Strauß als Selbstbiograph und Dichter
[426] Strauß als Selbstbiograph und Dichter. Als David Friedrich Strauß vor nunmehr drei Jahren gestorben war, haben wir in ausführlicheren Schilderungen auf die eingreifende geschichtliche Bedeutung des großen Kritikers und Schriftstellers mit dem Bemerken zurückgewiesen, daß der Inhalt dieses Lebens noch nicht voll und allseitig zu überblicken, das ganze Verständniß seiner inneren Zusammenhänge und äußeren Geschicke durch die vorhandenen biographischen Ermittelungen noch keineswegs erschlossen sei. Unser in drangvoller Hast vorwärts treibendes Jahrhundert stürmt sonst mit erschreckender Schnelligkeit über die Gräber seiner verdienten Todten hinweg. Dennoch hat es in seinem Verlaufe Persönlichkeiten sterben sehen, deren Wirken ein so mächtig breiter Strom von Licht und Wärme entflossen ist, daß selbst diese eilige und leicht vergessende Zeit den Blick nicht wieder von ihnen abzuwenden vermag. Wie die längst entschwundenen Gestalten eines Lessing, eines Goethe und Schiller bis heut ein Gegenstand unablässigen Forschens und Sinnens geblieben sind und es in aller Zukunft auch bleiben werden, so ist auch die Nachwelt mit dem Bilde eines Strauß nicht in jenem bewegten Momente fertig geworden, als trauernde Liebe und Bewunderung seinem frischen Grabe den reichsten Lorbeerschmuck gespendet hatte. In der That sind denn auch seit seinem Tode manche tiefere Urtheile über ihn, manche interessante Aufschlüsse und Ergänzungen zu seiner Lebensgeschichte veröffentlicht worden, aber das Beste und Bemerkenswertheste in dieser Hinsicht ist doch von ihm selbst gekommen. Es hat der Todte über seine Person und sein Wirken zu den Ueberlebenden gesprochen.
[427] Schlägt man den ersten Band der jetzt endlich (bei Emil Strauß in Bonn) erscheinenden Ausgabe der Strauß'schen „Gesammelten Schriften“ auf, so findet man als erste Gabe dieser vortrefflich geleiteten Sammlung unter dem Titel „Literarische Denkwürdigkeiten“ eine fortlaufende Reihe bisher ganz unbekannt gebliebener Aufzeichnungen, die sich im Nachlasse des Autors vorgefunden haben. Es sind dies tagebuchartig niedergeschriebene Rückblicke und Selbstbekenntnisse, die Strauß leider etwas spät begonnen und zu frühe wieder abgebrochen hat. Ein Bruchstück also, aber voll anziehendsten Reizes, ungemein werthvoll durch bedeutsamen Inhalt und liebenswürdige Form, überraschend vor Allem durch die gänzlich unbefangene Gegenständlichkeit, mit welcher der große Charakterzeichner hier die Kräfte und Schwächen des eigenen Selbst beleuchtet, als ob er von einem Andern spräche. So klar und scharf, mit so viel psychologischem Tiefblick und unbeugsamem Wahrheitssinn, zugleich aber auch mit einer so anmuthig-ruhigen Heiterkeit hat kaum jemals ein hervorragender Schriftsteller sich Rechenschaft gegeben über die Art, den Werth und die Grenzen seines Schaffens und seiner Leistungen. War das der kalte Verstandesmensch, in welchem, nach der Behauptung der Gegner und nach der Ansicht oberflächlicher Freunde, das Herz keine Stimme, das Reich des Gemüthslebens keine Geltung hatte? Es ist ja richtig, daß Strauß in seinem Kampfe gegen die Theologie eine unerbittliche Schonungslosigkeit wider Ideale der überlieferten Gefühlswelt offenbarte, die Vielen theuer sind, die er jedoch als unechte und schädliche, als Hindernisse der menschlichen Entwickelung erkannte. Trotzdem hatten Tieferblickende längst geahnt, Näherstehende längst gewußt, daß auf dem Grunde dieser gewaltigen Verneinungskraft ein durchaus dichterisches Anschauen und Empfinden lebte, der Adel und Schwung eines künstlerisch beseelten Gemüthes, das nicht blos gelegentlich hervorbrach, sondern das Ganze der unter seinem Einflusse entstandenen Schöpfungen mit seinem warmen und reinen Athem durchhauchte. Und das ist es, was Strauß aus nun endlich selber in seiner bescheidenen Weise gesagt hat; ein wesentlicher Theil von dem Geheimniß seiner machtvollen Wirkungen ist dadurch nachträglich erklärt und enthüllt worden, enthüllt namentlich für alle diejenigen, bei denen kein Zweifel besteht, daß jenes „Stück von einem Poeten“ in ihm seiner wissenschaftlichen Forschung nur das schmelzende Feuer, den Glanz der Farbe und schönen Gestaltung verliehen, aber die mannhafte Entschiedenheit ihrer Beweiskraft in keiner Weise verdunkelt hat.
Wie Strauß in der ganzen Reihe seiner Werke niemals mit seiner gehobenen Stimmung, mit der zartbesaiteten Feinfühligkeit seiner unerschrockenen Kampfnatur ein gefallsüchtiges, auf weichliches Empfinden berechnetes Spiel getrieben, so auch nicht in der bezeichneten Selbstbeichte. Viel directer aber als aus den meisten seiner übrigen Schriften weht uns aus den Mittheilungen und dem schlichten Tone dieses kurzen Tagebuches die liebreiche Wärme des innersten Seelenlebens entgegen, welchem so schneidige Geistesthaten entsprossen sind. Dennoch würden uns die „Denkwürdigkeiten“ allein das Bild des Menschen noch nicht mit voller Lebendigkeit erschließen, wenn sie nicht eine Ergänzung und Bestätigung in einer gleichzeitig erschienenen Anzahl von Dichtungen gefunden hätten, die der Sohn aus dem Nachlasse des verewigten Vaters nur für die Freunde desselben hat drucken lassen. Man wußte ja schon, daß Strauß bei äußeren und inneren Anlässen gehaltreiche und schön geformte Verse mit Leichtigkeit auf das Papier zu werfen vermochte. Unbekannt dagegen war es bisher, daß nicht blos diese Gabe, sondern auch das Bedürfnis lyrischen Gefühlsausdruckes ihn durch sein ganzes Dasein begleitet, daß er fort und fort sein geheimstes Empfinden, alle verdüsterten, wie alle muthvollen und heiteren Stimmungen einsamer Stunden im Wohlklange dichterischer Ergüsse auszuhauchen suchte. Erst das „Poetische Gedenkbuch“ giebt uns in Betreff dieser Seite wahrhaft überraschenden Aufschluß; es ist wirklich ein duftiger Kranz kostbarer Blüthen und Blumen aus der verborgenen Seelengeschichte eines bedeutsamen Geisteshelden. Durch keines seiner Producte ist Strauß dem Gemüthsleben der Nachwelt so nahe gerückt worden, wie durch diese Auswahl seiner Gedichte, und aufrichtig muß es bedauert werden, daß das Buch noch nicht in weitere Kreise des gebildeten Publicums zu dringen vermag. Wer es gelesen hat, der wird auch überzeugt sein, wie hoch der „große Ketzer“ an erhabener Tugend und Liebe über den schwarzen Troß jener sogenannten „Frommen“ emporragte, der seinen Namen bis zum heutigen Tage gern in den Staub ziehen und der Lästerung der Unwissenden preisgeben möchte.