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Stäubchen

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Textdaten
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Autor: Kurd Laßwitz
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Titel: Stäubchen
Untertitel:
aus: Seifenblasen. Moderne Märchen. S. 23–39.
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Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Leopold Voß
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Erscheinungsort: Hamburg und Leipzig
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Quelle: ULB Düsseldorf, Deutsches Textarchiv und Commons
Kurzbeschreibung:
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[23]

Stäubchen.




Ein frischer Ost milderte die Kraft der Sonne. Ihr klarer Schein lag über dem langgestreckten Thale, strahlte zurück von den blanken Eisenschienen und dem hellen Kies der kleinen Bahnhofsstation und glänzte auf der Wolke von Dampf und Staub, in welcher der Schnellzug donnernd sich entfernte.

Richard erinnerte sich kaum der letzten Minuten, wie er Lenoren und ihrer Mutter gegenüber Platz genommen. Sein guter Freund Viktor, mit dem wohlgenährten Gesichte und der goldenen Brille des praktischen Arztes, hatte auf dem Perron gestanden und als Schluß des Handgepäcks Lenoren einen prächtigen Rosenstrauß überreicht. Wie warm waren Blick und Worte, als sie ihm dankte: „Auf Wiedersehen!“

„In acht Tagen,“ hatte Viktor gerufen, „eine lange Zeit! Zu ärgerlich, daß ich mich nicht eher hier frei machen kann. Unterhalte die Damen, Richard, und träume nicht! Du sitzest vorwärts und auf der Windseite, aber Ihr Dichter legt ja wohl darauf kein Gewicht.“

Durch die Bewegung des Zuges war das Gespräch [24] abgeschnitten worden. Noch einmal winkte Lenore mit dem Rosenstrauße hinaus und fragte dann ihre Mutter, ob sie auch bequem sitze. Sie sei sehr müde, erklärte die stattliche Dame und lehnte sich behaglich in die Ecke.

Richard sah schweigend auf sein schönes Gegenüber. Der Wiederschein eines breiten rotseidenen Hutrandes hüllte ihre anmutigen Züge in ein reizvolles Dämmerlicht, aus welchem zwei dunkle Augen verführerisch hervorleuchteten. Er kannte diese Augen von Jugend auf. Die Träume des Jünglings waren von ihnen durchleuchtet, und ihr Glanz hatte den Mann aus der Ferne zurückgezogen nach der Heimat. Nach langer Trennung war er jetzt in ihrem Schimmer seit Wochen gewandelt im leichten Verkehr sommerlicher Erholung, unterm Waldesschatten und frischen Lufthauch der Berge. Hatte er wiedergefunden, was er hoffte erwarten zu dürfen? Die Knospe war erblüht; hauchte sie auch den süßbelebenden Duft der Rose? Wie anders hatte er sich die Heimfahrt gedacht! Sollte fremd und unverstanden bleiben, was ihm das innerste Herz bewegte, und gab es keine Regung in dieser schönen Hülle, die den Flug seiner Seele zu begleiten vermochte? Ein schmerzliches Lächeln zuckte um seinen Mund.

Der Zug rollte hinaus in die Ebene, und Lenore spielte zerstreut mit dem Griff ihres Schirmes. Ein Sonnenstrahl fiel schräg von der andern Seite des Wagens herein, und tausend kleine Stäubchen tanzten zitternd im goldigen Scheine. Da blitzt es hervor wie [25] ein helles Pünktchen, auf und ab wiegt es sich und nun ist’s hindurchgeschwebt durch den schmalen Lichtstreif und verschwunden im Dunkel. Woher kommt ihr, kleine Gestalten, wohin geht ihr, und was sucht ihr im weiten Raume? Was treibt euch in ewiger Unruhe zu spielen, zu irren, zu flüchten? Im Lichte schwebt ihr, aber nur auf dem dunklen Hintergrunde des Schattens habt ihr Leben und Erscheinung! Ach nur das Unerreichliche lockt die Sonnenkinder, das ewig Verlorene und das nie Geborene. — Strebend nach dem Strahlenglanze des Glücks flattert ihr an der Nachtgrenze des Leides, Boten der Sehnsucht schweift ihr umher und findet nimmer!

