Skizzen von einer Sängerfahrt nach Amerika
Skizzen von einer Sängerfahrt nach Amerika.[1]
Es war am Freitag, den 9. Juli 1886 gegen Mittag, als die freudige Nachricht die Schiffsräume der „Ems“ erfüllte: „Land! Land!“ Da standen wir nun, mit Ferngläsern bewaffnet, sahen den Leuchtthurm auf Long-Island aus dem Meere auftauchen, sahen die Küsten näher und näher hervortreten, und endlich – endlich fuhren wir bei prächtiger Abendbeleuchtung durch die Festungswerke von Long-Island und Staten-Island in den herrlichsten und großartigsten Hafen der Welt. Wir hatten von Bremerhafen aus neun Tage und sieben Stunden zur Fahrt gebraucht.
Das Gefühl, wieder festes Land zu betreten, ist ein eigenthümlich ergreifendes, und so war meine Stimmung eine hocherregte, als ich das erste Mal meinen Fuß auf amerikanischen Boden setzte. Plötzlich höre ich, daß Jemand meinen Namen ruft, [794] und alsbald wurde ich zu meiner Freude von Herrn Reinhold Herman, dem Dirigenten des „Liederkranz“ in New-York, begrüßt. Herr Herman, mit dem ich schon in Berlin befreundet wurde und von dem ich auch in dem letzten Extrakoncert des Koncerthauses vor einigen Monaten ein größeres Vokalwerk zur Aufführung gebracht hatte, wußte von meinem Eintreffen, und da bereits sechs Stunden vor unserer Landung die Ankunft der „Ems“ in New-York signalisirt war, so war er rechtzeitig erschienen, mich und meine Tochter zu begrüßen. Und dies war mir äußerst angenehm, da wir, der englischen Sprache nicht besonders mächtig, jetzt mit nur englisch sprechenden Beamten zu verkehren hatten. Durch Vermittelung meines Freundes wurde die Zollrevision unseres Gepäcks von einem der höflichen und zuvorkommenden Beamten, wie ich sie stets in Amerika gefunden, sehr rasch erledigt. Das Bewußtsein, uns auf dem Boden der neuen Welt zu finden, sowie manche neue und ungewohnte Eindrücke übten einen ganz besonderen Reiz auf uns, und als wir nun in Begleitung unseres Freundes durch ein Ferryboot (oder Fährboot) nach New-York übergesetzt wurden, dort eine Straßenbahn bestiegen, um nach unserem deutschen Hôtel Belvedere zu gelangen, da huschte manches Fremdartige bei unsicherer Beleuchtung geheimnißvoll an uns vorüber, um unsere Erwartungen für den folgenden Tag noch mehr anzuregen. Mit kräftigem Händedruck verabschiedete sich Freund Herman, und wir betraten unsere komfortable eingerichteten Zimmer, um die erste Nacht nach glücklich überstandener Seefahrt, diesmal ungewiegt, auf amerikanischem Boden zu entschlummern. –
So war ich denn angekommen in der Riesenstadt New-York, die mit den angrenzenden Stadttheilen Brooklyn, Hoboken, Jersey etc. etwa drei Millionen Menschen zählt. Ein Berliner Bürger und Steuerzahler fühlt sich keineswegs als Kleinstädter, aber doch sollte mein Selbstbewußtsein, der größten Stadt des geeinigten Deutschlands anzugehören, etwas herabgestimmt werden, als ich am folgenden Tage meine erste Orientirungsfahrt durch New-York machte. Was für ein Verkehr zu Wasser und zu Land in dieser Weltstadt! Welch großartige Geschäftsräume, welche Pracht, welcher Reichthum! Welch ein buntes Durcheinander aller Nationen vom blendendsten Weiß der englischen Lady bis zum tiefsten Schwarz des Negers! Kurz und gut, als mein Freund und Kollege Herman mich durch verschiedene Avenues und Querstraßen theils auf ebener Erde, theils auf irgend einer Hochbahn, theils zu Wasser geführt und mir die hervorragenden Bauten und ihre Eigenthümlichkeiten, verschiedene Parkanlagen mit den Statuen der berühmten Präsidenten der amerikanischen Republik Washington, Lincoln etc. gezeigt und mich schließlich in die Halle des deutschen Liederkranzes geleitet hatte, da war ich von den neuen und großen Eindrücken fast überwältigt, obgleich ich mich stets bemüht hatte, mir ein unbefangenes Urtheil zu bewahren. Wir waren in das Gebäude des Liederkranzes, des größten, vornehmsten und, wie man sagt, musikalisch bedeutendsten Gesangvereins eingetreten. Ein so reicher Verein, der aus 1700 aktiven und passiven Mitgliedern der wohlhabendsten und angesehensten Deutschen besteht, zu dessen hervorragendsten Koncerten und Festlichkeiten das Eintrittsbillett mit 10 bis 15 Dollars (40 bis 60 Mark) bezahlt wird, vermochte es, sich ein Gebäude zu errichten, dessen Großartigkeit, zweckmäßige Einrichtung und hohe Eleganz einen überraschenden Eindruck machen. Der prachtvolle Koncertsaal, der Uebungssaal, die Bibliothekräume, Damen-, Spiel-, Billard- und Kegelzimmer, das Restaurationslokal, im Münchener Stil eingerichtet, das Vestibül mit seinen schönen Wandgemälden, von denen eines für 8000 Dollars von einem deutschen Maler angefertigt worden ist! Alles übt eine so harmonische Wirkung aus, daß man mit Recht dieses Heim des deutschen Vereines mit dem Prädikat „wirklich schön“ bezeichnen kann.
