? Wer hätte nicht schon ihren Schlachtruf erschallen hören in kirchlichen und politischen Zeitungen? Wer wüßte nicht, daß gerade gegenwärtig um vielumworbene Kanzeln der Hauptstadt des deutschen Reiches ein hitziger Kampf entbrannt ist, in welchem das „Hie orthodox!“ „Hie liberal!“ von rechts und links sinnverwirrend durch einander klingt? „Streitende Theologen“ hat auch der Maler des vortrefflichen Bildes, an welches unsere Bemerkungen sich anlehnen, den Beschauern der „Gartenlaube“ vorgeführt. Das ist einmal ein Bild, aus der Mitte des Lebens herausgegriffen, ungekünstelt und doch von der Kunst geboren.

Ja, seht sie euch einmal genau an, diese Köpfe, diese Figuren, dieses Mienenspiel, diese Gruppirung! Unter dem Vorsitze des Herrn Superintendenten tagt in einfacher Amtstube eine geistliche Conferenz. Aus Stadt und Land sind die „lieben Brüder“ erschienen; die Bewillkommnungen durch Händedruck und kräftigen Kuß sind gewechselt, die Grüße der daheim rüstig schaltenden Pfarrfrauen ausgetauscht, die Formalien erledigt worden. Ein wissenschaftlicher Gegenstand ist auf die Tagesordnung gesetzt; das einleitende Referat erstattet worden; die zusammenfassenden Thesen vorgelesen worden; die Debatte ist in vollem Gange. Vor allen Dingen fesseln uns die beiden Hauptgestalten der Versammlung. Halb von seinem Sitze erhoben, halb über den Tisch gebeugt, das Haupt eifrig vorgestreckt, trägt soeben ein in vorgerückten Jahren stehender Herr seine Meinung vor. Sein Auge leuchtet in stechendem Glanze; seine Züge sind gespannt; sein Kinn verräth Enegie, sein Mund schneidige Beredsamkeit. Die Linke hält das Taschentuch, den perlenden Schweiß der Erregung von der Stirn zu trocknen. Ueberaus charakteristisch ist die Geberde der rechten Hand. Beinahe rechtwinkelig gebogen ruht sie auf einem angeschlagenen Folianten; der Zeigefinger ist fest und sicher auf einen Punkt gestemmt. „Hier steht’s geschrieben; hier steht’s schwarz auf weiß; wer will das Wort anfechten, wer die Buchstaben leugnen? Hier stehts, und dabei bleibt’s!“ Ob dem Redner sein großes Vorbild, der Doctor Luther, vorschwebt, wie er auf der berühmten Zusammenkunft in Marburg, wo man über die Bedeutung der Abendmahlsfeier verhandelte, mit Kreide auf den Tisch schrieb: „Das ist mein Leib“, und allen Einwürfen und Bedenken Zwingli’s zum Trotz immer wieder auf die Kreidebuchstaben hinwies: „das ist, das ist“? Ob das Gedächtniß des großen Reformators der entarteten Kirche, dem der Wortlaut der Bibel über Alles ging und der in hartnäckigem Eigensinn die von dem nachgiebigeren Schweizer gebotene Bruderhand ausschlug, ihn in seinem Entschlusse bestärkt, von dem Buchstaben der heiligen Schrift auch nicht ein Jota abmarkten zu lassen? Ein Zwingli nun zwar scheint der Gegner des lutherischen Heißsporns nicht zu sein: dazu ist sein Kopf zu fest, seine Haltung zu überlegen. Man sieht es dem hochwürdigen Herrn an, daß er sich nicht einschüchtern läßt, daß er den Ausführungen des „geliebten Bruders und geehrten Vorredners“ seinen Zweifel und Widerspruch entgegensetzt. Mit Bedeutung erhebt er die wohlgepflegten Hände; mit salbungsvoller Rede und feiner Ironie sucht er seinen Widerpart zu widerlegen. Fanatismus ist es nicht, was auf seiner Stirn thront und von seinen Lippen fließt, sondern es ist die milde Ruhe und vornehme Abwehr eines wohlunterrichteten Mannes. Vielleicht, daß die weltliche Bildung der Zeit auch an seinem Geiste nicht spurlos vorübergegangen ist, daß er der Gedankenentwickelung eines Schleiermacher – versteht sich, mit allen Vorbehalten des rechten unverfälschten Glaubens – nicht ungern folgt, daß er sich, mehr im Stillen als ausgesprochenermaßen, zu den von Halle und Berlin aus geleiteten Vermittelungstheologen zählt. Wer wird Recht behalten im Streit? Wird die Milde über die Strenge, die Vermittelung über die Consequenz den Sieg davontragen?

