Sitzung der geographischen Gesellschaft zu Berlin vom 12. November 1870
Vorsitzender Herr Bastian.
Nachdem die statutenmäßig vorzunehmenden Wahlen neuer Mitglieder erfolgt waren, eröffnete der Vorsitzende die Verhandlungen mit der Vorlage und Erläuterung einer interessanten Sendung von Staniolabdrücken mehrerer mit Hieroglyphen bedeckter Holztafeln, welche ein chilenischer Capitain auf der Osterinsel gefunden hat, und die Herr Prof. Philippi zu San Jago in Chile der Gesellschaft übersandt hat. Dieser Fund macht die zuerst am Anfange des vorigen Jahrhunderts von einem holländischen Capitain, dann von Cook, La Pérouse und neuerdings von Dr. Palmer constatirten Spuren alter Kultur auf dieser Insel noch um Vieles räthselhafter, da von einer Schrift der alten Völker Südamerika’s, mit denen Einige die dort vorhandenen Monumente in Verbindung bringen wollten, nichts Sicheres bekannt ist. Demnächst begrüßte der Vorsitzende mit Worten warmer Anerkennung ihrer Verdienste die als Gäste anwesenden Mitglieder der zweiten deutschen Nordpolfahrt, die Herren Capt. Koldewey, Dr. Börgen, Dr. Copeland von der „Germania“, die Herren Capt. Hegemann, Hildebrand (1. Officier), Bade (2. Officier), Gierke (Matrose) von der „Hansa“, begleitet von den Comitémitgliedern Dr. v. Freeden aus Hamburg und Dr. Lindeman aus Bremen, und ertheilte das Wort Herrn Koldewey zu einem Bericht über die Nordfahrt. Am 15. Juni 1869 begann dieselbe von Bremerhafen aus, und schon am 20. Juli kamen die „Germania“ und „Hansa“ zum zweiten Male aus einander, um sich nie wieder zu vereinigen. Die „Germania“ fuhr nun zwischen 73° und 74° [477] nördl. Br. bis Ende Juli an der Kante des schweren Eises hin, bis endlich am 1. August der Versuch durchzubrechen mit Erfolg gekrönt wurde, und der Kurs westlich gerichtet werden konnte. So langte das Schiff nach einigen Hindernissen am 5. August bei 3 Faden Wasser an der Südseite der Sabine-Insel an. Hier wurden Beobachtungen angestellt, und am 10. August die Fahrt nordwärts fortgesetzt, die jedoch bei 75° 31′ nördl. Br. vor der Barrière des fest zusammenhängenden Land- und Meereises ein Ende fand. Die Erwartung, daß Stürme das Eis zerreißen würden, erfüllte sich nicht, vielmehr bildete sich schon um Mitte August junges Eis, das bald nur mit Dampf durchbrochen werden konnte. Unter solchen Umständen wurde nach Durchforschung der Shannon-Insel am 13. September an der Südseite der Sabine-Insel der Winterhafen bezogen. Das Schiff wurde zum Winterquartier eingerichtet, am Lande zwei Observatorien gebaut, das eine für magnetische, das andere für astronomische und meteorologische Beobachtungen, vor Eintritt der Winternacht auch noch zwei Schlittenreisen nach dem Innern unternommen. Mit dem Wiedererscheinen der Sonne wurden Anstalten zu einer großen Schlittenreise nach Norden getroffen, und diese nach Mißglücken eines ersten Versuchs in der Zeit vom 24. März bis 27. April in’s Werk gesetzt. Hierbei wurde ein Küstenstrich von über 150 Seemeilen aufgeschlossen und mappirt, der noch nie von Europäern betreten wurde. Der nördlichste Punkt wurde am 15. April bei 77° 1′ nördl. Br. und 18° 50′ westl. Lg. erreicht, ein Berg von etwa 1500 Fuß Höhe bestiegen, von welchem aus sich nach Osten hin eine unübersehbare Eisfläche zeigte, die den Eindruck machte, als wäre sie für die Ewigkeit gebaut. Im Mai wurden noch zwei Schlittenreisen ausgeführt, die eine zur Ardencaple Einfahrt, die andere zu