Trotz der Großartigkeit und Pracht der Gebäude New-Yorks und ihrer inneren Einrichtung ist ja nicht immer Alles schön zu nennen, und mit Genugthuung kann ich behaupten, daß unser Berlin entschieden architektonisch schönere und bedeutendere Gebäude besitzt, auch in Bezug auf Sauberkeit in den Straßen, schönes Pflaster und freundliches Aussehen New-York den Rang abläuft, daß ebenfalls Wien und das reizende Stuttgart weit schönere Städte genannt werden müssen; aber was man drüben sieht, ist praktisch, praktisch im Größten wie im Kleinsten; alle Einrichtungen des Fahrverkehrs, der Post, der Telegraphen, der Hôtels sind großartig und entsprechen jedem Wunsche des Publikums. Hierin sind uns die Amerikaner überlegen.
Während meiner Anwesenheit in New-York hatte ich zwei Besuche zu machen. Die betreffenden Einladungen waren mir schon in Berlin zugegangen, und auch als Musiker hatte ich ja das größte Interesse, die Inhaber der größten Pianofortefabrik der Welt sowie der größten Musikalienhandlung, wenigstens in Amerika, persönlich kennen zu lernen. Die Namen Steinway und Schirmer sind weltbekannt, und von diesen Herren wurde ich mit der freimüthigen, gewinnenden Herzlichkeit, die fast allen gebildeten Amerikanern eigen ist, empfangen.
Die Firma Steinway und Sons hat Niederlassungen in New-York, London und Hamburg. In der 14. Straße befindet sich das Hauptmagazin, in dessen Räumen Hunderte von Flügeln, tafelförmigen Instrumenten und Pianinos zur Auswahl stehen. Auch ein großer und kleiner Koncertsaal, von denen der erstere 2000 Sitzplätze haben soll, ist mit diesen Räumen verbunden. Außer dem Hauptfabrikgebäude zwischen der 52. und 53. Straße, in welchem die Instrumente zusammeugestellt und fertig gemacht werden, befindet sich noch ein mächtiges Etablissement auf der Insel Long-Island am East-River, welches eine kleine Stadt bildet und aus den verschiedensten Anlagen, als Säge- und Fournirmühle, Stahlmetall- und Bronzegießerei, Docks und Wasserbassins, Trockengebäude, Klaviaturfabrik und Holzschnitzerei, besteht. Vor Allem erwähnenswert ist jedoch die Holzbiegefabrik, in welcher die Pianozargen in eisernen, durch Dampf geheizten Formen gebogen werden. Die Firma beschäftigt gegen 1050 Personen.
Was die Instrumente selbst betrifft, so wurde mein Urtheil, welches ich schon früher über die Flügel dieser Fabrik hatte, bestätigt. Sie gehören zu den vorzüglichsten in Ton und Anschlag, die ich je kennen gelernt habe; besonders bestrickend ist der Glockenton des Diskant, jedoch kann ich nicht umhin, die Weichheit und das Gesangvolle des Tones unserer heimischen Fabrikate jenen gegenüber rühmend hervorzuheben. Daß die Instrumente hier bei uns nicht die Verbreitung finden, liegt einzig am Kostenpunkte; kostspieligere Herstellung, Transport, Zoll etc. machen das Instrument gerade noch einmal so theuer, als man hier zu zahlen gewöhnt ist. – Steinway-Hall ist das Rendez-vous der musikalischen Welt; im Bureau ist eine Art Postoffice für einheimische und auswärtige Musiker eingerichtet; auch meine eigene Korrespondenz wurde während meiner Anwesenheit auf amerikanischem Boden durch die Firma Steinway prompt vermittelt.
Die Musikalienhandlung von Schirmer befindet sich am Union-Square und vermittelt fast ausschließlich das Musikaliengeschäft mit Europa. Großartig und schön sind die weitläufigen Lagerräume, in denen man in großen Stößen gewiß alle gangbaren Erzeugnisse sämmtlicher deutschen, englischen und französischen Komponisten aufgespeichert finden konnte. Auch meine eigenen Kompositionen waren fast vollständig und dazu in großer Anzahl von Exemplaren vertreten, wenn auch bei einzelnen zu meinem Leidwesen das Heimathsrecht verloren gegangen war. In den oberen Räumen fand ich ferner noch Abtheilungen für Notenstecher und Notendruckmaschinen, in denen reges Leben herrschte.
Das wundervolle Wetter veranlaßte uns, am Nachmittage eine Fahrt nach dem allbekannten und vielbesuchtett Bade-Orte Cony-Island zu machen. Cony-Island liegt am südlichen Gestade von Long-Island. und wurde uns schon bei der Einfahrt in den Hafen gezeigt. Ein Dampfboot führte uns, den Hafen kreuzend, zur Anfangsstation einer Eisenbahn auf Long-Island, von wo wir in zierlichen, luftigen Sommerwaggons in kurzer Zeit nach unserm Ziel befördert wurden. Dicht am Strande des atlantischen Oceans liegen in größeren Entfernungen drei prachtvolle fashionable Bade-Etablissements, mit allem möglichen Komfort ausgestattet. In einem derselben koncertirte die berühmte Gilmore’sche Kapelle, deren Leistungen ich gerechte Anerkennung zollen mußte. An den Badeplätzen selbst waren terrassenförmig Zuschauersitze erbaut, von denen man die badenden Herren und Damen, die in seltsamen Kostümen sich in den Wogen herumtummelten, überblicken konnte. Eine Eisenbahn, am Strande entlang, vermittelt für fünf Cent pro Person den Verkehr von einem Etablissement zum andern, besonders zu einem Vergnügungsplatz, der einer kleinen Stadt gleicht und aus einer großen Anzahl Schaubuden, Dampfkaroussels, Schießständen, [795] Schaukeln und eleganten Restaurationslokalen besteht. Einen Heidenlärm machten nun aber die diversen Kapellen jener Schaubuden und die Dampfdrehorgeln der Karoussels, von denen man immer drei Kompositionen zu gleicher Zeit hörte, gerade wie in der Berliner Hasenheide, so daß wir endlich verzweiflungsvoll flüchteten.
