Staat und Recht
Literatur:
[Bearbeiten]- Meh-ti (chinesischer Philosoph), l’idee de la solidarité (übersetzt von David) p. 57 f.
- – Aristoteles, Politik p. 1252 f.
- – Thomas von Aquin, Summa theol. I 2 qu. 90.
- – Dante Monarchia, I 16.
- – Hugo Grotius, de jure belli ac pacis I 1, 14 und II 5, 23.
- – Hobbes, Leviathan c. 14 f.
- – Locke, On governement § 77 f, 95 f.
- – Spinoza, Tractatus theologico-politicus c. XVI 12 f.
- – Pufendorf, de jure naturae et gentium VII 1.
- – Vico, Scienza nuova (Ed. Nicolini) p. 171 f.
- – Rousseau, Oeuvres IV p. 428 f, V p. 63 f.
- – Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. § 44 f.
- – Fichte, Grundlage des Naturrechts (1796) § 17.
- – Hegel, Rechtsphilosophie § 182 f, 257 f.
- – Hegel’s Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie, herausgegeben von G. Lasson. (1913).
- – Lasson, System der Rechtsphilosophie, S. 162 f, 389 f.
- – Nietzsche, Nachgelassene Werke, XIII S. 194 f.
- – Spencer, Prinzipien der Soziologie (Übersetzung Vetter) I S. 522 f.
- – Berolzheimer, System der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie III. Philosophie des Staates.
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- – Eisler, Soziologie S. 53 f .
- – Cathreiner, Moralphilosophie (5. Auflage) II S. 387 f, 462 f.
- – Kohler, Rechtsphilosophie S. 38, 142, 203.
- – Kohler. In der Enzyklopädie der Rechtswissenschaft (2. Aufl.) I S. 1 f.
- – Kohler, Das Recht (in Buber, die Gesellschaft).
- – Kohler, Zur Urgeschichte der Ehe.
Das Recht entspringt aus der menschlichen Gemeinschaft und beruht darauf, dass die einzelne Persönlichkeit zwar nach einer Seite hin in der Gesellschaft und ihren Gesamtbildungen aufgeht, aber nur um nach der anderen Seite hin als Einzelwesen ihre Geltung zu erlangen und im Streben nach Selbstverwirklichung der Menschheit zu dienen.
Diese Stellung des Menschen beruht auf seiner gesellschaftlichen Natur: er wird, ähnlich wie in der Tierwelt das Herdentier, sich nur im Zusammenhalte wohl fühlen und nur hier etwas Beträchtliches leisten. Daher finden wir den Menschen von jeher in Gruppen : sämtliche uns bekannten Naturvölker leben in mehr oder minder innigen Horden zusammen; und wo die Hordenbildung ihren Zusammenhalt verlor oder gar zur Auflösung gelangte, hat auch die Bevölkerung ihren Halt verloren, und ihre Bedeutung für das Kulturleben ist dahin.
Man wird die ursprünglichen Gruppen und Horden nicht wohl als Staaten in unserem Sinne bezeichnen können. Sie haben zwar eine Herrschaft, die bald einem Einzelnen, bald der Versammlung der Erwachsenen, bald den Greisen, bald ausgewählten Personen zukommt, sie haben einen Zusammenhalt in ihrer Religion und in ihren religiösen Gebräuchen, sie bilden sich ein, von göttlichen Mächten erfüllt zu sein, und führen auf diese Weise ein genossenschaftliches Leben, das sich bald in Festen, bald in entbehrungsvollen Gebräuchen äussert. Der Einzelne aber muss hierbei den Geboten der Gesellschaft folgen und insbesondere in seinem ehelichen Leben, in dem Leben als Hordengenosse diejenigen Grundsätze beobachten, welche die Gesamtheit als dem göttlichen Wesen entsprechend erachtet. So ist das Recht bei diesen Völkern zum grössten Teil Hordenrecht, und zwar oft ein recht verwickeltes Hordenrecht. Daneben entsteht eine Menge von Gebräuchen, die sich nicht zum Recht verdichten, die aber doch beobachtet werden, weil man aus der Zuwiderhandlung die Nachteile göttlichen Zornes und ungünstigen Geschickes befürchtet.