Blicken wir uns doch in der übrigen hochwürdigen Gesellschaft ein wenig um, damit wir womöglich die Stimmung der Majorität erfahren, die ja auch unter den Gläubigen nicht unterschätzt zu werden pflegt! Der Herr zur Linken des Superintendenten sieht nicht so aus, als werde er sich im nächsten Augenblick in den Streit seiner Nachbarn mischen. Nachdenklich sitzt er da, die Arme gekreuzt, schweigend den Verhandlungen folgend; seine ernsten Mienen sind nur von einem flüchtigen skeptischen Lächeln erhellt. Er weiß, daß Glaubensfragen nicht durch Pastoren-Conferenzen entschieden werden; sein Arbeitsfeld ist mehr die stille Studirstube mit ihrem Augustinus und Neander als der Markt der Parteien. Die weiße Halsbinde liebt er für seine Person nicht; ein schwarzes Halstuch umschließt den etwas altmodischen Kragen, und so erscheint er schwärzer als die übrigen Herren, unter denen er sicher nicht der schwärzeste ist. – Sei uns gegrüßt, du freundlicher Greis an seiner Seite, du mit dem schneeweißen Haar, auf welchem das Sammetkäppchen da thront, wo einst vor vielen, vielen Semestern dem flotten Burschen das Cereviskäppchen saß! Wohl bekomme dir das Prischen, das du eben aus der silbernen Jubiläumsdose zur Nase führst, während du deinem Nachbar eine Bemerkung zuflüsterst, die ohne Zweifel den Sinn hat, daß „zu deiner Zeit“ der würdige Wegscheider oder der gelehrte Gesenius die fragliche Bibelstelle ganz anders ausgelegt haben, als dieses neumodische Geschlecht sie versteht. Wem zauberte dein Anblick ein Bild ländlicher Idylle nicht vor die Seele, das hundertjährige Pfarrhaus mit ragendem Giebel, von wilden Weinreben umsponnen, den Wirthschaftshof mit watschelnden Gänsen und gackernden Hühnern, den stattlichen Gemüsegarten mit traulicher Geisblattlaube und lockenden Aepfeln? Alterchen, „deine Zeit“ ist bald dahin; hinter deinem Pfarrgarten pfeift die zudringliche Eisenbahn vorbei; in deine Gemeinde bricht mit Macht der Strom der neuen Bildung ein, und nur noch in den Erzählungen der Großmütter und den Dichtungen der Poeten wandelt bald deine ehrwürdige Gestalt.

„Seid ihr bald fertig mit dem Disputiren?“ So fragt innerlich, ohne daß eines Confraters Ohr etwas von der Frage erlauschte, der behäbige [843] Dicke an der Schmalseite des Tisches. Es giebt doch noch bequeme Stühle in der Welt, an deren gepolsterter Rückwand man nicht nur sein müdes Haupt bergen kann, sondern auf deren Armlehnen auch die Ellenbogen den Stützpunkt finden, dessen die gefalteten Hände zur würdigen Fassung bedürfen. Er scheint zu beten – ob er wohl den Himmel anruft, daß er die sündige Welt bald in Bausch und Bogen bekehren möge? ob er wohl aus den Bitten des Vaterunsers insbesondere die vierte „unser täglich Brod gieb uns heute“ zum Gegenstande seiner Privatandacht macht? Das runde Bäuchlein und das feiste Unterkinn lassen darauf schließen, daß ihm am pünktlichen Eingehen seiner Sporteln ungleich mehr gelegen sei, als an dem oratorischen Erfolge seines Amtsnachbars, den er für einen unverbesserlichen Streitbold hält, und daß er bei dem nun hoffentlich bald beginnenden Conferenzessen im „Schwarzen Stern“ eine viel activere Rolle spielen werde, als bei der langweiligen Disputation über „das ist“ und „das bedeutet“.