Am nächsten Tage hatte ich das Vergnügen, die Bekanntschaft einiger geschätzter Kollegen zu machen, die als Leiter der besten Gesangvereine einen achtbaren Ruf unter den deutschen Sängern New-Yorks genießen. Es waren dies die Herren: Claassen, Dirigent des Eichenkranz und Brooklyner Zöllner-Männerchors, Mangold, Dirigent des Mozart-Schiller-, Franz Abt-Gesangvereins, sowie des Newarker Arion, und Spicker, Dirigent des Beethoven-Männerchors. Im Auftrage ihrer Vereine wurden mir von diesen Herren ehrende Einladungen zu Theil, denen ich auch später Folge leistete.
Zum heutigen Abend war ich durch den Präsidenten Herrn W. Steinway nach dem deutschen Liederkranz eingeladen worden. Es war dies das erste Mal, daß ich auf amerikanischem Boden in den Kreis eines hochangesehenen Vereins trat und von den liebenswürdigen Mitgliedern desselben begrüßt wurde. Als man mir mit Wärme und freudiger Begeisterung die Hände drückte, da hatte ich vergessen, daß ich nicht mehr in der Heimath, sondern Tausende von Meilen in fremdem Lande weilte. Eine ebenfalls herzliche Aufnahme wurde gleichzeitig meiner Tochter und Herrn Opernsänger J. von Witt aus Schwerin, der sich, gerade wie ich, auf der Durchreise zum Milwaukee-Sängerfest befand, zu Theil. Wir hatten alle Ursache, uns an diesem Abend in der Mitte unserer deutschen Sangesbrüder so recht von Herzen wohl zu fühlen. Manches vorzüglich gesungene Quartett, mancher herrliche Solovortrag, manche zündende Rede und mancher begeisterte Toast, besonders wenn man der alten, lieben Heimath gedachte, machten den Abend zu einem schönen und unvergeßlichen. Zu meiner Freude stellte sich mir auch ein früheres Mitglied der Berliner „Cäcilia“, Herr Mahling, vor, der vor langen Jahren bereits unter meiner Leitung gesungen hatte. Es war in später Stunde, als unser liebenswürdiger Begleiter, Herr Steinway, seinen Wagen vor unserem Hôtel halten ließ und sich von uns verabschiedete.
Wie oft ist es mir in diesem Lande vorgekommen, daß ich, manchmal ganz zufällig, Personen kennen lernte, die mir sofort mit einer Freundlichkeit und Herzlichkeit entgegen kamen, als wäre ich ein alter Bekannter, die mich in den Kreis ihrer Familie einführten und förmlich mit Güte und Liebe überschütteten! Ich habe gefunden, daß diese seltene Gastfreundschaft ein Grundzug des Deutsch-Amerikaners ist, der wohl allerdings auch zum großen Theil in der Anhänglichkeit an das alte unvergeßliche Vaterland wurzelt. So war mir und meiner Tochter durch Herrn Professor Mangold, den ich ja eben nur erst kennen gelernt hatte, eine Einladung in seine Familie geworden, deren Annahme ich ferner so manche schöne Stunde in New-York zu danken hatte. Herr Mangold ist der Neffe des Darmstädter Hofkapellmeisters M. und besitzt wie alle angesehenen Musiker in Amerika sein eigenes Heim.
Bei dieser Gelegenheit kann ich nicht umhin, ein flüchtiges Bild der amerikanischen Häusereinrichtung zu geben. Die Privathäuser bestehen in der Regel aus zwei Etagen und dem Erdgeschoß. Die erste Etage ist hohes Parterre, zu dem von der Straße aus eine Freitreppe durch den kleinen, von schönem Eisengitter abgegrenzten Vorgarten führt. Schon der Flur ist, wie alle Wohnräume, mit schweren Teppichen vollständig ausgelegt und mit Spiegel, Kandelabern und Kleiderhaltern versehen. In dieser Etage befinden sich die Empfangsräumlichkeiten, das Arbeits- und Musikzimmer; in der höheren Etage die Wohn- und Schlafzimmer nebst Baderaum etc., im Erdgeschoß hingegen das Speisezimmer, die Küche und andere Gelasse. Die innere Einrichtung der Zimmer ist durchaus luxuriös, ohne dem Gemächlichen und Wohnlichen Eintrag zu thun. Meistentheils habe ich aber Tische, Konsols und Schränkchen mit Albums, Photographien und Nippsachen so überfüllt gefunden, daß ich selbst in meinem Schlafzimmer kein Plätzchen fand, wohin ich Uhr und Börse legen konnte. Die Betten sind musterhaft, fast so breit wie sie lang sind; hierin sucht die amerikanische Hausfrau ihren besonderen Stolz. Eines der beliebtesten Möbel ist der unvermeidliche Schaukelstuhl, der sich häufig in zwei bis drei Exemplaren in jedem Zimmer vorfindet, und natürlich mit Vorliebe benutzt wird.
Also weiter! Die Frau des Hauses, eine sehr liebenswürdige und feingebildete Dame, verstand es, bei einem vorzüglichen Diner, und auch nach demselben, uns die Stunden im Familienkreise zu recht angenehmen zu gestalten, und in heiterer und fröhlicher Stimmung begab ich mich am Abend in die Versammlung des Eichenkranz.