Allmählich, nachdem die materielle Kultur sich entwickelt hat und die Völker zur Bodenpflege gelangt sind, tritt auch das Verhältnis zwischen Mensch und Natur stärker hervor. Die Natur wird in das menschliche Bereich gezogen, sie wird aus dem religiösen Frieden, in dem sie lag, aufgestört und den menschlichen Göttern unterworfen. Daher der verbreitete Brauch, durch Opfer und Sühnung die Götter zu begütigen, welche der rücksichtslose Eingriff in das Naturwalten verletzt hat. So entwickelt sich der Begriff des Eigentums, zuerst als Gesamteigentum und dann allmählich immer mehr als ein „Präcipuum“ desjenigen, der durch seine Arbeit sich mit der Sache in nähere Beziehung gesetzt hat. Die Verbindung zwischen Person und Sache ist zuerst eine religiöse, dann eine profan weltliche.
In der Horde erwirbt bald ein Institut die Hauptbedeutung, die Familie. Die Familie, nicht als Einzelfamilie, sondern als ganzes Geschlecht, als Gesamtheit der Personen, die in kenntlicher Verwandtschaft zu einander stehen, erfüllt lange Zeit eine Menge von Aufgaben der Kultur, welche die Horde nicht übernimmt oder auch gar nicht übernehmen kann. Allerdings erfolgt diese Kulturtätigkeit in eigenartiger Weise: während die Familie den Einzelnen an sich zieht, stossen sich die Familien gegenseitig ab und verbinden sich nur zu gewissen wichtigen Akten gemeinsamen Interesses. Auf diese Weise entstehen die Familienkämpfe, die Geschlechterkriege, welche ein so reiches Blatt in der Geschichte der Menschheit bilden und deren Erinnerung noch Jahrhunderte lang in Mythen und Gesängen nachklingt. Ein Element allerdings muss die Familien immer wieder einigen, nämlich die gegenseitige Eheschliessung, denn es gilt schon lange her als Gesetz, dass die Ehe nicht in demselben Geschlecht, sondern in einem anderen Geschlechte geschlossen werden muss. Und so stossen die Familien sich ab und vereinigen sich wieder.
Allmählich tritt das Einzelwesen kräftig und kräftiger hervor und sucht sich zur Geltung zu bringen, aber immer noch steht es unter der Disziplin der Familie, in letzter Instanz unter der Disziplin der Horde und muss sich seine Selbständigkeit mit Mühe erkämpfen.
In dieser Verfassung finden wir beispielsweise die griechischen Stämme nach der dorischen Völkerwanderung. Der Stamm selber bildet eine etwas lose Einheit der Geschlechter, Phylen, Phratrien, die sich wieder in Untergeschlechter teilen, und auf solche Weise ist die grössere Einheit durch die kleineren Gesamtheiten ständig in Schach gehalten.
[122] Eine der bedeutendsten Entwicklungen ist es nun, wenn das Geschlechtertum seine Kraft verliert und an Stelle dessen die örtliche Vereinigung der Stadt oder des Staates zur Geltung gelangt. Jetzt ist es nicht mehr die Familie, sondern der Staat, der die allgemeinen Interessen wahrnimmt, den Einzelnen im Zaum hält, dem Schwachen aufhilft, und an Stelle des Familienhauptes tritt der König oder in republikanischen Staaten das zeitweilige Staatsoberhaupt, der Kosme, und der Senat oder der Rat der Alten. Jetzt erst ist die Gesellschaft zum wahren Staate geworden, und der Gedanke, dass diese eine Gemeinschaft die wichtigsten Interessen zu wahren oder auch gar zu erfüllen hat, charakterisiert die moderne Zeit. Vielfach sucht der Staat durch gewisse Zwangsmittel den Einfluss der Geschlechter zu brechen; er fordert die gemeinsame Erziehung der Knaben, die gemeinsame Heerbildung der Männer, und so kommt es nicht selten, dass an Stelle der Familiengemeinschaft andere Gemeinschaften treten: Jünglingsgenossenschaften, Hetärien und dergleichen, welche dazu beitragen, den Einfluss der Familien und Geschlechter abzulenken.