geodätischen Zwecken, doch bereitete das anhaltende Thauwetter immer größere Schwierigkeiten. Schon sah man nach Osten hin nur noch Wasser, während das Schiff noch im Eise fest lag, das erst am 10. Juli sich mit demselben in Bewegung setzte und es am folgenden Tage aus seinen Fesseln entlassen mußte. Nachdem nun noch eine Bootfahrt zu dem von Clavering beschriebenen Eskimodorfe, dessen verlassene Hütten in der That gefunden wurden, gemacht war und der ethnologischen Sammlung nicht unbedeutenden Ertrag geliefert hatte, ging die „Germania“ am 22. Juli endlich wieder nach Norden hinauf. Als man bis 75° 29′ dicht unter Land gekommen war, stand das Schiff wieder vor derselben Eisschranke, die ihm schon im vorigen Sommer ein Ziel gesetzt hatte. Von einem etwa 500 Fuß hohen Berge sah das Auge nach Norden und Osten nur Eis, gerade wie es auch Clavering schon im Jahre 1823 fand. Ohne Aussicht, weitere Entdeckungen im Norden machen zu können, wurde beschlossen nach Süden zu steuern, um wo möglich in einen der dort sich erstreckenden Fjorde einzudringen. Einer dieser Fjorde erwies sich in jeder Beziehung großartig durch seine Länge, Verzweigungen und die ihn umrahmenden Berge, konnte aber keineswegs bis zu Ende verfolgt werden, da ein Fehler am Dampfkessel des Schiffes immer dringender zur Heimkehr mahnte. Unter einem Gletscher ging die „Germania“ vor Anker, ihre Gelehrten bestiegen diesen und die nächsten Berge und constatirten, daß noch weit gewaltigere Höhen tiefer im Innern lagen, sowie daß der Fjord endlos weiter ging. Auf [478] der Rückreise wurden, soweit heftige Stürme es erlaubten, noch vielfach Lothungen vorgenommen. Am 11. September lief die „Germania“ wieder wohlbehalten in Bremerhafen ein.
Herr Börgen berichtete sodann über die von ihm und Herrn Copeland ausgeführten physikalischen Beobachtungen. Die an dem astronomischen Observatorium angebrachten Thermometer, dazu zwei Barometer, ein Robinson’scher Anemometer und ein Thermometer am Eise wurden stündlich abgelesen. Hiernach ergab sich als kältester Monat der Januar mit – 24° 4′ Cels., als Jahresmittel – 11° 6′ Cels., einmal im Februar einige Stunden lang eine Kälte von – 40° 3′ Cels. Zu Fluthbeobachtungen diente eine am Schiff hergestellte Vorrichtung. Heftige Schneestürme stellten anfangs den magnetischen Beobachtungen Schwierigkeiten entgegen, erst am 21. December konnte die erste 24stündige Reise derselben ausgeführt, und alle 14 Tage eine solche wiederholt werden. Für die Declination auf Sabine-Insel fand sich 45° 8′, die Inclination 79° 48′. Bei den Polarlichtern zeigte die Magnetnadel sich nicht ungewöhnlich unruhig, nur zweimal, jedoch nicht bei der stärksten Entfaltung eines solchen, fanden bedeutende Schwankungen der Nadel statt. Im Spectroscop trat nur eine helle Linie in Gelbgrün hervor. Von den Resultaten der astronomischen und geodätischen Arbeiten sind erst wenige berechnet. Die letzteren hatten hauptsächlich den Zweck, Erfahrungen zu sammeln über zweckmäßige Signale, Zeichen, Transport von Instrumenten, Einfluß der Schneemassen etc. Die Ungunst der Verhältnisse gestattete nur einen Meridianbogen von 40 Minuten messen. Die geographische Breite des Winterhafens wurde durch Beobachtung von 128 Sonnen-, 42 Sternhöhen, die Länge durch 16 Mondculminationen, 3–4 Sternbedeckungen und 12 Jupitertrabanten-Verfinsterungen, die Polhöhe des nördlichsten geodätischen Punktes durch 82 Sonnenhöhen bestimmt.