Dieser Verein war der einzige, der sich von New-York aus an dem Sängerfest in Milwaukee, welches allerdings von hier aus über 1000 englische Meilen entfernt ist, betheiligte. Nun hatte ich heute schon die Freude, daß mir von meinen lieben Sangesbrüdern der für das Fest studirte Einzelvortrag, eine Komposition meines Freundes Köllner in Guben, in ganz vorzüglicher Weise vorgetragen wurde. Der hierauf folgende Kommers veranlaßte eine begeisterte Stimmung, und als ich nun von den etwa 800 Berliner Sängern, die einige Tage vor meiner Abreise in meinem Jubiläums-Koncert auf „Tivoli“ unter meiner Leitung gesungen hatten, die mir aufgetragenen sangesbrüderlichen Grüße an die amerikanischen Sänger übermittelte, da brach ein endloser Jubel aus, und einstimmig wurde beschlossen den Berliner Sängern vermittelst Kabeldepesche den Gegengruß zu übersenden. Durch meinen Kollegen, Musikdirektor Edw. Schultz, an dessen Adresse die Depesche gerichtet war, erfuhr ich später, daß eine betreffende Mittheilung an die Berliner Sänger, die er als Referat an eine hiesige Zeitung geschickt, nicht erschienen ist. Ob die Notiz verloren gegangen oder nicht welterschütternd genug gewesen ist, ich weiß es nicht. Die amerikanische Presse ist in dieser Hinsicht zugänglicher und zwar zu ihrem Vortheil.
Die Nachrichten aus Deutschland, und auch speciell aus dem Vereinsleben, haben für die Amerikaner eine hohe Bedeutung; in allen Ständen wird mit gleichem Interesse die Zeitung, die man für 1 Cent auf der Straße kaufen kann, gelesen; in einer einzigen Familie findet man oft zwei bis drei deutsche und englische Zeitungen; auf den Pferde- und Eisenbahnen, auf den Ferrybooten, auf den Bänken der freien Plätze, überall forscht man nach dem Neuesten. Der „New-Yorker Herald“, der seine eigene Kabelverbindung mit Europa hat, bringt oft spaltenlange Nachrichten, die sofort wieder nach den größeren Städten der Vereinigten Staaten telegraphirt werden. So habe ich den eine halbe Spalte langen Bericht über die erste Festvorstellung im Wagner-Theater in Bayreuth schon am folgenden Tage Nachmittags auf der Fahrt von Milwaukee nach Chicago in der „Ill. Staatszeitung“ in Chicago gelesen. Die Nachricht von Liszt’s Ableben war sogar zwei Stunden vor seinem Tode, selbstverständlich mit Rücksicht auf die Zeitdifferenz, in den amerikanischen Blättern enthalten.
Vom Dirigenten und einigen Mitgliedern des Eichenkranz wurde ich an diesem Abend noch nach einem beliebten Restaurationslokal begleitet, woselbst ich eine höchst interessante Bekanntschaft machte. Ein Herr, der bereits am Tische Platz genommen hatte, war mir sofort durch sein ganzes Aeußere, welches den Künstler verrieth, sowie durch sein einnehmendes, joviales Wesen aufgefallen. Und ich hatte recht vermuthet; ich hatte das Vergnügen, in diesem Herrn den berühmtesten Photographen Amerikas, Herrn Kurtz, dessen Ruf übrigens auch in Fachkreisen Europas verbreitet ist, kennen zu lernen. Im Laufe der Unterhaltung erfuhr ich von ihm, daß er vor einer Reihe von Jahren, bei Gelegenheit eines Photographen-Kongresses in Amerika, unsern bekannten Berliner Professor Vogel kennen gelernt und mit demselben verschiedene Reisen nach dem Westen zu Kunstzwecken gemacht habe. Daß ich die freundliche Einladung des Herrn Kurtz, am nächsten Tage mit meiner Tochter nach seinem Atelier zu kommen, um durch eine photographische Aufnahme unsere Bilder zur bleibenden Erinnerung zu erhalten, nicht ausgeschlagen habe, wird wohl Jedermann begreiflich finden.
Eine Schilderung der großartigen Eindrücke, die der Besuch der weltberühmten Brooklyn-Brücke, des herrlichen Centralparks und anderer Sehenswürdigkeiten auf uns hervorbrachte, unterlasse ich, da die Leser der „Gartenlaube“ bereits Gelegenheit hatten, vorzügliche Berichte hierüber in früheren Jahrgängen des Blattes zu finden.
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Ein glücklicher Zufall brachte mich noch einige Stunden vor Abgang des Zuges, der uns nach dem Westen führen sollte, mit dem Bassisten Herrn Max Heinrich vom Metropolitan Theater in New York zusammen, der als Solist beim Sängerfest in Milwaukee mitzuwirken hatte und den ich bereits im „Liederkranz“ kennen und schätzen gelernt. Rasch entschlossen erklärte er sich bereit, die Reise gemeinschaftlich mit uns zu machen, und das war wieder sehr erwünscht, denn er war ein braver Dolmetscher, wenn unsere Weisheit zu Ende war. Durch die freundlichen Bemühungen des Eichenkränzlers Herrn Kremer waren mir von Milwaukee aus die Eisenbahntickets für mich und meine Tochter zugegangen; der Reisekoffer war durch die Expreßcompagnie bereits nach dem Depot befördert, und voller Erwartung einer ersten und zwar längeren Eisenbahnfahrt in der neuen Welt betraten wir bei eingetretener Dunkelheit den Bahnhof. Gegen Vorzeigung des Fahrbilletts wurde eine Blechmarke, mit einer Nummer und der Angabe des Bestimmungsorts versehen, an meinem Koffer befestigt; eine gleichlautende Marke, Check genannt, wurde mir eingehändigt, und das war die einzige Mühe, die ich vor dem Einsteigen hatte. Vom Wiegen des Gepäcks, von Ueberfracht resp. Bezahlen derselben an der Kasse, von Trinkgeldern etc. war keine Rede, weil die Beförderung des Reisegepäcks einfach frei ist. Diese Einrichtung ist eine nicht hoch genug zu schätzende Erleichterung des Verkehrs auf den amerikanischen Eisenbahnen. Die noch gelösten Tickets zu je 2 Dollar berechtigten zur Benutzung des Schlafwagens, den wir somit bestiegen. Der Kondukteur forderte im letzten Augenblick die Mitfahrenden zum Einsteigen auf, und geräuschlos, ohne ein Glockenzeichen oder Pfeifen der Lokomotive, setzte sich der Zug 9 Uhr 15 Minuten langsam in Bewegung. Sprang irgend ein Passagier, der sich verspätet, auf das Trittbrett, so kümmerte dies weiter Niemand. Ueberhaupt herrscht auf den Eisenbahnzügen viel mehr Freiheit und Ungezwungenheit als bei uns. Man kann durch die Wagen hindurch gehen vom ersten bis zum letzten. Ein besonderer Waggon ist für Raucher reservirt: auch die Plattform der Wagen wird unter Umständen von diesen benutzt. An den Ausgängen der Wagen wird allerdings auf einer Tafel vor dem Aufenthalt auf der Plattform gewarnt; mein Kondukteur sagte mir jedoch, als ich den Wunsch äußerte, auf die Plattform des letzten Wagens hinaustreten zu dürfen: „Thun Sie, was Sie wollen! Sie haben hier zu Lande volle Freiheit; Sie können sogar herunterspringen; Sie sind eben nur gewarnt.“ Das Hinunter- und sogar Aufspringen auf den langsam fahrenden Zug macht der Amerikaner mit Geschick und Eleganz. Wenn der Zug oft meilenlang durch die Vorstädte einer größeren Stadt mitten durch belebte Straßen einfährt, springen Herren mit der größten Seelenruhe an den einzelnen Querstraßen vom Zug, während wiederum Zeitungsjungen sich überbieten, so schnell wie möglich den Wagen zu erklimmen, um die neuesten Nachrichten zuerst an den Mann zu bringen.
