Sonderbare Gewerbe in Paris
[448] Sonderbare Gewerbe in Paris. In Paris erwachen jeden Morgen Tausende und aber Tausende, ohne zu wissen, woher sie die Mittel zu einem magern Frühstück oder zu einem dürftigen Mittagsessen hernehmen werden. Und doch müssen die Mittel herbeigeschafft werden, denn der Magen ist ein Despot; er will, daß man seinen ungestümen Anforderungen genüge, und läßt sich nicht lange mit leeren Hoffnungen abspeisen. Der arme Teufel also, der zu ehrlich ist, um zu stehlen, und zu stolz, um zu betteln, muß allen möglichen Erwerbsquellen emsig nachspüren, oder neue erfinden, wenn er sich durchbringen will. Man findet daher in der Hauptstadt unzählige kleine Gewerbe, von denen man, außer in London, in anderen Städten keine Ahnung hat. Diese Gewerbe sorgen dafür, daß in Paris nichts unbenutzt verloren geht. Keine Citronenschale, kein Cigarrenstumpf, kein abgenagter Knochen, keine Austerschale wird auf die Straße geworfen, ohne von emsigen Händen aufgerafft und verwendet zu werden. So giebt es Individuen, deren Specialität es ist, aus dem Kehricht die Staniolplättchen aufzulesen, die als Umhüllung von Lyoner Würsten, Bretagner Kuchen und Chocoladetafeln oder als Kappen zu Champagnerflaschen gedient. Sobald eine beträchtliche Masse dieser Plättchen aufgetrieben ist, wird sie an einen Fabrikanten verkauft, der sie umschmelzen und walzen läßt und wieder zu den eben genannten Zwecken an den Mann bringt.
Der Flaschenstöpselfang bildet ebenfalls einen nicht unbeträchtlichen Erwerbszweig. Die Flaschenstöpselfänger gehen nach dem eine Stunde unterhalb der Seine gelegenen Asnières, wo die große Cloake der Weltstadt mündet. Ein Netz vor der Mündung dieser Cloake fängt die Stöpsel auf, die vierzehn Sous das Hundert, oder sieben Franken das Tausend verkauft werden. Da diese Pfropfen mehr oder minder abgenutzt sind, oder in Folge der Schwimmpartie, die sie gemacht, just nicht durch Reinheit glänzen, werden sie wieder frisch zugestutzt und häufigen Waschungen ausgesetzt.
Wie die Stöpsel, so erleben auch die Wasch-Schwämme in Paris ihre Metamorphosen. Wer einen Gang durch Paris macht, wird in allen Stadttheilen junge Mädchen sehen, die unter den Hofthüren in geflochtenen Körben Schwämme feil bieten und zwar zu einem spottwohlfeilen Preise. Woher kommt es nun, daß diese jungen Krämerinnen so wohlfeil die Waare verkaufen können, die sehr hübsch aussieht und so stark nach Chlor riecht, als wäre sie eben aus dem Meeresgrunde geholt worden? Es kommt ganz einfach davon her, daß diese Schwämme zuweilen schier dreißig Jahre alt sind und manchen Sturm erlebt haben, daß sie, nachdem sie im Dienste der Reinlichkeit sich abgenutzt, zerschnitten, sorgfältig gesäubert und geputzt worden und durch einen im Kern verborgenen feinen Bindfaden wieder die Becherform erhalten haben. Der unerfahrene Käufer wird durch den billigen Preis angelockt; kaum hat er sich aber einige Male des Schwammes bedient, so reißt der Faden und der Schwamm fällt auseinander.
Wir haben eben gesagt, daß in Paris keine Citronenschale verloren geht. Eine Frau ist es, die zuerst die auf die Gassen geworfenen Citronen- und Orangenschalen zu verwerthen wußte und dadurch ein bedeutendes Vermögen erwarb. Ihr Gatte war Destillateur und arbeitete für Conditoren und Parfümisten. Seine junge Gattin sah ihn oft an der Retorte, und da sie viel Intelligenz besitzt, eignete sie sich schnell manche Kunstgriffe an und lernte auch auf die praktischste Weise die Elemente der Chemie, so daß sie zuweilen ihren Gatten am Destillirkolben ersetzen konnte. Da starb ihr Mann plötzlich und ließ die kaum zwanzigjährige Wittwe in bedrängter Lage zurück. Indem nun die junge Frau darüber nachdachte, auf welche Art sie ein Stück Brod redlich verdienen könnte, fiel ihr ein, daß ihr Gatte einst, als er sie an einem Sonntag in einer Restauration mit Austern regalirte und dieselben mit dem Safte der Citrone würzte, gesagt hatte: „Ein intelligenter Mensch könnte mit den Citronenschalen, die täglich auf den Mist geworfen werden, sich ein Vermögen erwerben.“ Ihr Entschluß war schnell gefaßt. Sie nahm einen Korb und ging nach der Rue Montorgueil, einer Straße, wo die meisten Austern verspeist und folglich die meisten Citronen consumirt werden. Die Kellner der Restaurationen und Kaffeehäuser, welche jeden Morgen die junge hübsche Frau im Kehricht wühlen sahen, versprachen ihr, als sie die Ursache ihrer Morgenbesuche erfuhren, den Vorrath der Schalen sorgfältig aufzubewahren. Das gleiche Versprechen gaben ihr die Theaterkehrer in Bezug auf die Orangenschalen, und nach kurzer Zeit war die tägliche Ernte so reich, daß die Wittwe mehrere Sammler und Sammlerinnen von Citronen- und Orangenschalen in Dienst nehmen mußte. Kurz, ehe drei Jahre vergingen, hatte sie ein großes Atelier, wo über zwanzig Mädchen mit dem Zubereiten, Trocknen, Verpacken und Versenden der Schalen beschäftigt waren. Die Wittwe hat sich längst schon von den Geschäften zurückgezogen und lebt von ihren Renten.
Ein viel sonderbareres Gewerbe ist das Errathen der Rebusse und das Lösen der Räthsel. Die Pariser Philister, die bei ihrer Tasse Kaffee oder bei ihrem Gläschen Cognac im Estaminet sitzen, verspüren im Allgemeinen keine große Lust, die Räthsel und Rebusse in den illustrirten Blättern zu errathen. Allein es kam doch oft vor, daß sie sich vergebens den Kopf zerbrachen und im Eifer sich fast bei den Köpfen kriegten. Jeder von ihnen bewies seinem Nachbar, daß er die Auflösung gefunden, während sein Nachbar ihm das Gegentheil bewies. Da kam ein armer Teufel, der eine große Uebung im Auflösen von Räthseln besaß und diesen Streitigkeiten seit Jahren beigewohnt hatte, auf den Gedanken, aus seinem Talent einen Erwerbszweig zu machen. An den Tagen, an welchen Blätter mit Rebussen, Räthseln und Charaden erscheinen, begiebt er sich sehr früh in die Estaminets gewisser Stadtviertel, händigt dem Wirthe die betreffenden Auflösungen ein und erhält fünf Sous für jede Auflösung. Wenn sich nun die Philistergemüther bei der Auflösung erhitzen und nicht einig werden können, beruft man sich am Ende auf den Wirth, der die officielle Lösung vorzeigt. Dem Oedipus bringt jedes Rebus mehr als dreißig Franken ein, und da deren mehrere wöchentlich erscheinen, so ist sein Gewinnst sehr beträchtlich.