Herr Copeland schilderte hierauf die von ihm und Oberlieutenant Payer in Begleitung des Matrosen Ellinger unternommene Besteigung eines Gletschers am großen Fjord. Die Basis desselben lag bei 1000 Fuß; mit ebener Oberfläche und bis 3500 Fuß frei von Schnee und Firn stieg er allmälig auf. In etwa 4000 Fuß Höhe zeigten sich zahlreiche Spalten, der oben aufliegende Firn wurde immer tiefer, bis 4 Fuß tief, und die Reisenden mußten umkehren, um die Erreichung eines hohen Gipfels auf einem anderen Wege zu versuchen. Die Höhe desselben wurde im Minimum zu 6820 Fuß bestimmt. In der Ferne zeigte sich in WSW. ein anderer Gletscher, der von einer Kette von etwa 9000 Fuß herabkam. Aus derselben erhob sich eine Spitze von mindestens 11,460 Fuß Höhe. An dem Gletscher wurde bei 37stündiger Beobachtung ein tägliches Rücken von 5,3 Zoll bei einem wahrscheinlichen Fehler von 1,1 Zoll wahrgenommen.
Herr Hildebrand schilderte aus seinem Schiffstagebuch den Untergang der „Hansa“ und die spätere Eisfahrt ihrer Bemannung nach Süden. Schon am 29. September war das Schiff etwa bei 73° 6′ nördl. Br. und 19° 18′ westl. Lg. völlig eingefroren, am 23. October sank es ungefähr 70° 50′ nördl. und 21° westl. Die Mannschaft hatte sich auf ein Eisfeld von 7 Seemeilen Umfang gerettet und hier aus Kohlen ein Haus gebaut, 20 Fuß lang, 14 Fuß breit, 6 Fuß im Giebel hoch, 4½ Fuß in den Seitenwänden. Bald lag dies tief unter Schnee begraben. [479] Die große Eisscholle trieb mit ihren Bewohnern südwärts, aber die Stürme des Januars setzten ihr so arg zu, daß ihr Umfang sich bedeutend verminderte, und in der Nacht vom 14. zum 15. Januar ging ein Bruch mitten durch das Haus. Ein neuer Bau wurde hergestellt, der aber nur für 6 Mann Obdach gewährte. So kam man allmälig bis 61° 12′ nördl. Br. hinunter, und hier endlich – es war am 7. Mai – konnten die Böte in’s Wasser gelassen werden. Bis auf 3 Seemeilen näherten sich die Schiffbrüchigen der Küste, dann aber hinderte eine undurchbrechliche Eisschranke die weitere Bootfahrt. Nun wurde 25 Tage daran gearbeitet, die Böte über das Eis zu ziehen, und hier gesellten sich zu allen Anstrengungen auch die Leiden der Schneeblindheit. Endlich am 4. Juni war das Land bei Kap Idluitlik erreicht, eine neue Bootfahrt der Küste entlang begann und brachte unsere Nordfahrer am 13. Juni wieder zu Menschen. Von Julianshaab konnten sie am 22. Juni auf der Königl. dänischen Brigg „Constance“ die Rückfahrt nach Kopenhagen antreten, wo sie am 1. September landeten, hocherstaunt über die großen Kriegsereignisse.