Was das Innere der Wagen betrifft, so muß ich bekennen, daß in denselben eine ungemeine Eleganz, sogar ein Luxus herrscht, wie man dies bei uns im Allgemeinen nicht kennt. Bis ins Kleinste ist für jeden Komfort gesorgt. Die Sitze sind mit Plüsch gepolstert oder mit Rohrgeflecht überzogen; die Fenster, in drei Abtheilungen, sind hoch und breit; Spiegel zieren die Mahagoniwände und in den Ecken der Wagen finden sich Blechsäulen mit Eiswasser nebst Trinkgeschirr. Wenn man bedenkt, daß der Fahrpreis auf den amerikanischen Bahnen durchaus nicht theurer als bei uns ist, daß die Wagen gewissermaßen nur eine Klasse haben, daß – abgesehen von der Benutzung der Schlafwagen und Pullman’schen Palastwagen, für welche noch eine Extravergütung zu entrichten ist – alle diese Annehmlichkeiten dem Unbemittelten sowie dem Reichen zugänglich sind, so hat man alle Ursache, diese humanen Einrichtungen lobend anzuerkennen.
Von den Anstrengungen des Tages ermüdet, vertrauten wir uns ziemlich sorglos unserem dahinbrausenden Schlafkabinet an, und wenn uns Etwas an dem ruhigen Schlummer hinderte, so war es nur das unleidliche Gequarre eines noch sehr jungen Yankee in einem Nebenkoupé.
Der Morgen war angebrochen; ich öffnete die Vorhänge des Wagenfensters, und vorüber flogen, von der Morgensonne glänzend beleuchtet, die freundlichsten Landschaften mit ihren Waldungen und Flüssen, mit den zerstreut umherliegenden Farmen, umgeben von Mais-, Getreide- und Kartoffelfeldern, von Wiesen und Triften mit weidenden Viehherden. Es waren dies herrliche Bilder, welche ich so recht ungestört auf meinem Lager genießen konnte. Wir machten Toilette, wozu alle Einrichtungen aufs Bequemste vorhanden waren, und bald begrüßten sich Bekannte und Unbekannte mit einem freundlichen „Good Morning“. Auf einer der nächsten Stationen fand ein kurzer Aufenthalt statt, um ein warmes Frühstück einnehmen zu können. Die Station hieß Syrakus.
„Ei, der Tausend! das ist ja ein klassischer Name,“ äußerte ich zu unserm Reisegefährten Herrn Heinrich.
„O, mein lieber Freund, wir befinden uns hier in der neuen Welt auf antikem Boden. Die Stationen Utica und Rome haben Sie nur unterwegs verschlafen.“
Nach vierzehnstündiger Fahrt lief unser Zug in den keineswegs schönen Bahnhof von Buffalo ein. Ueberhaupt habe ich selten einen amerikanischen Bahnhof entdeckt, der annähernd einen Vergleich mit unsern prachtvollen Bahnhofsbauten in Deutschland aushält. Zwischenstationen haben meistens nur unansehnliche Holzhäuser. Eine Depesche von New-Yorker Freunden hatte den Vorstand der vereinigten Sänger Buffalos von meiner Ankunft in Kenntniß gesetzt, aber irrthümlicher Weise die Station Suspension Bridge am Niagara als Ort meiner Ankunft bezeichnet, während wir auf einer andern Linie direkt nach Buffalo befördert wurden. Ein Herr vom Empfangskomité, der anwesend war, erzählte uns nun zu meinem Leidwesen, daß die übrigen Herren desselben sich alle nach Suspension Bridge, welches 18 Meilen entfernt lag, begeben hätten, um mich daselbst zu erwarten; er freue sich, daß seine Behauptung, wir müßten auf alle Fälle in Buffalo ankommen, die richtige sei. Unser Herr Kiekebusch, ein Landsmann aus Berlin, beförderte uns sofort nach Grüner’s Hôtel, in welchem unsere Zimmer bereits bestellt waren. Nach einigen Stunden, als wir in heiterer Stimmung noch bei Tisch saßen, erschienen die anderen Herren, zurückgekehrt von ihrer Irrfahrt, und hatten sehr rasch ihre trübe Laune vergessen. In zweien derselben lernte ich recht liebe Kollegen kennen, den Herrn Gelbcke, einen gemüthlichen Sachsen vom reinsten Wasser, Dirigent des „Orpheus“, und Herrn Mischka, einen geborenen Böhmen, Dirigent der „Liedertafel“.