„Welch abscheulicher Staub,“ sagte Lenore und fuhr mit ihrem Sonnenschirm in den Lichtstreifen, daß die Stäubchen wild durcheinanderwirbelten. „Nun haben Sie den kleinen Wesen ihren schönen Tanz gestört,“ sagte Richard. „Thut es Ihnen nicht leid?“

Lenore sah ihn verwundert an. „Sie sind seltsam,“ erwiderte sie. „Sie sagen das so ernsthaft, daß man fast einen Schreck bekommt, als könnte man auch dem Staube unrecht thun. Ich wundere mich nur, daß Sie mir diese interessante Gesellschaft nicht förmlich vorgestellt haben: Herr von Sonnenstaub — Fräulein Lenore. Ich hätte Lust zu einem kleinen Luftwalzer.“ Sie lachte übermütig und schlug noch einmal in den Lichtstreifen.

„Sagen Sie den Herrschaften, daß sie mir sehr [26] gleichgiltig sind. Staub ist Staub und sollte garnicht geduldet werden.“

„Warum nicht?“ fragte Richard ruhig. „Glauben Sie nicht, daß jedes von diesen kleinen Stäubchen seine Geschichte hat, jedes vielleicht seinen eigenen Charakter und eine Aufgabe im großen Wirbeltanz, den man Welt nennt?“ „Immer besser!“ erwiderte Lenore spottend. „Nächstens behaupten Sie, daß auch das Sandkörnchen dort in der Cigarrenasche auf dem Fensterbrett einen Roman erlebt habe.“

„Ganz gewiß hat es ihn erlebt.“

„Das heißt, der Wind hat es irgend einmal hereingeblasen und wird es wieder hinausblasen!“

„Aber wie wollen Sie wissen, woher und wohin? Das Körnchen und jenes Stäubchen, das dort wieder im Sonnenlicht aufblinkt, vielleicht haben sie sich seit Jahrtausenden nicht gesehen und begrüßen sich gerade jetzt mit zärtlichen Blicken? Vielleicht sind sie selbst berufen, in unser Leben einzugreifen und seinen Gang zu entscheiden?“

„Sie werden unheimlich, Richard. Es ist nicht behaglich, sich überall unter mysteriösen Gestalten und Gewalten zu sehen. Verzeihen Sie mir, das sind Phantastereien, die ich nicht liebe. Ich sehe die Sachen, wie sie sind, und dann weiß ich, was ich zu thun habe. Aber natürlich — Sie sind ja ein Dichter, warum sollen Sie nicht die Sprache des Staubes verstehen? Ich begnüge mich damit, ihn abzuwischen.“ [27] Und sie blies leise über den Griff ihres Sonnenschirms hinweg.

„Wer nicht mit den Dingen lebt, die ihn umringen, wer sich nicht Eins fühlt mit dem geheimen Weben, welches das große All in ewigem Zusammenhange durchflutet, dem wird nur zu leicht auch jedes freiere Streben der Menschen leer und nutzlos erscheinen, soweit es ihm nicht die eigenen Zwecke fördert —“

„Um Gottes Willen, keine Predigt — ich glaube, ich habe Sie schon oft darum gebeten. Lieber erzählen Sie, was Sie an dem Stäubchen oder Körnchen so Absonderliches finden.“