Der Staat selber wird von Hegel als die Verwirklichung der sittlichen Idee bezeichnet und in fast überschwenglicher Weise gepriesen. Hegel sieht mit einer gewissen Geringschätzung auf diejenigen Zeiten herab, die noch nicht zu einer eigentlichen Staatsentwickelung gelangt sind, und nimmt an, dass erst im Staate eigentlich Kultur und Recht entstehen. Dies ist eine Übertreibung; aber richtig ist, dass die Rechtsbildung im Staate in gesteigertem Masse erfolgt und dass insbesondere, nachdem der Staat geworden ist, bedeutende Denker und Lebenskünstler die Staatsaufgabe erfassen und Anordnungen treffen, welche als geeignet erscheinen, den Fortschritten der Sittlichkeit, der Pflege des Schönen und der wissenschaftlichen Erkenntnis zu dienen; und auch die Verwirklichung des Rechtes durch Staatsorgane, durch Gerichte und Vollstreckungsbehörden kann in einer Weise erfolgen, welche bisher vergeblich erstrebt worden ist.
Dagegen kann nicht behauptet werden, dass der Staat die einzige Verwirklichung der Kulturidee ist; nicht nur müssen unter der Herrschaft des Staates kleinere Gemeinschaften bestehen, welche in einer gewissen selbständigen Weise die Prinzipien, die der Staat aufgestellt hat, im einzelnen durchführen; diese Gemeinschaften sind jetzt nicht mehr Familien, Geschlechter, Landsmannschaften, sondern örtliche Gemeinschaften, Provinzen, Gemeinden usw.; und je reichhaltiger die Ziele sind, welche die Menschheit sich steckt, und je eifriger die Bevölkerung an ihrer Verwirklichung arbeitet, um so mehr werden Vereine und Gesellschaften aufschiessen und ein Recht für sich verlangen. Vor allem wird der Vermögenstrieb zu neuen Vergesellschaftungen führen: man wird gemeinschaftliche Unternehmungen veranstalten, um die Natur zu besiegen, die Naturprodukte zu verarbeiten und sie in Handel zu bringen. Und so bildet sich neben der staatlichen Genossenschaft eine Fülle privater Genossenschaften, Gesellschaften, Vereine: Vermögen und Vermögen, Vermögen und Arbeit verschwistern sich, und unter dem Schutze des Staates wirken neue und mächtige Gemeinschaften.
Aber auch ideale Mächte ziehen eine Fülle menschlicher Bestrebungen an sich, und erwerben oft gegenüber dem Staat eine selbständige Stellung. Die Kirche lenkt die Menschheit zu neuen Zielen und macht ihre Ideale auch dem Staat gegenüber geltend. Es entstehen Konflikte, welche sich allmählich in dem Sinne lösen, dass das äussere Rechtsleben dem Staate allein überlassen wird, die Kirche aber um so mehr an der Fortbildung des inneren Menschen arbeitet. Auf der anderen Seite lässt sich die strenge Trennung der Staaten nicht mehr aufrecht erhalten, und der völkerrechtliche Verkehr bildet die Brücke zu Staatsgebilden, in welchen der einzelne Staat mehr oder minder sein Recht einem grösseren Ganzen überantwortet; so entstehen Staatenbünde mit Vergesellschaftung der staatlichen Tätigkeit, so entsteht schliesslich der Bundesstaat, jene grossartige Schöpfung der Vereinigten Staaten, welche seinerzeit allerdings schon der griechische Geist versucht, welche aber erst die englisch-amerikanische Energie vollendet hat. In Bundesstaaten hat sich der Norden, wie der Süden Amerikas zurechtgefunden, und Deutschland und die Schweiz, ehemals lose Staatenbünde haben durch die bundesstaatliche Verfassung Kraft und Stärke gewonnen.
In diesen Gemeinschaften wirkt nun das Recht.