Zufälliger Weise war an diesem Tage der Beethoven-Männerchor aus New-York von einer Vergnügungsfahrt nach den Niagarafällen in Buffalo eingetroffen, und ihm zu Ehren wurde am [848] Nachmittage ein Kommers in dem sogenannten Paradehaus in der Nähe der Parkanlagen veranstaltet. Man hatte bereits eine Fahrt dorthin beschlossen, und es traf sich daher für mich günstig, einer Festlichkeit beiwohnen zu können, bei welcher ich die Gelegenheit hatte, die Vorstände und Mitglieder des gastgebenden „Orpheus“ sowie des New-Yorker Vereins kennen zu lernen. Auf der Fahrt dorthin wurde ich durch ein Schauspiel überrascht, welches für mich so originell war, daß ich den Anblick lange nicht vergessen konnte. Beim Einbiegen in eine Querstraße sah ich, daß man nichts weniger als ein ganzes zweistöckiges Haus in der Mitte des Fahrdammes fortbewegte. Dasselbe befand sich auf zahlreichen Rollen, und nur ein einziges Pferd, das ein starkes Seil um eine Winde drehte, war zu dieser Herkulesarbeit ausreichend. Nicht minder seltsam und komisch berührte mich die Thatsache, daß das Haus von seinen Bewohnern nicht verlassen war, wenigstens sah ich eine Frau beim Feuerherd beschäftigt, die vermuthlich die Absicht hatte, sich ihren Nachmittagskaffee zu brauen. Das Gebäude war allerdings ein Holzhaus, jedoch wurden mir auch massive Steinhäuser gezeigt, die, wenn ich nicht irre in Rücksicht auf Kanalisation, meterhoch in die Höhe gehoben, sogar auf andere Plätze gerückt worden waren, und es soll dieses sogenannte „moven“, das heißt Fortbewegen der Häuser, eben nichts Seltenes sein. In Chicago sind sogar die Häuser ganzer Straßen „gemuhft“ worden.
Als wir das Paradehaus erreicht hatten, waren die Herren Sänger bereits in sehr animirter Stimmung; man hatte sogar einen Bal champêtre arrangirt, zu welchem auch meine Tochter sofort hinzugezogen wurde. Mittlerweile war ich einer großen Anzahl von Sangesbrüdern vorgestellt worden, die mich herzlich begrüßten, deren Namen ich aber leider nicht alle behalten konnte. Bald zog man mich in ein Nebenzimmer, wo ich im Kreise einer kleinen, liebenswürdigen Gesellschaft bei funkelndem Rüdesheimer eine recht fröhliche Stunde verlebte. Indeß hatten sich die New-Yorker Sänger zum Aufbruch gerüstet und ihre Wagen, die sie zum Bahnhof führen sollten, bestiegen. Der herzliche Abschied, der jetzt zwischen den Sängern stattfand, machte auf mich einen tiefen Eindruck, und ich hatte die Empfindung, daß es ein festes Band ist, welches die deutschen Landsleute jenseit des Oceans in ihrem neuen großen Adoptivvaterlande umschließt.
Auch wir fuhren zurück nach der Stadt, diesmal durch den neuangelegten Park, der übrigens schon hübsche Punkte aufzuweisen hat. Vor Jahresfrist war die Halle der Sänger von Buffalo bekanntlich ein Raub der Flammen geworden. Wir kamen an dieser Stelle vorüber, schon hatte sich ein großartiger Neubau daselbst erhoben, der den Ausspruch meiner Begleiter kaum bezweifeln ließ, daß diese Sängerchalle nach ihrer Vollendung die größte und schönste in den Vereinigten Staaten werden würde.
Schon in Berlin hatte ich die Bekanntschaft eines liebenswürdigen Herrn aus Buffalo, Namens Fr. Carl, gemacht. Es war eine große Freude für mich an diesem Abend, in seine Familie eingeführt zu werden. Aber nicht ich allein mit meiner Tochter, sondern das ganze Komité und mein treuer Reisebegleiter, M. Heinrich, sowie einige Damen waren eingeladen. Die zarteste Aufmerksamkeit und Fürsorge dieser lieben Familie ließ es an Nichts fehlen, um den Abend für uns Alle zu einem genußreichen zu gestalten. In heiterer und freier Weise wurden die Zustände und Eigenthümlichkeiten der alten und der neuen Welt erörtert und beleuchtet, und verschiedene musikalische Vorträge, von denen die des hochbegabten Sängers M. Heinrich vor Allem begeisterten, würzten den schönen Abend. Ich kann nicht umhin, hierbei eine mir sympathische Persönlichkeit zu erwähnen, nämlich den älteren Bruder des Herrn Carl. Derselbe erzählte mir viel Hochinteressantes und Spannendes aus seinen jüngeren Jahren, in welchen er aus reiner Passion in den Prairien und Urwäldern ein jahrelanges Trapperleben geführt und mit Hilfe farbiger Diener unter manchen Gefahren und Entbehrungen zahlreiche Büffeljagden gemacht habe. Bei einer dieser Jagden hatte er das Unglück, zu stürzen und den linken Arm zu zersplittern. Drei Tage mußte er durch die Wildniß reiten, ehe er zu einem Arzt gelangte. Da war aber schon der Brand eingetreten und er hatte den Verlust des ganzen Armes zu beklagen.
Am folgenden Tage wurde eine von den Herren des Komités geplante Fahrt nach den Niagarafällen ausgeführt.