„Ich denke mir,“ begann Richard nach kurzem Besinnen, „weit im sonnigen Süden auf hohem Bergesrücken einen kahlen Felsblock. Ein zartes Glimmerblättchen schmiegt sich an ein Quarzkörnchen, das neben ihm einstmals aus gährendem Mutterschoß der Erde erstarrt war. Weithin schauten sie über die Lande und hinab in die schattigen Haine von Lorbeer, Myrte und Oliven, in welchen die weißen Tempelsäulen ragten und Menschen schritten in Festgewändern. Das Glimmerblättchen sehnte sich hinaus in die Freiheit. Wenn die Musen ihren Reigen führten auf ihrem heiligen Berge und es ihrem Sange lauschte vom Leide der Götter und der Menschen, da wäre es gern hinabgeschwebt, mit ihnen die Herzen zu rühren und sie nach sich zu ziehen im Streben nach dem Unerreichlichen, nach dem Unerfüllbaren, welches das Ewige ist. Aber aus alter Gewohnheit haftete es an dem Quarzkörnchen, und das Quarzkörnchen [28] sagte: „Kümmere Dich nicht um solchen Unsinn! Sind wir nicht hier auf einer anständigen Höhe! Was geht uns der Staub im Thale an?“ Das Glimmerblättchen mochte es nicht länger ertragen, so reden zu hören, und es wünschte erst recht in die Ferne zu schweifen. Es dehnte und bog sich in der Sonnenglut, Regen und Schnee scheuerten an ihm, und eines Tages kam der Sturm und riß es ab; als ein ganz winziges, kaum sichtbares Splitterchen flog es in die Höhe, aber es war sich genug; denn nun war es ein Sonnenstäubchen geworden.“

„Nun wird es hoffentlich einmal etwas erleben,“ sagte Lenore.

„Lange flatterte es umher und freute sich der Wonne des Schwebens, dann sank es ermüdet auf den Sand. Da kam es daher wie Donner, Hufe der Rosse stampften die Rennbahn und Staub wirbelte auf um die klingenden Räder der Wagen, die um das Ziel rasselten. Ein linder West trug das Stäubchen mit Tausenden seiner Genossen in die nahen Hallen des Heiligtums, und im schrägen Sonnenstrahl tanzte es zum erstenmal den Reigen der Sonnenkinder.

Ein trauerndes Weib lehnte an einer Marmorsäule und blickte mit thränenfeuchten Augen in den dämmernden Lichtstreifen, der sich durch die Halle zog.

„Weilst Du unter ihnen Chloris?“ flüsterte sie fragend. „Seele meiner geliebten Kleinen, die sie zu früh hinatmete in den Äther, spielst Du mit den Geschwistern in Helios’ Strahlenreiche? Habt sie lieb, [29] flatternde Seelen, die ihr umherschwebt als Sonnenstäubchen; wie ich sie liebte, so hütet sie zärtlich! Und ihr Windgötter, hohe Gewalten, die ihr die Seelen der Geschiedenen bewegt im Luftkreise, ehrwürdige Tritopatoren, die ihr sie zurückführt, damit sie geboren werden zu neuem Erdenleben, schützt sie, die Seele meiner Chloris, gebt ihr dereinst eine glücklichere Mutter als mich, die Einsame!“

Sie verhüllte ihr Antlitz mit dem Schleier und schritt die Stufen hinab, weinend.

Das Sonnenstäubchen aber merkte, daß ihm die geheime Macht gegeben war, die Seelen der Menschen emporzuziehen und zu erfüllen mit Sehnsucht nach dem, was ihnen lieb war, und heiligen Schmerz um das Verlorene in die Herzen zu streuen. Stolz hob es sich im Lichte, aber die Sonne ging hinter die Berge, sein kurzer Glanz erlosch, und es stieß an eines der Weihgefäße, die im Tempel standen. Zum Unglück geriet es in eine Randverzierung, darin noch ein Tröpfchen Wein im Eintrocknen begriffen war, und dort blieb es kleben.“

„Das kommt davon,“ sagte Lenore und schnappte das Schloß ihres Reisetäschchens zu, womit sie gespielt hatte. Richard sah sie enttäuscht an. Wie schön war sie und wie gleichgiltig ruhten diese Züge!

„Das kommt davon,“ wiederholte er leise.

„Ihr Stäubchen mag sich übrigens trösten,“ begann sie wieder, „an Wein und Gold sind schon Bessere kleben geblieben.“

[30] Als Richard nichts erwiderte, fragte sie: „Nun — und klebt es noch immer?“

„Es wurde ganz eingesargt,“ antwortete Richard. „In’s stille Heiligtum drang der Lärm der Waffen, Römerkrieger schleppten die Gefäße heraus, die goldene Schale ward zu einem Klumpen zusammengeschlagen und eingeschmolzen, und das Glimmerblättchen geriet zum Unglück in irgend ein Goldstück. In tiefem Schlummer lag es im goldenen Sarge und mit ihm schlief die Sehnsucht. Denn nur im Lichte leben die Sonnenstäubchen und irren flatternd umher nach unbekanntem Ziele. Das Gold rollte seinen Weg durch der Menschen Hände ein Jahrtausend lang, gierig streckten sich die Finger danach aus, nach dem Sonnenstäubchen fragte niemand.