Herr v. Freeden behandelte kurz die Frage nach dem besten Ort und der besten Zeit der Annäherung an Ost-Grönland. Wenn die Eismassen über den 75° nördl. Br. hinaus festliegen, so scheint dies durch lokale Ursachen bedingt zu sein. Der nordatlantische Ocean stellt ein Becken von durchschnittlich über 1000 Faden Tiefe dar, aus dem sich bei 12, resp. 16° westl. Lg. der Boden bis zu 140 Faden Seetiefe erhebt in einem Profil von 1:14 bis 1:16. Dies Plateau hat noch bedeutende Höcker, Tiefen unter 100, wie auch andererseits über 200 Faden. An diesem Plateau scheinen die größeren Eisblöcke resp. Eisberge vor Ost-Grönland zuweilen angehalten zu werden, und dürfte zwischen 73° 30′ und 70° 20′ die Stelle liegen, wo der Zugang möglich. Als die geeignetste Zeit zur Anfahrt muß diejenige bezeichnet werden, in welcher die Insolation zur Auflockerung der Eismassen am kräftigsten wirkt, die Zeit zwischen 25. Juli bia 25. August. Schließlich überreicht der Redner als Geschenk die dritte Mittheilung aus der Norddeutschen Seewarte, eine Abhandlung über die Dampferwege zwischen dem Canal und New York, welche die wirthschaftlichen und meteorologischen Ergebnisse von 374 Reisen des Dampfers des Norddeutschen Lloyd in Bremen behandelt und durch Combination beider Resultate zu einer Aufstellung theilweise neuer Seewege hinführt.
An Geschenken gingen ein:
1) v. Freeden, Mittheilungen aus der Norddeutschen Seewarte. III. Ueber die Dampferwege zwischen dem Canal und New York, nach den Journal-Anzeigen der Dampfer des Norddeutschen Lloyd in den Jahren 1860–67 nebst Wind und Wetter in derselben Zeit. Hamburg 1870. – 2) Lenz, Unsere Kenntnisse über den früheren Lauf des Amu-Daria. St. Petersburg 1870. – 3) Richter, Bericht über medicinische Meteorologie und Klimatologie. 2. Nachtrag. (Schmidt’s medicin. Jahrb.) – 4) Meulemans, La république de l’Équateur. Bruxelles 1870. – 5) Despine, De la contagion morale. Marseille 1870. – 6) Monthly Report of the Deputy Special Commissioner of the Revenue, in Charge of the Bureau of Statistics, Treasury Departement. 1869. Washington. – 7) Smithsonian Miscellaneous Collections. Vol. VIII. IX. Washington 1869. – 8) Report of the Commission of Agriculture for the Year 1868. Washington 1869. – 9) Gould, [480] Report on the Invertebrata of Massachusetts. Sec. edit., comprising the Mollusca. Edit. by Binney. Boston 1870. – 10) Dodge, Monthly Reports of the Department of Agriculture for the Year 1869. Washington 1869. – 11) Proceedings of the American Association for the Advancement of Science. 17th Meeting. Cambridge 1869. – 12) Annual Report of the Board of Regents of the Smithsonian Institution for the Year 1868. Washington 1869. – 13) Agassiz, Address delivered on the Centennial Anniversary of the Birth of Alexander von Humboldt. Boston 1869. – 14) Petermann’s Mittheilungen. 1870. No. XI. Gotha. – 16) Mittheilungen der geographischen Gesellschaft in Wien. 1870. No. 12. 13. Wien. – 16) Bijdragen tot de taal-, land- en volkenkunde van Nederlandsch Indië. 3de volg. D. V. St. 1. ’s Gravenhage 1870. – 17) Bulletin de la Société Imp. des Naturalistes de Moscou. 1370. No. 1. Moscou. – 18) Smithsonian Contributions to Knowledge. Vol. XVI. Washington 1870. – 19) Blaserna, P., Sullo suiluppo e la durata delle cerrenti d’induzione e delle estracorrenti. Memoria I. Palermo 1870. – 20) Gaea. Natur und Leben. 1870. Heft 7. Köln.