Es ist ein beruhigendes und wohlthuendes Gefühl, wenn man nach einem fremden Ort kommt und weiß, daß man von Bekannten freundlich empfangen wird. Dieses Gefühl steigert sich aber noch viel mehr, wenn man fern von der Heimath in weitem, fremdem Lande, wo man noch Niemand kennt, in Folge der liebenswürdigsten Einladung sich eines herzlichen Empfangs versichert halten darf.
Dies war in Chicago der Fall. Da kamen mir freudig die Herren entgegen, die vom Gesangverein Orpheus zu meinem Empfang deputirt waren. Unter herzlichem Händedrucke erfolgte die Vorstellung der Herren, sowie durch mich die meiner Tochter, des Herrn M. Heinrich und Fräulein Marianne Brandt, welche schon mit uns die Seereise auf der „Ems“ zurückgelegt hatte. Herr Overbeck, Besitzer des Germania-Hôtels, war ebenfalls erschienen und nahm uns speciell unter seine Obhut, um uns in seine gastlichen Räume zu geleiten. Ein gemeinschaftliches Souper daselbst vereinigte uns mit den Komitémitgliedern in ungezwungener Gemüthlichkeit. Auch hatte ich das Vergnügen, in diesem Kreise einen jungen Kapellmeister, Namens Saro, den Neffen unseres Musikdirektors Saro in Berlin, kennen zu lernen, sowie einen lieben Reisegefährten von der „Ems“, Herrn Sauerbier, wieder zu finden.
Beide Herren haben in der Folge das Möglichste gethan, uns den Aufenthalt in Chicago recht angenehm zu machen.
Wohl oder übel mußte ich noch in später Stunde der Aufforderung eines heißblütigen Sangesbruders, welcher Besitzer einer Weinhandlung war, Folge leisten, seine diversen in- und ausländischen Weine kennen zu lernen. Wir zogen natürlich in corpore nach seinen unterirdischen Lagerräumlichkeiten, und ich kam hier zu der Ueberzeugung, daß ich in kein Meeting der Temperenzler gerathen war, und daß bei herzlichem und begeistertem Zusammensein eine amerikanische Sängerkehle fast noch dauerhafter als eine deutsche sein kann.
Am andern Morgen waren Fräulein Brandt und Herr Heinrich nach Milwaukee zur Probe ihrer Sologesänge abgereist. Da meine Anwesenheit daselbst noch nicht erforderlich und ich überdies am Abend zu einer Probe der vereinigten Sänger Chicagos eingeladen war, in welcher ich meine Hymne, die in Milwaukee zur Aufführung kam, selbst leiten sollte, so kamen mir die Dispositionen des Komités, die Sehenswürdigkeiten Chicagos in Augenschein zu nehmen, recht erwünscht.
Chicago ist seit den großen Bränden in den Jahren 1871 und 1874, bei welchen fast die ganze Stadt ein Raub der Flammen geworden, mit unglaublicher Schnelligkeit neu und prächtig aus der Erde gewachsen. Durch ihre vorzügliche Lage für den allgemeinen Geschäftsverkehr, als Knotenpunkt eines ganz bedeutenden Eisenbahnnetzes, hat sie sich schon jetzt zur größten und volkreichsten Stadt des Westens emporgeschwungen. Der Verkehr in den Straßen ist fast so groß wie in New-York.
Von den zahlreichen Straßenbahnen erregten meine besondere Aufmerksamkeit die luftigen Sommerwagen, welche, zu zwei bis drei an einander gekoppelt, ohne Pferde oder Maschine geräuschlos vorüber fuhren. Es waren dies keine solche, die durch Elektricität, sondern durch ein unter dem Straßenpflaster permanent laufendes Seil, welches durch eine schmale Spalte mit dem Wagen korrespondirte, in Bewegung gesetzt wurden. Ich bewunderte die schnelle und sichere Funktion dieser Wagen selbst bei dem großen Menschengewühl und bei den öfteren Kurven, die in Querstraßen einbogen.
Noch etwas interessirte mich, was meines Wissens in Berlin nicht existirt, nämlich die Art der Weichenstellung der Pferdebahnen. Während dies bei uns der Kondukteur mit Umständlichkeit und Zeitverlust besorgt, geschieht es dort einfach durch die Pferde, beziehentlich den Kutscher. Zwischen den Schienen liegt eine große Eisenplatte, welche sich wie ein Wägebalken etwas nach rechts oder links senken kann. Will der Kutscher z. B. nach rechts ausweichen, so lenkt er beide Pferde so, daß das Pferd rechter Hand die Schiene überschreitet, während das andere Pferd über die rechte Hälfte der Platte schreitet, durch deren Senkung alsdann die Weiche gestellt wird. Nach der andern Seite ist die Manipulation die umgekehrte.
In Chicago bestehen bekanntlich die größten Schlächtereien der Welt. Millionen von Schweinen und Rindern aus den westlichen Staaten werden hier aufgekauft und nach den neuesten Feststellungen in der Saison allein 19000 Schweine täglich der Schlachtbank überliefert. Die Etablissements sollen in Bezug auf [849] Großartigkeit und innere Einrichtung höchst sehenswerth sein, und als erstaunlich schildert man die Schnelligkeit, mit der Alles, natürlich vermittelst der Dampfkraft, funktionirt. So soll die ganze Procedur von dem Augenblick an, in welchem das Schwein an einem Hinterfuß in die Höhe gezogen wird, bis zu dem Zeitpunkt, wo das Fleisch des Thieres gesalzen in die zum Versand bereit stehenden Fässer verpackt ist, nicht mehr als 12 Minuten in Anspruch nehmen. So interessant alle die Einrichtungen auch sein mochten: ich fühlte ein geheimes Grauen vor diesem Massenmord und lehnte daher eine Besichtigung derselben dankend ab. Jedenfalls hatte ich die Gewißheit, durch die am Nachmittag projektirte Fahrt nach dem berühmten Lincoln-Park reichlich entschädigt zu werden. Und dies war der Fall.