Richard schwieg und Lenore unterdrückte ein leichtes Gähnen. „Die römischen Goldstücke sind etwas plump,“ sagte sie. „Ich habe eine Brosche aus einem solchen – – Himmel, wir haben doch die kleine Brosche nicht vergessen?“

„Sie ist im Koffer,“ antwortete die Mutter mit halbgeöffneten Augen und legte das Taschentuch unter ihre Wange, um besser weiter zu schlummern.

Richard sah stumm zum Fenster hinaus. Ich wußte es, dachte er schmerzlich bewegt. Was kümmert sie das Stäubchen, das der Sturm vom Gipfel des Parnassos riß, um es unverstanden zu begraben?

„Was wurde nun aus dem Goldstück?“ fragte Lenore. „Das möchte ich doch wissen, vielleicht wird es jetzt lustiger.“

[31] Ein hartes Wort schwebte Richard auf der Zunge, aber er überwand sich und fuhr nach kurzer Pause fort:

„Grünes Weinlaub umrankt die enge Fensteröffnung einer Klosterzelle. Frühlingshauch trägt die Düfte des blühenden Flieders herein, und ein schmaler Sonnenstreifen gleitet vorwitzig bis auf das weiße Pergament, auf welchem ein prächtiger Anfangsbuchstabe im Entstehen begriffen ist. Ein Mönch sitzt davor und glättet an dem Goldgrund, den er sorgfältig aufgetragen; seine Gedanken sind ganz bei dem kleinen Bilde, welches die heilige Geschichte zieren soll. Da verschiebt er ein wenig das Pergament, die Sonne trifft auf das Gold und das glättende Elfenbein, und aus dem Golde löst sich das kleine schimmernde Glimmerstäubchen. Der Mönch weiß nicht, daß er es sieht, aber wie es im Lichte tanzt, muß sein Auge dem Sonnenstreifen folgen, bis dieser im grünen Weinlaub sich verliert, und nun — — Er sieht nicht mehr die Zelle und das Fenster, die stille Laube erblickt er im Ritterhofe des Vaters, wo er vor Jahren gestanden, und schaut in zwei milde blaue Augen und ein Antlitz, von Liebe leuchtend, das sich ihm zuneigt. Mit beiden Händen hält er Mathildens Hand umfaßt, und ihre Worte vernimmt er wieder, wie er zum letzten mal sie hörte: „Leb wohl, mein Freund!“ Verlieren soll er sein Glück und seine Hoffnung und weiß doch, daß sie ihn liebt, heiß und innig, und elend ist im Scheiden, wie er. Warum, o warum? „Es muß sein, mein Freund. Lieben ist süß, und Gehorsam ist bitter; aber gehorchen werd’ ich und folgen dem Gebote des [32] Vaters, und ihm, den er gewählt. Ich liebe dich, doch ich gehe in die Pflicht. Murre du nicht gegen Gottes Ordnung — o könnt’ ich helfen dir und deinem Leid, einen Trank dir geben zu vergessen — um mich sorge nicht, ich bin stark und kräftig und will leben, und du bist ein Mann.“ — Wie einen letzten Kuß fühlt’ er’s brennen auf seinen Lippen — in der Ferne sah er einen Reiterzug verschwinden — es war ihm, als hörte er nächtliches Weinen — in tiefem Schmerz stöhnte er auf. —

Da verlosch der Sonnenstrahl am Fenster, in welchem das Stäubchen tanzte, er aber stürzte nieder vor dem Crucifix und griff nach der Geißel, die daneben hing, und die Mönche in den Nachbarzellen sagten: „Der Bruder Kunibert treibt es heftig.“