Und nun zu dem vierblätterigen Kleeblatt, welches dem geistlichen Falstaff gegenüber gleichsam an einem Stengel sitzt – vier Diener des Evangeliums, nicht vier Evangelisten. Zwar der nach innen sitzende mit dem vierschrötigen Gesicht, dem massiven Munde und ein wenig ungeordneten Haar hat etwas, was an den Stier des Lucas erinnert; er ist ein Landpastor aus einem Guß, der mit „seinen“ Bauern um so besser fertig wird, je näher er selbst nach Anschauung und Lebensweise ihren Gewohnheiten und Bedürfnissen steht. Auch Marcus hat seinen Epigonen gefunden: der glattrasirte Herr ohne Brille mit den dräuenden Augenbrauen mahnt von weitem an den Löwen dieses Evangelisten; freilich ist er ein zahmer Löwe, der nur, wenn er mit des Basses Grundgewalt auf seiner Kanzel donnert, ängstliche Gemüther fürchten macht. Pseudo-Lucas und Pseudo-Marcus vermögen nicht ohne Schwierigkeit den Subtilitäten der Vorträge des Tages zu folgen. Aber Matthäus und Johannes haben die Rollen getauscht: jener hat diesem den Adler als unsichtbares Attribut abgetreten. Jener, der am Rande des Bildes seinen Platz hat, trägt zwar den neumodischen Lutherrock und Stehkragen, zum Zeichen, daß er ein rechter Pfarrer sei, aber damit hat er das Kind der Welt noch nicht gänzlich ausgezogen, dessen Reflexe sich ab und zu nur in seinem nicht unsympathischen Gesicht spiegeln. In müßigen Stunden greift er gern einmal wieder zu seinem Horaz, dessen Lieder er als Primaner so eifrig gelesen hat, und in den Concerten der städtischen Capelle pflegt er nicht zu fehlen. Der letzte im Kleeblatt, mit dem sorgfältig in der Mitte gescheitelten Haar, dem Taubenblick und dem süßlichen Munde, der durch das erhobene Augenglas nach dem Texte der streitigen Bibelstelle schielt, ist ein „gar lieber“ Mann, der Vertraute aller Geheimräthinnen, der Hausfreund in den Familien verabschiedeter Militärs. Innere und äußere Mission, conservativer Club und Gefängnißverein, Sonntagsschule und Magdalenen-Asyl – das alles trägt er in eifrigem Herzen und geschäftigen Händen. Man erzählt sich, daß ihm die demnächst zur Vacanz kommende, mit über 10,000 Mark dotirte Patronatsstelle des Barons von Iftelfingen, dem seine Gattin, eine geborene von Iftelfingen-Diftelfingen, weitläufig verwandt ist, nicht entgehen könne.

Sind wir zu Ende? Noch nicht! Ueber der Lehne des Armstuhls, in welchem der wohlbeleibte Herr Platz genommen hat, wird der obere Theil eines markirten Antlitzes sichtbar: ein Paar intelligente Augen überfliegen beobachtend die Scene. Wer mag der junge Mann sein, der sich in so bescheidener Reserve hält? Ein unlängst von der Universität Heidelberg heimgekehrter Candidat, seit einigen Monaten als Hülfsprediger einer größeren städtischen Gemeinde angestellt.

Der Eindruck, den er heute, wo er zum ersten Male an der amtlichen Conferenz Theil nimmt, empfangen hat, ist kein sehr ermuthigender. Wie viel Stumpfheit und Geistlosigkeit hat er bei seinen zukünftigen Standesgenossen gefunden! Was soll der Streit über Silben und Buchstaben in einem Kreise, der auf Sinn und Geist der heiligen Schriften hingewiesen ist und andere hinzuweisen hat? Soll denn der Hader über den Wortlaut der Glaubenssätze und Bekenntnisse wie eine Plage sich von Geschlecht zu Geschlecht schleppen? Soll auch er, der Jüngling mit dem idealen Geistesfluge und dem aufrichtig frommen Herzen, wider seinen Willen hineingezogen werden in die Leidenschaft der Parteien, in die Intriguen des Cliquenwesens? Möge er nie den Rückblick auf seine Studien mit dem wehmüthigen Geständniß schließen müssen, welches in seinem Munde wie die Klage über ein verfehltes Leben klingen würde: „und leider auch Theologie“!