Mit Herrn Saro und Herrn Ehrhorn, dem liebenswürdigen Dirigenten der vereinigten Sänger Chicagos, durchkreuzten wir die herrlichen Anlagen dieses wunderhübschen dicht am Ufer des Michigansees gelegenen Parks. Derselbe unterscheidet sich von denen der andern größten Städte Amerikas durch seine sehenswerthen zahlreichen Blumenanlagen.
Ueberraschend ist die Kunst, mit welcher die seltensten Pflanzen und Gewächse in den verschiedensten Arabeskenformen angelegt sind, und wie peinlich sorgfältig wiederum Alles gepflegt wird. Wir möchten dabei hervorheben, daß die amerikanische Gartenkunst, eben so wie die amerikanische Industrie – wir erinnern nur an die von Röbling erbaute Brooklynbrücke – vielfach durch eingewanderte Deutsche gehoben wurde. An vielen Orten finden wir in den prächtigen Anlagen Spuren deutschen Fleißes und Kunstsinnes.
In der Weise des Berliner Zoologischen Gartens fanden sich an verschiedenen Punkten des Parks die eingehegten Aufenthaltsorte für alle möglichen Raubthiere, Vögel und Amphibien, und mir wurden besonders schöne Exemplare aus dem Süden, aus Mexiko, Südamerika und Australien gezeigt. Auch einige von unseren gefiederten Sängern, die von Deutschland importirt sind, sah ich lustig im Käfig mit kalifornischen Freunden sich herumtummeln. Viele Statuen, vor Allem die des hochverdienten Präsidenten Lincoln, erregten unsere Aufmerksamkeit. Umgeben von prächtigen Blumenanlagen präsentirte sich uns eine Schiller-Statue, welche genau nach dem Denkmal in Weimar modellirt sein soll und erst vor einigen Monaten errichtet worden war. Neu und interessant war mir die Mittheilung meines Kollegen Ehrhorn, daß bei der Enthüllungsfeierlichkeit unter den Klängen meines Weihegesangs „Am Altare der Wahrheit“, welcher unter seiner Direktion von den Sängern Chicagos mit Orchesterbegleitung aufgeführt wurde, die Hülle des Denkmals fiel.
Ein drohendes Gewitter veranlaßte uns, nach der Stadt zurückzufahren. Im Ausstellungsgebäude koncertirte zu dieser Zeit das rühmlichst bekannte Thomas’sche Orchester, dessen Ruf auch schon längst in Europa verbreitet ist. Es lag selbstverständlich in meinem Interesse, diese Kapelle zu hören. Von der unendlich großen Halle war ungefähr der dritte Theil durch Bäume und Gebüsch abgetheilt und zu einem großen und geschmackvollen Koncertsaal eingerichtet worden. Von den Orchesternummern hörte ich einen March movement von Raff und Wedding Music von Jensen, das letztere eine ganz reizende, fein gearbeitete Komposition in vier Sätzen.
Leider sollte uns der musikalische Genuß arg verkümmert werden. Das erwartete Gewitter hatte indeß begonnen, sich zu entladen, und ein andauernder Platzregen machte auf dem von Holz konstruirten Dach einen derartigen Rumor, daß man von der Musik bald gar Nichts mehr verstehen konnte. Das [850] Orchester sah sich genöthigt, seine Thätigkeit nach dieser Nummer auf eine halbe Stunde zu vertagen. Da ich aber nach Ablauf dieser Zeit mich schon zu der erwähnten Probe begeben mußte, so schied ich zum Theil unbefriedigt aus den Räumen, nahm aber immerhin den Eindruck mit nach Hause, daß das aus ungefähr 60 Musikern bestehende Orchester unter der sicheren Leitung seines tüchtigen Dirigenten ein wohlgeschultes und jedenfalls hervorragendes ist. Das Programm enthielt außer dem Verzeichnisse der Musikstücke noch mannigfache Notizen über die Personen der betreffenden Komponisten und deren hervorragende Schöpfungen, auch Erläuterungen über den Inhalt der vorzutragenden Nummern, und ferner Annoncen jeglichen Inhalts und Kalibers. Eine solche Ausführlichkeit der Programme habe ich in Amerika fast immer gefunden. Hiesige Koncertinstitute haben diese Idee jüngst bei uns acceptirt; ja man ist noch weiter gegangen, indem man z. B. zu den Quartettsoiréen die Partituren an der Kasse auslegt, so daß das musikverständige Publikum die Musik sogar nachlesen kann.
In ihrem Uebungssaal fand ich die vereinigten Sänger Chicagos versammelt und wurde überaus herzlich von denselben empfangen. Die Abkühlung nach dem Gewitter war noch nicht bis in diese Räume gedrungen; daher sah ich mich genöthigt, die Probe zu meiner Hymne im Schweiße meines Angesichts und unter ähnlichen Wahrnehmungen bei den Herren Sängern zu leiten. Gott sei Dank, das Werk war tüchtig studirt; alle Nüancen kamen zu schöner Geltung, und die Klangfülle schien auf amerikanischem Boden noch intensiver zu sein. Somit war meine Arbeit eine leichte und kurze, und in warmer Anerkennung der Leistungen legte ich meinen Taktstab nieder.
Wie gut ein Seidel Bier nach einer heißen Probe schmeckt, wissen unsere Berliner Sänger ganz genau; aber wie ein Glas vom besten Chicagobier an der Quelle im Kreise deutscher Sänger und lieber Landsleute mundet, können sie höchstens ahnen. Ich habe zwar nicht nach der Uhr gesehen, aber spät mag es gewesen sein, als wir nach Hause kamen.
- ↑ Wir entnehmen diese Skizzen einem umfangreichen Manuskripte, in welchem der Verfasser seine Reise zu dem vorjährigen deutsch-amerikanischen Sängerfeste in Milwaukee geschildert hat.