Lenore zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht,“ sagte sie, „was Sie davon haben, immer solch traurige Geschichten zu erzählen.“

„Ich hatte Ihnen ja gesagt, es ist die Gabe des Sonnenstäubchens, den Menschen das Innerste aufzurühren in der Sehnsucht um das Unerreichbare. Kämpfen nicht Pflicht und Liebe überall ihren unlöslichen Streit, und ist’s nicht etwas Großes um das Können, die Bilder des Lebens aufzurollen der durchschauerten Seele?“

„Das mag wohl über meinen Horizont gehen,„ sagte sie. „Ich finde es sehr unbequem und ungemütlich, immer an Unangenehmes zu erinnern; so etwas muß man vergessen —“

[33] „Ganz richtig — man muß vergessen.“ —

„Der Klosterbruder kann Einem höchstens leid thun. Da ist Mathilde jedenfalls vernünftiger. Sie ist hoffentlich glücklich geworden?“

„Wir hoffen es,“ antwortete Richard trocken. „Sie war ja eine „starke Natur“, der die Sonnenstäubchen nichts anhaben. Sie bekam sieben Söhne und sieben Töchter und alle haben sich glücklich verheiratet.“

„Sie sind abscheulich,“ rief Lenore. Dann öffnete sie ihr Täschchen und holte eine elegante Bonbonniere hervor, die sie ihm darbot.

„Es soll Gnade für Recht ergehen,“ sagte sie. „Hier haben Sie etwas Herzstärkendes. Nun seien Sie aber vernünftig. Die Sehnsucht nach dem Unerreichbaren mag ja ganz hübsch sein für — Sonnenstäubchen, für unser Einen ziehe ich etwas Solideres vor. Nehmen Sie diese Chokolade — Sie danken? Jedenfalls aber erzählen Sie noch etwas Nettes vom Quarzkörnchen — und nun nicht mehr sentimental.“

Richard verneigte sich ironisch. „Auf die Gefahr, Ihnen noch mehr zu mißfallen. Das Quarzkörnchen langweilte sich und dachte, wenn das Glimmerchen ein Sonnenstäubchen geworden ist, warum soll ich mich nicht amüsieren?[1] Ich bin eigentlich ein Kristall; ich habe eine elegante Figur und eine blanke Oberfläche. Man wird sich freuen, mich in der Gesellschaft zu begrüßen. Man wird mir huldigen. Warum soll ich den Menschen nicht einen Gefallen thun?

Ein Jahrtausend und noch eins war vergangen, [34] seitdem das Glimmerblättchen entflogen, da sprengte ein frischer Nachtfrost das Körnchen los und es glitt über die Schneewand zu Thale. Bald rollte es im Wasser vom Bach zum Fluß und vom Fluß zum Meere; eine Woge schleuderte es auf den Strand, die Sonne trocknete schnell seine Seiten, und es fand sich zu seinem Vergnügen glatter und schöner wie je. — Wenn mich das Glimmerchen jetzt sehen könnte, dachte es, das würde sich gleich wieder in mich verlieben. Ein Wirbelwind erfaßte das Körnchen und warf es auf die Landstraße.

„Könnt’ ich mich nur erst den Menschen bemerklich machen,“ sprach es bei sich, „wie würden sie mich bewundern!“

Endlich kam ein Maultiertreiber vorüber, der trat auf das Körnchen mit seinen nackten Füßen und es bohrte sich vergnüglich in seine Sohle. Nicht lange, so fand der Treiber das ungemütlich; er begann zu fluchen. „Aha,“ dachte das Körnchen, „er fängt schon an mich zu bemerken; das sind die ersten Seufzer des Herzens.“ Und es bohrte recht kräftig weiter mit seinen Kanten und Ecken. „Verwünschter Weg!“ sagte der Treiber, griff nach seiner Decke, die auf dem Maultier lag, und rieb damit seinen Fuß. Dann warf er die Decke wieder auf das Tier. Das Körnchen haftete an der Decke und rutschte zwischen die Säcke, die das Maultier trug. Sie waren mit Korinthen gefüllt und wurden zu Schiffe gebracht. Das Körnchen war ziemlich zufrieden mit seinem ersten Erfolge, es kroch [35] durch eine dünne Stelle des Gewebes und bettete sich recht bequem zwischen den kleinen Rosinen. Es dachte sogar nach: was der Mensch auf der Straße sagte, war nicht übel, es schien ein Gedicht, das man auf mich machte; man könnte es in Musik setzen. Doch darauf lege ich keinen Wert. Ich finde es sehr rücksichtsvoll, daß man mich so mit Süßigkeiten umgeben hat. Und das war nur eine oberflächliche Bekanntschaft! Wie werde ich erst wirken, wenn man mich näher kennen lernt.“