Die Gemeinschaft gibt dem Einzelnen seine Stellung als Persönlichkeit mit allem, was damit zusammenhängt; sie sichert ihm seine Selbständigkeit in der Familie, die sich jetzt allerdings auf [123] die nächsten Mitglieder beschränkt; sie wahrt dem Einzelnen sein Eigentum und das Recht seiner Immaterialgüter; sie gibt ihm die Befugnis, sein Vermögen neu zu gestalten und Verträge nicht nur für die Gegenwart, sondern auch für die Zukunft zu schliessen, sie gibt ihm die Möglichkeit, sich durch Versprechen zu binden und sich in gewissem Masse seinem Nächsten zu unterwerfen; sie gibt aber vor allem dem Einzelnen die Fähigkeit, durch Gesellschaft und Vereinsbildung über die Schranken des Individuums hinauszugehen und sich Aufgaben zu stellen, denen der Einzelne nicht gewachsen wäre.
Diese rechtsschöpferische Gemeinschaft konzentriert sich, sobald die Staatenbildung sich vollzogen hat, im Staate; wie das Recht früher ein Recht der einzelnen Horden, Geschlechter, Verbände gewesen war, so wird es jetzt ein staatliches Recht. Der Staat übernimmt das Recht nach allen Seiten hin, und er bestimmt es durch seine Gesetzgebung in souveräner Weise. Die rechtsschöpferische Gewalt anderer Mächte muss der des Staates weichen, die Autonomie der übrigen Gemeinschaften wie der Kirche wird auf ihr Gebiet beschränkt, in der Sphäre des allgemeinen Rechts waltet der Staat absolut.
Er weiss auch das Recht zur Durchführung zu bringen und gewährt die Zwangsmittel des Prozesses und die äussersten Mittel des Strafrechtes, damit die Rechtserfordernisse nicht bloss Erfordernisse bleiben, sondern zur Wirklichkeit werden.
Soll dieses staatliche Recht ein absolutes und ausschliessliches bleiben?
Das absolute staatliche Recht erlitt schon früher einige Beschränkung. Man nahm insbesondere an, dass der Staat sich über gewisse Privilegien, welche bestimmten Personen eine sichere Rechtsstellung gewähren, nicht hinwegsetzen dürfe. Hiergegen hat allerdings die Staatsidee seit dem 18. Jahrhundert sich gewehrt, und sie hat hier einen siegreichen Fortschritt zu verzeichnen: der Staat lässt sich heutzutage durch derartige Rücksichten nicht mehr in seiner Gesetzgebung beschränken; er betrachtet es zwar als eine Ehrenpflicht, bestehende Rechte möglichst zu schonen, doch ohne seiner Gesetzgebung bestimmte Schranken aufzuerlegen. Aber eine andere höhere Gewalt sucht sich in der neueren Zeit über den Staat zu legen: es ist das überstaatliche oder Völkerrecht, welches aus völkerrechtlichen Betätigungen, insbesondere aus Staatsverträgen entspringt; denn mehr und mehr dringt die Überzeugung durch, dass solche Staatsverträge nicht bloss die Staaten gegenseitig binden, sondern auch den einzelnen Personen , für welche sie sorgen wollen, ein Recht gewähren, das über der staatlichen Gesetzgebung steht und durch den Staat nicht angetastet werden kann. Man kommt mehr und mehr zur Überzeugung, dass es völkerrechtliche Befugnisse gibt, die den Einzelstaat nicht antasten darf. So muss auch die Souveränität des absoluten Staates vor höheren Mächten kapitulieren.
Auf solche Weise wird auch hier der ewige Satz zur Wahrheit, dass Gemeinschaft und Recht mit einander in nächster Verbindung steht; diese Gemeinschaft wird in ihrer Gewalt lange Zeit durch den Staat mehr oder minder absorbiert, aber immer werden neue Kräfte mächtig werden, welche einen Teil der Rechtsschöpfung an sich ziehen. Auch hier denken wir die Hegelschen Gedanken weiter: ist der Staat zeitweise der Träger der Kultur, so werden doch immer wieder neue Mächte erstehen, welche einen Teil der Rechtsbildung übernehmen. Denn alles ändert sich im Wechsel der Kultur.