Und wenn nun die Reden verstummt sind, die Folianten zugeklappt und die Sitzung aufgehoben, welches wird der Erfolg des Streites sein? Wird der eine den anderen überzeugt haben? Wird die Wissenschaft einen Gewinn einheimsen? Werden die Gemeinden einen Segen davon verspüren und eine Hebung ihrer religiösen und sittlichen Zustände davontragen? Wir glauben keines von alledem. Denn leider ist es denjenigen, die sich in theologischen Streitigkeiten gefallen, in der Regel nicht um wissenschaftliche Beweisführung und Belehrung, sondern um Hinüberziehen zum eigenen Glaubensstandpunkt, also um Bekehrung zu thun. Dazu kommt, daß die Art, in der solche Fehden geführt werden, sich durchaus nicht immer in den Grenzen der sachlichen Gegensätze und der persönlichen Würde hält. Wenn Philosophen, Juristen oder Mediciner streiten, so lassen sie einander, der wissenschaftlichen Differenzen ungeachtet, gewöhnlich die Ehre eines leidenschaftlosen, ihrem Bildungsgrade angemessenen Tones widerfahren. Wenn Theologen streiten, so gerathen sie oft hart an einander; der Kampf wird auf das Gebiet des Persönlichen hinüber gespielt und nimmt den Charakter der Gereiztheit und Gehässigkeit an. Jeder geberdet sich, als ob der Andere die Heiligthümer des Glaubens angetastet, die Grundlage der Kirche unterwühlt, den Bestand des Evangeliums in Frage gestellt, den Namen des Höchsten gemißbraucht habe, und als sei nun er selbst berufen, dem verirrten Schafe – nicht etwa mit Liebe und Geduld nachzugehen, um es der Heerde wieder zuzuführen, sondern ihm „wehe!“ nachzurufen, damit die treugebliebenen Schäflein glauben sollen, das verscheuchte sei ein räudiges gewesen. Ist es doch bereits dahin gekommen, daß Parteiversammlungen von Kirchenmännern ihren Verhandlungen oft dadurch die einzige Würze geben, daß sie über die Vertreter abweichender Richtungen ein Verdammungsurtheil nach dem andern fällen. In ähnlicher unverantwortlicher Weise haben die lutherischen Orthodoxen des sechszehnten und siebenzehnten Jahrhunderts durch ihre Silbenstechereien und Wortklaubereien das Volk um die Früchte der großen, preiswürdigen Befreiungsthat des deutschen Geistes betrogen. Und Viele von Denjenigen, die sich heute nach Luther’s Namen nennen, haben von ihm nichts weiter als den Starrsinn und die unbeugsame Hartköpfigkeit seines Wesens geerbt, die ihm als sein Theil menschlicher Unvollkommenheit anhaftete, aber kein Atom der Riesengröße seines Geistes, der den Plunder der Baalspfaffen des Mittelalters in Trümmer schlug.

Man täusche sich doch nicht: die künstliche Erregung gewisser exclusiv kirchlicher Kreise für lutherische Rechtgläubigkeit ist Strohfeuer von unheiligen Händen entzündet, früher oder später von widrigen Windstößen ausgelöscht. Aber unsere Gemeinden kümmern sich im großen Ganzen herzlich wenig um diese spitzfindigen Difteleien der Zionswächter über dogmatische Formulirungen ihres Christenglaubens; nicht Steine wollen sie, sondern Brod, lebendiges Brod, Nahrung des Geistes, Labsal des Herzens aus den unerschöpflichen Vorräthen des Evangeliums, dessen Ideal das Reich der Wahrheit, der Liebe, aber auch vor allem der Freiheit ist.