Sollten Sie dem Sandkörnchen nicht unrecht thun?“ unterbrach Lenore die Erzählung. „Warum muß es so prätentiös sein?“

„Es war eben so — es war ein Sandkörnchen und dachte wie ein Sandkörnchen, und als solches war es sich selbst die Hauptsache.“

„Sie müssen’s ja wissen.“

„Leider — je länger ich dem Sandkörnchen folge, um so sicherer weiß ich, daß ich nicht irre — es war kein Sonnenstäubchen —“

„Und wollte auch keines werden,“ sagte Lenore nachlässig.

Richard warf einen langen Blick auf sie und schwieg.

„Ich möchte nur wissen,“ hub Lenore plötzlich wieder an, „wozu nach Ihrer Idee so ein Sandkörnchen eigentlich gut ist. Ich denke, es hat alles seine „ewige Aufgabe“ — oder wie Sie das Ding nennen.“

„Gewiß, und auch das Körnchen erfüllt sie nach seiner Art; und wenn es nur wäre —“

[36] „Und wenn es nur wäre —?“

„Um Illusionen zu zerstören —“

„Ah — lassen Sie hören!“

„Wie Sie befehlen.“

„Eines Tages wurde es wieder hell um das Körnchen. Es fand sich nebst einigen Korinthen zwischen den Fingern eines Kindes, das eben von jenen naschen wollte, als die älteste Schwester in das Zimmer trat und ihm auf das Händchen klopfte. Das Kind ließ die Rosinen los und begann zu weinen; das Körnchen war bis auf den Tisch geflogen.

„Man reißt sich um mich,“ sprach es, „man gönnt mich niemand.“

Das junge Mädchen, welches das Kind zurechtgewiesen, trat an den Tisch und sagte: „Da hat der Bruder wieder Streusand ausgeschüttet,“ und — eins — zwei — drei — hatte sie das Quarzkörnchen mit dem Streusand in die Büchse gefegt. Die vom Streusand moquierten sich über seine Toilette; es sei nicht einmal blau gefärbt, meinten sie. Das Quarzkörnchen aber bemerkte hochmütig, auf dem Parnaß sei Weiß Mode, und darauf käme es doch wohl an. Indessen hatte sich das junge Mädchen an den Tisch gesetzt und einige Worte auf einen Zettel geworfen.

„Lieber Werther. Erkundigen Sie sich doch bei dem Kaufmann, wann er wieder frische Orangen bekommt. Nächsten Mittwoch erwarten wir Albert. Auf Wiedersehen! Lotte.“

Einen Augenblick wurde sie nachdenklich, dann[2] [37] trällerte sie eine Française und tanzte einmal auf und ab durch die Stube. Sie faltete den Brief und gab ihn dem Boten.

Ein ernster Mann stand in seinem Zimmer. Durch das Fenster zog die Sonne des Sommerabends ihre Lichtstreifen, und unser Glimmerblättchen schwebte darin. Er preßte die Hände zusammen, und sein starrer Blick folgte den Strahlen. Er sah die großen schwarzen Augen jenes Mädchens vor sich — diese Augen — und diese Lieblichkeit und Anmut — niemand kann sie beschreiben, außer Einem, der hat’s gekonnt, und alle Welt hat’s gelesen — —

„Wie soll das enden?“ rief er seufzend. „Ich will sie nicht wiedersehen und lebe doch nur in der Hoffnung, daß ich sie sehen werde. Meine Arme streck’ ich aus, eine Welt möchte ich umarmen und in’s Leere fass’ ich, das mit trügerischen Hoffnungen erfüllt ein Traum mir vorgegaukelt. Und ich wußte es, daß es ein Traum sein müsse — und doch! O Lotte, Lotte!“

Mit diesem Seufzer griff er nach dem Zettel, der geöffnet neben ihm lag, er riß ihn mit sehnsüchtiger Glut an seine Lippen und drückte einen heißen Kuß auf den Namen der Geliebten.

