Sonntagnachmittag vor dem Bahnhof Halensee-Berlin
[643] Sonntagnachmittag vor dem Bahnhof Halensee-Berlin. (Zu dem Bilde S. 640 und 641.) Es ist einer der interessantesten Plätze des neuen Berlin, den wir heute unsern Lesern im Bilde vorführen. Am Kurfürstendamm stößt die gewaltige Riesenstadt, die sich von Jahr zu Jahr mehr ausdehnt, mit dem Grunewald zusammen. Die Brücke im Hintergrund führt über die Geleise des Südrings der Ringbahn. Diesseits gehen die letzten Häuser von Charlottenburg, das heute mit Berlin schon eine zusammenhängende Stadt bildet, in den Vorort Halensee über, jenseits beginnt der Wald, in den an dieser Stelle die schöne Villenkolonie Grunewald eingebettet liegt. Sie verdankt ihr Entstehen hauptsächlich der kräftigen Förderung und Unterstützung des Altreichskanzlers Fürsten Bismarck. Die dankbaren Einwohner haben ihm denn auch ein würdiges Denkmal gesetzt, das den Alten von Friedrichsruh darstellt, wie er, den Schlapphut auf dem Kopf und den Stock in der Hand, in Begleitung seines treuen Tyras auf einem Spaziergang begriffen ist.
Die Entwicklung Berlins hat ihre Richtung erhalten durch den Zug der Stadtbahn. Um die Bahnhöfe herum entstanden die neuen Stadtteile, die so unmittelbar Anschluß an den großen Verkehr hatten. Der Kurfürstendamm, das erste Stück der Grunewaldchaussee nach Potsdam, zieht sich ziemlich parallel dem Teil der Stadtbahn zwischen Bahnhof Zoologischer Garten und Halensee hin. Kein Wunder also, daß längs der alten Straße sich eine rege Bauthätigkeit entfaltet hat, die eher zu- als abnimmt. Freilich, noch liegen an einzelnen Stellen große Stücke freien Feldes zwischen den Häusern, aber von Jahr zu Jahr werden sie kleiner und die Zeit ist nicht mehr fern, wo eine geschlossene Straße vom Tiergarten bis zum Grunewald führen wird. Dann ist das Ziel früherer Landpartien ein Teil der Stadt geworden, der Grunewald ist der neue große Tiergarten. Schon heute ist er ein alltägliches Spaziergebiet für viele Tausende. Unser Bild zeigt das letzte Stück des Kurfürstendamms. Da die neue Brücke hier so ziemlich das einzige Verkehrsmittel ist, um in den Wald zu gelangen – eine zweite, weiter südlich, liegt noch allzusehr im öden Gelände, um für die große Masse in Betracht zu kommen – so ist das Leben und Treiben an dieser Stelle immer ein buntbewegtes, an Abwechslungen überreiches!
Die Uhr am Bahnhofsgebäude Halensee links zeigt die sechste Nachmittagsstunde. Ein Zug von Berlin ist soeben angekommen. In dichten Scharen drängen die Reisenden, die innerhalb des Bahnhofes von den Bahnsteigen heraufgestiegen sind, ins Freie. Die meisten von ihnen schlagen die Richtung nach drüben ein, sei es, daß sie sich im Walde ergehen wollen, sei es, daß es sie nur zu jenen Vergnügungs- und Tanzlokalen zieht, von denen es dort eine ganze Reihe sehr großstädtischer giebt, und deren eines schon freundlich herüberlockt. Freilich besser als die, welche im dumpfen Waggon hierher gekommen sind, haben es die glücklichen Besitzer bequemer Equipagen. Es giebt in Berlin viele elegante Gespanne, obwohl sie lange nicht so in die Erscheinung treten wie in Paris. Man lebt bei uns weniger nach außen, sich allzusehr zeigen gilt nicht für vornehm. An der Brücke vor Halensee aber kann man die Vertreter der Berliner Welt zu Wagen oder hoch zu Roß, oft auch den Kaiser und seine Familie an schönen Tagen vorübereilen sehen. Dazwischen fehlen dann sicher auch nicht die alten Kremser, in denen Familien Landpartien machen. Weitaus am zahlreichsten sind jedoch die Radfahrer. Das Rad hat sich, seitdem die Straßen der Reichshauptstadt ihm freigegeben sind, Berlin im Sturm erobert. Die 50000ste Radfahrerkarte ist längst ausgegeben. Der Sport zählt in allen Kreisen seine Vertreter. Allerdings gehört eine große Geschicklichkeit dazu, in dem Gewirr des Kurfürstendamms sein [644] Rad vor jedem Unfall zu bewahren. Denn nicht nur Wagen und Pferde werden ihm gefährlich, sondern auch eine Dampfstraßenbahn, von der ein Zug gerade qualmend die Brücke befährt, fordert aufmerksame Beachtung. Alles in allem aber bietet dies bunte Durcheinander ein Bild echt weltstädtischen Lebens von eigenartigem Reiz.