„Endlich!“ sagte das Körnchen und sprang ihm zwischen die Zähne, daß sie knirschten. Und mit dem Tuche, das eben seine Thränen benetzt, wischte er sich den Streusand von den Lippen —“

„Nun?“ fragte Lenore, da Richard schwieg. „Und [38] die Moral der langen Geschichte, wenn sie etwa zu Ende sein sollte?“

„Ich fürchte, sie ist es,“ sagte Richard und sah ihr mit tiefem Ernst in das Gesicht. „Oder halten Sie es nicht für ein gutes Ende, wenn man die Lippen zum Kusse der Sehnsucht öffnet und den Mund voll Sand bekommt? Als das Sonnenstäubchen auf dem Boden von Werthers Zimmer das Quarzkörnchen wiedersah, mit welchem es auf dem Parnaß zusammen gewohnt, da flatterte es sehnsüchtig zu ihm nieder und wollte sich an seine Seite schmiegen. Aber das Körnchen sagte: „Entschuldigen Sie, ich bin jetzt erwachsen und in der Welt herumgekommen, und das schickt sich nicht.“ Und das Stäubchen erzählte ihm, daß es die angeborene Göttergabe erprobt habe und nun hoffen dürfe, im Reigen der Sonnenkinder zu schweben, ein Führer den Menschen zu lichten Höhen, wo das Leid der Erde sich löst im Schimmer der ewigen Schönheit. Da sagte das Körnchen: „Ich mache mir nichts aus dem Herumfliegen, ich bin eigentlich ein Krystall und gehöre in eine gediegene Fassung.“ Und wieder sprach das Stäubchen: „Du schöner, kalter Krystall, trotz alledem — wenn Du mir nur wiederspiegeln wolltest einen Strahl meiner Sehnsucht, nur einen Funken innigen Mitgefühls, und verstehen wolltest, was ich Dir sage —“

Mit unterdrücktem Schmerzensruf fuhr Richard mit der Hand an sein Auge, das er nicht zu öffnen vermochte. Er bedeckte sein Gesicht und versuchte das thränende Lid zu trocknen.

[39] „Was ist Ihnen?“ fragte Lenore.

„Das Sandkörnchen,“ sagte er und wandte sich ab.

Es hatte lange genug am Fensterbrette gespielt; jetzt hielt es seine Zeit für gekommen, es sprang in die Höhe und vom Winddrucke des Schnellzuges getrieben flog es in das Auge des Dichters. Lenore lachte laut auf und rief: „Das ist die Strafe, warum haben Sie das Quarzkörnchen schlecht gemacht! Sie sehen furchtbar komisch aus, wenn Sie so zwinkern!“

Richard lehnte sich schweigend zurück. Es gelang ihm, nach einiger Zeit mit dem Zipfel seines Tuchs das Körnchen zu entfernen, aber das entzündete Auge schmerzte ihn, und er hielt es geschlossen. Der Zug rasselte über Weichen, Häuserreihen tauchten auf, man hielt am Bahnhof. Lenore blickte hinaus. „Ach,“ rief sie, „da ist mein Bruder und Cousin Benno.“ Mit leichtem Sprunge war sie aus dem Wagen.

„Schneidiges Wetter heut’ — kolossaler Staub,“ schnarrte Cousin Benno, ihr Tuch und Tasche abnehmend.

Lenore wandte sich zurück, sie nickte Richard zu und sagte zum Abschied:

„Und was hat Ihnen das Körnchen noch verraten?“

„Das Ende“, erwiderte Richard kalt.

  1. Im Original: amüsiereu
  2. Im Original: danu